Die Wunderfrauen

Stephanie Schuster

DIE WUNDERFRAUEN

Von allem nur das Beste

Roman

Historischer Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Stephanie Schuster

Stephanie Schuster, Jg.1967, lebt mit ihrer Familie und einer kleinen Schafherde auf einem gemütlichen Hof in der Nähe von Starnberg, in Oberbayern. Hier spielt auch die Trilogie »Die Wunderfrauen«. Auch wenn die Figuren frei erfunden sind, könnten die Geschichten so oder so ähnlich passiert sein. Bestseller-Autorin Stephanie Schuster verwebt in ihren Romanen vier bewegende Frauenschicksale zu einem Panorama der 1950er, 1960er und 1970er Jahre.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der zweite Band der Bestseller-Serie »Die Wunderfrauen«: Vier starke Frauen zwischen Wirtschaftswunder und Hippiezeit, zwischen Nylons und Emanzipation, zwischen Liebe und Freundschaft.

 

Zu Beginn der 1960er Jahre stimmen die Errungenschaften der Frauenbewegung, die neuartige »Pille« und die vielen neuen Möglichkeiten Luise zuversichtlich, außerdem ist in ihrem kleinen Laden viel zu tun, er ist ihr ganzer Stolz. Voller Tatendrang plant sie einen Umbau – sie möchte mit der Zeit gehen und Selbstbedienung anbieten. Doch nicht alles klappt so, wie erhofft. Zum Glück sind ihre drei Freundinnen weiterhin an ihrer Seite: die alleinerziehende Helga, Marie, die um ihre Familie kämpft und Annabel, die endlich eine Tochter bekommt – ein Contergan-Kind. Gemeinsam merken sie: Das Schicksal hat sie in den letzten Jahren enger verbunden als sie dachten …

 

Der 2. Band der Wunderfrauen-Trilogie – drei Romane über vier Freundinnen, deren Leben wir über von den Wirtschaftswunderjahren Mitte der 1950er bis zu den Olympischen Spielen 1972 begleiten können.

 

Band 1 »Alles, was das Herz begehrt«

Band 2 »Von allem nur das Beste«

Band 3 »Freiheit im Angebot«

Band 4 »Wünsche werden wahr«

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung und -abbildungen: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Fotos von Arcangel Images, Trevillion Images und ullstein bild

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491231-8

Ja, gern ein Stückerl von der ganzen Welt, wenns hätten, Frau Dahlmann.«

 

Für meinen allerliebsten Thomas, der mich immer rettet, sogar wenn mir die Wörter ausgehen.

 

Und für meine immer größer werdende Wunderfamilie, ihr seid das pure Glück für mich!

4. September 1963

Hey, hey, bop shuop. Sie lehnte in ihrer Zelle am Gitter und lauschte den Klängen. M’bop bop shuop. Nun, wo alles, was sie sich mühsam erarbeitet hatte, zerbrochen war, klammerte sie sich an die Musik – das Einzige, was ihr jetzt noch Halt gab. Sofort setzte sich der Rhythmus in ihrem Körper fest. Sie konnte einfach nicht anders, ihre Füße, ihre Schultern zuckten im Takt. Schon erstaunlich, dass diese Band aus Liverpool seit neuestem sogar vom Bayerischen Rundfunk übertragen wurde und es so bis in den Keller des Starnberger Polizeireviers geschafft hatte. Na ja, mehr schlecht als recht – das Radio rauschte und knisterte. Vermutlich waren die Mauern einfach zu dick, schließlich wurden Verbrecherinnen wie sie hier gefangen gehalten. Egal, wie oft Wachtmeister Klein am Regler drehte, er brachte einfach keinen klaren Empfang zustande. Ihm war es sichtbar unangenehm gewesen, sie zu verhaften. Deshalb hatte er sich auch sofort bereit erklärt, auf sie aufzupassen, als seine Kollegen zum nächsten Einsatz ausrückten. In Starnberg ging es gerade hoch her.

Well, I talk about boys, don’t ya know I mean boys, well … Was sie nicht hörte, ergänzte sie in ihrem Inneren, sie kannte den Text auswendig. Wegen dieses Liedes hatte sie vor einem halben Jahr stundenlang vor dem Münchner Plattenladen angestanden. Zusammen mit einem Dutzend Jugendlicher aufgeregt bangend, dass ja nicht alle Singles ausverkauft waren, bevor sie an die Reihe kam. Und tatsächlich, sie erhielt eine

What a … rrrrschhhsch … of joy. Die Pilzköpfe quälten sich weiterhin durch den Äther.

Dietrich Klein gab auf und widmete sich seiner Brotzeit. Sie sollte sich an ihn halten, Dietrich, sein Vorname klang wie der Schlüssel zur Freiheit.

»Möchten’s ein Stück?« Bevor er in die Leberkässemmel biss, hielt er sie ihr ans Gitter, als wäre endlich Fütterungszeit für das Zootier. Obwohl ihr Magen anderer Meinung war, verneinte sie.

»Wirklich nicht? Ist ganz frisch, von in der Früh, der Leberkas ist fast noch warm.«

Sie schüttelte den Kopf, wollte ihm nicht erklären, dass sie schon länger kein Fleisch mehr aß. Bei einer Zigarette wäre sie dabei, aber Klein rauchte offenbar nicht. Vielleicht war es besser so. Sie erlaubte es sich auch nur noch in Ausnahmesituationen, jedenfalls in solchen, die sie bis heute dafür gehalten hatte. Wenn es danach ginge, sollte sie sich gleich eine ganze Schachtel gönnen. Sie zupfte an ihren Fingernägeln. Der

»Am Büstenhalter können Sie sich ja nicht erhängen«, hatte Kleins Kollege, ein glupschäugiger Kerl, gescherzt und ihre Oberweite gemustert. »Sie tragen offenbar keinen.«

Er leckte sich die Lippen. Selten um eine Antwort verlegen, war ihr in diesem Moment nichts eingefallen. Verflixt, wie hatte es nur so weit kommen können? So vielen Frauen hatte sie schon aus der Not geholfen, und immer war alles glattgegangen. Ausgerechnet bei Luise mussten sie sie erwischen. Schlagartig stand ihre ganze Existenz auf dem Spiel. Jetzt, wo sie so viel erreicht hatte, mehr, als sie sich jemals erträumt hatte. Wenn sie verurteilt würde, verlor sie nicht nur die Zulassung, der Staat nahm ihr auch das Kind weg. Jemand musste sie verraten haben, aber wer?

Der andere Polizist, der mit den übergroßen Augäpfeln, stürmte herein. »Einsatz, Dietrich, los.« Er zupfte sich an der Nase, als könnte er damit seinen Rundumblick regulieren. »Wir müssen ausrücken. Am See gab’s einen Gammleraufstand. Die rotten sich zusammen, sind schon auf dem Weg in die Stadt.«

»Etwa die Obdachlosen vom Bahnhof? Was haben die wieder angestellt?«

»Naa, irgendwelche Wilden, die am See herumlungern, vermutlich Studenten. Jedenfalls spielen sie ein ähnliches Gedudel wie du hier.«

»Das Übliche, die Personalien aufnehmen, nach Drogen suchen. Angeblich rauchen die stärkeres Zeug als Tabak, hat es geheißen, dazu laufen sie alle halbnackt herum.«

»Auch, äh, die Weiber?« Klein wischte sich über den Mund und schielte kurz zu ihr.

Der andere nickte. »Freu dich nicht zu früh. Die Kerle haben sogar Blumen in den Haaren.«

»Echt? Sind die vom anderen Ufer?«

»Weiß ich doch nicht. Ist mir auch egal, ob die aus Berg oder Ambach oder von sonst woher stammen, weg müssen sie jedenfalls.«

»Nicht von der anderen Seeseite, ich mein, ob das Hundertfünfundsiebziger sind, wegen der Blumen.«

»Ach so, das glaube ich kaum, so, wie die mit ihren Gspusis rummachen, aber bei diesen Gammlern weiß man es nie, vielleicht fahren die auch zweigleisig. Männlein und Weiblein sind bei denen sowieso kaum zu unterscheiden, mit diesen langen Haaren. Mein Lucki, wenn der mir eines Tages so daherkommt, dem schneide ich eigenhändig die Zotzen ab.«

»Der ist doch erst drei.«

»Sein Glück! Und auch, dass er noch nicht in die Schule geht, dort lernen sie nämlich neuerdings solch einen Schmarrn. Also los, es gab eine Anzeige, öffentliches Ärgernis, die Anwohner und auch die Hotelgäste vom Bayerischen Hof fühlen sich belästigt.«

Vermutlich waren die jungen Leute einfach bloß mit Gitarre und Tamburin auf einer Wiese gesessen und lösten allein durch diesen friedlichen Anblick bei den Starnberger Spießbürgern Wut aus, dachte sie sich, als sie den beiden zuhörte.

»Nichts, die läuft uns schon nicht davon, kriegt höchstens gleich Gesellschaft von ihresgleichen.« Man zählte sie noch zur Jugend, wenigstens das. »Schauen wir mal, wie viele Gammler in eine Zelle passen.« Der Mann lachte.

»Aber das ist doch eine Doktorin.« Klein flüsterte nun. »Meine Frau hat vor drei Wochen bei ihr entbunden.«

»Bist du etwa befangen, Dietrich?«

»Ich? Ich war doch nicht dabei. Also bei der Geburt. Aber die Gerda war superzufrieden, und das krieg ich selten selber hin.«

»Super, aha. Redest du jetzt auch schon wie die? Na, dann wirst du dich ja mit den Gammlern verstehen. Komm, wir müssen.« Endlich stand Klein auf, schüttelte sich die Semmelbrösel von der Diensthose, steckte den Schlüsselbund ein und ging mit Polizist Gscheithaferl hinaus.

Sie lauschte den Schritten der beiden nach. Das Radio rauschte noch immer, wahrscheinlich hatte Dietrich den Knopf nicht ganz ausgedreht. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Plopp, ploppplopp, plopp. Sie hätte sich ein Lied dazu ausdenken können, doch ihr war nicht mehr danach. Die Angst schlich sich in die Zelle, machte es sich bequem und feixte zu ihr herüber, als hätte sie gewusst, dass sie am Ende die Oberhand gewann. Was, wenn die Polizisten nie mehr zurückkamen, sie einfach vergaßen oder sie aushungerten, bis sie zwischen den Gitterstäben hindurchfiel? Ausgerechnet heute, an diesem besonderen Tag, saß sie hier fest. Im wahrsten Sinne. Bei Dahlmanns feierten sie bestimmt längst. Wie sie Luise kannte, hatte sie lauter Köstlichkeiten vorbereitet, als Geschenk zum Zehnjährigen für die Kunden und Gäste. Kaum zu glauben, dass die Ladeneröffnung schon so lange zurücklag. Es waren harte Jahre gewesen, Zeiten

 

Von wegen Jubiläum. Das Schild an der Tür war auf »Geschlossen« gedreht. Der Wind blies durch die Lücke in der Mauer und wehte Herbstlaub herein, als hätte im Dahlmannhaus ein Erdbeben gewütet. Luise stand auf, zog die Plane wieder vor das Loch und lehnte den Besen dagegen. Wenigstens reinregnen sollte es nicht. Ein Notbehelf, für mehr blieb jetzt keine Zeit. Kurz schweifte ihr Blick durch den Laden, der kaum wiederzuerkennen war. So viele Jahre hatte sie ihn gehegt und gepflegt, stets das Sortiment erweitert, Reklame gemacht, Rabattaktionen geplant, um die Stammkunden zu halten und gelegentlich zum Staunen zu bringen, und natürlich auch, um neue Kunden zu gewinnen. Es durfte keinen Stillstand geben. Das Geschäft musste florieren. Und nun das. Die Kasse, die Waage und die Kühltheke waren mit Tüchern verhängt, in den Ecken lag Schutt. Auf den Gläsern und Dosen, in allen Regalen lag Staub. Ihr fiel der Eröffnungstag vor zehn Jahren ein und welche Mühe sie sich damals gegeben hatte. Nach der wochenlangen Organisation, in der sie alles bis ins letzte Detail ausgetüftelt hatte, war sie vor Anspannung fast geplatzt. Doch als es endlich losging, kam keiner, und die Ersten, die sich dem

 

Josie hockte dicht an der Seite von Marie und ahmte jeden Pinselstrich nach. Sie himmelte ihre Tante an. Dabei spürte Luise, dass ihrer Schwägerin Marie nach allem, was bei ihr gerade passierte, gar nicht nach Malen zumute war. Wahrscheinlich war sie einzig den Kindern und ihr zuliebe noch mal hier. Rasch verdrängte Luise die Gedanken an ihren Bruder und blickte zu Annabel. Die hatte bestimmt genauso viele Sorgen, aber stand ihnen allen wie selbstverständlich in ihrer Not bei. Sie schrieb die Buchstaben mit Bleistift vor, damit die Kinder sie nachmalen konnten. Selbst Bellas zweijährige Tochter

David sprang auf. »Dann los, kommt, jetzt befreien wir meine Mama aus dem Gefängnis.«

Zwei Jahre zuvor
1961

 

Für Kinder:

Ausschneidepuppen

Kleine Plastiktiere

Eiskonfekt

Faltlampion

Puffreis

Lutscher

Sammelkarten

Zahnsammeldose (für Schulanfänger)

Miniautos

Flugzeug als Bastelset

Ring

Tröte

Luftballon

Pustefix-Seifenblasen

Stifte

Anspitzer in lustigen Formen

PEZ-Spender

(Was noch? Josie fragen.)

 

Weitere Wundertüten für die Dame des Herzens, zur Genesung, zu Weihnachten, zu Ostern, für Papi (Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit beachten!), zum Geburtstag, als Entschuldigung usw.

 

Prozessbeginn gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem. Unser Bundeskanzler Konrad Adenauer sagte im Fernsehen, dass er sich wünscht, dass in diesem Prozess die volle Wahrheit ans Licht kommt und dass Gerechtigkeit geübt wird. (Was für ein Wunsch, bei sechs Millionen ermordeter Juden!)

 

Kurze Notiz: Sammelpakete in die Ostzone vor Ostern verschickt. Täglich fliehen immer mehr Menschen aus der DDR, heißt es in den Nachrichten und in der Zeitung. Eine Mauer soll gebaut werden. Der Berliner Bürgermeister Willy Brandt telefoniert mit John F. Kennedy wegen dieser Ost-West-Angelegenheit.

 

Aus: Luises Ladenkunde-Album

»Mama, Mama. Ich habe einen Freund.« Josie stürmte herein und brachte die Ladenglocke über der Tür zum Bimmeln. Ungeachtet dessen, dass Luise gerade bediente, stellte sie den Schulranzen in den Durchgang zur Wohnung, wo garantiert der Nächste drüberfallen würde, kletterte zu ihr auf die Theke und kniete sich zwischen Kasse und Waage.

»So, so, Ihre Tochter hat also schon einen Freund, etwas früh, finden Sie nicht, Frau Dahlmann?« Die Kundin, Frau Kreitmayer, nahm das Wechselgeld entgegen und zählte es nach.

»Überhaupt nicht, das war sogar sehr spät«, erwiderte Josie. »Es hat doch schon gegongt.«

»Ganz schön vorlaut, Ihre Kleine.« Frau Kreitmayer steckte die restlichen Münzen ein.

Josie musterte die Dame mit gehobenen Augenbrauen, wie immer, wenn sie etwas nicht gleich begriff, aber verstehen wollte. Dann umhalste sie Luise und flüsterte: »Mama, kann ich eine Brause?«

»Warum flüsterst du?«, fragte Luise.

»Die Tante hat gesagt, dass ich zu laut war.« Josie gab ihr ein Bussi auf die Wange, öffnete, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, eines der großen Gläser, schnappte sich einen Zitronenwürfel und wickelte ihn aus. Eigentlich hatte Luise Josie oft genug ermahnt, dass sie vor dem Mittagessen nicht naschen durfte, aber wie sollte sie jetzt noch nein sagen? »Mein neuer Freund ist mitten in Schönschrift reingekommen und sitzt neben mir,

»Erzähl mir das später genauer, ja?« Sie drückte ihre Tochter kurz an sich. »Erste Klasse, Frau Kreitmayer. Das war für uns alle aufregend damals, nicht wahr?« Sie lächelte die Kundin an.

»Wie man’s nimmt.« Frau Kreitmayer rümpfte die Nase, als verbände sie mit ihrer Schulzeit bloß üble Gerüche, hängte sich das vollbeladene Einkaufsnetz in die Armbeuge und wandte sich ab. Im Hinausgehen streifte sie mit ihrer ausladenden Hüfte den Senfglasturm, den Luise vorhin so mühsam auf der Säulenvitrine errichtet hatte, und brachte ihn zum Wanken.

Rasch sauste Luise um die Theke und umfasste die Gläser mit beiden Armen, von ganz oben stürzte ein Glas ab, aber der Rest blieb stehen. Das war knapp. »Nichts passiert«, sagte sie, als der Turm stabilisiert war, und öffnete der Kundin die Tür. Das Glas lag tatsächlich unbeschädigt auf dem Linoleum. Wie oft hatte sie schon beim Putzen den abgewetzten Bodenbelag verflucht. Eigentlich gehörte er längst erneuert, doch nun war sie dankbar dafür. Auf kunstvollen Fliesen, wie sie ihr zur Ladengründung vorgeschwebt hatten, wäre es bestimmt zerschellt. »Pfia Gott, Frau Kreitmayer, und beehren Sie mich bald wieder.« Sie atmete auf, als die Kundin draußen war, und sah sich in ihrem Verkaufsraum um. Vielleicht war es doch keine glorreiche Idee gewesen, den süßen Senf, das Sonderangebot der Woche, gleich neben dem Eingang zu platzieren? Besser sie räumte ihn weiter nach hinten. Bloß wohin? Jeder Zentimeter war bis unter die Decke ausgefüllt. Kaum dass sich die Kunden oder sie als Verkäuferin noch frei bewegen konnten, ohne dauernd irgendwo anzuecken und etwas

Sie wandte sich ihrer Tochter zu, die immer noch auf der Theke hockte und ihre Brause lutschte. »Also, der Neue ist einfach so, ganz allein in eure Klasse gekommen?«

Josie nickte. »Es hat geklopft, und Fräulein Ruf hat aufgemacht und gefragt, neben wem er sitzen darf, und da hab ich mich gemeldet, sonst keiner. Alle finden den komisch, aber ich finde ihn nett. Und dann hat er sich auf dem Schulhof mit dem Rudi gehauen.«

»Wieso, was ist an dem komisch?« Luise zog die untersten Senfgläser vorsichtig auseinander, damit der Turm nicht so leicht einstürzte, räumte dafür die Kirschen, die diese Woche auch im Angebot waren, zurück ins Regal und stellte das Schild mit dem reduzierten Preis davor.

»Weiß nicht, der Rudi hat gesagt, dass er keinen Papa hat, und dann schaut er auch noch anders aus als wir.«

Luise dachte an ihren jüngsten Bruder Manni, der sich mit seiner geistigen Behinderung in der ersten Klasse der Volksschule auch schwergetan

 

Josie hievte ihren Schulranzen auf die Theke und leerte den Inhalt auf dem Einwickelpapier aus. »Was hast du vor?«, fragte Luise.

»Hausaufgaben.« Ihre Tochter schlug das Schreibheft auf, beugte sich vor und begann, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit dem Eintragen. Die Lehrerin hatte am Anfang jeder Zeile ein Beispiel in Rot vorgemalt. Josie probierte große L-Schwünge und seufzte, als sie über die Zeile hinausglitt und radieren musste. Die Seite knitterte.

»Setz dich besser in die Küche, sonst wickle ich die Weißwürscht noch versehentlich in dein Schulheft. Es ist erst zwanzig vor zwölf, Josielein, bestimmt kommt noch jemand, und ich muss bedienen.«

»Ich mag aber bei dir sein.«

»Na, die paar Meter um die Ecke, da hörst du mich trotzdem und ich dich. Du willst doch ein Sternchen ins Heft, oder? Da muss es schön aussehen.« Josie nickte und strich die Seite glatt. Bei zehn Sternen verteilte Fräulein Ruf ein Sammelblatt mit einem Käfergedicht, die hütete ihre Tochter wie einen Schatz.

Prompt ging die Ladenglocke, zwei Frauen schlängelten sich, die Angebote rechts und links prüfend, zur Theke vor. Die eine, Frau Zinngraf, trug Lockenwickler unter dem Kopftuch. Schnell hob Luise Josie von der Theke und half ihr, die Sachen zurück in den Schulranzen zu stecken. »Bitte, mach’s in Ruhe und sorgfältig am Tisch, vielleicht bist du dann bis

Nein, die geräumige Küche brauchte sie, die musste bleiben. Wo sollte sie sonst die Kuchen, die Salate und den Leberkäs für die Vitrine zubereiten, die sich als Dahlmann-Spezialitäten etabliert hatten? Im ersten Stock war wenig Platz, selbst wenn

 

Kaum saßen sie um eins bei Pfannkuchen mit Marmelade und Apfelmus, klingelte es an der Ladentür. Manche Kunden gönnten Luise nicht einmal die Mittagsruhe.

»Das ist er bestimmt, Mama.« Josie sprang auf und lief durch den Durchgang, um aufzusperren. Der Schlüssel steckte im Schloss. Ehe Luise fragen konnte, wen sie meinte, stand ein schwarzer Junge in der Küchentür. »Ich habe David gesagt, er kann zu mir zum Spielen kommen, bis seine Mama von der Arbeit wieder da ist. Er darf doch?«

Nicht nur sein Name kam Luise bekannt vor, schlagartig, als sie ihn anschaute, begriff sie, wer er war. »Natürlich. Grüß dich Gott«, brachte sie gerade noch heraus, dann musste sie sich erst einmal sammeln. Sie wandte sich zum Küchenschrank um und holte einen Teller für ihn heraus. David, natürlich. Zuletzt hatte sie ihn als zwei Monate altes Baby gesehen, und das war bald sieben Jahre her. Ein richtiger Wonneproppen war er damals gewesen, zum Anbeißen süß. Nun stand ein schmaler Bub vor ihr. Auch wenn sein Gesicht mit den großen Augen und der kleinen Nase das eines Schulkindes war, so war er noch genauso niedlich wie damals. Kein Wunder, dass er ihrer Tochter auf Anhieb gefallen hatte. »Bist du etwa der David Knaup?«

Er nickte und reichte ihr mit einer Verbeugung die Hand. »Grüß Gott, Frau Dahlmann.« Gut erzogen dazu. Augenblicklich hatte er ihr Herz erobert, wie gleich nach seiner Geburt.

»Du bist hier im Haus geboren, in Josies Zimmer, da hat damals deine Mutter gewohnt.« Luise merkte, wie schwer es ihr fiel, das auszusprechen. Es fühlte sich an, als würde der

David nickte und starrte auf den Pfannkuchenberg. »Hast du Hunger?«

»Ein bisschen.« Kaum hatte sie ihm einen Pfannkuchen auf den Teller gelegt, saß er schon am Tisch, strich sich Marmelade darauf. »Wohnt ihr wieder in Starnberg?« Sie wollte den Jungen nicht aushorchen, aber neugierig war sie schon. Auch wenn sie keinen Kontakt miteinander gehabt hatten, so trugen ihr die Kunden noch eine Weile die Neuigkeiten zu. So wusste sie, dass Helga im Hotel Bayerischer Hof gearbeitet hatte, bevor sie und ihr Kind nach München gezogen waren. Luise nahm an, dass sie sich wieder mit ihren Eltern versöhnt hatte und nun von ihnen unterstützt wurde. Geldsorgen dürfte sie keine mehr haben.

»Wir sind erst gestern umgezogen, weil meine Mama im Seekrankenhaus arbeitet. Dafür habe ich jetzt ein eigenes Zimmer. Wir wohnen gleich neben der Schule, in einem Haus auf dem Berg.«

Luise staunte. »Arbeitet Helga wieder als Krankenschwester?«

David schüttelte den Kopf und streute sich Zimtzucker über das Essen. »Meine Mama ist eine Doktorin.«

»Wirklich?« Also hatte sich Helgas Traum erfüllt, und das in relativ kurzer Zeit, und obwohl sie Alleinerziehende war. Aber vielleicht gab es ja wieder einen Mann in ihrem Leben, und sie hatte sogar geheiratet? Aber dann hätte David sie vorhin bestimmt verbessert, als sie seinen Nachnamen genannt hatte.

»Na klar.« Bevor er sich auf den nächsten Pfannkuchen stürzte, zog er den bunten Wollpullover aus, der selbstgemacht wirkte. Ob Helga als Ärztin noch Zeit hatte zu stricken? Das hatte ihr Luise beigebracht. »Oh, warte mal, du blutest am Ellenbogen.« Ihr fiel ein, dass Josie erzählt hatte, dass er sich geprügelt hatte. »Tut’s sehr weh?«

»Geht schon.« Er schöpfte sich Apfelmus auf den Teller.

»Besser, ich mach dir ein Pflaster drauf«, sagte Luise.

»Wir haben welche mit Blumen oder Eisbären.« Josie lief zur Schublade, wo das Verbandszeug lag. Sie liebte Pflaster und malte sich manchmal mit rotem Filzstift eine Wunde auf die Haut, damit sie eine Packung anfangen durfte, wenn Luise wieder eine neue Lieferung erhielt. Zum Glück war ihrer Tochter bisher außer ein paar Schrammen beim Sturz vom Roller noch nichts passiert. Als Luise die Wunde mit Jod desinfizierte, biss sich David auf die Lippe und tat keinen Mucks. Der Bub war zäh. »Weiß deine Mutter Bescheid, dass du bei uns bist?«

»Ich hab meiner Mama einen Zettel geschrieben. Josie hat mir ganz genau beschrieben, wo sie wohnt. Den Berg runter, an der Ampel links, dann bei der Kirche vorbei und, schwupp, bis zum Laden vor.« Er aß weiter, nahm sich noch mal Apfelmus nach.

»Schwupp, genau.« Josie lachte. »Wollen wir Indianer spielen?«, fragte sie, kaum dass sich David den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte. »Was willst du sein? Häuptling oder Cowboy?«

Er konnte nicht antworten, hatte noch den Mund voll, kaute und schluckte schwer. Josie zappelte um ihn herum. Dann

»Du musst nicht Sie zu mir sagen, ich bin einfach die Luise oder die Tante Dalli, so sagen die meisten Kinder zu mir.«

»Komm.« Offenbar wollte ihre Tochter David für sich allein haben, sie zog ihn am Arm aus der Küche. Für Luise wurde es sowieso Zeit, die Butterkringel für den Nachmittag auszubacken.

»Und deine Hausaufgaben, Josie? Vorhin wolltest du die unbedingt gleich erledigen?«

»David hat doch seinen Schulranzen nicht dabei, ich mach sie später, wenn er abgeholt ist.« Schon waren sie fort.

Plötzlich dämmerte es Luise, was das bedeutete. »Wartet mal«, wollte sie ihnen hinterherrufen, besann sich, als sie Josie von draußen juchzen hörte. Luise räumte das Geschirr ins Spülbecken und sah den beiden eine Weile durchs Fenster zu, wie sie auf dem gepflasterten Weg vor der Garage auf Stelzen zu gehen versuchten, die Hans gebaut hatte. Eine Unruhe erfasste Luise. Nachher würde sie Helga nach all den Jahren wiedersehen. Wie sollte sie ihr begegnen? So tun, als ob nichts gewesen wäre? Nein. Sie behandeln wie eine Fremde? Schwierig. Ihr alles an den Kopf knallen, was bisher unausgesprochen geblieben war und sie seither beschäftigte? Doch wie die Worte dafür finden? Und auch, wozu? Sie wollte mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben, nie mehr. Eigentlich hatte sie gedacht, sie könnte sie aus ihrem Leben streichen. Und jetzt das. Sie holte Luft und atmete aus. Noch immer war es ihr unbegreiflich, was Helga ihr angetan hatte. Dabei hatten sie einander vertraut, sich gegenseitig unterstützt und alles geteilt. Ausgenommen ihr Mann, dass der nicht zum Teilen gedacht gewesen war, hatte sie für selbstverständlich gehalten. Luise

Morgens um halb sieben war oft die einzige Zeit des Tages, die sie für sich allein hatten. Tante Polli schlief noch, die zwei größeren Kinder auch, und Manni war bereits draußen mit dem Federvieh beschäftigt. Nachdem sie um fünf Uhr aufgestanden waren, ging Martin in den Stall, um zu melken und danach die Schaf- und Ziegenherde auf die Weide zu treiben. Marie filterte die Ziegenmilch, die sie zum Käsen brauchten, heizte ein und spülte das Geschirr und wickelte Linda, die sich komplett eingenässt hatte. Eigentlich hatte Marie gehofft, dass ihre jüngste Tochter danach einschlafen würde, doch sie wirkte hellwach, brabbelte laut vor sich hin.

»Psst. Sei leise, du weckst sonst Alma und Konrad auf.«

»Lala, Kona?« Sie plapperte die Namen ihrer Geschwister nach, die nebenan schliefen. Linda lernte viel früher sprechen als die anderen. »Mamamam«, krähte sie nach einer Weile. Was wohl Mama und Manni gemischt war. Und dann noch lauter »Mamamam«. Sie fing zu weinen an. Marie griff sich an die Brust, die spannte. Letzte Woche hatte sie erst abgestillt, ein Kampf für sie beide, der noch nicht ausgefochten war.

»Hast du Hunger, soll ich dir ein Fläschchen machen?«, flüsterte sie, küsste Linda die Tränen weg und hob sie auf den Arm. In der Küche zerdrückte sie eine Banane und rührte sie in das Fläschchen mit angewärmter Ziegenmilch. An den Kinderstuhl geschnallt, damit sie sitzen blieb, nuckelte Linda zufrieden, drehte an ihren Flaumhaaren. Dabei gab sie knurrende

»Papap«, begrüßte Linda Martin, als er hereinkam.

»Guten Morgen, ihr zwei.« Er küsste seine Tochter und gab auch Marie einen Kuss, setzte sich an den Tisch, um sich den Berg Brote für die Waldarbeit zu schmieren. Marie sah ihm zu, trank ihren Tee und genoss es, Martin noch mal nahe zu sein, bevor er das Haus verließ. Sie würde später mit den Kindern und der Tante frühstücken.

Nachdem sie sich endlich gefunden und geheiratet hatten, war es ihnen beiden schwergefallen, sich tagsüber wieder zu trennen. Eigentlich hatten sie sich ein gemeinsames Leben rund um die Uhr vorgestellt, aber das Geld aus der Landwirtschaft reichte nur knapp, um die immer größer werdende Familie zu ernähren. Die Preise für ihre Erzeugnisse schwankten und fielen durch die Öffnung des Weltmarktes eher. Martins regelmäßiges Einkommen als Holzfäller und Landschaftspfleger entlastete sie, so dass sie den Kindern Schuhe kaufen oder ihnen einen Herzenswunsch zum Geburtstag erfüllen konnten. Allerdings blieb nun die meiste Arbeit auf dem Hof an Marie hängen. Nach Feierabend versuchte Martin, noch so viel wie möglich zu übernehmen, er wischte die Böden oder räumte die Küche auf, da Marie einfach nicht hinterherkam. Längst sah das Haus nicht mehr so sauber und ordentlich aus wie damals, als sie sich kennenlernten und Marie kaum glauben konnte, dass der Brandstetterhof ein reiner Männerhaushalt war. Dass sie einmal durch und durch Bäuerin, noch dazu mit drei Kindern, sein würde, hatte sie sich nie vorgestellt. Vor dem Krieg, in ihrer schlesischen Heimat, hatte sie davon

»Hast du gut geschlafen?«, fragte Martin, quetschte den Stapel Butterbrote, die er dick mit selbstgemachtem Ziegenkäse und Zwiebelscheiben belegt hatte, in seine Blechdose und verschloss sie mit einem Einweckgummi.

Bis in den Schlaf des anderen drang man also doch nicht vor, dachte Marie, auch wenn man als Paar Nacht für Nacht nebeneinanderlag. »Schon, ja, ich glaube«, antwortete sie reichlich vage. Seit sie Linda abgestillt hatte, schlief sie wieder besser, dämmerte zumindest weg, bis die Kleine ein Fläschchen verlangte. »Und du? Was geht dir im Kopf rum?« Es war mühsam, den anderen um diese Uhrzeit zum Sprechen zu bringen, zugleich gehörte es zu ihrer Zweisamkeit dazu.

»Dass ich mich mit dir am liebsten wieder im warmen Bett verkriechen würde.« Über Linda und den Kater hinweg küsste er sie erneut und umfasste ihre Taille.

»Schade«, sagte Marie, als er sich wieder von ihr löste und in sein Marmeladenbrot biss.

»Was ist schade?« Er rührte sich Honig in den Tee.

»Schade, dass wir uns nicht noch mal hinlegen und ein bisschen kuscheln können.« Sie gähnte. »Allerdings ist es auch gut. Ich möchte nicht sofort wieder schwanger werden.«

Er grinste sie an. »So gesehen hat die Waldarbeit nur Vorteile. Wer weiß, wie viele Kinder wir hätten, wenn ich die ganze Zeit in deiner Nähe wäre.« In dieser Angelegenheit war ihr nicht zum Lachen zumute und auch Martin wurde wieder ernst. Manchmal fühlte sie sich körperlich so ausgelaugt, dass sie kaum noch gerade stehen konnte. Dann betrachtete sie ihre drei Wunder, die ihnen beiden so

»Wie lief’s in der Arbeit?«, fragte sie. Am Vorabend hatten sie nicht die Zeit gefunden, sich von ihrem Tag zu erzählen.

»Das wollte ich mit dir besprechen. Der Bulldog des Forstbetriebs ist mitten im Wald stecken geblieben. Da hat man schon so ein Wahnsinnsfahrzeug, das die dicksten Stämme ziehen kann wie nichts, aber dann kommen eine Wurzel und eine Mulde, und zack, geht es keinen Millimeter vorwärts noch rückwärts.« Bulldog für Traktor, an diesen Ausdruck hatte sich Marie erst gewöhnen müssen. »Deshalb würde ich heute Fido nehmen«, ergänzte er. Normalerweise radelte Martin die acht Kilometer in die Arbeit. Gelegentlich fuhr er auch mit einem Kollegen mit, der ein Motorrad besaß. Fido war ein schon betagtes, aber immer noch leistungsfähiges Kaltblut. Brav zog er alle Gerätschaften, die sie auf dem Feld brauchten, oder auch den Einspänner, wenn Marie zum Einkaufen oder mit den Kindern zum Arzt musste. Im Gegensatz zu den anderen Bauern der Gegend besaßen sie keinen Traktor und auch kein Auto, setzten auf Pferdestärke und Handarbeit.

»Am besten du fragst drüben, ob sie dir ein Pferd leihen«, schlug er vor. Gleich gegenüber von ihrem Hof stand das Schloss der Wittelsbacher, wo bis kurz nach ihrer Hochzeit der letzte bayerische Kronprinz gelebt hatte. Schon immer waren die Brandstetters mit der Königsfamilie in freundschaftlicher Nachbarschaft verbunden gewesen und durften sich die Geräte ausleihen, die sie selbst nicht besaßen. Die Heuma zum Schwaden, den Kartoffelroder oder auch die große Sämaschine. Die Pferdezucht der Leutstettener, wegen der Marie seinerzeit in das Dorf gekommen war, um sich bei Rupprecht von Bayern als Bereiterin zu bewerben, hatten seine Erben nach Ungarn verlagert. Nur Wolke, die Martin ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, war das letzte Zeugnis, dass es diese besondere Rasse einst in Deutschland gegeben hatte. Mit Hingabe hatte Marie die zarte braune Stute in den letzten Jahren ausgebildet, und auch ihre Kinder vertrauten ihr wie einem Spielkameraden. Alle drei konnten reiten, bevor sie laufen lernten.

»Die zwei letzten Zugpferde hat sich der Schmelter ausgeliehen, habe ich gestern mitbekommen, als er unser Bier gebracht hat. Eins von seinen hat Koliken, und das andere lahmt. Er schafft sich jetzt auch einen Lastwagen an für die Brauerei, hat er gesagt. Nur für den einen Auftritt beim Oktoberfestumzug lohnen sich die Pferde in der Haltung nicht mehr.« Marie bedauerte das. In der Gegend gab es kaum noch Pferde, wer es sich leisten konnte, stellte auf Fahrzeuge um. Als lebendiges Wesen war ein Pferd nur ein paar Stunden am Stück einsatzfähig, ein Traktor hielt dagegen rund um die Uhr durch,

»Dann kannst du leider erst morgen aussäen.« Martin schaute aus dem Fenster in den beginnenden Tag. »Das Wetter hält hoffentlich noch, ich brauche Fido, nicht nur um den Bulldog rauszuziehen, sondern auch um den Windbruch der letzten Woche von den Wegen zu räumen.« Er stand auf, trank den restlichen Tee im Stehen aus und küsste sie noch mal. »Vielleicht kannst du stattdessen einfach mal die Beine hochlegen und dich ausruhen, wie wäre das?« Er füllte die Feldflasche am Wasserhahn auf und packte seine Brotzeit in den Rucksack, legte noch zwei schrumpelige Äpfel vom letzten Jahr dazu, die sie über den Winter im Erdkeller gelagert hatten.

»Ich versuch’s«, sagte sie, wusste aber im selben Moment, dass sie wahrscheinlich keine Gelegenheit dazu haben würde. Fiel eine Arbeit aus, drängte sich die nächste auf. Und so war es dann auch. Kaum hatte Martin Fido gesattelt und war zum Treffpunkt der Parkverwaltung geritten, begann Maries Einsatz.

»Mama, Mama, komm schnell, da Kone hat gespiem!«, rief Alma. Mit Linda auf dem Arm rannte Marie die Treppe ins Kinderzimmer hoch. Konrad lag kreidebleich im oberen Stockbett, umgeben von einer Pfütze aus Erbrochenem. Alma hatte ebenfalls einiges abbekommen, weil sie unter ihm schlief.

Marie setzte Linda ab, stieg auf die Leiter und half Konrad über das Geländer. »Ist dir auch schlecht?«, fragte sie Alma. Hoffentlich hatten die Kinder keine Sucht, wie Tante Polli ansteckende Krankheiten zusammenfasste. Das fehlte ihr gerade noch.

»Naa, es ist nur so greißlich und g’stinkert.« Alma fasste sich in die Haare, die ganz verklebt waren, und auch das