Der Heiler des Kaisers

Historischer Roman

Axel Philippi


ISBN: 978-3-96861-186-0
1. Auflage 2020
© Aquamarin Verlag GmbH

Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de
Titelbild: Kaleja Värttö
Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Dieses Buch widme ich meinen Kindern

Mark, Tanja, Aaron und Irina. Ohne sie

wäre mein Leben arm geblieben. Durch sie

hat mein Herz diese Worte verstehen gelernt:

 

„Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht

des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

und obwohl sie bei euch sind, gehören sie euch nicht.

Ihr könnt ihnen eure Liebe geben,

aber nicht eure Gedanken,

ihr könnt ihren Körpern ein Zuhause geben,

aber nicht ihren Seelen,

denn ihre Seelen leben im Haus der Zukunft,

das ihr nicht betreten könnt, nicht einmal in euren Träumen.“

 

(Kahlil Gibran, Der Prophet)

 

Prolog

Brandgeruch liegt in der Luft. Der Himmel ist grau und schwarz. Wolken verdüstern den Horizont. Ein Schwarm Raben läßt sich krächzend auf einer alten Eiche nieder. Aus der Ferne dringen Geschrei und das wütende Bellen von Bluthunden über die Wiesen am Flußufer. Trauerweiden säumen die dunklen Wasser, die in diesen Tagen traurige Lasten in das nahe Meer befördern. Zerschlagene menschliche Leiber treiben zu Hauf einem nassen Grab entgegen, das jede Erinnerung an sie auslöschen wird. So, als wären sie nie gewesen. Leichen von unschuldigen Kindern, gebrechlichen Alten und schwachen Frauen, aber kaum von Männern tanzen mit stierem Blick, bleichen Gesichtern und offenen Mündern in den kalten Wellen des Flusses einen wilden Reigen. Die Opfer zeugen von dem erbarmungslosen Wüten in den Gassen und auf den Plätzen der nicht weit entfernten Stadt. Das klagende Geläut der Sturmglocken weht über die menschenleere Landschaft und die Natur hält vor Grauen den Atem an. Krieg verheert das Land, erzeugt Haß und Rachsucht in den Herzen der Überlebenden.

Dort, wo jetzt Ströme von Blut fließen und Menschen zu reißenden Bestien werden, trafen sich vor nicht allzulanger Zeit die Großen des Reiches. Die alte Stadt hatte sich wie eine Braut festlich geschmückt, gewillt, sich dem hinzugeben, der die Krone erringen würde. Die Menschen trugen ihre schönsten Kleider und vergaßen für eine Weile die Mühsal und das tägliche Ringen ums Überleben. Die Herzen von jung und alt waren verzaubert vom Anblick der Herrlichen, deren Leben Anlaß für Anekdoten und spannende Geschichten am abendlichen Feuer waren. Für einen kurzen Moment der Geschichte war das Unglaubliche geschehen, war ein Märchen wahr geworden. Doch bald welkten die Blüten der Hoffnung. Eifersucht, Neid, Gier und Machtstreben machten sich wieder unter den Edlen breit. Und dort, wo sie einst Treue schworen, übten sie nun Verrat. Wieder einmal zerbrach die Einheit des Reiches, und das Schicksal nahm seinen unerbittlichen Lauf.

1. Kapitel

Das Kind der Liebe

Ein heftiger Sturm heult an diesem frühen Morgen laut um die alten Mauern. Es ist Anfang Februar, und der Winter hat das Land noch fest im Griff. Die altersmürben Felle an den Fenstern verhindern kaum das Eindringen des kalten Windes, und so ist es in den hohen Räumen der Burg meistens naßkalt. Hustend erhebt sich Karl von Donarsberg von der klammen Liege. Ob nun vom Rauch des offenen Kaminfeuers, das vergeblich gegen Feuchtigkeit und Kälte im Schlafgemach des Grafen ankämpft, oder vom ungesunden Klima in der alten Burg, seit Tagen quält den Hausherrn ein lästiger Husten. Jeder Atemzug schmerzt. Auch das Rasseln in seiner Brust ist nicht dazu angetan, die Laune des stämmigen Mannes zu verbessern. Fluchend und knurrend steigt er in die ledernen Hosen, die zusammengeknüllt am Fußende liegen, wo von Donarsberg sie am vergangenen Abend nach einem wüsten Gelage mit seinen Gästen einfach fallen ließ.

„Groot, verdammt noch mal, Groot, wo steckst du?“ Die schwere Eichentür öffnet sich vorsichtig, und ein blonder Schopf schaut argwöhnisch in Richtung der nichts Gutes verheißenden Stimme. Die Vorsicht ist angebracht. Haarscharf verpaßt ein nagelbesetzter Reitstiefel den Kopf des Jungen und prallt gegen den Türholm. Die über die ganze Tür verstreuten Kratzer und tiefen Dellen im Holz verraten das cholerische Temperament des Grafen und die Art und Weise, wie er seinem Knappen „ritterliche Erziehung“ zukommen läßt. Groot, ein mit allen Wassern gewaschener Sohn verarmter Landadliger, hat gelernt, mit den Wutausbrüchen seines Herrn zu leben. Meistens sind sie genauso schnell verraucht, wie sie entflammt sind. Und so kommt der schlacksige Vierzehnjährige jetzt auch ohne Scheu näher.

„Wo zum Teufel ist mein Wams?“ Die blutunterlaufenen Augen seines Herrn sind mürrisch auf den Jungen gerichtet. In diesem Zustand des Grafen ist es besser, wortlos zu gehorchen. Groot schaut sich um, bückt sich dann und zieht das verschlissene Kleidungsstück unter dem Tisch mit dem Waschtrog hervor, wohin es der Graf gestern abend trunken hingefeuert hat. Der Junge seufzt. Es ist immer das gleiche mit seinem Herrn, wenn er zu trinken anfängt. Da ist leider niemand, der den einsamen Mann dann noch bremsen kann. In seinem Alter von nahezu 50 Lenzen beginnt er langsam, eigenbrötlerisch zu werden. Zu groß ist die Angst aller vor den unkontrollierten Ausbrüchen Karls von Donarsberg. Es muß unbedingt eine Frau her, die mit zarter Hand das gepanzerte Herz des durch den Kreuzzug gegen die Sarazenen hart und verbittert gewordenen Haudegens erweicht. Das ist zumindest die Meinung des Hauspersonals unter Führung der alten Maria, die schon dem Vater des Grafen den Haushalt führte. Außerdem ist der Hausherr der letzte seines Geschlechts. Und schon deshalb ist es höchste Zeit, daß der alte Krieger endlich zur Ruhe kommt und sich Gedanken um die Zukunft macht.

Mißmutig stampft Karl von Donarsberg die ausgetretenen Sandsteinstufen der Rundtreppe zur Haupthalle hinab. Das Schlafgemach des Grafen liegt im Hauptflügel der Burg, die schon mehrere Generationen im Besitz der Familie ist. Der erste Donarsberg hat das damals noch hölzerne Kastell, den Vorläufer der heutigen Burg, von Kaiser Karl, den sie später den Großen nannten, für langjährige treue Dienste als Lehen erhalten. Der heutige Hausherr war lange Jahre ein Gefolgsmann von Kaiser Barbarossa gewesen und mußte miterleben, wie sein von ihm so sehr verehrter Fürst nach dem Sieg gegen die Muselmanen in Kleinasien beim Baden ertrank. Der ehrlose Tod dieses bereits zu Lebzeiten legendären Kaisers hatte den Grafen tief getroffen, und wie Maria der gespannt lauschenden Dienerschaft am Abend vor dem Küchenkamin erzählte, sei es von da an mit dem Grafen bergab gegangen. Auch die Tatsache, daß das Ziel des Kreuzzugs und das Bestreben Barbarossas, wieder freien Zugang nach Jerusalem zu erhalten, von Sultan Saladin letztlich zugestanden wurde, konnte ihn nicht trösten. Er wurde immer verschlossener und begann bald darauf, unmäßig zu trinken.

Dabei sei Karl von Donarsberg doch immer noch ein ansehnliches Mannsbild. An diesem Punkt der Geschichte wechselt die Alte gern vielsagende Blicke mit den jungen Mägden, die daraufhin verschämt kichern. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die meisten von ihnen bereits das Bett des Grafen gewärmt haben, und daß die Manneskraft des Hausherrn noch ungebrochen ist. So haben die vaterlosen Söhne zweier ehemaliger Mägde mehr Ähnlichkeit mit ihrem Erzeuger, als diesem lieb ist. Aber Karl von Donarsberg steht zu seiner Verantwortung, und so leben die beiden Frauen in geordneten Verhältnissen im Dorf am Fuß der Burg. Die Söhne erhalten eine ordentliche Ausbildung bei dem Ortspfarrer, und wenn sie erwachsen sind, warten zwei verwaiste Bauernhöfe mit viel Land auf sie.

Als der Graf nach einem ausgiebigen Frühstück, das seine Laune leicht gebessert hat, in den Burghof tritt, steht dort bereits Godewind, sein Lieblingspferd, gesattelt und gezäumt, fertig zum allmorgendlichen Ausritt. Ein prüfender Blick zum Himmel bestätigt ihm, daß der Wind alle Wolken vertrieben hat und daß es heute kalt, aber schön werden wird. In einen wärmenden Lammfellmantel gehüllt, reitet Karl von Donarsberg im leichten Trab über das holprige Hofpflaster. Dann galoppiert er über die heruntergelassene Zugbrücke den schmalen Weg hinab, der sich um den Berg windet und in eine breitere Straße mündet, die das zur Burg gehörende Dorf mit der nahen Stadt verbindet.

Man schreibt das Jahr 1193. Barbarossa, wegen seines rotblonden Barthaares so von den italienischen Bürgern des Reiches genannt, ist seit Juni 1190 tot. Sein Sohn Heinrich VI. ist nun römischer Kaiser deutscher Nation. Aber die Vorgeschichte seiner Krönung hat ihn im Volk und beim Adel viele Sympathien gekostet. Unwillkürlich gibt Karl von Donarsberg seinem Rappen die Sporen, als er daran denkt. Godewind reagiert nervös, bäumt sich leicht auf und wiehert schrill. Mit leisen und besänftigenden Worten beruhigt er das Tier wieder. Seine impulsive Reaktion macht dem Grafen bewußt, wie unritterlich und verabscheuungswürdig er das Vorgehen Heinrichs VI. nach wie vor findet. Coelestin III., seit dem Tod von Klemens neuer Papst und Herr von Rom, war erklärter Gegner einer deutschen Herrschaft auf Sizilien und widersetzte sich deshalb anfänglich der Krönung Heinrichs, der auch den verwaisten sizilianischen Thron für sich beanspruchte. Erst als Heinrich das italienische Städtchen Tusculum, das auf seinen Beistand und Schutz rechnen durfte, kaltblütig seinen Plänen opferte und den Truppen Coelestins auslieferte, war der Bischof von Rom bereit, die Kaiserkrönung vorzunehmen. Zuvor aber veranstalteten die Soldaten des Vatikans unter der Bevölkerung ein Massaker und schleiften den papstfeindlichen Ort.

Der Graf knirscht unwillkürlich mit den Zähnen, als er an diesen ehrlosen und verräterischen Handel denkt. Insgeheim ist Karl von Donarsberg ein aufrichtiger, ehrenhafter und gläubiger Mensch, der sein wahres Wesen nur hinter der rauhen Schale des Kriegsmanns verbirgt. Als Barbarossa 1165 Karl den Großen heiligsprechen ließ, hatte das den jungen Grafen tief berührt, und als 1179 Hildegard von Bingen, deren Schriften und Visionen für das Leben und den Glauben Karls von Donarsberg richtungsweisend waren, starb, trauerte der Graf mehr als beim Tode seiner Mutter.

Die einzige gute Nachricht der letzten Zeit war für den treuen Vasallen Barbarossas die Gefangennahme des englischen Königs Richard Löwenherz, der durch sein selbstherrliches Auftreten beinahe die Allianz der christlichen Könige auf dem Kreuzzug gegen Saladin gesprengt hätte. Nun haben ihn die Österreicher bei der Heimreise aus dem Orient abgefangen und wollen ihn an Heinrich ausliefern. Der Graf hat beim gestrigen Gelage von seinen augenblicklichen Gästen - Edelleuten vom Hofe Heinrichs - gehört, daß der Kaiser beabsichtige, den Gefangenen auf Burg Trifels bei Annweiler einzukerkern. Angeblich will Heinrich von den Engländern ein hohes Lösegeld erpressen.

Angewidert schüttelt Karl von Donarsberg den Kopf. Eine Geste, die er besser nicht gemacht hätte, bringt sie ihm doch wieder schmerzhaft die Nachwehen des gestrigen Abends in Erinnerung. Godewind spürt, daß sein Reiter mit seinen Gedanken ganz wo anders ist und fällt in einen gemütlichen Zotteltrab. Auch das kluge Pferd, das seinem Herrn schon auf dem gefahrvollen und anstrengenden Weg ins Heilige Land treue Dienste leistete, ist inzwischen in die Jahre gekommen. Und so trotten Pferd und Reiter gedankenversunken dem Dorf entgegen, das hinter der nächsten Senke in der klaren Februarsonne auf den Beginn des Frühlings wartet.

Am Dorfeingang zügelt der Graf Godewind, der für diese Atempause recht dankbar ist und im Stehen sofort in eine Art Wachschlaf fällt. Die niedrigen Häuser sind auf seine Veranlassung hin weiß gekalkt und die Dächer sorgfältig mit schwarzem Schiefer aus den nahen Brüchen gedeckt worden. Er hat niemandem gesagt, daß ihn das an die lieblichen Dörfer in Kleinasien erinnert, an die er oft wehmütig denken muß. Das war die Zeit, als er und sein Kaiser - der eine in den besten Mannesjahren, der andere bereits über sechzig - sich auf die lange Reise machten, die Stadt Jesu von den Ungläubigen zu befreien. Von Donarsberg denkt in letzter Zeit immer häufiger an diese sonnendurchfluteten Tage, die intensiven Gerüche fremdartiger Kräuter und exotischer Blüten und an die stundenlangen Gespräche von einem Pferderücken zum anderen, wenn sich die Wegstrecke wieder einmal endlos hinzog. Es war oft nur ein mühseliges und langsames Vorwärtskommen gewesen, und so vergingen viele Monate bis das Kreuz­fahrerheer endlich mit der Eroberung Ikoniums seine erste siegreiche Schlacht schlagen konnte. Allein aus Deutschland kamen fast 100.000 Mann. Acht Bischöfe, drei Markgrafen und neunundzwanzig Grafen zogen mit. Karl von Donarsberg erinnert sich trotz der Strapazen gern an diese Tage, die für ihn und seinesgleichen erfüllt waren von ritterlichen Abenteuern und unbeschwertem männlichen Draufgängertum. Wer hätte ahnen können, daß dieser Kreuzzug für Barbarossa und die Seinen so enden würde? Seufzend gibt der Graf Godewind die Sporen, der daraufhin unwillig wiehernd in Trab fällt.

Links biegt jetzt ein schmaler Weg zu der kleinen aber sauberen und wohnlichen Hütte ab, in der Hiltrud und ihr zehnjähriger Sohn Gernot so lange leben, bis der Junge alt genug ist, den für ihn vorgesehenen Bauernhof zu übernehmen. Ein kurzer Anflug, sich in die immer noch willigen Arme der alleinlebenden Frau fallen zu lassen, wird mannhaft unterdrückt. Jetzt muß sich der Graf um Wichtigeres kümmern.

Ein Stück weiter wohnen an der Hauptstraße in dem einzigen zweistöckigen Gebäude des Ortes Gerlinde mit ihrem Sohn Rainer. Als ihre Verbindung mit dem Grafen letzten Sommer nach fast drei Jahren zu Ende ging, verheiratete sie von Donarsberg mit seinem Stallmeister Hans von Warken, der es geschickt verstanden hatte, als wohlhabender Mann vom Kreuzzug zurückzukommen. Erstaunlicherweise liebt der Gefolgsmann des Grafen den Bastard seines Herrn wie seinen eigenen Sohn. Und auch die Ehe der beiden scheint ausgesprochen gut zu verlaufen. Von Donarsberg ertappt sich dabei, wie ihn ein deprimierendes Gefühl von Eifersucht übermannen will. Wie sehr sehnt er sich selbst nach einer standesgemäßen Gefährtin, mit der er sein Leben teilen möchte! Aber obwohl er insgeheim leidenschaftlich darum betet, ist ihm die Frau, mit der er sein Leben teilen möchte, bisher noch nicht begegnet.

Godewind stolpert über eine tiefe Furche in der hartgefrorenen Erde und reißt damit seinen Herrn aus dessen trübsinnigen Gedanken. Der Graf lenkt das Pferd zu dem Gasthof, der am Rande des Dorfes all diejenigen beherbergt, die auf der Durchreise sind und meistens am nächsten Tag in die nahe Stadt wollen. Von seinen adligen Besuchern hat er gehört, daß seit vorgestern dort ein Heilkundiger aus dem Morgenland mit seinem Gefolge Quartier bezogen hat, der mit den Höflingen Heinrichs und unter deren Schutz hierher gezogen ist. Angeblich sei der Medicus zu der seit langem kranken Frau des Vogtes der Pfalz und Burgfeste Hagenau unterwegs, an deren Lager der verzweifelte Ehemann den berühmten Heiler aus Persien kommen läßt. Karl von Donarsberg konnte es anfänglich kaum glauben, bis er erfuhr, daß der Perser bereits seit einiger Zeit in Wien lebe und dort sehr erfolgreich Kranke kuriere. Das Wort „Persien“ hat ihn wie ein Schlag durchzuckt und mit seinem lästigen Husten war schnell ein Vorwand gefunden, den heilkundigen Mann zu konsultieren. Insgeheim gesteht sich der Graf ein, daß das Heilige Land und das noch fernere Persien einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn ausüben

Karl von Donarsberg tritt durch die verwitterte, hölzerne Tür der Schenke, die dem Gasthof angeschlossen ist. Ein widerlicher Geruch von schalem Bier, menschlicher Ausdünstung und dem Rauch des offenen Kamins raubt ihm fast den Atem und läßt ihn angeekelt husten. An den schmutzigen Holztischen sitzen Tagelöhner und Wanderarbeiter und ertränken ihren tristen Alltag im selbstgebrauten Gerstenbier des geschäftstüchtigen Wirts. Der läßt alle, die nicht zahlen können, unentgeltlich auf seinen Äckern arbeiten. Als die Männer den Grafen bemerken, ducken sie sich ängstlich über ihre Krüge und hoffen, daß er sie nicht zur Kenntnis nimmt. Ein herrischer Wink des Grafen bringt den Wirt im Laufschritt zu ihm. „Stimmt es, daß Fremde aus dem Morgenland unter deinen Gästen sind?“ Der Wirt erschrickt und geht in Gedanken schnell die Liste der möglichen Verstöße gegen die gräflichen Vorschriften durch. Aber er findet nichts, und etwas beruhigt macht er eine tiefe Verbeugung und antwortet hastig: „Ja, euer Gnaden, ein alter Mann, eine junge Frau und drei Diener, wenn‘s beliebt.“ Erleichtert stellt er fest, daß diese Antwort Karl von Donarsberg zu befriedigen scheint. Also, kein Gewitter im Anzug! Mit einem servilen Grinsen macht der Wirt eine weitere Verbeugung. „Womit kann ich dienen, euer Gnaden?“ Der Graf zieht seine Reithandschuhe aus und, begleitet von einer ungeduldigen Handbewegung, fordert er dann den Mann auf, seinem Gast mitzuteilen, daß ihn der Lehnsherr dieser Gemarkung zu konsultieren wünsche. Eilig verschwindet der Wirt über eine Nebentür ins Nachbargebäude, um seinen Auftrag zu erledigen. Währenddessen begibt sich der Graf in das Nebenzimmer, das nur Leuten von Stand vorbehalten und wesentlich komfortabler und sauberer ist, als der eigentliche Schankraum.

Es dauert nicht lange, bis sich die Tür öffnet und eine weibliche Gestalt den Raum betritt. Mit ihr kommt ein Duft von Rosenöl und Sandelholz, der Karl noch gut von seinen Aufenthalten in den Häusern seiner mehr oder minder freiwilligen Gastgeber während des Kreuzzugs in Erinnerung ist. Die Frau ist in farbige, seidene Stoffe gehüllt, die ihre Figur mehr umschmeicheln als verbergen. Ein durchsichtiger Schleier verhüllt nur unzureichend ihre Züge, so daß der Graf deutlich strahlend blaue Augen in einem exotisch schönen, gebräunten Gesicht wahrnehmen kann, das von langen, blauschwarzen Haaren eingerahmt wird. Dicht vor Karl von Donarsberg bleibt sie stehen und schaut ihm dann, ohne ein Wort zu sagen, unverwandt in die Augen. Der Graf, der von Menschen und insbesondere von Frauen entweder unterwürfiges oder schmeichlerisches Verhalten und Auftreten gewohnt ist, ist zuerst ratlos, und das macht ihn schließlich wütend. Als sein Versuch, dieses Frauenzimmer durch geziemende Worte in ihre Schranken zu verweisen, auch noch in einem unpassenden Hustenanfall erstickt, läuft sein Gesicht vor Zorn puterrot an. Zu allem Überfluß lacht dieses Frauenzimmer jetzt auch noch, um dann in erstaunlich gutem Deutsch ironisch zu bemerken: „Ich sehe oder besser ich höre schon, warum sie meinen Vater sprechen wollen. Aber leider war er von den Anstrengungen der Reise so erschöpft, daß er einen Schlaftrunk genommen hat, der ihn nicht vor heute nachmittag aufwachen läßt. Also müssen euer Gnaden mit mir Vorlieb nehmen. Ich bin mit allen Dingen der Heilkunst wohl vertraut und vertrete oft meinen Vater in seiner Abwesenheit.“

Sprachlos über soviel unverhohlenes Selbstbewußtsein und gleichzeitig von der exotischen Schönheit seiner Gesprächspartnerin tief beeindruckt, ringt Karl von Donarsberg mühsam um passende Worte. Bevor er aber etwas sagen kann, ergreifen ihn zarte Hände am Arm und führen ihn wie einen Kranken zu dem am nächsten stehenden Sessel. Der Graf weiß nicht, ob er lachen oder fluchen soll, und so zieht er es vor, sich zuerst einmal zu setzen. „Wenn ich mich recht erinnere, ist es den muselmanischen Frauen nicht erlaubt, einen fremden Mann anzusprechen und schon gar nicht, ihn zu berühren.“ Wieder dieses helle Lachen, das ihn so aus der Fassung bringt. „Erstens bin ich als Arzt geschlechtslos und zweitens keine Muselmanin!“ Dieses Weib scheint auf alles eine Antwort zu haben. Karl überlegt, wie er - ohne das Gesicht zu verlieren - zu seinem ursprünglichen Anliegen zurückfinden kann. Aber, was war eigentlich sein Anliegen? Wie soll er diesem respektlosen Wesen jetzt noch erklären, daß ihn eigentlich die Erinnerung an die schönste Zeit in seinem Leben und eine Art Fernweh hierher getrieben hat. Seinen Husten als Grund anzugeben, kommt dem Grafen nun geradezu lächerlich vor. Verdammt, verdammt, verdammt! Wie konnte er sich nur in eine solche Situation manövrieren? Und wie immer, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlt, steigt in Karl von Donarsberg sein gefürchteter Jähzorn auf.

Die junge Frau spürt intuitiv, daß sie mit ihrer leichtherzigen Art etwas zu weit gegangen ist und bemüht sich, das aufsteigende Gewitter mit einem taktischen Rückzug zu umgehen. „Verzeiht, euer Gnaden, ich vergaß ganz, mich Ihnen vorzustellen.“ Ihre Stimme ist nun sanft wie ein Lämmchen, und ihre ganze Körperhaltung drückt Schuldbewußtsein und die Bitte um Vergebung aus. „Ich heiße Jadasa. Mein Vater gab mir diesen Namen nach der Weggefährtin Zarathustras, der der Prophet Ahura Mazdas, des Gottes der Arier, ist. Der Name meines Vaters ist Saadi Atravan, was besagt, daß er einem alten Priestergeschlecht unserer persischen Heimat entstammt. Und im Namen meines schlafenden Vaters bitte ich Euch um Vergebung für seine mißratene Tochter und um die großzügige Gewährung des Gastrechts für uns beide.“

Verblüfft und wieder sprachlos hat Karl die Verwandlung der jungen, selbstsicheren Frau in ein schuldbewußtes Kind erlebt, und wenn er nicht das spitzbübische Lächeln in ihren Augenwinkeln bemerkt hätte, wäre ihm diese großartige schauspielerische Leistung geradezu entgangen. So muß er unwillkürlich lachen und dieser gelungenen Vorstellung Tribut zollen. Sein Zorn ist schon wieder verraucht und hat einer tiefen Bewunderung für die funkelnde Lebendigkeit dieser schönen jungen Frau Platz gemacht. Der Graf erhebt sich und ist sich dabei der Wirkung seiner Person und seines Ranges wohl bewußt. Nun wieder ganz Landesherr, sagt er dann: „Ich will Eurem Wunsch entsprechen und Euch und Eurem Vater Gastrecht in meiner Burg gewähren. Ich erwarte Euch also heute zur Abendvesper. Dann können wir unsere Bekanntschaft vertiefen und ich die Dienste Eures Vaters in Anspruch nehmen.“ Eine herrische Handbewegung des Grafen erstickt ihren vorsichtigen Einspruch, daß beide eigentlich auf dem Weg zur Pfalz Hagenau seien, wo man sie dringend erwarte. Wenn sie ehrlich ist, muß sie sich innerlich eingestehen, daß diese Begegnung und die Einladung nicht ohne Reiz für sie sind, und so verbeugt sie sich fügsam. „Im Namen meines Vaters bedanke ich mich herzlich für diese großzügige Einladung, der wir selbstverständlich gern folgen werden!“ Mit einer anmutigen Kopfbewegung und nach einer weiteren Verbeugung verschwindet Jadasa Atravan durch die halboffene Tür nach draußen. Auf dem Heimritt ist Karl von Donarsberg noch ganz benommen vom unerwarteten Verlauf des Besuchs und der einnehmenden und faszinierenden Persönlichkeit dieser jungen Frau.

In die Burg zurückgekehrt, ist es dem Grafen nicht unlieb, daß sich seine Besucher vom Hofe Heinrichs VI. bereits auf den Weg machen wollen. So kann er sich heute abend ganz seinen neuen Gästen widmen, ein Gedanke, der - für ihn selbst überraschend - Freude in ihm aufsteigen läßt. Nach der Verabschiedung der Ritter befiehlt er Maria, die Haushälterin, zu sich, um mit ihr alles Notwendige bezüglich Unterkunft und Bewirtung der interessanten Neuankömmlinge zu besprechen. Gutgelaunt und ein freches Minnelied vor sich hinpfeifend, macht er sich danach auf den Weg in die Waffenkammer, wo ihn der örtliche Waffenschmied und Kurt von Wachenheim, sein Schildknappe, erwarten, um notwendige Neuanschaffungen und Reparaturen sowie Verbesserungen an den hier lagernden Waffenvorräten zu besprechen.

Die große Halle ist durch viele Fackeln an den Wänden hell erleuchtet. Der mannshohe Kamin verbreitet behagliche Wärme, und die Luft ist vom Duft des orientalischen Räucherwerks angenehm erfüllt, das der Graf aus Kleinasien mitbrachte und nur bei seltenen Anlässen verbrennen läßt. Das Licht der Fackeln an den Wänden bricht sich im warmen Rot eines riesigen, gehämmerten Kupferkessels, aus dem im Winter bei besonderen Gelegenheiten warmer, gewürzter Wein gereicht wird. Erst letzte Nacht hatte er seine durchschlagende Wirkung erneut bewiesen. Im Sommer wird bei großen Festen daraus selbstgebrautes Bier ausgeschenkt, für das Maria in der ganzen Gemarkung berühmt ist und was nicht unerheblich zum fragwürdigen Ruf der Burg als Stätte fröhlichster und ausgelassenster Gelage beigetragen hat.

Die Wände der Halle sind mit erbeuteten Waffen aus dem Kreuzzug und alten orientalischen Teppichen mit Motiven aus einer exotischen, fremden Welt und großformatigen Gemälden naiver Darstellungen aus der Bibel geschmückt. Die Bilder stammen von einem ehemaligen Mönch, der sich im Kloster mit Buchillustrationen beschäftigt hatte. Karl von Donarsberg hat den heimatlos Herumirrenden aufgenommen, den ein strenger Abt wegen mehrerer schwerwiegender Verstöße gegen die Ordensregeln aus der Gemeinschaft verstoßen hatte. Nun arbeitet er im Auftrag Karls an der textlichen und bildlichen Gestaltung einer Chronik der gräflichen Familie.

Prunkstück der Halle, und in der Mitte des Raumes plaziert, ist eine lange, blank polierte Tafel aus feinstem Buchenholz, die bereits der Vater des Grafen in Auftrag gab und die von zweiunddreißig lederbezogenen und aus dem gleichen Holz geschnitzten wuchtigen Sesseln beidseitig eingerahmt wird. Am Kopfende steht der alte gräfliche Thronsessel, dessen hohe Rückenlehne alle anderen Sitzgelegenheiten überragt. Sie ist aus kunstvollen, mit Gold ausgelegten Schnitzereien gearbeitet. Direkt über dem Zentrum des Tischs hängt ein großer, der Grafenkrone nachempfundener Kronleuchter aus schwarzem Schmiedeeisen, der mittels einer eisernen Kette herabgelassen werden kann. Seine einhundertzwanzig Kerzen können den ganzen Raum in ein festliches, warmgelbes Licht tauchen. Heute abend möchte der Graf auf diese Beleuchtung verzichten, um den intimen Charakter des Essens und der Unterhaltung zu betonen.

Als von der Dorfkirche das Abendgeläut heraufweht, meldet ein Diener die Ankunft der Gäste. Karl von Donarsberg, der bereits in der Halle ungeduldig gewartet hat, eilt ihnen entgegen, um sie persönlich ins Innere der Burg zu geleiten. Er findet Vater und Tochter mit ihren Dienern im Vorhof, wo sie soeben von Maria über ihre Unterbringung unterrichtet werden und wo die Stallknechte begonnen haben, die Pferde von ihren Lasten zu befreien, um sie anschließend zu versorgen. Beim Anblick des Grafen versinkt Jadasa Atravan in einen tiefen Knicks und macht damit ihren Vater auf die Anwesenheit des Hausherrn aufmerksam. Der wendet sich um, und Karl blickt in die gütigsten und weisesten Augen, in die er jemals geschaut hat. Silberglänzendes, kurz geschnittenes Haar umrahmt ein zeitloses, tiefbraunes Gesicht asiatischen Zuschnitts, das Würde und Gelassenheit ausstrahlt.

Karl von Donarsberg ist angenehm berührt und macht unwillkürlich eine Begrüßungsgeste, wie man sie am Hofe üblicherweise nur gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten vollzieht. Saadi Atravans Augen leuchten erfreut auf und er dankt mit einer achtungsvollen Verbeugung. „Ich bedanke mich für die ehrenvolle Einladung und die Gastfreundschaft, die Sie mir und meiner Tochter entgegenbringen. Es wird mir eine Ehre sein, Euer Gnaden, mit meinen bescheidenen Mitteln zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit dienlich zu sein.“ Der Graf lächelt freundlich, macht eine galante Verbeugung vor der verschleierten jungen Frau und sagt dann: „Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Seit meiner Reise nach Palästina habe ich die Kultur und die Menschen Kleinasiens, insbesondere aber auch die Persiens, die mir während langer Wochen ein adliger persischer Gefangener Kaiser Friedrichs nahe brachte, achten und schätzen gelernt. - Aber nun möchte ich Euch zuerst zu Euren Gemächern geleiten. In einer halben Stunde bitte ich Euch zu einem Mahl und einem Glas edlen Wein. Ich hoffe, wir werden in den kommenden Tagen viel Gelegenheit finden, ungezwungen miteinander zu reden.“

Während der ganzen Begrüßung hat Jadasa den Grafen nicht aus den Augen gelassen. Ihr gefällt seine nur mühsam im Zaum gehaltene Begeisterung für ihre Heimat und sein offensichtliches Interesse für die Kultur und die Menschen des Landes, dem sie entstammt. Darüber hinaus spürt sie, daß seit ihrer ersten Begegnung etwas zwischen ihnen geschehen ist. Eine keineswegs unangenehme Spannung, die sich wie ein Prickeln auf der Haut anfühlt, belebt alle ihre Sinne. Als weltoffene Tochter und medizinische Schülerin ihres Vaters, der sie auch in allen Fragen der Seele und deren Gemütszustände gründlich unterrichtete, bleibt ihr die eigene weibliche Reaktion auf die kraftvolle Präsenz Karls von Donarsberg nicht verborgen. Jadasa hat gelernt, zu ihren Gefühlen zu stehen, und so freut sie sich auf ein tieferes Kennenlernen, ohne daß sie damit schon irgendwelche Erwartungen oder heimliche Wünsche verbindet. Und so folgen beide dem Grafen zu den Gemächern, die er für sie hat herrichten lassen.

Der Abend verläuft noch viel harmonischer, als Karl von Donarsberg es erwartet hat. Saadi Atravan erweist sich als ein hochgebildeter, weitgereister Mann, der interessant von seinen Reisen und Begegnungen zu berichten weiß. Als das Abendessen beendet ist, sind die drei in bester Stimmung, wozu nicht unwesentlich auch der edle Tropfen aus den gräflichen Weinkellern beigetragen hat. Die angeregte Unterhaltung fließt leicht dahin, und auch die junge Frau hat daran ihren Anteil. Als die Dienerschaft auf Geheiß des Grafen beginnt, die Tafel abzuräumen, setzen sich die drei in bequemere Lederstühle, die vor dem Kamin plaziert sind. Die warme Glut und das rötliche Licht der niedrigen Flammen schaffen eine Atmosphäre der Besinnlichkeit, so daß es kein Wunder ist, daß die Sprache bald auf ernstere Themen kommt.

Der persische Gefangene, der sich im Lager Friedrichs frei bewegen konnte, war oft abendlicher Gast im Zelt des Grafen gewesen. In langen Stunden erzählte er blumenreich von den Schönheiten seiner geliebten Heimat und ihren Menschen, so daß Karl von Donarsberg, der eine starke Vorstellungskraft besitzt, später oft das Gefühl hatte, selbst dort gewesen zu sein. Der Gefangene war islamischen Glaubens gewesen, weshalb Karl unwillkürlich angenommen hatte, alle Perser wären Anhänger dieser Religion. Um so erstaunter war er, als er bereits bei seinem Besuch in der Schenke erstmals von dem ihm unbekannten Propheten Zarathustra und dem Lichtgott Ahura Mazda hörte. Nun vernahm er, daß der Mazdaismus - die ursprüngliche persische Religion - neben der islamischen auch die christliche, die jüdische und eine - dem Grafen unbekannte - buddhistische Religion geduldet habe. Jetzt sei zwar der Islam Staatsreligion, aber auch der sei den anderen Religionen gegenüber sehr tolerant. Beschämt erinnerte sich Karl an die Intoleranz der Christen gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern und an die religiös motivierten Massaker der christlichen Ritter auf den Kreuzzügen.

 

Während die Männer ihre Gedanken austauschen, beobachtet und lauscht Jadasa dem Grafen mit steigender Freude. Bisher waren ihr in diesem Land noch nicht viele gebildete und wissensdurstige Adlige begegnet. Ja, sie hatte bisher den Eindruck, daß die Edlen dieses Volkes mehrheitlich der Meinung waren, Bildung sei etwas für Schwächlinge oder Pfaffen. Dem Ritter aber gebühren solche Dinge wie Turniere oder die Jagd und, wenn nötig, die Kriegsführung. Karl von Donarsberg sind die prüfenden und interessierten Blicke Jadasas wohl bewußt. Er vermeidet es aber, sie direkt zu erwidern und tut so, als würde er ihr Interesse nicht bemerken oder es sei ihm gleichgültig. Tatsächlich freut er sich darüber.

Wieder nehmen ihn die Worte Saadi Atravans gefangen, der gerade die Grundzüge der altpersischen Religion erläutert und soeben von Ahriman spricht, dem dunklen Gegenspieler Ahura Mazdas, und von der beiden ewigem Kampf um die Seelen der Menschen. Den Grafen erinnert das stark an die christliche Lehre von Gut und Böse und an Luzifer, den Gegenspieler Gottes, und so entsteht ein gelehrsamer und teilweise hitzig geführter Disput zwischen Gastgeber und Gast über die theologischen Unterschiede in dieser Frage und welche Religion - das Christentum oder der Mazdaismus - der Wahrheit am nächsten komme. Das Streitgespräch endet auf Vorschlag Saadis schließlich in der versöhnlichen Übereinkunft, daß wohl die Grundaussagen in beiden Religionen gleich seien und daß ja auch im Koran Ähnliches zu finden sei.

Jadasa nutzt die Pause in der Diskussion zwischen den beiden Männern, um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. „Herr Graf, gibt es in ihrem Land auch die Falkenjagd?“ Wie zu erwarten war, wird dieses neue Thema von beiden Männern sofort begierig aufgenommen, sind sie doch beide begeisterte Anhänger dieser ritterlichen Form der Jagd. Die junge Frau ist froh, die beiden geschickt von einem brisanten Thema losgeeist zu haben, das in dieser Zeit für Andersgläubige in einem christlichen Land geradezu lebensgefährlich werden kann. - Die Fackeln sind heruntergebrannt, die meisten Diener haben sich klammheimlich in ihre Quartiere zurückgezogen. Nur die alte Maria und Groot sind noch auf und sitzen müde auf den Stufen, die in die Küche hinabführen, die unter der Halle liegt. Jadasa gähnt hinter vorgehaltener Hand so offensichtlich, daß es auch die beiden Unermüdlichen nicht mehr übersehen können, und so macht man sich nach der gegenseitigen Bekundung, daß dies ein sehr gelungener Abend gewesen sei, auf den Weg in die Schlafgemächer. Beim Entkleiden wird dem Grafen plötzlich bewußt, daß er den ganzen Abend nicht ein einziges Mal husten mußte, und er nimmt dies als ein gutes Omen für den weiteren Verlauf des Besuches. Kurz darauf verrät ein lautes Schnarchen, daß Karl von Donarsberg eingeschlafen ist. Für Groot, der in eine grobe Leinendecke gewickelt auf seinem Strohsack vor der Tür auf letzte Wünsche seines Herrn gewartet hat, ist dies das untrügliche Zeichen, daß sein Dienst für heute beendet ist. Und so fällt auch der Junge bald darauf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

In dieser Nacht hat Jadasa einen merkwürdigen Traum. Sie sieht sich auf einem einsamen Weg durch einen Wald voll toter Bäume wandern. In ihren Armen trägt sie ein wenige Tage altes Kind. Das Neugeborene schaut sie aus tiefblauen Augen unentwegt an, so, als wolle es sie fragen: Wohin gehst du? Dann kommt sie im Traum an eine Weggabelung. Träumend ahnt sie, daß sie der linke Weg in die Geborgenheit und Sicherheit ihres Zuhauses zurückführen wird. Der rechte Weg führt ins Ungewisse. Nur einige Schritte weiter verliert er sich in einem undurchsichtigen Nebel. Hoch über der weißen Nebelwolke spannt sich ein leuchtender Regenbogen. Ihr gegenüber, dort, wo die beiden Pfade sich trennen, steht ein Galgen, auf dem zwei Raben sitzen. Am Galgen hängt wie zur Warnung eine lebensgroße Puppe, die Jadasas Gesichtszüge trägt. Die Hände der Puppe sind vorne zusammengebunden, und auch die Füße sind gefesselt. Zwei aufgemalte Tränen rinnen aus den Puppenaugen, die ratlos auf die ausgedörrte Erde vor ihr starren.

Plötzlich wird es Jadasa im Traum bewußt, daß sich die beiden Raben unterhalten und sie verstehen kann, was sie sagen. „Wie wird sie sich entscheiden?“ fragt der eine, und der andere antwortet: „Ein Mann, der liebt, ist imstande, die größten Opfer zu verlangen, die liebende Frau, sie zu bringen!“ - Schweißgebadet und innerlich aufgewühlt erwacht sie und liegt nun, über den Sinn der Traumbilder grübelnd, auf der zerwühlten Bettstatt. Die Luft im Raum ist verbraucht, und das Fell vor der Fensteröffnung läßt kaum Licht herein. Jadasa erhebt sich, um den zerschlissenen Fellvorhang beiseite zu ziehen. Ein Schwall kalter Morgenluft treibt sie sofort wieder in die warme Geborgenheit der ansonsten wenig einladenden und recht harten Liege. Mit Wehmut denkt sie an den bescheidenen Luxus des gemieteten Hauses in Wien, das sogar über geölte Pergamentfensterscheiben verfügte, die zwar nur ein schmutziges Licht in die wenigen Zimmer ließen, die naßkalte Witterung aber weitgehend abhielten. Glasscheiben kennt sie nur vom Hörensagen, da dieser verschwenderische Luxus nur den Palästen von Herzögen, reichen Grafen oder Bischöfen vorbehalten ist.

Ihre Gedanken kehren zu dem nächtlichen Traum zurück. Ein Gefühl sagt ihr, daß es prophetische Bilder waren, daß es um ihre Zukunft geht und ihr eine sehr wichtige Entscheidung bevorsteht. Aber was soll das Kind in ihren Armen? Und was muß sie aus Liebe opfern? Je länger sie darüber nachdenkt, um so verworrener kommt ihr das Ganze vor. Schließlich durchbricht sie ihre Verwirrung, indem sie entschlossen die Laken von sich stößt, sich erhebt und mit ihrer Morgenwäsche beginnt. Dabei wird ihr die Ironie der Situation bewußt. Verdankt sie es doch der gräflichen Teilnahme an den Kreuzzügen und den dort gemachten Erfahrungen, daß ihr Gastgeber überhaupt auf die Idee kam, Wasser für die Körperreinigung bereit stellen zu lassen. Ein keineswegs üblicher Luxus in europäischen Burgen und Schlössern.

Karl von Donarsberg erwacht nach tiefem und erfrischendem Schlaf in ungewohnt guter Laune. Der noch schlaftrunkene Groot draußen vor der Tür traut seinen Ohren kaum, als er den Grafen so früh am Morgen und nach einer doch recht langen Nacht ein fröhliches Spottlied brummen hört. Gesang kann man die Töne, die sein Herr da von sich gibt, beim besten Willen nicht nennen. Schnell erhebt sich der Knappe, um seinem Ritter beim Anziehen behilflich zu sein. Er öffnet die Tür und wird im gleichen Moment wie von einem durchgehenden Pferd überrannt. Zumindest kommt es ihm so vor. Benommen am Boden liegend, erkennt er seinen Herrn, der schon fertig angezogen und sehr unternehmungslustig schnellen Schrittes die Rundtreppe hinunterläuft. Groot rappelt sich auf und beeilt sich, ihm zu folgen.

Maria, die treue Seele, kann sich nicht daran erinnern, den Grafen schon so früh auf den Beinen gesehen zu haben. Verblüfft und etwas außer Atem folgt sie ihm im Laufschritt, als er die Treppe hinab in die Küche hastet, um Anweisungen für ein besonderes Frühstück zu geben. Noch nie hat er sich persönlich darum gekümmert, sondern alles, was Maria ihm vorsetzte - manchmal brummend, meistens aber mit ihrer Wahl durchaus einverstanden - mit Appetit verzehrt. Heute scheint ihm nichts recht zu sein. Weder die Reste des gebratenen Kapauns vom gestrigen Mittagstisch, noch die sonst übliche Milchsuppe und schon gar nicht der heißgeliebte Haferbrei mit Speck und gerösteten Kastanien finden heute morgen Gnade vor seinen Augen. Und so muß Anna, die Küchenmagd, schnell Teig anrühren und frisches Rosinenbrot backen. Maria aber soll einen Eierkuchen vorbereiten, der wahlweise mit Honig oder mit dem seltenen, und deshalb teuren, schwarzen Pfeffer gewürzt wird. Dazu wird sie einen sehr aromatischen Tee aufbrühen, den der Hausherr aus Palästina mitbrachte und der - laut dem Händler im Basar einer eroberten Stadt - auf dem Karawanenweg über Persien aus Indien gekommen sei. Mit diesen bescheidenen Mitteln versucht Karl von Donarsberg, seinen Gästen eine annähernd heimatliche Atmosphäre zu schaffen.

In die Halle zurückgekehrt, wärmt sich der Graf an dem bereits hoch lodernden Feuer im Kamin. Gerade als er sich fragt, ob er seine Gäste durch den Knappen wecken lassen soll, erschreckt ihn ein gellender, verzweifelter Schrei bis ins Mark. Es dauert einen Augenblick, bis ihm klar wird, daß das eine Frauenstimme aus dem Obergeschoß war und es sich deshalb nur um Jadasa handeln kann. Bei diesem Gedanken löst sich seine Erstarrung und plötzlich von einer wilden Angst gepackt, hastet Karl von Donarsberg die Stufen zum Gästetrakt hinauf. Oben angekommen, sieht er, daß die Tür zum Schlafgemach Saadi Atravans offen steht. Er tritt ein und erfaßt mit einem Blick die Lage. Auf dem zerwühlten Bett liegt mit starren, gebrochenen Augen und offenem Mund der Vater Sadasas. Sie selbst kniet schluchzend vor dem Bett, die Hand des Toten streichelnd, den Kopf in die Kissen über der Schulter des Verstorbenen vergraben. Es sieht so aus, als hätte den Perser mitten im Schlaf der Schlag getroffen. Der Graf erinnert sich, daß seine Mutter, die genauso starb, den gleichen überraschten Gesichtsausdruck hatte. Behutsam nähert er sich der Trauernden und berührt tröstend ihren Arm. Dann kniet er neben ihr nieder und betet laut das lateinische Totengebet, das ihn sein geistlicher Hauslehrer in jungen Jahren anläßlich der Beerdigung seiner Mutter lehrte. Bei solchen Gelegenheiten ist er seinem Vater im nachhinein sehr dankbar, der - entgegen den Gepflogenheiten seines Standes - damals darauf bestanden hatte, daß seinem Sohn neben der ritterlichen Ausbildung auch eine geistige Erziehung zuteil wurde.