Stephanie Schuster
DIE WUNDERFRAUEN
Von allem nur das Beste
Roman
Historischer Roman
FISCHER E-Books
Stephanie Schuster, Jg.1967, lebt mit ihrer Familie und einer kleinen Schafherde auf einem gemütlichen Hof in der Nähe von Starnberg, in Oberbayern. Hier spielt auch die Trilogie »Die Wunderfrauen«. Auch wenn die Figuren frei erfunden sind, könnten die Geschichten so oder so ähnlich passiert sein. Bestseller-Autorin Stephanie Schuster verwebt in ihren Romanen vier bewegende Frauenschicksale zu einem Panorama der 1950er, 1960er und 1970er Jahre.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de
Der zweite Band der Bestseller-Serie »Die Wunderfrauen«: Vier starke Frauen zwischen Wirtschaftswunder und Hippiezeit, zwischen Nylons und Emanzipation, zwischen Liebe und Freundschaft.
Zu Beginn der 1960er Jahre stimmen die Errungenschaften der Frauenbewegung, die neuartige »Pille« und die vielen neuen Möglichkeiten Luise zuversichtlich, außerdem ist in ihrem kleinen Laden viel zu tun, er ist ihr ganzer Stolz. Voller Tatendrang plant sie einen Umbau – sie möchte mit der Zeit gehen und Selbstbedienung anbieten. Doch nicht alles klappt so, wie erhofft. Zum Glück sind ihre drei Freundinnen weiterhin an ihrer Seite: die alleinerziehende Helga, Marie, die um ihre Familie kämpft und Annabel, die endlich eine Tochter bekommt – ein Contergan-Kind. Gemeinsam merken sie: Das Schicksal hat sie in den letzten Jahren enger verbunden als sie dachten …
Der 2. Band der Wunderfrauen-Trilogie – drei Romane über vier Freundinnen, deren Leben wir über von den Wirtschaftswunderjahren Mitte der 1950er bis zu den Olympischen Spielen 1972 begleiten können.
Band 1 »Alles, was das Herz begehrt«
Band 2 »Von allem nur das Beste«
Band 3 »Freiheit im Angebot«
Band 4 »Wünsche werden wahr«
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildungen: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Fotos von Arcangel Images, Trevillion Images und ullstein bild
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491231-8
»Darf’s noch etwas sein? –
Ja, gern ein Stückerl von der ganzen Welt, wenns hätten, Frau Dahlmann.«
Für Else, Hermann und Carla, in Erinnerung an ihren Laden in Münster.
Für meinen allerliebsten Thomas, der mich immer rettet, sogar wenn mir die Wörter ausgehen.
Und für meine immer größer werdende Wunderfamilie, ihr seid das pure Glück für mich!
4. September 1963
Hey, hey, bop shuop. Sie lehnte in ihrer Zelle am Gitter und lauschte den Klängen. M’bop bop shuop. Nun, wo alles, was sie sich mühsam erarbeitet hatte, zerbrochen war, klammerte sie sich an die Musik – das Einzige, was ihr jetzt noch Halt gab. Sofort setzte sich der Rhythmus in ihrem Körper fest. Sie konnte einfach nicht anders, ihre Füße, ihre Schultern zuckten im Takt. Schon erstaunlich, dass diese Band aus Liverpool seit neuestem sogar vom Bayerischen Rundfunk übertragen wurde und es so bis in den Keller des Starnberger Polizeireviers geschafft hatte. Na ja, mehr schlecht als recht – das Radio rauschte und knisterte. Vermutlich waren die Mauern einfach zu dick, schließlich wurden Verbrecherinnen wie sie hier gefangen gehalten. Egal, wie oft Wachtmeister Klein am Regler drehte, er brachte einfach keinen klaren Empfang zustande. Ihm war es sichtbar unangenehm gewesen, sie zu verhaften. Deshalb hatte er sich auch sofort bereit erklärt, auf sie aufzupassen, als seine Kollegen zum nächsten Einsatz ausrückten. In Starnberg ging es gerade hoch her.
Well, I talk about boys, don’t ya know I mean boys, well … Was sie nicht hörte, ergänzte sie in ihrem Inneren, sie kannte den Text auswendig. Wegen dieses Liedes hatte sie vor einem halben Jahr stundenlang vor dem Münchner Plattenladen angestanden. Zusammen mit einem Dutzend Jugendlicher aufgeregt bangend, dass ja nicht alle Singles ausverkauft waren, bevor sie an die Reihe kam. Und tatsächlich, sie erhielt eine der letzten Scheiben, die Wartenden hinter ihr gingen leer aus. Im Sommer, als dann endlich das Album Please Please Me auf den Markt kam, war der Andrang noch größer gewesen. Manche campierten sogar vor den Geschäften, nur um eine der heißbegehrten Langspielplatten zu ergattern. Mit ihren einunddreißig Jahren war sie sich unter diesen ganzen jungen Leuten steinalt und merkwürdig fehl am Platz vorgekommen. Sie kleidete sich zwar immer noch modisch, trug heute einen Minirock aus Manchester zu engen Schnürstiefeln und hatte sich auch ihre Haare toupiert, aber irgendwie war ihr auf einmal bewusstgeworden, dass ihr die Leichtigkeit von früher abhandengekommen war, diese Sicherheit, dass sich alles schon von selbst finden würde.
What a … rrrrschhhsch … of joy. Die Pilzköpfe quälten sich weiterhin durch den Äther.
Dietrich Klein gab auf und widmete sich seiner Brotzeit. Sie sollte sich an ihn halten, Dietrich, sein Vorname klang wie der Schlüssel zur Freiheit.
»Möchten’s ein Stück?« Bevor er in die Leberkässemmel biss, hielt er sie ihr ans Gitter, als wäre endlich Fütterungszeit für das Zootier. Obwohl ihr Magen anderer Meinung war, verneinte sie.
»Wirklich nicht? Ist ganz frisch, von in der Früh, der Leberkas ist fast noch warm.«
Sie schüttelte den Kopf, wollte ihm nicht erklären, dass sie schon länger kein Fleisch mehr aß. Bei einer Zigarette wäre sie dabei, aber Klein rauchte offenbar nicht. Vielleicht war es besser so. Sie erlaubte es sich auch nur noch in Ausnahmesituationen, jedenfalls in solchen, die sie bis heute dafür gehalten hatte. Wenn es danach ginge, sollte sie sich gleich eine ganze Schachtel gönnen. Sie zupfte an ihren Fingernägeln. Der Daumennagel war eingerissen, die Nagelhaut blutete leicht. Das musste bei ihrer Festnahme passiert sein, als sie ihr die Arme auf den Rücken gedreht und die Handschellen angelegt hatten. Die kleine Schere, die sie in ihrem Kittel bei sich trug, hatte man ihr auch abgenommen, zusammen mit ihrem Stethoskop, den Schuhbändern und dem Ledergürtel, der kaum schmaler als ihr Minirock war.
»Am Büstenhalter können Sie sich ja nicht erhängen«, hatte Kleins Kollege, ein glupschäugiger Kerl, gescherzt und ihre Oberweite gemustert. »Sie tragen offenbar keinen.«
Er leckte sich die Lippen. Selten um eine Antwort verlegen, war ihr in diesem Moment nichts eingefallen. Verflixt, wie hatte es nur so weit kommen können? So vielen Frauen hatte sie schon aus der Not geholfen, und immer war alles glattgegangen. Ausgerechnet bei Luise mussten sie sie erwischen. Schlagartig stand ihre ganze Existenz auf dem Spiel. Jetzt, wo sie so viel erreicht hatte, mehr, als sie sich jemals erträumt hatte. Wenn sie verurteilt würde, verlor sie nicht nur die Zulassung, der Staat nahm ihr auch das Kind weg. Jemand musste sie verraten haben, aber wer?
Der andere Polizist, der mit den übergroßen Augäpfeln, stürmte herein. »Einsatz, Dietrich, los.« Er zupfte sich an der Nase, als könnte er damit seinen Rundumblick regulieren. »Wir müssen ausrücken. Am See gab’s einen Gammleraufstand. Die rotten sich zusammen, sind schon auf dem Weg in die Stadt.«
»Etwa die Obdachlosen vom Bahnhof? Was haben die wieder angestellt?«
»Naa, irgendwelche Wilden, die am See herumlungern, vermutlich Studenten. Jedenfalls spielen sie ein ähnliches Gedudel wie du hier.«
Sofort drehte Klein das Radio aus, legte die Semmel weg und klopfte sich die Hände ab. »Und was sollen wir tun?«
»Das Übliche, die Personalien aufnehmen, nach Drogen suchen. Angeblich rauchen die stärkeres Zeug als Tabak, hat es geheißen, dazu laufen sie alle halbnackt herum.«
»Auch, äh, die Weiber?« Klein wischte sich über den Mund und schielte kurz zu ihr.
Der andere nickte. »Freu dich nicht zu früh. Die Kerle haben sogar Blumen in den Haaren.«
»Echt? Sind die vom anderen Ufer?«
»Weiß ich doch nicht. Ist mir auch egal, ob die aus Berg oder Ambach oder von sonst woher stammen, weg müssen sie jedenfalls.«
»Nicht von der anderen Seeseite, ich mein, ob das Hundertfünfundsiebziger sind, wegen der Blumen.«
»Ach so, das glaube ich kaum, so, wie die mit ihren Gspusis rummachen, aber bei diesen Gammlern weiß man es nie, vielleicht fahren die auch zweigleisig. Männlein und Weiblein sind bei denen sowieso kaum zu unterscheiden, mit diesen langen Haaren. Mein Lucki, wenn der mir eines Tages so daherkommt, dem schneide ich eigenhändig die Zotzen ab.«
»Der ist doch erst drei.«
»Sein Glück! Und auch, dass er noch nicht in die Schule geht, dort lernen sie nämlich neuerdings solch einen Schmarrn. Also los, es gab eine Anzeige, öffentliches Ärgernis, die Anwohner und auch die Hotelgäste vom Bayerischen Hof fühlen sich belästigt.«
Vermutlich waren die jungen Leute einfach bloß mit Gitarre und Tamburin auf einer Wiese gesessen und lösten allein durch diesen friedlichen Anblick bei den Starnberger Spießbürgern Wut aus, dachte sie sich, als sie den beiden zuhörte.
»Und was machen wir mit ihr?« Mit einer Kopfbewegung zeigte Klein auf sie in der Zelle.
»Nichts, die läuft uns schon nicht davon, kriegt höchstens gleich Gesellschaft von ihresgleichen.« Man zählte sie noch zur Jugend, wenigstens das. »Schauen wir mal, wie viele Gammler in eine Zelle passen.« Der Mann lachte.
»Aber das ist doch eine Doktorin.« Klein flüsterte nun. »Meine Frau hat vor drei Wochen bei ihr entbunden.«
»Bist du etwa befangen, Dietrich?«
»Ich? Ich war doch nicht dabei. Also bei der Geburt. Aber die Gerda war superzufrieden, und das krieg ich selten selber hin.«
»Super, aha. Redest du jetzt auch schon wie die? Na, dann wirst du dich ja mit den Gammlern verstehen. Komm, wir müssen.« Endlich stand Klein auf, schüttelte sich die Semmelbrösel von der Diensthose, steckte den Schlüsselbund ein und ging mit Polizist Gscheithaferl hinaus.
Sie lauschte den Schritten der beiden nach. Das Radio rauschte noch immer, wahrscheinlich hatte Dietrich den Knopf nicht ganz ausgedreht. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn. Plopp, ploppplopp, plopp. Sie hätte sich ein Lied dazu ausdenken können, doch ihr war nicht mehr danach. Die Angst schlich sich in die Zelle, machte es sich bequem und feixte zu ihr herüber, als hätte sie gewusst, dass sie am Ende die Oberhand gewann. Was, wenn die Polizisten nie mehr zurückkamen, sie einfach vergaßen oder sie aushungerten, bis sie zwischen den Gitterstäben hindurchfiel? Ausgerechnet heute, an diesem besonderen Tag, saß sie hier fest. Im wahrsten Sinne. Bei Dahlmanns feierten sie bestimmt längst. Wie sie Luise kannte, hatte sie lauter Köstlichkeiten vorbereitet, als Geschenk zum Zehnjährigen für die Kunden und Gäste. Kaum zu glauben, dass die Ladeneröffnung schon so lange zurücklag. Es waren harte Jahre gewesen, Zeiten der Entbehrung, der Willensstärke und der Sorge um das Morgen, aber auch Momente der Freude, der Errungenschaften und des Glücks. Trotzdem fühlte es sich im Rückblick wie ein Wimpernschlag an, allenfalls wie ein paar Seiten in einem Roman. Umso mehr war das Jubiläum ein Grund, gemeinsam zu feiern. Ach, wenn sie doch nur dabei sein könnte! Lärm drang an ihr Ohr. Getrappel und lautes Rufen. Draußen gab es einen Tumult. Sie ging zum Fenster, das eher eine mit Hasendraht vergitterte Kellerluke war, durch die kaum Licht fiel. Es klirrte. Sie zuckte zurück, als etwas gegen die Scheibe flog.
Von wegen Jubiläum. Das Schild an der Tür war auf »Geschlossen« gedreht. Der Wind blies durch die Lücke in der Mauer und wehte Herbstlaub herein, als hätte im Dahlmannhaus ein Erdbeben gewütet. Luise stand auf, zog die Plane wieder vor das Loch und lehnte den Besen dagegen. Wenigstens reinregnen sollte es nicht. Ein Notbehelf, für mehr blieb jetzt keine Zeit. Kurz schweifte ihr Blick durch den Laden, der kaum wiederzuerkennen war. So viele Jahre hatte sie ihn gehegt und gepflegt, stets das Sortiment erweitert, Reklame gemacht, Rabattaktionen geplant, um die Stammkunden zu halten und gelegentlich zum Staunen zu bringen, und natürlich auch, um neue Kunden zu gewinnen. Es durfte keinen Stillstand geben. Das Geschäft musste florieren. Und nun das. Die Kasse, die Waage und die Kühltheke waren mit Tüchern verhängt, in den Ecken lag Schutt. Auf den Gläsern und Dosen, in allen Regalen lag Staub. Ihr fiel der Eröffnungstag vor zehn Jahren ein und welche Mühe sie sich damals gegeben hatte. Nach der wochenlangen Organisation, in der sie alles bis ins letzte Detail ausgetüftelt hatte, war sie vor Anspannung fast geplatzt. Doch als es endlich losging, kam keiner, und die Ersten, die sich dem Laden näherten, kauften nichts, genossen nur die Gratis-Pralinen, die sie anbot. Erst nach dem WM-Sieg 1954 ging es mit dem Laden richtig bergauf. Auch wenn der Gewinn immer noch bescheiden blieb, konnte sie mittlerweile davon leben. Aber für heute hatte Luise nicht einmal Pralinen gemacht. Momentan gab es Wichtigeres als Schokolade, Wichtigeres auch als Schmutz und Schutt, dachte sie und tunkte den Pinsel in die rote Farbe. Der Verkauf war bis auf weiteres eingestellt. Zusammen mit Marie und Bella hockte sie auf dem Boden und schrieb Plakate. Auch die Kinder halfen, eine richtige Rasselbande war das. Maries vier Sprösslinge, der Jüngste ein Jahr alt, die Älteste acht. Dann Helgas Sohn, der neunjährige David, mit seinen kurzen, dichten Locken und Josie, Luises Tochter, mit ihren Zöpfen, die ihr hinter den Ohren wie kleine Bürsten abstanden. Die beiden waren fast gleich alt. Und natürlich Fritz, Bellas Großer, der sich mit sechzehn bestimmt nicht mehr zu den Kindern zählte, aber dennoch mit Feuereifer mithalf. Für die Kinder schien die ganze Aktion mehr ein Abenteuer zu sein. Wann hatten ihre Mütter sonst schon Zeit, mit ihnen gemeinsam zu malen?
Josie hockte dicht an der Seite von Marie und ahmte jeden Pinselstrich nach. Sie himmelte ihre Tante an. Dabei spürte Luise, dass ihrer Schwägerin Marie nach allem, was bei ihr gerade passierte, gar nicht nach Malen zumute war. Wahrscheinlich war sie einzig den Kindern und ihr zuliebe noch mal hier. Rasch verdrängte Luise die Gedanken an ihren Bruder und blickte zu Annabel. Die hatte bestimmt genauso viele Sorgen, aber stand ihnen allen wie selbstverständlich in ihrer Not bei. Sie schrieb die Buchstaben mit Bleistift vor, damit die Kinder sie nachmalen konnten. Selbst Bellas zweijährige Tochter machte schon mit. Dieser Anblick berührte Luise ganz besonders. Ihr war zum Lachen und Heulen zugleich zumute. »So, ich glaube, wir haben genug Schilder«, sagte sie und schluckte gegen die Beklemmung in ihrer Brust an. »Das sind bald mehr, als wir tragen können.«
David sprang auf. »Dann los, kommt, jetzt befreien wir meine Mama aus dem Gefängnis.«
Zwei Jahre zuvor
1961
Ideen für Wundertüten
Für Kinder:
Ausschneidepuppen
Kleine Plastiktiere
Eiskonfekt
Faltlampion
Puffreis
Lutscher
Sammelkarten
Zahnsammeldose (für Schulanfänger)
Miniautos
Flugzeug als Bastelset
Ring
Tröte
Luftballon
Pustefix-Seifenblasen
Stifte
Anspitzer in lustigen Formen
PEZ-Spender
(Was noch? Josie fragen.)
Weitere Wundertüten für die Dame des Herzens, zur Genesung, zu Weihnachten, zu Ostern, für Papi (Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit beachten!), zum Geburtstag, als Entschuldigung usw.
Prozessbeginn gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem. Unser Bundeskanzler Konrad Adenauer sagte im Fernsehen, dass er sich wünscht, dass in diesem Prozess die volle Wahrheit ans Licht kommt und dass Gerechtigkeit geübt wird. (Was für ein Wunsch, bei sechs Millionen ermordeter Juden!)
Kurze Notiz: Sammelpakete in die Ostzone vor Ostern verschickt. Täglich fliehen immer mehr Menschen aus der DDR, heißt es in den Nachrichten und in der Zeitung. Eine Mauer soll gebaut werden. Der Berliner Bürgermeister Willy Brandt telefoniert mit John F. Kennedy wegen dieser Ost-West-Angelegenheit.
Aus: Luises Ladenkunde-Album
»Mama, Mama. Ich habe einen Freund.« Josie stürmte herein und brachte die Ladenglocke über der Tür zum Bimmeln. Ungeachtet dessen, dass Luise gerade bediente, stellte sie den Schulranzen in den Durchgang zur Wohnung, wo garantiert der Nächste drüberfallen würde, kletterte zu ihr auf die Theke und kniete sich zwischen Kasse und Waage.
»So, so, Ihre Tochter hat also schon einen Freund, etwas früh, finden Sie nicht, Frau Dahlmann?« Die Kundin, Frau Kreitmayer, nahm das Wechselgeld entgegen und zählte es nach.
»Überhaupt nicht, das war sogar sehr spät«, erwiderte Josie. »Es hat doch schon gegongt.«
»Ganz schön vorlaut, Ihre Kleine.« Frau Kreitmayer steckte die restlichen Münzen ein.
Josie musterte die Dame mit gehobenen Augenbrauen, wie immer, wenn sie etwas nicht gleich begriff, aber verstehen wollte. Dann umhalste sie Luise und flüsterte: »Mama, kann ich eine Brause?«
»Warum flüsterst du?«, fragte Luise.
»Die Tante hat gesagt, dass ich zu laut war.« Josie gab ihr ein Bussi auf die Wange, öffnete, ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, eines der großen Gläser, schnappte sich einen Zitronenwürfel und wickelte ihn aus. Eigentlich hatte Luise Josie oft genug ermahnt, dass sie vor dem Mittagessen nicht naschen durfte, aber wie sollte sie jetzt noch nein sagen? »Mein neuer Freund ist mitten in Schönschrift reingekommen und sitzt neben mir, weil kein anderer ihn haben wollte, aber ich finde ihn nett.« Josie leckte an der Brause und verzog das Gesicht.
»Erzähl mir das später genauer, ja?« Sie drückte ihre Tochter kurz an sich. »Erste Klasse, Frau Kreitmayer. Das war für uns alle aufregend damals, nicht wahr?« Sie lächelte die Kundin an.
»Wie man’s nimmt.« Frau Kreitmayer rümpfte die Nase, als verbände sie mit ihrer Schulzeit bloß üble Gerüche, hängte sich das vollbeladene Einkaufsnetz in die Armbeuge und wandte sich ab. Im Hinausgehen streifte sie mit ihrer ausladenden Hüfte den Senfglasturm, den Luise vorhin so mühsam auf der Säulenvitrine errichtet hatte, und brachte ihn zum Wanken.
Rasch sauste Luise um die Theke und umfasste die Gläser mit beiden Armen, von ganz oben stürzte ein Glas ab, aber der Rest blieb stehen. Das war knapp. »Nichts passiert«, sagte sie, als der Turm stabilisiert war, und öffnete der Kundin die Tür. Das Glas lag tatsächlich unbeschädigt auf dem Linoleum. Wie oft hatte sie schon beim Putzen den abgewetzten Bodenbelag verflucht. Eigentlich gehörte er längst erneuert, doch nun war sie dankbar dafür. Auf kunstvollen Fliesen, wie sie ihr zur Ladengründung vorgeschwebt hatten, wäre es bestimmt zerschellt. »Pfia Gott, Frau Kreitmayer, und beehren Sie mich bald wieder.« Sie atmete auf, als die Kundin draußen war, und sah sich in ihrem Verkaufsraum um. Vielleicht war es doch keine glorreiche Idee gewesen, den süßen Senf, das Sonderangebot der Woche, gleich neben dem Eingang zu platzieren? Besser sie räumte ihn weiter nach hinten. Bloß wohin? Jeder Zentimeter war bis unter die Decke ausgefüllt. Kaum dass sich die Kunden oder sie als Verkäuferin noch frei bewegen konnten, ohne dauernd irgendwo anzuecken und etwas umzuschmeißen. Überall hing die neueste Reklame. Vor lauter Handcreme, Kräuterlikör und Scheuermittel kam man nicht mehr zu den Grundnahrungsmitteln. Auch wenn ihr die Händler die Schilder gratis dazugaben, musste sie ein paar aussortieren. Nur welche? Am besten sie überdachte ihr ganzes Sortiment neu. Sollte sie das Weinregal weiter nach hinten verlegen, dafür die Konserven und das Waschpulver nach vorne? Auf den sechsunddreißig Quadratmetern, die der Laden umfasste, war es viel zu beengt, und jede Woche trafen neue Waren ein. Da hieß es abwägen zwischen Neuem und Bewährtem. Einerseits wollte Luise die Nachfrage nach neuen Artikeln bedienen, und andererseits musste sie gewährleisten, dass der Laden einigermaßen übersichtlich blieb. Ein schwieriges Unterfangen.
Sie wandte sich ihrer Tochter zu, die immer noch auf der Theke hockte und ihre Brause lutschte. »Also, der Neue ist einfach so, ganz allein in eure Klasse gekommen?«
Josie nickte. »Es hat geklopft, und Fräulein Ruf hat aufgemacht und gefragt, neben wem er sitzen darf, und da hab ich mich gemeldet, sonst keiner. Alle finden den komisch, aber ich finde ihn nett. Und dann hat er sich auf dem Schulhof mit dem Rudi gehauen.«
»Wieso, was ist an dem komisch?« Luise zog die untersten Senfgläser vorsichtig auseinander, damit der Turm nicht so leicht einstürzte, räumte dafür die Kirschen, die diese Woche auch im Angebot waren, zurück ins Regal und stellte das Schild mit dem reduzierten Preis davor.
»Weiß nicht, der Rudi hat gesagt, dass er keinen Papa hat, und dann schaut er auch noch anders aus als wir.«
Luise dachte an ihren jüngsten Bruder Manni, der sich mit seiner geistigen Behinderung in der ersten Klasse der Volksschule auch schwergetan hatte. Der Lehrer gab sein Bestes, riet ihnen aber bald, Manni wieder aus der Schule zu nehmen. Ihr kleiner Bruder würde nie stillsitzen und könne dem Unterricht nicht folgen. Zu seinem Schutz sei es sowieso besser, hatte der Lehrer damals gesagt, nicht dass er doch noch abgeholt würde und in ein Heime käme. Von da an versuchte Luise, ihrem Bruder die Mutter zu sein, die er nicht hatte, ihm zu Hause Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen, denn Ida Brandstetter war kurz nach seiner Geburt gestorben. Wenigstens eine Stunde Disziplin pro Tag verlangte Luise, aber es war ein Kraftakt. Alles, was sich vor dem Fenster regte, lenkte ihn ab und interessierte ihn mehr als die Buchstaben in der Fibel. Also zog sie die Vorhänge zu, doch dann beobachtete Manni eben eine Fliege, die auf der Schiefertafel herumkrabbelte, lauschte auf das Knistern des Feuers im Ofen oder fuhr mit den kurzen, dicken Fingern die Maserung des Holztisches nach. Damals war sie selbst noch in der Ausbildung zur Köchin gewesen. Als der Vater, dessen Rückkehr aus dem Krieg sie so herbeisehnten, 1944 fiel, musste sie zusätzlich mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Martin den Hof bewirtschaften. Heutzutage gab es Sonderschulen, mit extra ausgebildeten Lehrern, die sich um lernschwache Kinder kümmerten. Dafür war ihr kleiner Bruder inzwischen zu alt. Immerhin hatten sie es geschafft, ihn ohne Eltern großzuziehen. Er schien glücklich zu sein, fing Sonnenlicht in leeren Bierflaschen ein, sammelte Baumschwämme wie Luise Bücher und kümmerte sich ums Federvieh. Lesen, Schreiben und Rechnen waren vergebliche Liebesmüh gewesen. Außer zwei Wörtern konnte Manni bis heute nichts sagen. Auch den Zweck einer Uhr begriff er nicht. Er stand mit den Hühnern auf und legte sich ins Bett, wenn es dunkel wurde. Er kam zum Essen, wenn man nach ihm rief oder es in der Küche danach roch. Das hatte sich, so viel sie wusste, auch nicht verändert, seit ihre Schwägerin Marie auf dem Brandstetterhof lebte.
Josie hievte ihren Schulranzen auf die Theke und leerte den Inhalt auf dem Einwickelpapier aus. »Was hast du vor?«, fragte Luise.
»Hausaufgaben.« Ihre Tochter schlug das Schreibheft auf, beugte sich vor und begann, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit dem Eintragen. Die Lehrerin hatte am Anfang jeder Zeile ein Beispiel in Rot vorgemalt. Josie probierte große L-Schwünge und seufzte, als sie über die Zeile hinausglitt und radieren musste. Die Seite knitterte.
»Setz dich besser in die Küche, sonst wickle ich die Weißwürscht noch versehentlich in dein Schulheft. Es ist erst zwanzig vor zwölf, Josielein, bestimmt kommt noch jemand, und ich muss bedienen.«
»Ich mag aber bei dir sein.«
»Na, die paar Meter um die Ecke, da hörst du mich trotzdem und ich dich. Du willst doch ein Sternchen ins Heft, oder? Da muss es schön aussehen.« Josie nickte und strich die Seite glatt. Bei zehn Sternen verteilte Fräulein Ruf ein Sammelblatt mit einem Käfergedicht, die hütete ihre Tochter wie einen Schatz.
Prompt ging die Ladenglocke, zwei Frauen schlängelten sich, die Angebote rechts und links prüfend, zur Theke vor. Die eine, Frau Zinngraf, trug Lockenwickler unter dem Kopftuch. Schnell hob Luise Josie von der Theke und half ihr, die Sachen zurück in den Schulranzen zu stecken. »Bitte, mach’s in Ruhe und sorgfältig am Tisch, vielleicht bist du dann bis mittags schon fertig, dann haben wir gleichzeitig Pause, und ich koche uns etwas Feines.« Widerwillig schlurfte Josie nach hinten. Luise wandte sich der Kundschaft zu. »Grüß Gott, die Damen, wer kommt als Erstes dran?« Frau Zinngraf drängte sich vor. Kaum dass die beiden Platz hatten, nebeneinander vor ihr zu stehen. Mit ihren Ellbogen und Einkaufskörben schubsten sie sich und stießen dabei fast an die Waren. Das Nivea-Reklameschild schaukelte. So konnte es nicht weitergehen. Viel Spielraum, um nach hinten zu erweitern, hatte Luise nicht. Freilich befand sich dort eine relativ große Wohnküche, in der Josie sich jetzt aufhielt, aber auf die wollte Luise ungern verzichten. In ihrem Übermut hatte sie in den ersten Jahren nach der Ladeneröffnung am Samstagnachmittag auch noch bis in den späten Abend hinein Kochkurse für Bräute gegeben. Das Unterrichten gefiel ihr. Sie dachte sich für jeden der Nachmittage extra ein besonderes Motto aus – Hilfe, die Schwiegereltern kommen! Ente gut, alles gut –, überlegte sich, wie sie den hibbeligen jungen Damen, die kaum ein Ei trennen konnten, ohne sich zu bekleckern, die Freude am Kochen beibringen konnte, was ihr auch meistens gelang. Einige wurden sogar zu Stammkunden und holten sich weiterhin Tipps bei ihr. Allerdings blieb durch diese Kurse nicht nur die gesamte andere Arbeit liegen, die dann am Sonntag getan werden musste, Luise merkte auch, wie sehr sie die Konzentration auf die jungen Frauen, die tausend Fragen hatten, erschöpfte. Und das nach einer langen Woche, die sowieso von morgens bis abends vollgepackt war.
Nein, die geräumige Küche brauchte sie, die musste bleiben. Wo sollte sie sonst die Kuchen, die Salate und den Leberkäs für die Vitrine zubereiten, die sich als Dahlmann-Spezialitäten etabliert hatten? Im ersten Stock war wenig Platz, selbst wenn sie dafür die Stube, die mittlerweile zum heiligen Fernsehzimmer erklärt worden war, aufgeben würden. Außerdem, alles immer ins Erdgeschoss tragen oder schnell was von oben holen, bedeutete viel zu viel Umstand. Nein, sie musste eine andere Lösung finden.
Kaum saßen sie um eins bei Pfannkuchen mit Marmelade und Apfelmus, klingelte es an der Ladentür. Manche Kunden gönnten Luise nicht einmal die Mittagsruhe.
»Das ist er bestimmt, Mama.« Josie sprang auf und lief durch den Durchgang, um aufzusperren. Der Schlüssel steckte im Schloss. Ehe Luise fragen konnte, wen sie meinte, stand ein schwarzer Junge in der Küchentür. »Ich habe David gesagt, er kann zu mir zum Spielen kommen, bis seine Mama von der Arbeit wieder da ist. Er darf doch?«
Nicht nur sein Name kam Luise bekannt vor, schlagartig, als sie ihn anschaute, begriff sie, wer er war. »Natürlich. Grüß dich Gott«, brachte sie gerade noch heraus, dann musste sie sich erst einmal sammeln. Sie wandte sich zum Küchenschrank um und holte einen Teller für ihn heraus. David, natürlich. Zuletzt hatte sie ihn als zwei Monate altes Baby gesehen, und das war bald sieben Jahre her. Ein richtiger Wonneproppen war er damals gewesen, zum Anbeißen süß. Nun stand ein schmaler Bub vor ihr. Auch wenn sein Gesicht mit den großen Augen und der kleinen Nase das eines Schulkindes war, so war er noch genauso niedlich wie damals. Kein Wunder, dass er ihrer Tochter auf Anhieb gefallen hatte. »Bist du etwa der David Knaup?«
Er nickte und reichte ihr mit einer Verbeugung die Hand. »Grüß Gott, Frau Dahlmann.« Gut erzogen dazu. Augenblicklich hatte er ihr Herz erobert, wie gleich nach seiner Geburt. Luise war die Erste gewesen, die ihn im Arm halten durfte, was für sie, die zu Beginn ihrer Ehe ein Kind verloren hatte, ein unvergesslicher Moment gewesen war. Josie und David waren nur ein halbes Jahr auseinander. Ihre beiden Kinder wären miteinander aufgewachsen, zumindest hatten Helga und sie sich das vorgenommen, damals als sie noch beste Freundinnen gewesen waren. Aber dann hatte Helga sie mit Hans betrogen oder Hans sie mit Helga. Luise wusste nicht, wem sie glauben oder was sie überhaupt denken sollte. Schließlich führte kein Weg daran vorbei, Helga, auch wenn sie ihre Unschuld beteuerte, hinauszuwerfen. Ihren Mann bestrafte Luise eine Zeitlang mit Schweigen, aber irgendwann musste sie ihm verzeihen. Schließlich war sie schwanger. Und als Hans erfuhr, dass er Vater wurde, schien alles, was davor gewesen war, wie weggewischt, und das Glück vollkommen. Fortan trug er Luise auf Händen, sofern das mit einem Laden an der Backe und seiner Fünfundvierzigstundenwoche als Fernmeldetechniker bei der Münchner Post möglich war. Die Freude hielt an, als Josefine, drei Wochen früher als gedacht, am ersten Oktober 1954 auf die Welt gekommen war. Weiterhin versuchte Hans, ihr in seiner knapp bemessenen Freizeit jeden Handgriff abzunehmen, vertrat sie sogar im Geschäft, als sie oben im Wochenbett lag. Luise hingegen zählte die Stunden, bis sie selbst wieder hinter der Theke stehen konnte, so sehr sie ihre Tochter und auch die Ruhe genoss. Ständig musste sie ihrem Mann erklären, was er bei welcher Kundin zu beachten hatte oder wie er die Waren präsentieren und auszeichnen sollte und überhaupt, das hielt sie auch im Liegen auf Trab.
»Du bist hier im Haus geboren, in Josies Zimmer, da hat damals deine Mutter gewohnt.« Luise merkte, wie schwer es ihr fiel, das auszusprechen. Es fühlte sich an, als würde der Schorf einer kaum verheilten Wunde erneut aufbrechen. Sofort bereute sie es, die Kinder in diese alten Geschichten hineinzuziehen. Das war eine Sache unter den Erwachsenen und sollte sie nicht belasten.
David nickte und starrte auf den Pfannkuchenberg. »Hast du Hunger?«
»Ein bisschen.« Kaum hatte sie ihm einen Pfannkuchen auf den Teller gelegt, saß er schon am Tisch, strich sich Marmelade darauf. »Wohnt ihr wieder in Starnberg?« Sie wollte den Jungen nicht aushorchen, aber neugierig war sie schon. Auch wenn sie keinen Kontakt miteinander gehabt hatten, so trugen ihr die Kunden noch eine Weile die Neuigkeiten zu. So wusste sie, dass Helga im Hotel Bayerischer Hof gearbeitet hatte, bevor sie und ihr Kind nach München gezogen waren. Luise nahm an, dass sie sich wieder mit ihren Eltern versöhnt hatte und nun von ihnen unterstützt wurde. Geldsorgen dürfte sie keine mehr haben.
»Wir sind erst gestern umgezogen, weil meine Mama im Seekrankenhaus arbeitet. Dafür habe ich jetzt ein eigenes Zimmer. Wir wohnen gleich neben der Schule, in einem Haus auf dem Berg.«
Luise staunte. »Arbeitet Helga wieder als Krankenschwester?«
David schüttelte den Kopf und streute sich Zimtzucker über das Essen. »Meine Mama ist eine Doktorin.«
»Wirklich?« Also hatte sich Helgas Traum erfüllt, und das in relativ kurzer Zeit, und obwohl sie Alleinerziehende war. Aber vielleicht gab es ja wieder einen Mann in ihrem Leben, und sie hatte sogar geheiratet? Aber dann hätte David sie vorhin bestimmt verbessert, als sie seinen Nachnamen genannt hatte.
»Darf ich noch einen?« Rechts das Messer, links die Gabel mit dem Stiel auf den Tisch gestützt, leckte er sich die Lippen und sah sie aus großen Augen an, bereit für mehr.
»Na klar.« Bevor er sich auf den nächsten Pfannkuchen stürzte, zog er den bunten Wollpullover aus, der selbstgemacht wirkte. Ob Helga als Ärztin noch Zeit hatte zu stricken? Das hatte ihr Luise beigebracht. »Oh, warte mal, du blutest am Ellenbogen.« Ihr fiel ein, dass Josie erzählt hatte, dass er sich geprügelt hatte. »Tut’s sehr weh?«
»Geht schon.« Er schöpfte sich Apfelmus auf den Teller.
»Besser, ich mach dir ein Pflaster drauf«, sagte Luise.
»Wir haben welche mit Blumen oder Eisbären.« Josie lief zur Schublade, wo das Verbandszeug lag. Sie liebte Pflaster und malte sich manchmal mit rotem Filzstift eine Wunde auf die Haut, damit sie eine Packung anfangen durfte, wenn Luise wieder eine neue Lieferung erhielt. Zum Glück war ihrer Tochter bisher außer ein paar Schrammen beim Sturz vom Roller noch nichts passiert. Als Luise die Wunde mit Jod desinfizierte, biss sich David auf die Lippe und tat keinen Mucks. Der Bub war zäh. »Weiß deine Mutter Bescheid, dass du bei uns bist?«
»Ich hab meiner Mama einen Zettel geschrieben. Josie hat mir ganz genau beschrieben, wo sie wohnt. Den Berg runter, an der Ampel links, dann bei der Kirche vorbei und, schwupp, bis zum Laden vor.« Er aß weiter, nahm sich noch mal Apfelmus nach.
»Schwupp, genau.« Josie lachte. »Wollen wir Indianer spielen?«, fragte sie, kaum dass sich David den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte. »Was willst du sein? Häuptling oder Cowboy?«
Er konnte nicht antworten, hatte noch den Mund voll, kaute und schluckte schwer. Josie zappelte um ihn herum. Dann hatte er schließlich aufgegessen und stand vom Stuhl auf. »Danke, Frau Dahlmann, hat sehr gut geschmeckt.«
»Du musst nicht Sie zu mir sagen, ich bin einfach die Luise oder die Tante Dalli, so sagen die meisten Kinder zu mir.«
»Komm.« Offenbar wollte ihre Tochter David für sich allein haben, sie zog ihn am Arm aus der Küche. Für Luise wurde es sowieso Zeit, die Butterkringel für den Nachmittag auszubacken.
»Und deine Hausaufgaben, Josie? Vorhin wolltest du die unbedingt gleich erledigen?«
»David hat doch seinen Schulranzen nicht dabei, ich mach sie später, wenn er abgeholt ist.« Schon waren sie fort.
Plötzlich dämmerte es Luise, was das bedeutete. »Wartet mal«, wollte sie ihnen hinterherrufen, besann sich, als sie Josie von draußen juchzen hörte. Luise räumte das Geschirr ins Spülbecken und sah den beiden eine Weile durchs Fenster zu, wie sie auf dem gepflasterten Weg vor der Garage auf Stelzen zu gehen versuchten, die Hans gebaut hatte. Eine Unruhe erfasste Luise. Nachher würde sie Helga nach all den Jahren wiedersehen. Wie sollte sie ihr begegnen? So tun, als ob nichts gewesen wäre? Nein. Sie behandeln wie eine Fremde? Schwierig. Ihr alles an den Kopf knallen, was bisher unausgesprochen geblieben war und sie seither beschäftigte? Doch wie die Worte dafür finden? Und auch, wozu? Sie wollte mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben, nie mehr. Eigentlich hatte sie gedacht, sie könnte sie aus ihrem Leben streichen. Und jetzt das. Sie holte Luft und atmete aus. Noch immer war es ihr unbegreiflich, was Helga ihr angetan hatte. Dabei hatten sie einander vertraut, sich gegenseitig unterstützt und alles geteilt. Ausgenommen ihr Mann, dass der nicht zum Teilen gedacht gewesen war, hatte sie für selbstverständlich gehalten. Luise knetete den Teig, spülte die Hände ab und stellte Butterschmalz auf den Herd. Wie würde das Wiedersehen verlaufen? Würde sie Helga anschreien, ihre Wut rauslassen und ihr all das sagen, was sie seit Jahren mal mehr, mal weniger stark in sich gewälzt hatte, trotz aller Versuche, es zu verdrängen? Allein der Gedanke an die Wiederbegegnung beschleunigte ihren Puls. Am liebsten würde Luise ihr aus dem Weg gehen, aber wie? Sollte sie David einfach früher nach Hause schicken? Sie könnte es sich nie verzeihen, wenn dem Kind beim Überqueren der Hauptstraße etwas geschah. Andererseits war er bereits allein hergelaufen. Doch wie sollte sie es Josie erklären? Außerdem, jetzt, da Helga erneut in Starnberg wohnte, würden sie sich so oder so über den Weg laufen. Bei ihr einkaufen würde sie vermutlich nicht, aber ihre Kinder sahen sich Tag für Tag in der Schule. Besser Luise brachte es gleich hinter sich. Das Fett zischte und spritzte im Topf, als sie die ersten Kringel hineingleiten ließ. Vor lauter Überlegungen hatte sie es zu heiß werden lassen, nun musste sie aufpassen, dass ihr das Gebäck nicht verbrannte. Das war es doch nicht wert. Sie seufzte, versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ändern konnte sie jetzt sowieso nichts mehr.
Morgens um halb sieben war oft die einzige Zeit des Tages, die sie für sich allein hatten. Tante Polli schlief noch, die zwei größeren Kinder auch, und Manni war bereits draußen mit dem Federvieh beschäftigt. Nachdem sie um fünf Uhr aufgestanden waren, ging Martin in den Stall, um zu melken und danach die Schaf- und Ziegenherde auf die Weide zu treiben. Marie filterte die Ziegenmilch, die sie zum Käsen brauchten, heizte ein und spülte das Geschirr und wickelte Linda, die sich komplett eingenässt hatte. Eigentlich hatte Marie gehofft, dass ihre jüngste Tochter danach einschlafen würde, doch sie wirkte hellwach, brabbelte laut vor sich hin.
»Psst. Sei leise, du weckst sonst Alma und Konrad auf.«
»Lala, Kona?« Sie plapperte die Namen ihrer Geschwister nach, die nebenan schliefen. Linda lernte viel früher sprechen als die anderen. »Mamamam«, krähte sie nach einer Weile. Was wohl Mama und Manni gemischt war. Und dann noch lauter »Mamamam«. Sie fing zu weinen an. Marie griff sich an die Brust, die spannte. Letzte Woche hatte sie erst abgestillt, ein Kampf für sie beide, der noch nicht ausgefochten war.
»Hast du Hunger, soll ich dir ein Fläschchen machen?«, flüsterte sie, küsste Linda die Tränen weg und hob sie auf den Arm. In der Küche zerdrückte sie eine Banane und rührte sie in das Fläschchen mit angewärmter Ziegenmilch. An den Kinderstuhl geschnallt, damit sie sitzen blieb, nuckelte Linda zufrieden, drehte an ihren Flaumhaaren. Dabei gab sie knurrende Geräusche von sich, als wollte sie Zille nachahmen. Marie hatte den einäugigen Kater durchs Fenster hereingelassen. Nach einem Schälchen Ziegenmilch und seinem Trockenfutter hatte er sich schnurrend auf der Eckbank eingerollt.
»Papap«, begrüßte Linda Martin, als er hereinkam.
»Guten Morgen, ihr zwei.« Er küsste seine Tochter und gab auch Marie einen Kuss, setzte sich an den Tisch, um sich den Berg Brote für die Waldarbeit zu schmieren. Marie sah ihm zu, trank ihren Tee und genoss es, Martin noch mal nahe zu sein, bevor er das Haus verließ. Sie würde später mit den Kindern und der Tante frühstücken.
Nachdem sie sich endlich gefunden und geheiratet hatten, war es ihnen beiden schwergefallen, sich tagsüber wieder zu trennen. Eigentlich hatten sie sich ein gemeinsames Leben rund um die Uhr vorgestellt, aber das Geld aus der Landwirtschaft reichte nur knapp, um die immer größer werdende Familie zu ernähren. Die Preise für ihre Erzeugnisse schwankten und fielen durch die Öffnung des Weltmarktes eher. Martins regelmäßiges Einkommen als Holzfäller und Landschaftspfleger entlastete sie, so dass sie den Kindern Schuhe kaufen oder ihnen einen Herzenswunsch zum Geburtstag erfüllen konnten. Allerdings blieb nun die meiste Arbeit auf dem Hof an Marie hängen. Nach Feierabend versuchte Martin, noch so viel wie möglich zu übernehmen, er wischte die Böden oder räumte die Küche auf, da Marie einfach nicht hinterherkam. Längst sah das Haus nicht mehr so sauber und ordentlich aus wie damals, als sie sich kennenlernten und Marie kaum glauben konnte, dass der Brandstetterhof ein reiner Männerhaushalt war. Dass sie einmal durch und durch Bäuerin, noch dazu mit drei Kindern, sein würde, hatte sie sich nie vorgestellt. Vor dem Krieg, in ihrer schlesischen Heimat, hatte sie davon geträumt, eines Tages ein Gestüt zu leiten oder eine berühmte Malerin zu werden und in Paris zu leben. Als privilegierte Tochter eines Gutsbesitzers hatte sie nie daran gedacht, die Erde, die sie ernährte, selbst zu bestellen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Martin, quetschte den Stapel Butterbrote, die er dick mit selbstgemachtem Ziegenkäse und Zwiebelscheiben belegt hatte, in seine Blechdose und verschloss sie mit einem Einweckgummi.
Bis in den Schlaf des anderen drang man also doch nicht vor, dachte Marie, auch wenn man als Paar Nacht für Nacht nebeneinanderlag. »Schon, ja, ich glaube«, antwortete sie reichlich vage. Seit sie Linda abgestillt hatte, schlief sie wieder besser, dämmerte zumindest weg, bis die Kleine ein Fläschchen verlangte. »Und du? Was geht dir im Kopf rum?« Es war mühsam, den anderen um diese Uhrzeit zum Sprechen zu bringen, zugleich gehörte es zu ihrer Zweisamkeit dazu.
»Dass ich mich mit dir am liebsten wieder im warmen Bett verkriechen würde.« Über Linda und den Kater hinweg küsste er sie erneut und umfasste ihre Taille.
»Schade«, sagte Marie, als er sich wieder von ihr löste und in sein Marmeladenbrot biss.
»Was ist schade?« Er rührte sich Honig in den Tee.
»Schade, dass wir uns nicht noch mal hinlegen und ein bisschen kuscheln können.« Sie gähnte. »Allerdings ist es auch gut. Ich möchte nicht sofort wieder schwanger werden.«
Er grinste sie an. »So gesehen hat die Waldarbeit nur Vorteile. Wer weiß, wie viele Kinder wir hätten, wenn ich die ganze Zeit in deiner Nähe wäre.« In dieser Angelegenheit war ihr nicht zum Lachen zumute und auch Martin wurde wieder ernst. Manchmal fühlte sie sich körperlich so ausgelaugt, dass sie kaum noch gerade stehen konnte. Dann betrachtete sie ihre drei Wunder, die ihnen beiden so ähnelten. Zugleich waren sie ganz eigenständige Menschen. Alma, mit fünf die Älteste, war dunkelhaarig wie ihr Vater und hatte ein herzförmiges Gesichtchen. Ihr Bruder Konrad trug die hellblonden Locken genauso schulterlang wie seine große Schwester und weigerte sich partout, sie sich abschneiden zu lassen. Dass viele dachten, er wäre ein Mädchen, schien den Vierjährigen nicht zu stören. Auf ihn war Linda gefolgt, die gerade zwei geworden war und Maries Sommersprossen geerbt hatte. Sie fiel fast auf die Welt, so leicht war die Geburt im Vergleich zu den beiden anderen gewesen. Dass sie bereits wieder schwanger war, obwohl sie Konrad noch stillte, begriff Marie erst, als Linda in ihr strampelte und sich bemerkbar machte.
»Wie lief’s in der Arbeit?«, fragte sie. Am Vorabend hatten sie nicht die Zeit gefunden, sich von ihrem Tag zu erzählen.
»Das wollte ich mit dir besprechen. Der Bulldog des Forstbetriebs ist mitten im Wald stecken geblieben. Da hat man schon so ein Wahnsinnsfahrzeug, das die dicksten Stämme ziehen kann wie nichts, aber dann kommen eine Wurzel und eine Mulde, und zack, geht es keinen Millimeter vorwärts noch rückwärts.« Bulldog für Traktor, an diesen Ausdruck hatte sich Marie erst gewöhnen müssen. »Deshalb würde ich heute Fido nehmen«, ergänzte er. Normalerweise radelte Martin die acht Kilometer in die Arbeit. Gelegentlich fuhr er auch mit einem Kollegen mit, der ein Motorrad besaß. Fido war ein schon betagtes, aber immer noch leistungsfähiges Kaltblut. Brav zog er alle Gerätschaften, die sie auf dem Feld brauchten, oder auch den Einspänner, wenn Marie zum Einkaufen oder mit den Kindern zum Arzt musste. Im Gegensatz zu den anderen Bauern der Gegend besaßen sie keinen Traktor und auch kein Auto, setzten auf Pferdestärke und Handarbeit.
»Aber ich wollte doch heute aussäen.« Bereits gestern hatte Marie das Saatbeet vorbereitet und das Getreidefeld geeggt. »Wie soll das ohne Fido gehen?« Sie hatten zwar noch Wolke, aber die war nicht als Zugpferd geeignet.
»Am besten du fragst drüben, ob sie dir ein Pferd leihen«, schlug er vor. Gleich gegenüber von ihrem Hof stand das Schloss der Wittelsbacher, wo bis kurz nach ihrer Hochzeit der letzte bayerische Kronprinz gelebt hatte. Schon immer waren die Brandstetters mit der Königsfamilie in freundschaftlicher Nachbarschaft verbunden gewesen und durften sich die Geräte ausleihen, die sie selbst nicht besaßen. Die Heuma zum Schwaden, den Kartoffelroder oder auch die große Sämaschine. Die Pferdezucht der Leutstettener, wegen der Marie seinerzeit in das Dorf gekommen war, um sich bei Rupprecht von Bayern als Bereiterin zu bewerben, hatten seine Erben nach Ungarn verlagert. Nur Wolke, die Martin ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, war das letzte Zeugnis, dass es diese besondere Rasse einst in Deutschland gegeben hatte. Mit Hingabe hatte Marie die zarte braune Stute in den letzten Jahren ausgebildet, und auch ihre Kinder vertrauten ihr wie einem Spielkameraden. Alle drei konnten reiten, bevor sie laufen lernten.
»Die zwei letzten Zugpferde hat sich der Schmelter ausgeliehen, habe ich gestern mitbekommen, als er unser Bier gebracht hat. Eins von seinen hat Koliken, und das andere lahmt. Er schafft sich jetzt auch einen Lastwagen an für die Brauerei, hat er gesagt. Nur für den einen Auftritt beim Oktoberfestumzug lohnen sich die Pferde in der Haltung nicht mehr.« Marie bedauerte das. In der Gegend gab es kaum noch Pferde, wer es sich leisten konnte, stellte auf Fahrzeuge um. Als lebendiges Wesen war ein Pferd nur ein paar Stunden am Stück einsatzfähig, ein Traktor hielt dagegen rund um die Uhr durch, vorausgesetzt er blieb nicht im Wald stecken oder der Diesel ging aus. Dabei war Leutstetten einst als Dorf der Pferde weit über den Landkreis Starnberg hinaus bekannt gewesen.
»Dann kannst du leider erst morgen aussäen.« Martin schaute aus dem Fenster in den beginnenden Tag. »Das Wetter hält hoffentlich noch, ich brauche Fido, nicht nur um den Bulldog rauszuziehen, sondern auch um den Windbruch der letzten Woche von den Wegen zu räumen.« Er stand auf, trank den restlichen Tee im Stehen aus und küsste sie noch mal. »Vielleicht kannst du stattdessen einfach mal die Beine hochlegen und dich ausruhen, wie wäre das?« Er füllte die Feldflasche am Wasserhahn auf und packte seine Brotzeit in den Rucksack, legte noch zwei schrumpelige Äpfel vom letzten Jahr dazu, die sie über den Winter im Erdkeller gelagert hatten.
»Ich versuch’s«, sagte sie, wusste aber im selben Moment, dass sie wahrscheinlich keine Gelegenheit dazu haben würde. Fiel eine Arbeit aus, drängte sich die nächste auf. Und so war es dann auch. Kaum hatte Martin Fido gesattelt und war zum Treffpunkt der Parkverwaltung geritten, begann Maries Einsatz.
»Mama, Mama, komm schnell, da Kone hat gespiem!«, rief Alma. Mit Linda auf dem Arm rannte Marie die Treppe ins Kinderzimmer hoch. Konrad lag kreidebleich im oberen Stockbett, umgeben von einer Pfütze aus Erbrochenem. Alma hatte ebenfalls einiges abbekommen, weil sie unter ihm schlief.
Marie setzte Linda ab, stieg auf die Leiter und half Konrad über das Geländer. »Ist dir auch schlecht?«, fragte sie Alma. Hoffentlich hatten die Kinder keine Sucht, wie Tante Polli ansteckende Krankheiten zusammenfasste. Das fehlte ihr gerade noch.
»Naa, es ist nur so greißlich und g’stinkert.« Alma fasste sich in die Haare, die ganz verklebt waren, und auch das Bettzeug war durchweicht. Obwohl Marie die meiste Zeit des Tages mit ihren Kindern verbrachte, redeten sie breitestes Bayerisch wie alle im Dorf. Nur ihr gegenüber bemühten sie sich um Hochdeutsch, besonders dann, wenn sie etwas wollten.