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Haupt Verlag
Prof. Dr. Heike Englert, MPH, lehrt Ernährungsmedizin, Ernährungsberatung und Public Health im Fachbereich Oecotrophologie und Facility Management an der Fachhochschule Münster.
Dipl. oec. troph. Sigrid Siebert ist Oecotrophologin, staatlich geprüfte Diätassistentin und seit 1995 Dozentin an der Akademie Gesundes Leben in der Stiftung Reformhaus-Fachakademie in Oberursel.
Corinna Tigges, M.Sc., ist Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaftlerin und forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit über den Einfluss gesunder Lebensstile auf mentale und physische Erkrankungen.
Dipl. oec. troph. Alwine Kraatz ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Schwerpunkten Lebensmittelzusatzstoffe und Funktionelle Lebensmittel an der Fachhochschule Münster.
Christian Köder, M. Sc., ist Ernährungswissenschaftler und untersucht für seine Doktorarbeit den potenziellen Einfluss gesunder Lebensstile auf kardiovaskuläre Risikoparameter.
2. Auflage 2020
1. Auflage 2016
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Printed in Germany
E-Book Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim
UTB-Band-Nr.: 4402
ISBN: 978-3-8252-5217-5 (Buch)
ISBN: 978-3-8463-5217-5 (EPUB)
[7] Sowohl die „Pflanzenbasierte Ernährung“ als auch die „Vegane Ernährung“ mit ihrer vielschichtigen Bedeutung in medizinischen, psychologischen, sozialen, ökologischen oder politischen Kontexten ist seit 2016 noch einmal mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt.
Wir freuen uns, dass wir in der 2. Auflage das brisante Thema „Nachhaltigkeit und Vegane Ernährung“ in einem eigenen Kapitel adressieren konnten.
Die 2. Auflage wurde darüber hinaus um die wichtigsten neuen Erkenntnisse und statistischen Daten zur veganen Ernährung ergänzt. Die Zufuhrempfehlung von Vitamin B12 sowie der Proteinbedarf bei Älteren wurde aktualisiert.
Gerne werden wir Ihre Sachkritik und Anregungen in der nächsten Auflage berücksichtigen.
Münster, im Februar 2020
Heike Englert
Sigrid Siebert
Liebe Leserin, lieber Leser,
[8] Veganismus liegt im Trend. Die Zahl derer, die sich vegan ernähren, hat in den letzten Jahren besonders in den westlich geprägten Gesellschaften stark zugenomme. Einige Marktforscher beschreiben die Entwicklung als New Veganism. Veganismus wird von vielen nicht länger als eine Lebensart von Veganern mit hohen ethischen Ansprüchen angesehen – von Teilen der Bevölkerung oft assoziiert mit «Dogmatismus», «Lustfeindlichkeit» oder «Verzicht». Das Image des Veganers hat sich stark gewandelt und wird heute vielmehr mit Begriffen wie «trendy» und «lifestyle» assoziiert (EYMANN 2014). Der Ernährungsmarkt reagiert auf das neue Renommee und entwickelt eine Fülle von Produkten rund um die vegane Ernährung: von Kochbüchern und Lifestylemagazinen mit Rekordauflagen, dem Beginn veganer Supermarktketten mit explodierenden Umsatzzahlen, Produkten wie Tofuschnitzeln und veganem Fleischsalat bis hin zu tierfreier Mode (vegane Lederhose) und veganen Beauty-Produkten. Es vergeht kaum ein Tag ohne einen veganen Medienimpuls.
Der rapide Anstieg des Interesses an der veganen Ernährung erklärt sich durch unterschiedliche Entwicklungen, die alle mit dem übermäßigen Verzehr tierischer Produkte in Verbindung gebracht werden: Gesundheitsstatistiken zeigen eine stetig steigende Anzahl von Patienten mit ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten. Berichte in den Medien über Massentierhaltung, Umweltkatastrophen, Klimawandel, Hungerkatastrophen oder Ressourcenverschwendung bringen wachsende Teile der Gesellschaft zum Nachdenken über die eigene Ernährungsweise und sensibilisieren für einen verantwortungsbewussten Lebensstil. Dabei ist zu beobachten, dass sich die vegane Ernährung für einen Teil der Gesellschaft zu einer Weltanschauung und/oder zum Statussymbol entwickelt. So wird sie Ausdruck einer persönlichen Lebensweise und soll Gesundheit, Schönheit, Anerkennung, «gutes Gewissen» und/oder Sinnstiftung garantieren und wird durch das Weglassen tierischer Produkte von vielen nicht als Einschränkung, sondern als Reduktion von Komplexität in einer multioptionalen Gesellschaft empfunden.
[9] Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung des Themas steigt die Zahl kontroverser, zeitweilig emotional geführter Diskussionen. Besonders nachdem die WHO vermehrten Fleischkonsum als gesundheitsgefährdend eingestuft hat, fühlen sich «überzeugte Fleischesser» bedroht und wehren sich mehr oder weniger vehement gegen Entwicklungen hin zu einem fleischfreien Leben (WHO 2015). Verstärkt wird diese Reaktion durch die Sorge vor einer nicht ausreichenden Nährstoffversorgung bei veganer Ernährung.
Verbraucher stehen heutzutage vor komplexen Fragen. Sie sind herausgefordert, eine eigene Haltung zum Essen zu entwickeln, individuellen Anforderungen (eigenes Gewissen) und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Fragestellungen (Arbeitsbedingungen, Tierschutz, steigende Prävalenz Übergewichtiger und chronisch Erkrankter, Klimawandel und Umweltzerstörung) gerecht zu werden. Ist Veganismus der Weg zu einer zukunftsfähigen Ernährung mit hilfreichen Antworten? Auch im Internet (Food Blogs, Social Media) ist die vegane Ernährung ein stark diskutiertes Thema. Eine Gefahr liegt bei diesen Quellen jedoch darin, dass interessierte Verbraucher sich über Chancen und Risiken einer veganen Ernährung nicht unbedingt adäquat informieren können. Gerade bei der Frage nach der richtigen Umsetzung der veganen Ernährung sind wissenschaftlich fundierte Angaben und Hinweise jedoch wichtig.
Voraussetzung für die Entfaltung des Potenzials einer veganen Ernährung ist eine umfassende Aufklärung und ggf. professionelle Beratung, damit eine bedarfsgerechte Ernährung gewährleistet werden kann.
Dieses Buch richtet sich an Ernährungsexperten, Berater und Akteure im Gesundheitswesen sowie Studierende. Es dürfen sich ebenfalls die interessierten Verbraucher angesprochen fühlen – das Buch soll auch ihnen Möglichkeit zur Information, Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Thema geben. Es kommen Wissenschaftler und Experten aus der Praxis zu Wort, die wichtige Aspekte einer veganen Ernährung kritisch, fundiert und wissenschaftlich aufgearbeitet haben. Schwerpunkte des Buches sind:
Die Entwicklung und Beweggründe für eine vegane Ernährung,
die Nährstoffversorgung in unterschiedlichen Lebensphasen,
der Einfluss veganer Ernährung auf Gesundheit und Krankheit,
Integrative Therapiekonzepte und Best-Practice-Beispiele auf der Basis veganer Ernährung,
Vorstellung von veganen und funktionellen Lebensmitteln, deren lebensmittelrechtlichen Aspekten, Kennzeichnungen und Zertifizierungen sowie
Veganismus in Praxis und im Beratungsalltag.
[10] Den Autorinnen ist bewusst, dass vegane Ernährung auch im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte eine Rolle spielt. Dieser Aspekt konnte in der vorliegenden Arbeit keine Berücksichtigung finden. Aus Gründen der Lesbarkeit werden in diesem Buch für die Bezeichnung männlicher und weiblicher Personen nur maskuline grammatikalische Formen verwendet.
Die Herausgeberinnen möchten mit diesem Buch grundlegende Informationen für eine faktenbasierte Debatte über die vegane Ernährungsweise liefern und freuen sich über Anregungen und kritische Bemerkungen zum Thema.
Wir möchten an dieser Stelle allen Mitautorinnen danken, die diesen manchmal schwierigen Prozess mitgetragen haben, Herrn Lind vom Haupt Verlag für das Lektorat sowie Hartmut Bäumer und Lutz Augustin für die mentale Unterstützung.
Münster, im Februar 2016
Heike Englert und Sigrid Siebert
[11] Indien hat weltweit mit ca. 40 % den größten Bevölkerungsanteil an Vegetariern und Veganern. Dies erklärt sich aus der Geschichte des Landes: In der klassischen Hochkultur (ab 500 v. Chr.) wurden die religiösen Tieropfer kritisch hinterfragt und revolutionäre philosophische Grundüberzeugungen entwickelt, die auch ein unabhängiges ethisches Denken mit sich brachten (KAMLESH 2010). Der Verzicht auf getötete Tiere in der Ernährung geht dabei auf das Konzept der Gewaltlosigkeit (Ahimsa) zurück und spielt in einigen der großen Religionen Indiens (Hinduismus, Buddhismus und Jainismus) eine wichtige Rolle (STATISTA 2015; PLETCHER 2010). Die fleischlose Ernährung setzte sich daraufhin im ostasiatischen Raum nahtlos bis in die heutige Zeit fort.
Die ersten Aufzeichnungen über eine fleischlose Ernährung im Mittelmeerraum finden sich in den Lehren der antiken Philosophen; so z. B. bei Pythagoras (6. Jahrhundert v. Chr), Platon (384–322 v. Chr.), Plutarch (ca. 45–120 n. Chr.) oder Porphyrios (ca. 233–305 n. Chr.), die vornehmlich aus ethischen/ tierethischen Gründen auf Fleisch verzichteten (SPENCER 1993). Anders als in Ostasien, konnte sich eine fleisch- und tierfreie Ernährung in Europa aber nicht etablieren und wurde erst ab dem 19. Jahrhunderts wieder populärer. 1801 wurden in England der erste Vegetarier-Verein, 1847 die Vegetarian Society und ca. 100 Jahre später (1944) die Vegan Society ins Leben gerufen. Die Industrialisierung mit ihren negativen Folgen für Umwelt und Bevölkerung löste schließlich auch in Deutschland und der Schweiz Reformbewegungen aus, so z. B. die vegetarische Bewegung, die Abstinenz- und die Naturheilkundebewegung (vgl. LEITZMANN/KELLER 2013; GRUBE 2006; WOLFF 2010). Der Erste Weltkrieg, der Niedergang der Weimarer Republik und die Instrumentalisierung der «Volksgesundheit» auf der Grundlage des Rassendenkens durch die Nazidiktatur drängten die Lebensreformbewegungen vorübergehend zurück. Die wirtschaftlichen Folgen des Zweiten Weltkriegs und die daraus resultierende [12] Not führten zu einem neuen Pragmatismus – die Frage nach dem «Was sollte man essen?» wurde ersetzt durch die Frage «Was kann man sich leisten?» (SPIEKERMANN 2001). In der Folge dieser entbehrungsreichen Jahre wurde in der Nachkriegszeit der Fleischverzehr zu einem Statussymbol mit hohem Prestige. Erst mit der 1968er-Bewegung kam Kritik an diesem Lebenstil auf. Die skeptische Betrachtung der industrialisierten Produktionsweise von Nahrungsmitteln rückte dadurch wieder verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses, die sich nicht zuletzt mit der Parteigründung der Grünen 1980 im öffentlichen Bewusstsein niederschlug (MEADOWS et al. 2004).
Zur Jahrtausendwende hin hat sich der Fokus sukzessive von dieser zunächst politischen hin zu einer vermehrt auf das Individuum ausgerichteten Perspektive verschoben. Vor allem Verbraucher, die sich verstärkt über Lebensstile definieren, begannen ihre Ernährungsweise zu optimieren, oftmals angetrieben durch verunsichernde Ereignisse wie z. B. Skandale im Lebensmittelbereich oder Seuchen wie die BSE-Krise. Hierbei zeigt sich die Gegenwart mehr und mehr vielschichtig, sodass unter den Konsumenten ein Bedürfnis nach Reduktion von Komplexitäten entsteht.
Heute ist der Verzicht auf Fleisch und tierische Produkte ein Trend, der immer stärker in den Mainstream westlicher Gesellschaften drängt. Eine mögliche Erklärung, warum gerade jetzt die vegane Ernährung einen solchen Aufschwung erlebt, mag darin zu finden sein, dass sie einer Folie gleicht, auf die sich die Komplexitäten des Lebens projizieren lassen. Hierbei steht die Ernährung (und die Beschäftigung mit ihr) stellvertretend für politische und gesellschaftliche Fragestellungen, Konsum- oder Genussstile (HIRSCHFELDER und WITTMANN 2015). Auch wenn zurzeit wenig zuverlässige, repräsentative Daten vorliegen, so lässt sich doch in vielen westlichen Ländern eine steigende Tendenz hin zur fleischlosen Ernährung erkennen. Der Vegetarierbund Deutschland geht mittlerweile von ca. 10 % Vegetariern und rund 1,1 % Veganern in Deutschland aus (VEBU 2015).
In Österreich wird laut einer Studie des Österreichischen Instituts für empirische Sozialforschung in den letzten Jahren ein Anstieg vegetarisch lebender Personen von 2,9 % auf 9 % verzeichnet, darunter ca. 1–1,5 % Veganer, und auch in der Schweiz kann ein steigender Trend in diese Richtung festgestellt werden (VEGANE GESELLSCHAFT ÖSTERREICH 2015; SWISS VEG 2015).
Ursprung des Begriffs «vegan»
1847 wurde in England die erste vegetarische Gesellschaft gegründet («Vegetarian Society of the United Kingdom»), bei deren konstituierenden Versammlung das Wort «vegetarian» (abgeleitet von lat. «vegetus»: lebendig, frisch, kraftvoll) als offizielle Bezeichnung für die fleischlose Ernährung eingeführt wurde (SPENCER 2000, S. 238). Mit der Gründung der Internationalen Vegetarian Union (IVO) 1908 wurden erstmals auch die ethischen Konsequenzen des Milchkonsums innerhalb der vegetarischen Bewegung diskutiert. Daraus entstand 1944 die erste Vegan Society, die von Elsie Shrigley und Donald Watson ins Leben gerufen wurde und die «milchfreie Vegetarier» zusammenführte. Bei einem weiteren Treffen wurde die Bezeichnung strenge Vegetarier durch die Wortneuschöpfung «vegan» (Abkürzung aus vegetarian) ausgetauscht, um sich nunmehr auch begrifflich vom klassischen Vegetarismus abzugrenzen (STEPANIAK und MESSINA 2000).
Im Oxford English Dictionary erschien der Begriff «vegan» zum ersten Mal 1962 und wurde dort als «vegetarian who eats no butter, cheese, or milk» (Vegetarier, der keine Butter, keinen Käse und keine Milch verzehrt) erläutert. Diese Definition wurde Mitte der 1990er-Jahre erweitert. Demnach ist ein Veganer «a person who does not eat or use animal products», also eine Person, die keine tierischen Produkte isst oder verwendet (CONCISE OXFORD ENGLISH DICTIONARY 1995).
Eine rechtsverbindliche Definition der Begriffe vegan und vegetarisch gibt es bisher im deutschsprachigen Raum nicht (SCHWINK 2014).
Eine detaillierte soziodemografische und gesellschaftliche Beschreibung der Veganer fällt schwer. Die wenigen quantitativen Untersuchungen von Veganern (z. B. die Oxford Vegetarian Study, die Gießener Vegetarier Studie oder eine Studie des Marktforschungsinstituts YouGov) machen deutlich, dass Veganer im Gegensatz zu Vegetariern erst seit einiger Zeit als eigenständige Kohorte wahrgenommen werden (APPELBY et al. 1999; LEITZMANN/SCHÖNHOFER 1988; YOUGOV 2014). Laut YOUGOV 2014 ernähren sich vermehrt Frauen vegan (56 %). Veganerinnen und Veganer haben ein Durchschnittsalter von 35 bis 54 Jahren, leben vornehmlich in Singlehaushalten und zeigen einen höheren Bildungsstatus als der Rest der untersuchten Kohorte (YOUGOV 2014).
[14] Abb. 1-1: Überblick möglicher Veganertypen.
«Es ist nicht leicht, die Gruppe der ‹Veganer› in einer ‹Multioptionsgesellschaft› zu beschreiben. Es handelt sich hier um einen neuen Konsumtypus, der sich in den unterschiedlichen Ausprägungen von ‹Cheety Veganer› über ‹Flexi-Veganer bis hin zum konsequenten ‹Roh-Veganer› darstellt» (YOUGOV 2014).
So unterschiedlich die Beweggründe für eine vegane Ernährung sein können, so breit ist auch das Spektrum an gelebtem Veganismus. Je nach Persönlichkeit und Motivation sind Variationen bei der Umsetzung der veganen Ernährungsweise denkbar, die zunächst auf einer pflanzlichen Ernährung basieren, ggf. aber auch einzelne tierische Nahrungskomponenten mit einschließen (siehe [15] Abb. 1-1). Die unterschiedlichen Bezeichnungen entstammen sowohl der populären als auch der wissenschaftlichen Literatur und sind auf unterschiedliche Trends zurückzuführen.
Konsequente Veganer, wie die traditionellen Veganer, ernähren sich zu 100 % vegan. Sie verzehren ausschließlich pflanzliche Lebensmittel sowie andere nichttierische Lebensmittel (z. B. Pilze) und meiden Nahrung sowohl vom toten (Fleisch, Wurst) als auch vom lebenden Tier (z. B. Milch und Milchprodukte, Ei, Honig). Konsequente Veganer sprechen sich zudem gegen die Haltung von Nutztieren aus und verzichten auf jegliche Gebrauchsgegenstände, die unter Verwendung von Tieren hergestellt werden (z. B. Leder, Fell, Wolle, Seide und Horn). Aber auch Produkte mit tierischen Zusätzen wie Bienenwachs, Chitin, Gelatine, echtem Karmin, marinem Kollagen, Seidenextrakt und Kosmetikartikel, deren Hersteller Tierversuche durchführen, werden abgelehnt (REFORMHAUS EG 2015). Viele konsequente Veganer sind stark ethisch motiviert und beschäftigen sich über den Verzicht tierischer Lebensmittel hinaus mit Themen wie Tierrechten, Umweltschutz, Gesundheit und den globalen Problemen der Gegenwart und Zukunft (RUBY et al. 2013).
Fruganer und Roh-Veganer zählen ebenfalls zu den konsequenten Veganern, befolgen jedoch weitere Kriterien bei der Lebensmittelauswahl. Die Fruganer (alternative Bezeichnungen: Frutarier oder Fruitarier) setzen eine vegane Ernährung auf Basis von Obst und Früchten um. Sie konsumieren, was die Natur ihnen aus «freien Stücken» zur Verfügung stellt. Gemeint sind Produkte, die ohne Beschädigung der Pflanze bei der Ernte gewonnen werden. Dazu zählen Früchte und Beeren, die bereits vom Baum bzw. Strauch gefallen sind, Gemüsefrüchte (Tomaten, Gurken, Auberginen, Paprika, Kürbis etc.), Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen, Soja etc.), Blüten und Blätter, Samen und Nüsse. Eine Ausnahme bilden Knollen, Wurzeln und Blätter von Nahrungspflanzen, die bei der Ernte zerstört werden, wie Rote Bete, Möhren oder Kartoffeln und Getreidesorten wie Weizen oder Hafer, deren Stammpflanze bei der Ernte schon abgestorben ist. Roh-Veganer bevorzugen frische, nicht erhitzte Nahrung pflanzlichen Ursprungs. Nach der Gießener Rohkoststudie (1997) wird Rohkosternährung definiert als eine Ernährung «die weitgehend oder ausschließlich unerhitzte, pflanzliche Lebensmittel enthält». Hierzu zählen Obst und Früchte, Gemüse, Kräuter, Sprossen, Wildpflanzen, Avocado, Nüsse, Samen, Pilze, Öl und milchsauer vergorene Lebensmittel wie Gemüsemoste, Sauerkraut und Bohnen. Erlaubt sind auch Lebensmittel wie Trockenfrüchte oder kaltgepresste Pflanzenöle, [16] bei deren Herstellung eine gewisse Hitzezufuhr (40–42 °C) erforderlich ist. Befürworter einer veganen Rohkost gehen davon aus, dass so temperaturempfindliche Stoffe (z. B. einige sekundäre Pflanzenstoffe wie Chlorophyll, Vitamin C, Enzyme und ungesättigte Fettsäuren) erhalten bleiben und die unerhitzte Nahrung ihren Energiewert behält (KOEBNICK et al. 1997).
Zur Gruppe der konsequenten Veganer kann auch im weitesten Sinne der Pudding-Veganer gefasst werden, der sich zwar strikt vegan ernährt (Pudding aus Sojamilch oder Pommes in pflanzlichem Fett frittiert), dabei aber weniger auf eine ernährungsphysiologisch ausgewogene Zusammensetzung der Kost achtet. Bei ihm spielen hauptsächlich ethische Gründe eine Rolle, während die gesundheitlichen Aspekte eher untergeordnet sind (SCHWINK 2014).
Es bezeichnen sich durchaus auch andere Menschen als konsequent vegan lebend, wenn sie bestimmte tierische Produkte wie Honig, Fisch oder Meeresfrüchte etc. verzehren (ROTHGERBER 2014).
Honig-Veganer: Manche Veganer ernähren sich in Bezug auf tierische Lebensmittel, die von größeren Tieren stammen, konsequent vegan, sie machen aber in Bezug auf Honig und andere Bienenprodukte eine Ausnahme und verwenden bzw. verzehren diese.
Pesco-Veganer: Sie sind eigentlich keine Vegetarier/Veganer. Sie verzehren Fisch und eventuell Meeresfrüchte, ansonsten aber keine tierischen Lebensmittel.
Makrobiotiker: Die makrobiotischen Ernährungsweisen sind meist nicht konsequent vegan und sollten von veganen Ernährungsweisen unterschieden werden. Die Makrobiotik gründet auf den taoistischen Lehren und stellt das Prinzip der Gegensätze von Yin und Yang ins Zentrum. Ziel ist es, eine Harmonie zwischen den beiden Gegensätzen zu erreichen. Der makrobiotischen Ernährung kommt hierbei eine wichtige Rolle zu (vgl. KUSHI 2000). Sie besteht aus verschiedenen Vollkorngetreiden (50–60 % der Energiezufuhr), frischen Gemüsen (25 %) und Früchten (mehrfach pro Woche), Bohnen und Meeresgemüsen (5–10 %) sowie weiteren 5–10 % in Form von Suppen. Tierische Lebensmittel wie Fisch gibt es je nach Bedarf in kleinen Mengen (vgl. KUSHI 2000; ACUFF 1989, S. 32).
Nicht jeder, der sich als Veganer bezeichnet, setzt eine vegane Ernährung auch konsequent um. Laut einer Umfrage von YouGov leben von den rund 900 000 Veganern in Deutschland etwas weniger als drei Viertel strikt vegan (YOUGOV 2014). Ungefähr ein Viertel ernährt sich nur in Teilen vegan und gehört daher [17] zu den sogenannten moderaten Veganern oder Teilzeit-Veganern. In der Deutschen Vegan-Studie werden moderate Veganer (Teilzeit-Veganer) als Personen bezeichnet, die weniger als 5 % ihrer täglich aufgenommenen Energie aus Lebensmitteln tierischer Herkunft beziehen (WALDMANN et al. 2003). Es gibt keine klare Abgrenzung, ab wann sich ein Konsument Flexiganer nennen darf oder kann. Vegane Teilzeitmodelle reichen von 100 % tierfrei zu Hause, während außer Haus tierische Produkte verzehrt werden bis hin zu wochenoder monatsweise konsequent vegan. Fakt ist, dass Flexiganer weniger tierische Produkte konsumieren als der Durchschnittsbürger. Je nach Motivation und individueller Alltagsrealität, werden die Ausnahmen sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr flexibel gehandhabt. Unter den Flexiganern können Lifestyle-Gruppierungen mit unterschiedlichen Leitgedanken auftreten, die sowohl ihre persönlichen Lebensstile als auch gesellschaftliche und/oder politische Orientierungen mit der Ernährungsphilosophie des Veganismus kombinieren und individuell interpretieren.
Lifestyle-Veganer (Hedonisten und Selbstoptimierer): Im Gegensatz zum konsequenten, traditionellen Veganer entwickelt sich zunehmend eine neue Generation von Veganern, denen hedonistische Werte und die eigene Gesundheit weitaus wichtiger sind als weltanschauliche Motive. Der gesundheitlich motivierte Lifestyle-Veganer lebt den veganen Lebensstil weniger konsequent. Vielmehr bilden sich unterschiedliche Formen von Teilzeit-Veganern heraus, die ihre Ernährung flexibel gestalten. Dieser Veganer-Typus präsentiert sich selbstbewusst und will nicht durch Moral und theoretische Argumente wirken, sondern durch die Darstellung der eigenen Selbstoptimierung. Er stellt Schönheit, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowie das eigene Wohlbefinden als Lifestyle in den Mittelpunkt seines Lebens. Er praktiziert den Veganismus nach den Prinzipien von Spaß und Genuss und möchte, auch oft in einer Gruppe mit Gleichgesinnten, auf kulinarische Köstlichkeiten und gesellschaftliche Ereignisse nicht verzichten (vgl. YOUGOV 2014; EYMANN 2014).
LOHAS: Als LOHAs (Lifestyle of Health And Sustainability) werden Personen bezeichnet, die einen Lebensstil pflegen, der von Gesundheitsbewusstsein und -vorsorge sowie der Ausrichtung an Prinzipien der Nachhaltigkeit geprägt ist. LOHAS verstehen Essen als ein gestaltendes Moment der Gesellschaft – als ein politisches Instrument, mit dem jeder Konsument durch sein Einkaufsverhalten entscheidet, welchen Lebensmittelhersteller, welchen Landwirt oder welchen Lebensmittelanbieter er unterstützen will. Dabei geht es neben dem sensorischen Erleben um Werte, Anerkennung, Verantwortung und Ökologie (vgl. PAUL und ANDERSONS 2001, HORX 2010, VOIGT 2008).
[18] Freeganer: Freeganer verzichten in erster Linie auf Produkte, die aus dem kommerziellen Handel stammen. Ihr Motiv für diese Haltung ist oft eine antikapitalistische, anarchistische Überzeugung und die Kritik an der westlichen Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Sie greifen auf weggeworfene oder abgelaufene Waren und Supermarktabfälle zurück (sogenanntes «Containern») sowie auf geschenkte, selbst angebaute, gefundene oder gesammelte Lebensmittel. Freeganer wollen so auf Lebensmittelverschwendung und eine ungerechte Ressourcenverteilung aufmerksam machen und einen Beitrag zur Reduktion von Lebensmittelüberproduktion und -abfall leisten (COYNE 2011; MORÉ 2011). Der Begriff «Freeganer» wird unterschiedlich definiert, bezeichnet jedoch ursprünglich ethisch motivierte Veganer, die keine tierischen Produkte kaufen, jedoch tierische Produkte «aus dem Abfall» (z. B. aus einem Supermarkt-Container) konsumieren.
«Clean Eater» (= reiner Esser): Clean Eating ist ein Ernährungskonzept, welches zwischen erlaubten und verbotenen Lebensmitteln unterscheidet. Erlaubt sind reine Lebensmittel, d. h. «natürliche», «unverarbeitete» und «vollwertige» Lebensmittel; – verboten sind dagegen jene mit einem hohen Verarbeitungsgrad wie z. B. Weißmehlprodukte, Zucker, Fast Food, Süßigkeiten sowie koffeinhaltige Getränke und Alkohol. Außerdem sollen Lebensmittel mit künstlichen Konservierungsstoffen, Farb- und Aromastoffen sowie künstlichen Süßstoffen vermieden werden (RENO 2011). Clean Eater verzichten auf Fertiggerichte und Produkte mit mehr als fünf Zutaten, da diese meist nicht «clean» sind und den Körper daher mit «unnatürlichen» bzw. «chemischen» Substanzen belasten, (vgl. KÜHNE 2014; RENO 2011). Diese Ernährungsform entspricht in den meisten Punkten der klassischen Vollwert-Ernährung. Während die traditionelle vegane Ernährung mit frischen, regionalen, saisonalen, ökologisch und klimaneutral erzeugten Lebensmitteln von vielen Clean Eatern als die Ernährung der Wahl umgesetzt wird, wird der neue vegane Trend mit seinen zahlreichen, oft stark verarbeiteten Milch- und Fleischersatzprodukten den Ansprüchen des Clean Eatings nicht gerecht (KÜHNE 2014).
Die Entwicklung hin zu einer veganen Lebensweise mit ihren vielfältigen Ausprägungen ist ein sehr individueller Weg. Meist beginnt die Umstellung mit einer kritischen Betrachtung der bisherigen Essgewohnheiten. Sie werden als [19] Folge einer intensiven Selbstreflexion und eines Bewusstwerdungsprozesses infrage gestellt und in einem anschließenden Umsetzungsprozess modifiziert (BEARDSWORTH und KEIL 1991 a; RUBY 2012). Hierbei spielen zum einen intrinsische Faktoren wie individuelle Moralvorstellungen, die eigene Gesundheit, Geschmack oder Abneigung gegenüber Fleisch, aber auch extrinsische Faktoren wie Freunde, Peer Groups, die Familie oder soziale Medien eine wichtige Rolle (GUERIN 2014).
Der Weg zum Veganismus wird durch die Biografie und die Erlebnisse des Einzelnen wesentlich mitbestimmt. Dabei können die bewusst wahrgenommenen positiven und negativen Erfahrungen stimulierend bzw. inhibierend auf die Ernährungsumstellung wirken (LARSSON et al. 2003). MC DONALD (2000) sieht die Verhaltensveränderung als Resultat eines Lern- und Erfahrungsprozesses, der auch mit der Frage nach der eigenen Identität und dem Kohärenzgefühl einhergeht (vgl. Kap. 4). Der Lernprozess wird dabei von verschiedenen Eindrücken und Erfahrungen beeinflusst, die katalytische Wirkung haben können. Berichte über Massentierhaltung können z. B. das Bewusstsein für die mitunter brutale Behandlung von Nutztieren sensibilisieren und entweder Verdrängungsreaktionen oder den Wunsch nach mehr Information und möglichen Gegenmaßnahmen auslösen (MC DONALD 2000).
Die vegane Ernährungsumstellung kann schrittweise oder abrupt erfolgen (vgl. Abb. 1-2). Meist handelt es dabei jedoch um einen schrittweisen Prozess mit einer sukzessiven Veränderung der Ernährungsgewohnheiten; meist ausgehend von einem moderaten Fleischkonsum über den vollständigen Verzicht auf Fleisch (Vegetarismus), dem teilweisen Verzicht auf tierische Produkte (Teilzeit-Veganismus) bis hin zur Entscheidung, gänzlich auf tierische Produkte zu verzichten (Veganismus). Anfänglich wird der Fleischkonsum über einen Zeitraum von 6 Monaten bis 3 Jahren reduziert und später je nach Konsequenz teilweise oder ganz vom Speiseplan gestrichen. In dieser Umstellungsphase wird das Fleisch oft durch einen erhöhten Konsum von Milchprodukten bzw. Fleischersatzprodukten kompensiert. Danach folgt das Weglassen von Fisch und letztendlich aller Produkte tierischen Ursprungs (vgl. BECVAR und RADOJICIC 2008; MACNAIR 2001). Eine abrupte Umstellung erfolgt in der Regel in zwei Schritten und wird häufig durch ein bestimmtes einschneidendes Erleben, wie z. B. die Konfrontation mit dem Leid von Tieren in der Massentierhaltung, ausgelöst (JABS, DEVINE und SOBAL 1998; BEARDSWORTH und KEIL 1991b). Auch die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung, bei der die vegane Ernährung als sinnvolle Therapiealternative und/oder Ergänzung angesehen wird, kann zu einem plötzlichen Lebenswandel führen (RUBY 2012; CAMPBELL [20] und CAMPBELL 2011). Vornehmlich ethisch motivierte Personen verzichten zunächst auf Fleisch (Vegetarismus) und treffen schon bald danach die Entscheidung, vollständig auf tierische Produkte zu verzichten.
Abb. 1-2: Wege zur veganen Ernährung.
Bewusstwerdungsprozess und Verhaltensänderung
Wichtigste Voraussetzung für eine stabile Verhaltensveränderung ist die Information und Motivation.
In den Veränderungsstadien der Bewusstwerdung und Handlungsvorbereitung suchen die Klienten zunächst kognitive Strategien der Wissens- und Informationsvermittlung. Hier ist die Ernährungsberatung gefordert, professionelle Anleitung zu nutritiven, wissenschaftlich fundierten Maßnahmen zu liefern, um möglichen Mangelerscheinungen einer veganen Ernährung vorzubeugen.
Um eine verstetigte Veränderung mit neuen neuronalen Verhaltensmustern zu bewirken, reicht eine verbal geäußerte Bereitschaft nicht aus. Jede einzelne Erfahrung, ob gut oder schlecht, ist in den Synapsen des menschlichen Gehirns als neuronales Erregungsmuster abgespeichert. Je häufiger diese abgerufen werden, desto stabiler sind [21] sie («our brain becomes who we are»). Veränderungsprozesse benötigen «neue Spuren» im menschlichen Gehirn. Studien bestätigen, dass Nervenzellen bei «angemessener Stimulation» neue Gensequenzen abschreiben bzw. nicht benutzte stilllegen. Dies geschieht bis ins hohe Alter und bildet die Basis für ein lebenslanges Veränderungspotenzial. Untersuchungen haben gezeigt, dass Sicherheit und Vertrauen (sichere Bindung) bei gleichzeitiger Motivation (emotionaler Beteiligung) einen optimalen Mix an Neurotransmittern evoziert, welcher über bildgebende Verfahren nachweisbare, strukturelle Umbauprozesse im Gehirn hervorruft (HÜTHER 2006).
In den Veränderungsstadien der Handlung und Aufrechterhaltung suchen die Betroffenen vermehrt nach «behavioralen Strategien» als «Motoren» des Veränderungsprozesses. Der salutogene Ansatz nach Antonovsky stellt Veränderungsprozesse, wie die Veränderung der Lebensstil- und Essgewohnheiten, in einen übergreifenden, positiven biografischen Zusammenhang und verfolgt das Ziel der Bewusstseinsbildung und Mobilisierung eigener Ressourcen zur aktiven Bewältigung der momentanen Lebenssituation. Dabei spielt die vertrauensvolle Orientierung im Leben (Kohärenz), die sich aus der Verstehbarkeit (ich weiß, wieso ich etwas tue), der Handhabbarkeit (ich weiß, was ich tun muss) und der Sinnhaftigkeit (z. B. ich nehme nicht ab, weil der Arzt es mir angeordnet hat, sondern weil ich für meine Enkel fit sein möchte …) eine wichtige Rolle.
Die drei häufigsten Motive, sich vegan zu ernähren, sind ethische bzw. tierethische Überlegungen (Stichwort: Massentierhaltung), ökologische Überlegungen (Stichwort: Klimawandel) und die eigene Gesundheit (KERSCHKE-RISCH 2015). Das Spektrum der Motive unterscheidet sich bei den Veganern nicht wesentlich von jenem der Vegetarier, jedoch variiert die Interpretation und Konsequenz bei der Umsetzung. Für die meisten Veganer ist der Vegetarismus ein erster Schritt, um das Tierleid etc. zu mindern, aber als finale Ernährungsform nicht konsequent genug. Auch lässt sich beobachten, dass sich der primäre Beweggrund im Laufe einer individuellen fleischlosen Karriere verändern kann bzw. unterschiedlich gewichtet wird. So können z. B. Personen, die sich aufgrund ethischer Bedenken für den Veganismus entschieden haben, zu einem [22] späteren Zeitpunkt feststellen, dass für sie gesundheitliche Gründe für die Fortführung der veganen Ernährung immer bedeutender geworden sind (HOFFMANN et al. 2013). PRIBIS, PENCAK und GRAJALES (2010) konstatierten, dass die Motive zwischen Generationen oft unterschiedlich bewertet werden. Ihre Studienergebnisse zeigen, dass junge Menschen sich eher mit ethischen Motiven identifizierten, während ältere Menschen vornehmlich gesundheitliche Beweggründe für ihre Ernährungsumstellung nannten. Zudem spielten umweltbezogene Aspekte für jüngere Menschen eine wichtigere Rolle als für Ältere (PRIBIS, PENCAK und GRAJALES 2010).
Ethische bzw. tierethische Aspekte stellen für viele Veganer das Hauptmotiv für eine konsequent vegane Lebensweise dar und sind vor allem von der Empathie gegenüber Tieren und der Ablehnung des Tötens geprägt (vgl. WOSCHNAK 2012). Dabei steht das Verhältnis zwischen Mensch und Tier im Mittelpunkt der Betrachtung. Seit den 1970er-Jahren wird eine angeregte tierethische Debatte geführt (vgl. RIETHER und WEISS 2012; GRUBE 2006) und werden moralische Fragen formuliert und diskutiert wie etwa «Wie ist die Legitimität der Nutzung von Tieren für menschliche Interessen?», «Dürfen Tiere getötet werden?», «Wiegen viele Tötungsakte (z. B. Fische und Kücken) schwerer als ein einziger (z. B. Rind)?» etc. (vgl. RIETHER und WEISS 2012; BECVAR und RADOJICIC 2008; KAPLAN 2011). Für viele Veganer sind Berichte über Massentierhaltung ausschlaggebend für eine vegane Ernährung. Medien, Tierschutzorganisationen oder gemeinnützige Vereine leisten durch Informationen über nicht artgerechte Tierhaltung, Mastverfahren, Tiertransporte und Tiertötungen einen großen Beitrag zum steigenden Bewusstsein in der breiten Bevölkerung (BECVAR und RADOJICIC 2008). Nicht zuletzt sprechen sich viele Veganer mit der Entscheidung für eine tierfreie Kost gegen kapitalistische Systeme und industrielle Nahrungsmittelproduktion aus und wollen Unternehmen, die für die Massenproduktion tierischer Lebensmittel verantwortlich sind, nicht unterstützen (vgl. GUERIN 2014).
Karnismus
Die amerikanische Sozialpsychologin Melanie Joy prägte den Begriff «Karnismus», der das Gegenteil von Vegetarismus und Veganismus verkörpert. Fleischkonsum als natürlich und notwendig anzusehen, ist für den Karnismus charakteristisch. Durch diese Überzeugung gelingt es Fleisch essenden Menschen, ihren Fleischverzehr zu legitimieren und sich von der empfundenen Empathie für die betroffenen Tiere zu distanzieren (JOY 2010).
CAMPBELL und CAMPBELL (2011) kritisieren die Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten in der industrialisierten Welt und konstatieren, dass der verstärkte Verzehr tierischer Lebensmittel die Morbidität und Mortalität ernährungsbedingter Krankheiten in der Bevölkerung erhöht. Sie stützen sich dabei auf die Ergebnisse einer von ihnen als «China-Study» bezeichneten Studie (in ihrem gleichnamigen Buch). Diese Studie wurde in den 1980er-Jahren durchgeführt und korrelierte den Lebensmittelverbrauch (basierend auf Agrarstatistiken) in vielen Regionen Chinas mit den Krankheitsraten in diesen Regionen. Die Ergebnisse zeigen, dass in Regionen, in denen weniger tierische und mehr pflanzliche Lebensmittel verzehrt wurden, viele chronische Krankheiten wie Herz-Kreislaufkrankheiten oder Krebs weniger häufig auftreten.
Im Zusammenhang mit der Gesundheit sind auch Hygiene-Aspekte zu nennen: Fleisch und andere tierische Lebensmittel sind häufige Quellen für Lebensmittelvergiftungen. Auch Lebensmittelskandale, «food borne diseases» (z. B. BSE) oder der Einsatz von Masthilfen, Antibiotika und Hormonen in der Intensivtierhaltung sind für einige Verbraucher Grund genug, sich ausschließlich pflanzlich zu ernähren (DYETT et al. 2013; RADNITZ et al. 2015).
Das religiöse Motiv einer veganen Ernährung kann, ähnlich wie das ethische, an das Leid der Tiere gebunden sein. Als Ausdruck von Mitgefühl, Liebe und Gnade gegenüber der gesamten Schöpfung – also auch gegenüber den Tieren – wird auf den Verzehr von Fleisch verzichtet. Es treten aber auch andere Aspekte, wie das eigene Seelenheil, hinzu, welches man durch Abtöten von Begierden und eine asketische Lebensweise (z. B. Fleischverzicht) zu finden versucht (SZÜCS et al. 2012; GUERRAIN 2014; NATH 2010).
[24] Nicht selten beschreiben Veganer den Übergang von der omnivoren zur veganen Ernährung als eine Art Erwachen (GUERIN 2014). Der Veganismus wird dabei als sinn- und strukturgebendes Element erfahren; als Teil einer philosophischen, ideologischen und spirituellen Weltanschauung. Malcolm Hamilton beschreibt den Veganismus daher als quasireligiöses Phänomen. Viele Aspekte des Veganismus zeigen seiner Meinung nach Parallelen zu Religionen wie etwa hinsichtlich Verboten, Vermeidungsverhalten, Einhaltung von Disziplin oder Ehrfurcht vor dem Leben (HAMILTON 2000; HAMILTON 2006). Helmut Kaplan kritisiert in seinem Buch Vegan soll keine Religion sein, dass es den religiös motivierten Veganern nicht unbedingt um die Tiere geht, sondern vielmehr um das persönliche psychische Gleichgewicht und die Bekehrung anderer, eine vegane Glaubenshaltung anzunehmen. Nach Kaplan sehen viele Veganer ihren Lebensstil als Inbegriff ihrer eigenen Existenz an. Er ist der Ansicht, dass «Religions-Veganer» durch ihr extremes Verhalten das größte Hindernis für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung der allgemeinen Bevölkerung mit dem Veganismus darstellen (vgl. KAPLAN 2013).
Ökologische Motive werden selten als primäre Gründe für die Hinwendung zu einem veganen Ernährungsstil genannt und sind oft eng mit ethisch bzw. moralischen Ansichten verknüpft (FOX und WARD 2008). Die Ernährungsumstellung hin zur veganen Ernährung wird von ökologisch motivierten Veganern als Beitrag zum Erhalt des Planeten gesehen, da eine vegane Kost, die auf Produkten ökologischer Herkunft beruht, im Vergleich zur omnivoren und (in geringerem Ausmaß) zur vegetarischen Ernährung mit der geringsten Umweltbelastung verbunden ist (BARONI et al. 2007).
Die Welt wird mit Nahrungsknappheit und Welthunger konfrontiert. Fast 800 Millionen Menschen leiden weltweit unter Hunger, und bis zum Jahr 2050 wird ein Bevölkerungswachstum um weitere zwei bis drei Milliarden Menschen erwartet. Zeitgleich gibt es eigentlich mehr als genug Nahrung auf der Welt, um die gesamte Erdbevölkerung ausreichend zu ernähren. Je mehr tierische Produkte produziert werden, desto weniger Nahrung steht den Menschen zur Verfügung. Durch den Verzicht auf tierische Produkte könnte die gesamte derzeitige Weltbevölkerung angemessen ernährt werden, ohne dass eine Steigerung [25] der landwirtschaftlichen Produktion erforderlich ist (vgl. FAO 2015; WORLD WATCH INSTITUTE 2004).
Nach FOX und WARD (2008) ist Veganismus für die Praktizierenden ein zentraler Aspekt ihrer Identität, und die oft ideologisch geprägte Lebensmittelwahl ist eng mit der individuellen Persönlichkeit verknüpft (SNEIJDER und TE MOLDER 2009). Die Hinwendung zum Veganismus wird oft als eine sehr wichtige Entscheidung im Leben angesehen und kann als identitätsstiftendes Moment betrachtet werden (vgl. GRUBE 2006; LINDQUIST 2013). Mit der Wahl pflanzlicher Lebensmittel/Produkte bzw. dem Verzicht tierischer Lebensmittel/Produkte wird zum einen eine bestimmte Wertehaltung ausgedrückt, zum anderen definiert die Person damit, wer sie ist, sein möchte und wie sie vom Umfeld wahrgenommen werden will. Die vegane Ernährungsweise reproduziert und stabilisiert die persönlichen Werte und somit auch die eigene Identität. Hierbei spielen Eigenverantwortlichkeit und Selbstoptimierung eine wichtige Rolle. Sie kann so auch zum Symbol des Selbstmanagements werden und spiegelt wider, wie sehr die Person an sich arbeitet (LINDQUIST 2013).
[27] Vegane Ernährung schließt die Verwendung tierischer Produkte weitestgehend aus. Im Vergleich zu anderen Kostformen ist die Lebensmittelauswahl daher verhältnismäßig stark eingeschränkt. Aufgrund der pflanzenbasierten Lebensmittelauswahl weisen Veganer ein charakteristisches Bild der Nährstoffversorgung auf (BERKOW und BARNARD 2006; CLARYS et al. 2014; DAVEY et al. 2003). Einige Nährstoffe, wie zum Beispiel Vitamin C und Folsäure, sind durch eine rein pflanzliche Lebensmittelauswahl sehr gut abzudecken, während andere, vor allem Vitamin B12,