Cover

Zum Buch

Als David Attenborough 1926 zur Welt kam, lebten 2,3 Milliarden Menschen auf der Erde, die zu 66 Prozent noch Wildnis war. Der Wert von Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre betrug 280 ppm. Heute ist die Weltbevölkerung viermal so groß, der Kohlendioxidwert fast doppelt so hoch, und die Wildnis hat sich beinahe halbiert. Als Naturforscher, der für die BBC die ersten großen Tiersendungen machte, als innovativer Naturfilmer hat Attenborough die Stationen dieser Entwicklung hautnah miterlebt und beschreibt sie anschaulich. Ebenso farbig erzählt er von den Pionierleistungen anderer Biologen wie Bernhard Grzimek oder Dian Fossey.

Den Schwerpunkt seines Buches bildet die Zukunftsvision. Welche realistischen Chancen haben wir noch, den Klimawandel zu stoppen und die lebenswichtige Biodiversität zu retten? Sehr große! Aber dazu bedarf es eines tiefgreifenden Umdenkens und einer entschlossenen Neuausrichtung unseres wirtschaftlichen Handelns. Sehr genau stellt David Attenborough die notwendigen Veränderungen dar - sei es in der Landwirtschaft, in der Ernährung, im Fischfang - und macht uns Mut, sie in Angriff zu nehmen.

Zum Autor

Sir David Frederick Attenborough, 1926 in London geboren, studierte in Cambridge Naturwissenschaften und ist der wohl bekannteste Tierfilmer und Naturforscher der Welt. Dokumentationen wie »The Living Planet« (1984), »Spiele des Lebens« (1991) oder »Unser blauer Planet« (2004) erreichten ein Millionenpublikum. Sehr früh engagierte er sich wirksam für den Klimaschutz. 2019 verlieh er der achtteiligen Netflix-Serie »Our Planet« seine legendäre sonore Stimme. 1983 wurde David Attenborough zum Fellow der Royal Society gewählt, zwei Jahre darauf zum Knight Bachelor geschlagen, 1992 wurde ihm die Goldene Kamera verliehen, 2007 erhielt er die Ehrendoktorwürde der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Uppsala. Ein Forschungsschiff, eine Meerenge und mehrere Tier- und Pflanzenarten wurden nach David Attenborough benannt.

DAVID ATTENBOROUGH

MIT JONNIE HUGHES

Ein Leben

auf unserem

Planeten

Die Zukunftsvision

des berühmtesten

Naturfilmers

der Welt

Aus dem Englischen

von Alexandra Hölscher

BLESSING

Originaltitel: A Life on Our Planet. My Witness Statement and A Vision for the Future

Originalverlag: Witness Books, Penguin Random House Group London

Die Autoren danken dem WWF für sein Engagement im Tier- und Naturschutz sowie für seine wissenschaftlichen Arbeiten, deren Ergebnisse in dieses Buch eingeflossen sind.

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Copyright © 2020 David Attenborough Productions Ltd 2020

Copyright © 2020 der deutschen Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Bildredaktion: Annette Baur

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung eines Fotos von bundit jonwises/Shutterstock und eines Portraitfotos David Attenborough von Sarah Dunn/BBC

Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27312-5
V002

www.blessing-verlag.de

Inhalt

EINFÜHRUNG

Unser größter Fehler

ERSTER TEIL

Ein Zeugenbericht

1937

1954

1960

1968

1971

1978

1989

1997

2011

2020

ZWEITER TEIL

Was vor uns liegt

2030er-Jahre

2040er-Jahre

2050er-Jahre

2080er-Jahre

2100er-Jahre

DRITTER TEIL

Eine Vision für die Zukunft

Das Wachstum hinter uns lassen

Der Wechsel zur sauberen Energie

Zurück zu einem wilden Ozean

Wie wir weniger Platz einnehmen

Zurück zu wilden Landflächen

Den Höchststand der Weltbevölkerung fest vor Augen

Ein Leben im Einklang mit der Natur

FAZIT

Unsere größte Chance

Danksagung

Bildteil

Anmerkungen

Bildnachweise

Glossar

EINFÜHRUNG

Unser größter Fehler

Prypjat in der Ukraine ist anders als alle Orte, an denen ich jemals gewesen bin. Es ist ein Ort äußerster Verzweiflung.

Oberflächlich betrachtet, wirkt Prypjat wie eine hübsche Kleinstadt mit Alleen, Hotels, einem zentralen Platz, einem Krankenhaus, Parks mit Fahrgeschäften, einer Hauptpoststelle, einem Bahnhof. Es gibt mehrere Schulen und Schwimmbäder, Cafés und Bars, ein Restaurant am Fluss, Geschäfte und Friseure, ein Theater und ein Kino, ein Tanzlokal, Turnhallen und ein Fußballstadion mit einer Leichtathletikanlage. Diese Stadt bietet sämtliche Annehmlichkeiten, die von uns Menschen geschaffen wurden, um uns ein zufriedenes und komfortables Leben zu ermöglichen – alle Elemente unserer Lebensweise finden sich hier wieder.

Um das Kultur- und Geschäftszentrum herum breiten sich die Wohnanlagen aus: 160 Hochhäuser, die entlang wohldurchdachter Straßenzüge geradezu strategisch positioniert wurden. Jede Wohnung hat einen eigenen Balkon. Jedes Hochhaus hat eine eigene Waschküche, die höchsten Hochhäuser sind zwanziggeschossig und werden jeweils von einem riesigen schmiedeeisernen Hammer-und-Sichel-Emblem gekrönt, dem Symbol der Stadtgründer.

Die Sowjets bauten Prypjat in den von einem Bauboom geprägten 1970er-Jahren. Es war als perfektes Zuhause für fast 50 000 Menschen konzipiert, ein modernistisches Utopia, in dem die besten Ingenieure und Wissenschaftlerinnen des ehemaligen Ostblocks mit ihren jungen Familien untergebracht waren. In Amateurfilmaufnahmen aus den frühen 1980er-Jahren sehen wir, wie sie lächelnd Kinderwagen über die weiten Boulevards schieben, Ballettunterricht nehmen, in einem Hallenbad von olympischen Ausmaßen schwimmen und in Booten auf dem Fluss herumpaddeln.

Heute aber lebt niemand mehr in Prypjat. Bröckelnde Mauern, zerbrochene Fensterscheiben und schief in den Angeln hängende Türen prägen das Stadtbild. Ich muss aufpassen, wo ich hintrete, als ich durch die dunklen, leeren Gebäude gehe. In den Friseurgeschäften liegen, umgeben von verstaubten Lockenwicklern und zerbrochenen Spiegeln, umgekippte Stühle. Im Supermarkt hängen neonfarbene Schläuche von der Decke. Der Parkettboden im Rathaus ist aufgerissen, die Dielen liegen entlang des prachtvollen marmornen Treppenaufgangs verteilt. Schulhefte, auf deren vergilbten Seiten ordentliche, mit blauer Tinte geschriebene kyrillische Schriftzeichen zu erkennen sind, sind in den Klassenzimmern über den Boden verstreut. Aus den Schwimmbecken wurde das Wasser abgelassen. In den Wohnungen sind die Sofakissen auf den Boden gerutscht. Die Betten sind modrig. Die Stadt ist wie erstarrt – als hätte jemand auf eine Pausentaste gedrückt. Wenn etwas von einem Windstoß erfasst wird, zucke ich vor Schreck zusammen.

Ich trete von einer Wohnung in die nächste und finde es immer beunruhigender, dass ich nirgends Menschen begegne. Deren Abwesenheit ist verräterisch und sagt die Wahrheit über diesen Ort. Ich habe schon andere Geisterstädte besichtigt – Pompeji, Angkor Wat und Machu Picchu –, aber im Unterschied zu diesen ist Prypjat eine so gewöhnliche Stadt, dass die Menschenleere um so schockierender auffällt. Bauwerke und Gegebenheiten wirken derart vertraut, dass sofort klar wird, die Aufgabe der Stadt kann nicht dem Zahn der Zeit geschuldet sein.

Prypjat ist ein Ort äußerster Verzweiflung, weil alles – von den Anschlagtafeln, die keiner mehr anschaut, über die ausrangierten Rechenschieber im Klassenraum für Naturwissenschaften bis hin zum halb zertrümmerten Klavier im Café – als Mahnmal für das Vermögen der Menschheit steht, alles zu verlieren, was sie zum Leben braucht und was ihr lieb und teuer ist. Der Mensch ist das einzige Wesen auf Erden, das genug Macht hat, Welten erst zu erschaffen und sie dann zu zerstören.

Am 26. April 1986 explodierte Reaktor Nr. 4 des nahe gelegenen Vladimir Ilyich Lenin Atomkraftwerks, das heute allen besser bekannt ist als »Tschernobyl«. Die Explosion war das Ergebnis schlechter Planung und menschlichen Versagens. Die Bauart des Tschernobyl-Reaktors wies Schwächen auf. Das Betriebspersonal war sich dessen nicht bewusst und hielt sich außerdem nicht an die Vorschriften. Dass Tschernobyl explodierte, ist auf Fehler zurückzuführen – der menschlichsten aller Erklärungen überhaupt.

Vierhundertmal so viele radioaktive Substanzen, wie von den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki ausgingen, verteilten sich aufgrund starker Winde über weite Teile Europas. Sie fielen als Regentropfen und Schneeflocken vom Himmel, drangen ins Erdreich, gelangten in die Wasserstraßen vieler Länder und fanden letztendlich ihren Weg in die Nahrungskette. Wie viele Menschen infolge der Katastrophe vorzeitig den Tod fanden, ist immer noch umstritten, aber Schätzungen gehen von Hunderttausenden aus. Tschernobyl wird von vielen als teuerste Umweltkatastrophe in der Geschichte der Menschheit bezeichnet.

Leider ist das nicht ganz richtig. Seit etwa Anfang des letzten Jahrhunderts nimmt überall, auf der ganzen Welt, wenn auch oft kaum wahrnehmbar, ein Verhängnis seinen Lauf, das ebenfalls die Folge schlechter Planung und menschlichen Versagens ist. Diesmal handelt es nicht um einen Unfall, sondern vielmehr um mangelnde Umsicht und Nicht-Wissen, die sich in all unseren Handlungen widerspiegeln. Es begann nicht mit einer Explosion, sondern ganz still und unbemerkt und ist das Ergebnis vielfältiger, globaler und komplexer Zusammenhänge. Die Auswirkungen sind nicht mit einem einzelnen Gerät messbar. Es bedurfte vielmehr Hunderter Studien weltweit, um sie aufzuzeigen und nachzuweisen. Die Folgen werden um ein Vielfaches weitreichender sein als die Kontamination von Erdböden und Wasserwegen einiger unglücklicher Länder – und könnten letzten Endes sogar zu Destabilisierung und Kollaps all dessen führen, was wir zum Leben benötigen.

Das ist die wahre Tragödie unserer heutigen Zeit: der schwindelerregende Rückgang der Biodiversität unseres Planeten. Denn damit Leben auf diesem Planeten voll und ganz gedeihen kann, braucht es eine unermesslich große Biodiversität. Nur wenn Milliarden verschiedener, ganz individueller Organismen den größtmöglichen Vorteil aus jeder Ressource und jeder Gelegenheit ziehen, die ihnen begegnen, und wenn das Leben von Millionen verschiedener Arten so miteinander verknüpft ist, dass sie einander gegenseitig erhalten, kann unser Planet richtig funktionieren. Je größer die Biodiversität, umso sicherer ist sämtliches Leben auf Erden, auch das unsere. Dennoch sorgen wir Menschen mit unserer gegenwärtigen Lebensweise dafür, dass die biologische Vielfalt abnimmt.

Wir haben uns alle schuldig gemacht, obgleich wir mit einem gewissen Recht auf mildernde Umstände plädieren können: Wir haben erst im Laufe der letzten Jahrzehnte begriffen, dass jeder Einzelne und jede Einzelne von uns in eine menschliche Welt geboren wurde, die schon per se nicht nachhaltig war. Aber nun, da es uns bekannt ist, müssen wir eine Entscheidung treffen. Wir können weiterhin ein glückliches Leben führen, unsere Kinder großziehen, unseren rechtschaffenen Tätigkeiten in der modernen Gesellschaft, die wir aufgebaut haben, nachgehen und uns dafür entscheiden, die Katastrophe, die vor unserer Türschwelle lauert, zu ignorieren. Oder wir können uns ändern.

Eine Entscheidung, die alles andere als einfach ist. Schließlich ist es nur menschlich, an dem festzuhalten, was wir kennen, und das, was wir nicht kennen, zu ignorieren oder zu fürchten. Jeden Morgen, wenn die Einwohner von Prypjat die Vorhänge in ihren Wohnungen aufzogen, erblickten sie das riesige Atomkraftwerk, das eines Tages ihre Leben zerstören würde. Der Großteil der Bewohner war dort angestellt, die anderen waren finanziell auf diejenigen angewiesen, die dort arbeiteten. Vielen war sicherlich bewusst, wie gefährlich es war, so nah am Kraftwerk zu leben, dennoch bezweifle ich, dass sie es deswegen hätten abschalten wollen. Tschernobyl hatte ihnen ein hohes Gut beschert – ein komfortables Leben.

Wir alle sind jetzt Bewohner von Prypjat. Wir leben ein komfortables Leben im Schatten einer Katastrophe, die wir selbst hervorgerufen haben. Diese Katastrophe wird durch genau jene Dinge verursacht, die uns erlauben, diese Art von komfortablem Leben zu führen. Und es ist ganz natürlich, damit weiterzumachen, bis es einen überzeugenden Grund gibt, damit aufzuhören, sowie einen sehr guten Plan für eine Alternative. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.

Die Natur schwindet. Beweise dafür sehen wir auf der ganzen Welt. Es findet schon mein ganzes Leben lang statt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wir steuern auf unsere Zerstörung zu.

Allerdings bleibt uns noch etwas Zeit, den Reaktor abzuschalten. Und es gibt sehr wohl eine gute Alternative.

Dieses Buch erzählt die Geschichte, wie es zu all dem kam, zu unserem größten Fehler, und wie wir ihn, wenn wir jetzt handeln, wiedergutmachen können.

ERSTER TEIL

Ein Zeugenbericht

Als ich diese Zeilen schreibe, bin ich 94 Jahre alt. Ich blicke auf ein außergewöhnliches Leben zurück. Erst jetzt kann ich wertschätzen, wie außergewöhnlich es war und immer noch ist. Ich hatte das große Glück, mein Leben damit verbringen zu können, auf unserem Planeten wilde Gegenden zu erkunden und Filme über die Lebewesen zu drehen, die dort leben. Auf diese Weise habe ich den gesamten Globus bereist. Ich habe mit meinen eigenen Augen das Leben in all seinen Facetten und mit all seinen Wundern erfahren dürfen, und ich wurde Zeuge einiger außerordentlicher Schauspiele und höchst ergreifender Dramen.

Als kleiner Junge träumte ich, wie so viele Jungen, davon, an ferne, wilde Orte zu reisen, die Natur in ihrem ursprünglichen Zustand zu erleben und Tiere zu entdecken, die der Wissenschaft noch nicht bekannt sind. Heute kann ich es kaum glauben, dass es mir gelungen ist, den Großteil meines Lebens genau damit zu verbringen.

1937

Als ich elf Jahre alt war, lebte ich in Leicester in Zentralengland. Damals war es nicht ungewöhnlich, dass ein Junge meines Alters den ganzen Tag mit dem Fahrrad und in der Natur unterwegs war und erst abends nach Hause kam. Genau so wuchs ich auf. Jedes Kind geht auf Entdeckungsreise. Es ist schon eine Entdeckungsreise, wenn man einen Stein hochhebt und nach den Tieren darunter schaut. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als immer wieder aufs Neue voller Faszination das Geschehen in der Natur um mich herum zu beobachten.

Mein älterer Bruder Richard sah die Dinge aus einer anderen Perspektive. Leicester hatte eine Gruppe von Laiendarstellern, die auf quasi professionellem Niveau Theaterstücke auf die Bühne brachten, und obwohl er mich hin und wieder dazu überreden konnte, mich ihm anzuschließen und als Statist ein paar Zeilen zu sprechen, war ich doch nicht richtig mit dem Herzen dabei.

Stattdessen stieg ich, sobald es warm genug war, aufs Fahrrad und fuhr in die östliche Gegend unserer Grafschaft, wo es Gestein voller wunderschöner und faszinierender Fossilien gab. Dinosaurierknochen waren dort nicht zu finden. Der honigfarbene Kalkstein hatte sich als Schlamm auf dem Boden eines früheren Meeres abgesetzt, niemand würde also davon ausgehen, die Überreste an Land lebender Monster zu finden. Stattdessen entdeckte ich die Schalen von Meerestieren: Ammoniten, manche über fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, deren Gehäuse wie die der Posthornschnecken gewunden waren; andere waren haselnussgroß, und in ihrem Inneren befanden sich winzige Calcitgefüge, die als Halt für die Kiemen, mit denen die Lebewesen geatmet hatten, fungiert hatten. Und ich konnte mir nichts Spannenderes vorstellen, als einen Gesteinsbrocken, der aussah, als könne er einen solchen Schatz bergen, aufzuheben, ihm einen geschickten Schlag mit dem Hammer zu verpassen und dann dabei zuzuschauen, wie er auseinanderfiel und diese wunderbaren Schalen freigab, die in der Sonne funkelten. Und ich ergötzte mich an dem Gedanken, der erste Mensch zu sein, dem dieser Anblick vergönnt wurde.

Von klein auf war für mich nichts wichtiger, als Wissen zu erlangen, das zu einem Verständnis führte, wie die Natur funktionierte. Von Menschen ersonnene Gesetze interessierten mich nicht, wohl aber die Naturgesetze, die das Leben von Tieren und Pflanzen regelten. Ich hatte auch nichts für die Geschichte der Könige und Königinnen übrig, nicht mal für die Vielzahl an Sprachen, die sich in den verschiedenen menschlichen Kulturen entwickelt hatten, wohl aber für die Grundprinzipien, nach denen die Welt aufgebaut war, lange bevor der Mensch darin auftauchte. Warum gab es so viele verschiedenartige Ammoniten? Was unterschied den einen vom anderen? Seine Lebensweise? Hatte er in einer anderen Gegend gelebt? Bald entdeckte ich, dass schon viele andere Menschen diese Art von Fragen gestellt und auch Antworten gefunden hatten; und dass diese Antworten, wenn man sie miteinander verglich und kombinierte, die wunderbarste aller Geschichten erzählten – die Geschichte des Lebens.

Die Geschichte der Entwicklung des Lebens auf unserer Erde ist eine Geschichte langsamer, dennoch kontinuierlicher Veränderung. Jedes Lebewesen, dessen Überreste ich in den Gesteinsbrocken fand, hatte sein ganzes Leben damit verbracht, sich der Umwelt anzupassen. Diejenigen, denen es besser gelang, zu überleben und sich fortzupflanzen, gaben ihre Eigenschaften weiter. Die darin weniger erfolgreich waren, konnten das nicht. Im Laufe von Milliarden von Jahren veränderten sich die Lebensformen allmählich und wurden komplexer, höher spezialisiert. Und ihre lange Geschichte ließ sich aus jedem einzelnen Detail ableiten, das es in den Gesteinsbrocken zu entdecken gab. Die Kalksteine von Leicestershire bildeten nur einen winzigen Ausschnitt dieser Geschichte ab. Aber weitere Kapitel hielten die Exemplare bereit, die im Museum der Stadt ausgestellt waren.

Um darüber hinaus noch mehr zu entdecken, entschied ich mich, als die Zeit gekommen war, es mit einem Studium an der Universität zu versuchen. Dort lernte ich eine andere Wahrheit. Diese lange Geschichte allmählicher Veränderung hatte zu gewissen Zeitpunkten drastische Unterbrechungen erfahren. Alle paar Hundertmillionen Jahre fand, nachdem all diese Verbesserungen nach strengen Auswahlkriterien stattgefunden hatten, eine Katastrophe statt – ein Massenaussterben.

Aus verschiedenen Gründen gab es zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte der Erde tiefgehende, rasante, globale Veränderungen der Umwelt, an die sich so viele unterschiedliche Lebensformen so wunderbar angepasst hatten. Die lebenserhaltende Maschine der Erde war ins Stottern geraten, und die wundersame Ansammlung fragiler Verbindungen, die alles zusammengehalten hatte, kollabierte. Schlagartig verschwanden dann unzählige Tierarten, nur wenige überlebten. Die ganze Evolution war zunichtegemacht. Dieses mehrmalige monumentale Aussterben hatte unterschiedliche Grenzschichten in den Gesteinsbrocken geschaffen, die erkennbar waren, wenn die Forscher und Forscherinnen wussten, worauf zu achten war. Unter der Grenzschicht war eine große Vielfalt an Lebensformen erkennbar, darüber nur sehr wenige.

Fünf Massensterben gab es im Laufe der vier Milliarden Jahre währenden Erdgeschichte.4 Jedes Mal ging die Natur zugrunde und hinterließ gerade mal genug Überlebende, um den Prozess noch mal neu anzukurbeln. Das letzte Massenaussterben wurde vermutlich durch den Einschlag eines Meteoriten ausgelöst, dessen Durchmesser zehn Kilometer betrug und dessen Aufprall auf der Erdoberfläche zwei Millionen Mal stärker war als die größte jemals getestete Wasserstoffbombe.5 Er landete auf einer Selenitschicht, und nach Ansicht vieler Forscher verteilte sich der auf diese Weise hoch in die Atmosphäre geschleuderte Schwefel als saurer Regen über den ganzen Globus, er war so sauer, dass er die Vegetation abtötete und das Plankton an der Wasseroberfläche der Ozeane verätzte. Die dadurch entstandene Staubwolke ließ so wenig Sonnenlicht durch, dass sie womöglich für einige Jahre ein geringeres Pflanzenwachstum verursachte.6 Möglicherweise regneten Brandrelikte nach der Detonation zurück auf die Erdoberfläche und lösten in der gesamten westlichen Hemisphäre Feuerstürme aus. Die Brände belasteten die ohnehin bereits verunreinigte Luft zusätzlich mit Kohlendioxid und Rauch, was den Treibhauseffekt hervorrief und zu eine Erderwärmung führte. Und weil der Meteorit außerdem an der Küste landete, löste er gewaltige Tsunamis aus, die den gesamten Globus heimsuchten und nicht nur Küstenökosysteme zerstörten, sondern auch Meeressand über große Entfernungen landeinwärts beförderten.

Es war ein Ereignis, das den Lauf der Naturgeschichte ändern sollte: Drei Viertel aller Tierarten wurden ausgelöscht, einschließlich aller Landtierarten, die größer als unsere heutigen Haushunde waren. Es beendete die 175 Millionen Jahre währende Herrschaft der Dinosaurier. Das Leben musste sich neu erfinden.

Vor 66 Millionen Jahren begann die Natur damit, eine neue Lebenswelt mit einer neuen Vielfalt an Tierarten zu erschaffen und diese immer weiter zu optimieren. Und eines der Produkte dieses Neustarts des Lebens war der Mensch.

*

Auch die Evolution der Menschheit ist in den Gesteinsbrocken festgehalten. Fossilien unserer nahen Vorfahren sind noch viel seltener als die von Ammoniten, weil sie sich erst vor rund zwei Millionen Jahren zum ersten Mal entwickelten. Und es gibt noch eine Schwierigkeit: Die Überreste an Land lebender Tiere befinden sich meistens nicht unter abgelagerten Sedimentschichten wie die von Meeresbewohnern, sondern werden durch die zerstörerische Kraft der glühenden Sonne, durch Schlagregen und Frost zersetzt. Aber es gibt sie, und die wenigen Überreste unserer Vorfahren, die wir gefunden haben, weisen darauf hin, dass unsere eigene Entwicklung in Afrika ihren Anfang nahm. In der Zeit begannen unsere Gehirne so schnell zu wachsen, dass man dies als Vorzeichen unserer zukünftigen hauptsächlichen Wesensmerkmale ansehen könnte – der einzigartigen Fähigkeit, Kulturen zu entwickeln.

Für Evolutionsbiologen beschreibt der Begriff »Kultur« die Information, die durch Lernen oder Nachahmung von einem Individuum zum nächsten weitergegeben werden kann. Das Nachahmen von Ideen oder Handlungen anderer erscheint uns als eine einfache Angelegenheit – jedoch nur, weil wir sie auf herausragende Weise beherrschen. Nur eine Handvoll anderer Arten zeigt Anzeichen von Kulturerwerb. Schimpansen und Große Tümmler sind zwei davon. Aber keine andere Spezies kommt auch nur annähernd an die Fähigkeit zur Ausbildung einer Kultur heran wie die unsere.

Kultur hat die Art unserer Entwicklung verändert. Mit Kultur hat sich unsere Spezies auf neue Weise an das Leben auf der Erde angepasst. Während das Überleben anderer Arten davon abhing, dass und wie sie sich über Generationen hinweg körperlich anpassten, waren wir in der Lage, eine Idee umzusetzen, mit der wir eine signifikante Änderung innerhalb einer Generation herbeiführen konnten. Zum Beispiel das Kunststück, Pflanzen zu finden, die auch während einer Dürre Wasser lieferten; das Fertigen eines Steinwerkzeugs, um damit ein totes Tier zu häuten und zu zerlegen, das Entzünden eines Feuers oder das Kochen von Essen konnte während der Dauer eines einzigen Lebens von einem Menschen an einen anderen weitergegeben werden. Das war eine neue Form der Vererbung, die unabhängig von den Genen stattfand, welche einem Individuum von den Eltern vererbt wurden. Wir entwickelten uns jetzt schneller. Die Gehirne unserer Vorfahren wuchsen in einem unglaublichen Tempo und gaben uns die Fähigkeit, zu lernen, zu erinnern und Ideen zu verbreiten. Aber schließlich verlangsamten sich die körperlichen Veränderungen, bis kaum noch welche stattfanden. Vor etwa 200 000 Jahren trat der anatomisch moderne Mensch, Homo sapiens, auf den Plan – ein Mensch wie du und ich. Seitdem haben wir uns auf der körperlichen Ebene nur noch sehr wenig verändert. Was sich allerdings auf spektakuläre Weise verändert hat, ist unsere Kultur.

Am Anfang des Bestehens unserer Art war unsere Kultur vornehmlich von unserem Lebensstil als Jäger und Sammler geprägt. In beiden Sparten waren wir außerordentlich gut. Wir statteten uns mit den materiellen Kennzeichen unserer Kultur aus, wie zum Beispiel Haken, um Fische zu fangen, und Messer, um Wild zu schlachten. Wir lernten, Feuer zu entfachen und zu kontrollieren, um damit zu kochen, und Steine zu benutzen, um Getreide zu mahlen. Aber trotz dieses Erfindungsreichtums war unser Leben nicht einfach. Die Umwelt, in der wir lebten, war rau und vor allem unvorhersehbar. Die Welt war insgesamt viel kälter als heute. Der Meeresspiegel lag viel niedriger. Süßwasser war nicht leicht zu finden, und weltweit gab es innerhalb relativ kurzer Zeitspannen immer wieder extreme Temperaturschwankungen. Körper und Gehirne unserer Vorfahren ähnelten zwar schon sehr unseren heutigen, aber unsere Umwelt war so unbeständig, dass es schwierig war zu überleben. Genetische Untersuchungen des modernen Menschen deuten darauf hin, dass diese klimatischen Bedingungen uns vor rund 70 000 Jahren Ereignissen aussetzten, die uns fast ausgerottet hätten. Unsere gesamte Spezies war womöglich auf nicht mehr als zwanzigtausend zeugungsfähige Erwachsene dezimiert worden. Um uns weiterhin entwickeln zu können, benötigten wir eine größere Stabilität. Der Rückzug der letzten Gletscher vor 11 700 Jahren bewirkte diese Stabilität.

*

Das Holozän – der Zeitabschnitt der Erdgeschichte, den wir als unsere Zeit ansehen – ist eine der stabilsten Phasen der langen Geschichte unseres Planeten. Über einen Zeitraum von zehntausend Jahren fiel oder stieg die weltweite Durchschnittstemperatur um nicht mehr als ein Grad Celsius.7 Wir wissen nicht genau, wodurch diese Stabilität zustande kam, aber die Diversität der Lebensformen könnte dazu beigetragen haben.

Phytoplankton, mikroskopisch kleine Pflanzen, die nahe der Meeresoberfläche schweben, und ausgedehnte Wälder, die sich auf der Nordhalbkugel ausbreiteten, nahmen einen Großteil des Kohlenstoffdioxids auf und trugen auf diese Weise zu einer ausgeglichenen Menge an Treibhausgasen in der Atmosphäre bei. Gigantische Herden grasender Tiere sorgten dafür, dass Graslandschaften fruchtbar und ergiebig blieben, indem sie den Erdboden düngten und das Wachstum von Gras stimulierten, weil sie es abgrasten. Mangrovensümpfe und Korallenriffe entlang der Küste dienten als Unterschlupf für Jungfische, die, wenn sie herangereift waren, ins offene Wasser wechselten und die Ökosysteme der Meere bereicherten. Ein dichter Regenwaldgürtel rund um den Äquator nutzte die Energie der Sonne und fügte den globalen Luftströmungen Feuchtigkeit und Sauerstoff hinzu. Und riesige weiße Flächen aus Schnee und Eis ganz im Norden oder Süden der Erde reflektierten das Sonnenlicht zurück ins Weltall und kühlten auf diese Weise die gesamte Erde wie eine gigantische Klimaanlage.

Die prächtig gedeihende Biodiversität des Holozäns trug dazu bei, die globalen Lufttemperaturen der Erde moderat zu halten, und die damalige Lebenswelt passte sich an einen gemäßigten, zuverlässigen 12-Monats-Rhythmus an – die Jahreszeiten. In den Savannen wechselten sich Trocken- und Regenzeit mit großer Regelmäßigkeit ab. In Asien und Ozeanien wechselten die Winde jedes Jahr zur gleichen Zeit die Richtung und lieferten pünktlich den Monsun. In den nördlichen Regionen stiegen die Temperaturen im März über 15 °C und lösten den Frühling aus, hielten sich bis Oktober auf sommerlichem Niveau, bis sie wieder sanken und den Herbst einläuteten.

Das Holozän war unser Garten Eden. Der Zyklus der Jahreszeiten war so zuverlässig, dass sich uns mannigfache Gelegenheiten für unsere Entwicklung boten, die wir auch ausnutzten. Fast zeitgleich mit der Stabilisierung der Umwelt hörten die im Nahen Osten lebenden Nomadengruppen damit auf, Pflanzen zu sammeln und Tiere zu jagen, um sich einem völlig neuen Lebensstil zu widmen: Sie begannen das Land urbar zu machen. Dass sie zu Ackerbau und Viehzucht übergingen, war keine freiwillige Entscheidung. Es war auch nicht geplant. Der Weg zur Sesshaftigkeit und zur Landwirtschaft war lang, planlos und zufällig, und es war mehr Glück im Spiel als Voraussicht.

Die Landflächen des Nahen Ostens boten vielfältige Voraussetzungen für derartige glückliche Zufälle. Die Gebiete liegen an einem Knotenpunkt zwischen drei Kontinenten – Afrika, Asien und Europa –, den Pflanzen- und Tierarten von allen drei Kontinenten seit Millionen von Jahren nicht nur passierten, sondern an dem sie sich auch ansiedelten. Berghänge und Flussebenen wurden von Pflanzen wie dem wilden Vorfahren unseres heutigen Weizens besiedelt, sowie von Gerste, Kichererbsen, Erbsen und Linsen – alles Arten, deren Hülsenfrüchte bzw. Korn so nährstoffreich waren, dass sie länger andauernde Dürrezeiten überleben konnten. Solche Nahrungsmittel müssen die Menschen jedes Jahr aufs Neue angezogen haben. Wenn sie in der Lage waren, mehr zu ernten, als sie sofort benötigten, dann legten sie sich zweifelsohne Vorräte an, wie andere Säugetiere oder Vögel es auch tun, damit sie im Winter, wenn Nahrungsmittel knapp waren, etwas zu essen hatten. Irgendwann gaben die Jäger und Sammler das Umherziehen auf und wurden sesshaft, da sie sich sicher sein konnten, dass ihre eingelagerte Ernte sie auch in Zeiten, in denen die Nahrungsbeschaffung schwieriger wurde, am Leben halten würde.

Wilde Rinder, Ziegen, Schafe und Schweine waren schon in dieser Region beheimatet. Ursprünglich stammten sie von wild lebenden Tierarten ab und müssen mit Beginn des Holozäns innerhalb von ein paar Tausend Jahren domestiziert worden sein. Auch hier wird es viele und zweifelsohne auch zufällige Zwischenschritte gegeben haben. Zunächst wählten die Jäger männliche Artgenossen aus und töteten sie, während sie die Weibchen schützten, die Junge aufzogen, um das Wachstum der Population zu begünstigen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen konnten dies anhand von Tierknochen nachweisen, die sie um antike Dörfer herum fanden und untersuchten. Außerdem verjagten die Menschen womöglich andere Raubtiere oder lebten über bestimmte Zeiträume, ohne Fleisch zu essen, um die Wildbestände konstant zu halten. Letztendlich fingen sie die Tiere nicht nur, sondern ließen sie über längere Zeiträume leben und begannen, sie zu züchten, wofür sie zwangsläufig die weniger aggressiven und toleranteren Exemplare der Herden selektierten.

Mit der Zeit wurden all diese Entwicklungen durch weitere Innovationen optimiert – durch den Bau von Getreidespeichern, das Hüten von Tieren, das Ausheben von Bewässerungsrinnen, Pflügen und Säen und das Hinzufügen von Dünger. So entstand die Landwirtschaft. Mit einer derart intelligenten und erfindungsreichen Spezies wie der unseren, in einem derart stabilen Klima wie dem des Holozäns, war der Beginn der Landwirtschaft fast unvermeidbar. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Praxis der Landwirtschaft in mindestens elf voneinander unabhängigen Regionen auf der ganzen Welt aufkam. Kartoffeln, Mais, Reis und Zuckerrohr wurden in großen Mengen angebaut und geerntet, Tiere wie Esel, Hühner, Lamas und Bienen wurden domestiziert.

*

Ackerbau und Viehzucht veränderten die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Wir zähmten, wenn auch zunächst nur in sehr geringem Maße, einen Teil der Wildnis um uns herum und kontrollierten unsere Umwelt in bescheidenem Umfang. Wir bauten Mauern, um Pflanzen vor dem Wind zu schützen. Wir boten unseren Tieren Schutz vor der Sonne, indem wir Bäume pflanzten. Mit ihrem Mist düngten wir das Land, auf dem sie grasten. Wir stellten sicher, dass unser Getreide in Dürrezeiten gedieh, indem wir es mithilfe von Kanälen wässerten, die wir von Flüssen oder Seen abzweigend bauten. Wir entfernten die Pflanzen, die mit denen, die wir als nützlich erachteten, konkurrierten, und überzogen ganze Hänge mit denen, die wir bevorzugten.

Die Tiere und Pflanzen, die wir auf diese Weise selektierten, begannen auch, sich zu verändern. Da wir die grasenden Tiere schützten, mussten sie sich nicht mehr gegen Angriffe von Raubtieren zur Wehr setzen oder um die Weibchen kämpfen. Wir jäteten unsere angebauten Parzellen, damit unsere Speisepflanzen wachsen konnten, ohne mit Pflanzen anderer Arten konkurrieren zu müssen, und ausreichend mit Stickstoff, Wasser und Sonnenlicht versorgt wurden. Im Gegenzug produzierten sie größere Getreidekörner, Früchte und Knollen. Die Tiere wurden fügsamer, weil sie nicht mehr wachsam und aggressiv sein mussten, um sich zu verteidigen. Aus Steh- wurden Schlappohren, die Schwänze der Schweine ringelten sich, und die domestizierten Tiere behielten auch im Erwachsenenalter die kläffenden, muhenden und jammernden Laute ihrer Kinderstubenzeit bei – vielleicht weil sie auf verschiedenen Ebenen für immer jung blieben, denn sie wurden ja von uns, ihren Ersatzeltern, gefüttert und beschützt. Und auch wir veränderten uns von einer Spezies, die von der Natur geformt worden war, in eine, die die Fähigkeit hatte, andere Spezies zu formen, indem wir sie unseren eigenen Bedürfnissen anpassten.

Das Leben der Bauern war hart. Sie litten häufig unter Dürren und Hungersnöten. Aber irgendwann waren sie in der Lage, mehr zu erzeugen, als sie für ihre eigenen unmittelbaren Bedürfnisse benötigten. Im Vergleich zu ihren Nachbarn, die als Jäger und Sammler umherzogen, waren sie in der Lage, größere Familien aufzuziehen. Diese zusätzlichen Söhne und Töchter waren nicht nur nützlich, um sich um die Felder und das Vieh zu kümmern, sondern auch um ihre Familie dabei zu unterstützen, dass ihre Felder in ihrem Besitz blieben. Ackerbau und Viehzucht hatten zur Folge, dass Nutzland wertvoller wurde als unbewirtschaftetes Land, und die Bauern begannen, beständigere Schutzhütten zu bauen, um ihre Besitzansprüche zu verteidigen.

Die Grundstücke der verschiedenen Familien unterschieden sich naturgemäß in der Qualität des Erdbodens, in der Verfügbarkeit von Wasser und im Erscheinungsbild. Manche Ernten und Viehbestände machten sich also besser als andere. Nachdem die Familie ernährt war, konnten manche Bauern ihren Überschuss zum Tausch anbieten. So kamen Bauerngemeinschaften auf offenen Märkten zusammen, um ihre Waren untereinander zu tauschen – etwa Nahrungsmittel gegen andere Güter oder handwerkliche Fähigkeiten. Die Bauern benötigten Backsteine, Schnüre, Öl und Fisch. Sie hatten Bedarf an Erzeugnissen von Zimmerleuten, Maurern und Werkzeugmachern, die so zum ersten Mal Fähigkeiten gegen Nahrungsmittel eintauschen konnten, anstatt die Zeit dafür aufwenden zu müssen, selbst Feldfrüchte anzubauen oder Vieh zu halten. Als der Tauschhandel immer weiter zunahm, wurden in vielen fruchtbaren Flusstälern aus den Märkten erst Ortschaften und dann Städte. Immer neue Täler wurden besiedelt, und es gab immer Bauern, die auf der Suche nach frischen Feldern weiterzogen. Benachbarte Stämme von Jägern und Sammlern, die mit den Bauernschaften Tauschhandel betrieben, fügten sich in die wachsenden Ortschaften ein, und die Kultur des Ackerbaus und der Viehzucht verbreitete sich in rasantem Tempo entlang der Flüsse bis in jedes Wassereinzugsgebiet.

Das war der Beginn der Zivilisation. Und mit jeder Generation, mit jeder technischen Innovation entwickelte sie sich schneller weiter. Wasserkraft, Dampfkraft und die Elektrifizierung wurden erfunden und immer weiter optimiert – bis wir es schließlich zu jenen Errungenschaften gebracht hatten, mit denen wir heute vertraut sind. Aber jeder Generation gelang es in diesen immer komplexer werdenden Gesellschaften nur deswegen, sich weiterzuentwickeln und Fortschritte zu erzielen, weil die natürliche Welt weiterhin stabil blieb und zuverlässig die Rohstoffe lieferte und Bedingungen erfüllte, die wir benötigten. Die wunderbare Biodiversität und die günstigen Umweltbedingungen des Holozäns, die sich wechselseitig bedingten, wurden für uns so wichtig wie noch nie.

1954

Nachdem ich an der Universität Cambridge Naturwissenschaften studiert und meinen Wehrdienst in der Royal Navy absolviert hatte, ging ich zum BBC Television Service, der zu jener Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Der Fernsehsender, der 1936 weltweit als erster an den Start gegangen war, belegte zwei kleine Studios im Alexandra Palace im Norden Londons. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, stellte der Sender sein Programm vorübergehend ein und nahm aber 1946 mit denselben Kameras in denselben Studios seine Arbeit wieder auf. Alle BBC-Programme wurden live und in Schwarz-Weiß ausgestrahlt und konnten nur in London und Birmingham gesehen werden. Meine Arbeit bestand darin, Sendungen zu Sachthemen aller Art zu produzieren, aber als Anzahl und Auswahl der abendlichen Programme immer größer wurden, begann ich, mich auf Naturkunde zu spezialisieren.

Zu Beginn zeigten wir Tiere, die aus dem Londoner Zoo in die Studios gebracht wurden. Sie wurden auf einem Tisch platziert, auf den eine Fußmatte gelegt worden war, und in der Regel von einem der Zoofachleute gehalten. Aber dadurch wirkten sie wie Absonderlichkeiten oder Kuriositäten. Ich sehnte mich danach, den Zuschauern zu zeigen, wie sie in ihrer natürlichen Umgebung aussahen, in der Wildnis, wo ihre unterschiedlichen Formen und Farben klarer erkennbar und eindrucksvoller waren, und schließlich hatte ich eine Idee ausgeklügelt, wie mir das gelingen könnte. Ich heckte mit Jack Lester, dem Kurator der Reptilien im Londoner Zoo, einen Plan aus. Er würde dem Zoodirektor vorschlagen, dass er – Jack – nach Sierra Leone in Westafrika reisen würde, eine Region, die er gut kannte, und dass ich und ein Kameramann ihn begleiten sollten, um ihn bei dem, was er machen würde, zu filmen. Nach jeder Filmsequenz, die Jack bei der Arbeit zeigte, würde er live im Studio auftreten, das Tier, das er gefangen hatte, zeigen und etwas zu seiner Spezies erzählen. Für den Zoo wäre das eine wunderbare Werbung, und die BBC hätte damit ein neues Format über Tiere im Programm. Wir nannten es Zoo Quest. 1954 reiste ich also nach Afrika in Begleitung von Jack und Charles Lagus, einem jungen Kameramann, der auf dem Himalaja gearbeitet hatte und die 16-MM-Leichtgewichtkamera besaß, die wir dringend benötigten.

Die erste Sendung wurde im Dezember 1954 ausgestrahlt. Unglücklicherweise wurde Jack am Tag nach der Ausstrahlung mit einer schlimmen Krankheit ins Krankenhaus eingeliefert (an der er später sogar sterben sollte). Er würde in der zweiten Sendung in der kommenden Woche nicht auftreten können. Der Einzige, der diesen Job übernehmen konnte, war ich. Man wies mich an, den Regieraum, von wo aus ich Anweisungen für die Live-Kameras gab, zu verlassen und mich stattdessen ins Studio zu stellen, wo ich die Pythons, Affen, seltenen Vögel und Chamäleons, die wir von der Expedition mitgebracht hatten, präsentieren sollte. So begann meine Karriere vor der Kamera.