Fünf Freunde
und das
Weihnachtsgeheimnis
Ein Weihnachtskrimi in 24 Kapiteln
Text von Sarah Bosse
Illustrationen von Gerda Raidt
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© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Text: Sarah Bosse
Cover- und Innenillustration: Gerda Raidt
Umschlaggestaltung: semper smile
CK · Herstellung: BO
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27119-0
V001
www.cbj-verlag.de
Dick stand über seinen Rucksack gebeugt und wühlte nervös darin herum. Seine Mütze war ihm schräg in die Stirn gerutscht. »Wo ist nur die Taschenlampe? Ich bin mir sicher, dass ich sie eingepackt habe!«
»Lerne Ordnung, liebe sie, das erspart dir Zeit und Müh«, tadelte Anne ihren Bruder und ließ sich in den bequemen Sitz des Reisezuges sinken. Dann holte sie ihren Kamm aus der Tasche und zog ihn durch ihr blondes Haar. Sie mochte es nicht, wenn die Haare vom Tragen der Mützen platt am Kopf lagen. »Im Übrigen wirst du sie spätestens finden, wenn wir bei Tante Alberta angekommen sind und du deinen Rucksack auspacken kannst.«
»Aber ich will sicher sein, dass ich sie dabeihabe«, protestierte Dick. »Ich reise nicht ohne meine Ausrüstung, Taschenlampe, Taschenmesser, Kompass …«
Jetzt musste Anne lachen. »Und wenn du sie tatsächlich vergessen haben solltest? Was würdest du dann machen? Die Notbremse ziehen und dem Zugführer sagen, dass du leider noch mal eben zurück nach Hause laufen musst?«
Sie griff in das Seitenfach ihrer Reisetasche und holte eine Keksdose hervor. »Hier, nimm lieber ein Plätzchen, das wird deine Nerven beruhigen.«
Dick nahm sich gleich zwei Stück und biss so gierig hinein, dass die Krümel durch das Abteil flogen. Dann ließ auch er sich wieder auf seinen Platz nieder. »Ja, ja, das würde dir sicher nicht passieren, du superordentliches Mädchen. Du weißt immer, wo du was hingetan hast.«
»Immerhin wusste ich, wo die Plätzchendose ist.« Anne grinste und biss in einen Keks. Dann wischte sie mit der flachen Hand die Krümel von den Polstern neben Dick. »Ich hoffe, dass du wenigstens weißt, wohin du deine Fahrkarte gesteckt hast, denn der Schaffner kommt bestimmt gleich.«
»Die Fahrkarte!« Dick sprang auf und begann erneut, hektisch in seinem Rucksack zu wühlen.
Jetzt hätte sich Anne beinahe vor Lachen an ihrem Plätzchen verschluckt. »Schon gut, Dick, du kannst dich wieder entspannen.« Sie schob die Hand in den vorderen Reißverschluss ihrer Reisetasche und zog drei Fahrkarten heraus. »Deiner und Julians Fahrschein sind hier bei meinem sicher aufgehoben. Vorsichtshalber. Damit es bei der Kontrolle nicht zu einer peinlichen Situation kommt.«
Julian erhob sich halb aus seinem Sitz und fasste sich an die Gesäßtasche. Er verdrehte die Augen und warf seiner kleinen Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. »Hey, ich hatte meine Fahrkarte hier in die Tasche gesteckt!«
»Wo sie überhaupt nicht sicher aufgehoben war!«, tadelte Anne nun auch Julian. »Du hast es ja nicht mal mitbekommen, dass ich sie da herausgefischt habe! So ein Leichtsinn.«
Julian blies die Backen auf und pustete Luft aus. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ja, ja, Miss Neunmalklug. Wenn wir dich nicht hätten.«
»Hättet ihr jetzt keine Plätzchen«, stellte Anne fest und klappte die Dose wieder zu, nachdem auch Julian sich bedient hatte. »Und jetzt könntet ihr mal wieder etwas freundlicher aus der Wäsche gucken. Oder wollt ihr Tante Alberta mit Miesepeter-Laune begrüßen? Ich finde es total nett von ihr, dass sie uns für die Weihnachtsferien eingeladen hat. Und zu Weihnachten kommen die Eltern nach und wir feiern alle zusammen. Das wird wunderschön!«
»Ja, ich finde es auch schön bei Tante Alberta im alten Pfarrhaus«, gab Julian zu. Er warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster. Regentropfen peitschen gegen die Scheibe und verschmierten die Staubschicht. »Ich hoffe nur, dass wir nicht die ganze Zeit so ein schlechtes Wetter haben werden.«
»Nur nicht so pessimistisch, großer Bruder!«, meinte Anne. »Irgendwann muss der Regen ja aufhören. In den Bergen werden wir sicher bald Schnee bekommen. Wann kommen wir denn zu der Station, an der George und Timmy zusteigen werden?«
Julian warf einen Blick auf seine Taschenuhr, die an einer goldenen Uhrkette an einer Gürtelschlaufe befestigt war. »Hayfield Cross. Wir müssten in ungefähr zehn Minuten da sein.«
Dick rieb sich die Hände. »Ich freue mich so, die gute alte George wiederzusehen. Das wird bestimmt wieder lustig!«
Anne zog den Mund schief. »Hauptsache, wir stürzen nicht sofort wieder in das nächste Abenteuer! Ich freue mich nämlich auf eine gemütliche Adventszeit mit Kerzenlicht, Apfelpunsch, Weihnachtsliedern und …«
Die Brüder warfen sich vielsagende Blicke zu. Anne mit ihrer heimeligen heilen Welt! Wie langweilig!
Kurz vor Hayfield Cross zog Julian das Abteilfenster ein Stück herunter und steckte vorsichtig den Kopf heraus. Zum Glück hatte der Regen etwas nachgelassen. Dennoch fegte kalte, feuchte Luft in das kleine Sechser-Abteil herein.
»Julian, du wirst dir einen fiesen Schnupfen holen!«, mahnte Anne. »Kannst du bei dem miesen Wetter nicht warten, bis wir in den Bahnhof eingefahren sind?«
»Und kannst du nicht endlich mal aufhören, ständig an Dick und mir herumzumeckern?«, schimpfte Julian. »Übrigens kann ich George und Timmy nirgendwo entdecken.«
»Waaas?« Jetzt stürzte auch Anne zum Fenster und drückte die Nase an der Scheibe platt. Tatsächlich, außer einer dicken Frau mit Hut und einem älteren Herrn mit Koffer war niemand auf dem Bahnsteig zu sehen.
»Wie kann das sein?«, rief Anne erschrocken. »Bist du sicher, dass wir hier in Hayfield Cross sind? Sie muss doch da sein!«
Julian zeigte auf das große dunkelblaue Schild auf dem Bahnsteig, auf dem in weißen Lettern Hayfield Cross stand.
Inzwischen war der Zug mit quietschenden Bremsen zum Stillstand gekommen, doch von George war noch immer nichts zu sehen.
»Bestimmt kommt sie auf den allerletzten Drücker angerannt!«, rief Dick aufgeregt.
Doch nachdem einige Fahrgäste ausgestiegen und die dicke Frau und der alte Mann im Abteil verschwunden waren, setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Ohne George und ohne Timmy.
Wo stecken bloß George und Timmy?
Das wirst du morgen erfahren.
Mit einem tiefen Seufzer ließ Anne sich auf das Polster sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und jetzt?«
Dick richtete sich auf und sah seine Schwester ernst an. »Liebe Anne, logischerweise haben wir gar keine andere Wahl, als unsere Fahrt einfach wie geplant fortzusetzen. Oder willst du diesmal diejenige sein, die die Notbremse zieht, um dann dem Zugführer zu erklären, dass wir unbedingt in Hayfield Cross warten müssen, bis unsere Cousine eingetrudelt ist?«
Anne zeigte Dick einen Vogel. »Natürlich nicht! Hoffen wir mal, dass George nicht plötzlich krank geworden ist oder einen Unfall hatte oder …«
»Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, fiel Julian Anne ins Wort. »Wie ich George kenne, erwartet sie uns bestimmt bereits gesund und munter im alten Pfarrhaus, weil sie auf irgendeine wundersame Weise schon längst dorthin gekommen ist. An einem anderen Bahnhof kann sie nicht mehr zusteigen, das war der letzte Halt vor unserem Zielbahnhof.«
»Hoffen wir es«, erwiderte Anne. »Mir käme es irgendwie komisch vor, ohne George bei Tante Alberta zu sein. Schließlich ist sie Georges Großtante und nicht unsere.«
»Um genau zu sein, ist sie Tante Fannys Großcousine«, verbesserte Julian. »Aber frag mich nicht, wie man dieses Verwandtschaftsverhältnis definiert.«
Das war natürlich Dicks Part! »Der Begriff Großcousine ist gar nicht klar definiert«, wusste er. »Aber man bezeichnet damit im Allgemeinen eine Cousine zweiten Grades. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist Tante Alberta eine Cousine von Tante Fannys Mutter. Oder von ihrem Vater? Egal.«
»Jedenfalls ist sie sehr nett und mir würde es nichts ausmachen, bei ihr die Ferien zu verbringen, auch wenn George nicht dabei wäre«, sagte Julian. »Also, für den Fall, dass George tatsächlich zu Hause krank im Bett liegt.«
Anne machte einen Schmollmund. »Trotzdem, es wäre einfach nicht dasselbe.«
»Mit George ist es immer viel lustiger!«, rief Dick. »Und viel spannender. Sie zieht die Abenteuer geradezu magisch an!«
Anne warf ihm einen mahnenden Blick zu. Er hatte das böse Wort gesagt. Abenteuer!
Für eine Weile horchten die drei auf das monotone Rattern des Zuges, während die Landschaft draußen vorbeisauste. Langsam wurde es hügeliger, allmählich näherten sie sich den Bergen. Dunkle Wolken hingen schwer am Himmel.
Noch hatten sie eine knappe Stunde Fahrt vor sich, und Dick schlug vor, ein Kartenspiel zu spielen. Wo er das hingesteckt hatte, wusste er auf Anhieb!
Kaum hatte er die Karten gemischt und verteilt, da hörten sie plötzlich ein seltsames Geräusch vom Gang her und Stimmen, die laut durcheinanderriefen.
Julian schob die Abteiltür auf, und schon kam wie ein Wirbelwind Timmy hereingeschossen. Er begrüßte die drei so stürmisch, dass die Spielkarten auf den Boden flogen.
»Timmy, bist du das wirklich?«, rief Anne und versuchte, Timmys Schlabberzunge abzuwehren. »Timmy!«
»Oh, wie ich sehe, komme ich gerade recht für ein Kartenspiel!« Plötzlich stand auch George vor dem Abteil, stemmte die Hände in die Seiten und grinste von einem Ohr zum anderen.
Dick boxte seiner Cousine kameradschaftlich gegen die Schulter. »George, wo kommt ihr denn her?«
George lachte und zeigte den Gang hinunter, wo einige Leute neugierig die Köpfe aus den Abteilen steckten. »Ähm, aus dieser Richtung da.«
»Aber wieso bist du im Zug?« Julian war vollkommen verwirrt. »Du warst in Hayfield Cross nicht am Bahnsteig und …«
George pfefferte ihren Rucksack mit Schwung auf einen der Sitze. »Ich wollte mir einen Spaß mit euch erlauben, und wenn ich mir eure Gesichter angucke, ist mit das ganz passabel gelungen.«
»A… aber«, stammelte Anne. »Ich verstehe immer noch nicht …«
George ließ sich auf einen der freien Plätze nieder und begann kichernd, die Spielkarten vom Boden einzusammeln. »Zum Glück ist mein Vater, euer Onkel Quentin, auch manchmal zu Späßen aufgelegt, und war sofort bereit, den Streich mitzuspielen. Es war zwar ein bisschen weiter zu fahren, aber er hat Timmy und mich nach Englebridge zu Bahnhof gebracht. Wir sind also schon heimlich eine Station vor Hayfield Cross eingestiegen. Und weil ihr mich bei dem Halt nicht erwartet habt, habt ihr dort zu meinem Glück auch nicht aus dem Fenster geschaut, und Timmy und ich konnten unbemerkt in den Zug huschen«, erklärte George. »Mein Plan ist also aufgegangen! Wir haben in einem dem hinteren Abteile gewartet. Ich dachte, wenn wir an Hayfield Cross vorbei sind und ich war nicht dort, dann würdet ihr mich schrecklich vermissen!«
George drückte sich die Hände, in denen sie noch immer die Spielkarten hielt, theatralisch an die Brust und verdrehte die Augen.
Anne stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. »Vermisst? Sorgen haben wir uns gemacht!«, schimpfte sie. »Wir dachten schon, dir wäre etwas passiert.« Zugleich musste sie zugeben, dass sie sich vor allem freute, dass George und Timmy nun da waren. Jetzt konnte der Weihnachtsurlaub bei Tante Alberta losgehen!
George hob die Karten in die Höhe und begann zu mischen. »Was ist? Wollten wir nicht Karten spielen?«
Julian schüttelte grinsend den Kopf und setzte sich. Das war mal wieder typisch George!
Und als sie kurz darauf ins Spiel vertieft waren, fiel plötzlich ein dunkler Schatten ins Abteil und eine tiefe Stimme sagte: »So, die jungen Herrschaften, die Fahrausweise bitte.«
Während George in den Rucksack griff und dem Schaffner die Fahrkarte für sich und Timmy hinhielt, schob Anne die Hand in den Reißverschluss ihrer Reisetasche und wurde auf einmal ganz blass um die Nase.
Die Fahrkarten waren weg!
Wo stecken nur die drei Fahrkarten?
Das erfährst du morgen.
Als sie den Zielbahnhof erreichten, hatten die Freunde ihre Siebensachen unter Annes strengen Blicken zusammengesucht, sodass auch ja nichts im Abteil zurückblieb, und standen zum Aussteigen bereit an der Tür.
Julian und Dick mussten immer noch über Annes entsetzten Blick kichern, als sie vergeblich die Fahrkarten in der Reißverschlusstasche gesucht hatte. Dass so etwas der ordentlichen Anne passieren musste!
Sie hatte nämlich die Fahrkarten, nachdem sie sie demonstrativ ihren Brüdern gezeigt hatte, keineswegs in die Reißverschlusstasche zurückgesteckt, sondern sie lediglich vollkommen in Gedanken auf dem Sitz neben der Reisetasche abgelegt. Und bei Timmys stürmischer Begrüßung waren sie hinter die Tasche gerutscht.
Anne war das furchtbar peinlich gewesen, doch der Kontrolleur war ein netter Mann, der mit einem freundlichen Lächeln geduldig wartete, bis Anne die Karten wiedergefunden hatte.
Nun hielt der Zug. Sie waren angekommen.
Julian drückte den orangefarbenen Hebel hinunter, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Schnaufen. Kalte Luft schlug ihnen entgegen!
Hier in den höheren Lagen waren die Temperaturen tatsächlich deutlich niedriger. Er regnete nicht, aber der Himmel trug auch hier einen grauen Schleier.
»Passt auf beim Aussteigen, es könnte sogar glatt sein!«, rief George, als Timmy auch schon mit einem Satz hinausgesprungen war.