Buch
Cormoran Strike ist gerade zu Besuch bei seiner Familie in Cornwall, als er von einer Frau angesprochen wird, die ihn bittet, ihre Mutter, Margot Bamborough, ausfindig zu machen, die 1974 unter mysteriösen Umständen verschwand.
Strike hatte es noch nie mit einem Cold Case zu tun, geschweige denn mit einem, der bereits vierzig Jahre zurückliegt. Doch trotz der geringen Erfolgsaussichten ist seine Neugier geweckt, und so fügt er der langen Liste an Fällen, die er und seine Geschäftspartnerin Robin Ellacott in der Detektei bearbeiten, noch einen hinzu. Robin selbst hat mit einer hässlichen Scheidung und unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit zu kämpfen – und natürlich mit ihren Gefühlen für Strike …
Strikes und Robins Nachforschungen zu Margots Verschwinden führen sie auf die Fährte eines vertrackten Falls mit Hinweisen auf Tarotkarten, einen psychopathischen Serienkiller und Zeugen, die nicht alle vertrauenswürdig sind. Und sie merken, dass sich selbst Fälle, die schon Jahrzehnte alt sind, als tödlich herausstellen können …
Autor
Robert Galbraith ist das Pseudonym von J. K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die ersten vier Cormoran-Strike-Romane, »Der Ruf des Kuckucks«, »Der Seidenspinner«, »Die Ernte des Bösen« und »Weißer Tod«, erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten und wurden für BBC One als große TV-Serie verfilmt, produziert von Brontë Film and Television.
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Robert Galbraith
Böses Blut
Ein Fall für Cormoran Strike
Deutsch von Wulf Bergner,
Christoph Göhler und Kristof Kurz
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Troubled Blood« bei Sphere, An Imprint of Little, Brown Book Group, London.
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Copyright der Originalausgabe © J. K. Rowling 2020
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Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Leena Flegler
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage
Umschlagdesign: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2020
Umschlagfotos: Stephen Mulcahey (Figuren); © Shutterstock.com
(Kopfsteinpflaster, Pfütze, Vögel und Textur)
KW · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27322-4
V001
www.blanvalet.de
Für Barbara Murray,
Sozialarbeiterin, Lehrerin, engagiert in der
Erwachsenenbildung,
Ehefrau, Mutter, Großmutter,
teuflisch gute Bridgespielerin
und
beste Schwiegermutter der Welt
Und allerorten suchten sie nach ihr,
Spürten vergeblich nach, wo sie verblieben.
Doch ist, welch schlimmes Los ihr ward beschieden
Und gnadenlose Schicksalswendung, die
Von des Geliebten Seite sie vertrieben,
Wohl eine weidlich lange Mär …
EDMUND SPENSER
Die Feenkönigin
Denn wenn dem nicht so wäre, würde etwas im Nichts verschwinden, was mathematisch absurd wäre.
ALEISTER CROWLEY
Das Buch Thoth
Es zog der heit’re Sommer ein …
EDMUND SPENSER
Die Feenkönigin
EDMUND SPENSER
Die Feenkönigin
»Du bist ein echter Cornishman, in Cornwall geboren und aufgewachsen«, sagte Dave Polworth gereizt. »›Strike‹ ist nicht mal dein richtiger Name. Von Rechts wegen bist du ein Nancarrow. Da wirst du dich ja wohl kaum als Engländer bezeichnen wollen, oder?«
An diesem warmen Augustabend war das Victory Inn so überfüllt, dass sich die Gäste vor dem Pub bis auf die breite Steintreppe drängten, die hinunter zur Bucht führte. Polworth und Strike saßen an einem Ecktisch und feierten Polworths neununddreißigsten Geburtstag mit ein paar Pints. Seit zwanzig Minuten diskutierten sie über kornischen Nationalismus. Strike kam es bedeutend länger vor.
»Ob ich mich als Engländer bezeichnen würde?«, überlegte Strike laut. »Nein, wohl eher als Briten.«
»Ach, leck mich doch, würdest du nicht«, fauchte der hitzköpfige Polworth. »Das sagst du nur, um mich zu provozieren.«
Physisch hätten die beiden Freunde nicht unterschiedlicher sein können. Polworth war klein und drahtig wie ein Jockey, sein Gesicht wettergegerbt und zu faltig für sein Alter. Die sonnengebräunte Kopfhaut schimmerte durch das schüttere Haar. Sein T-Shirt war so verknittert, als hätte er es vom Boden eines Wäschekorbs geholt, die Jeans zerrissen. Auf seinen linken Unterarm war die schwarz-weiße Flagge von Cornwall mit dem St.-Pirans-Kreuz tätowiert; die tiefe Narbe rechter Hand hatte er bei der Begegnung mit einem Hai davongetragen.
Sein Freund Strike dagegen sah aus wie ein ehemaliger Boxer – und nichts anderes war der eins zweiundneunzig große, massige Mann mit der leicht schiefen Nase und den dichten Locken. Trotz seines immerwährenden Bartschattens umgab ihn die für ehemalige Angehörige von Polizei oder Militär typische Aura von Disziplin und Ordnung, und tätowiert war er auch nicht.
»Du bist hier geboren«, beharrte Polworth. »Also bist du aus Cornwall.«
»Nach dieser Logik wärst du aus Birmingham.«
»Ach, leck mich doch«, wiederholte Polworth ehrlich gekränkt. »Als wir hierhergezogen sind, war ich zwei Monate alt. Meine Mum ist eine Trevelyan. Hier geht’s um Identität – was man hier drin fühlt.« Polworth schlug sich auf Höhe seines Herzens auf die Brust. »Die Familie meiner Mum lebt seit Jahrhunderten in Cornwall …«
»Weißt du, diese Blut-und-Boden-Sache war noch nie mein …«
»Hast du von dieser letzten Umfrage gehört?«, fiel ihm Polworth ins Wort. »›Wie würden Sie Ihre ethnische Herkunft definieren?‹, haben sie gefragt, und die Hälfte – die Hälfte! – hat ›Cornwall‹ statt ›England‹ angegeben. Das ist ein gewaltiger Anstieg.«
»Soso«, entgegnete Strike. »Und als Nächstes kann man wohl ankreuzen, ob man sich für einen Dumnonier oder einen Römer hält.«
»Mach dich nur lustig«, sagte Polworth. »Du wirst schon sehen, was du davon hast. Du bist schon viel zu lang in deinem Scheißlondon, mein Freund … Man kann ja wohl auf seine Herkunft stolz sein, oder? Es ist nichts verkehrt daran, dass die Gemeinden mehr Befugnisse von Westminster fordern. Die Schotten machen es uns nächstes Jahr vor, pass nur auf, und wenn die erst mal unabhängig sind, gibt’s kein Halten mehr. Dann werden sämtliche keltischstämmigen Völker im Land aufbegehren. Noch eins?« Er deutete auf Strikes leeres Glas.
Strike war in den Pub gekommen, um Stress und Sorgen hinter sich zu lassen, nicht um sich einen Vortrag über die Unabhängigkeitsbestrebungen Cornwalls anzuhören. Seit sie sich rund ein Jahr zuvor zuletzt gesehen hatten, schien Polworth ein noch glühenderer Anhänger von Mebyon Kernow geworden zu sein, jener nationalistischen Partei, der er mit sechzehn Jahren beigetreten war. Dave konnte Strike zum Lachen bringen wie sonst kaum jemand, aber wenn es um die Unabhängigkeit Cornwalls ging – ein Thema, das für Strike ungefähr so interessant war wie Heimtextilien oder Modelleisenbahnbau –, verstand er keinen Spaß. Kurz überlegte Strike, ob er wieder nach Hause zu seiner Tante gehen sollte, aber die Vorstellung war noch deprimierender als die Schimpftiraden seines alten Freundes über Supermarktbetreiber, die sich weigerten, in Cornwall hergestellte Produkte mit dem St.-Pirans-Kreuz zu kennzeichnen.
»Ja, gern«, antwortete Strike und schob Dave sein Glas hin. Der nickte auf dem Weg zum Tresen seinen vielen Bekannten links und rechts zu.
Strike blieb allein am Tisch zurück und sah sich gedankenverloren um. Trotz aller Veränderungen, die seine hiesige Stammkneipe im Lauf der Jahre durchgemacht hatte, war sie immer noch als der Pub erkennbar, in dem er sich als junger Mann mit seinen Kumpels getroffen hatte. Merkwürdigerweise fühlte er sich gleichzeitig ganz wie zu Hause und vollkommen fehl am Platz. Alles war vertraut und ihm zugleich fremd geworden.
Sein Blick wanderte ziellos über den Holzboden und die Kunstdrucke mit Meeresmotiven an den Wänden und blieb an einer Frau hängen, die mit einer Freundin am Tresen stand und ihn mit großen Augen verunsichert ansah. Sie hatte ein längliches, blasses Gesicht und dunkles Haar mit grauen Strähnen, das ihr bis zu den Schultern reichte. Sie kam Strike nicht bekannt vor, aber ihm war nicht entgangen, dass sich nicht wenige Einheimische in der letzten Stunde die Hälse verdreht hatten, um ihn anzustarren oder Blickkontakt herzustellen. Er wandte sich ab, nahm sein Handy zur Hand und tat so, als würde er eine Nachricht schreiben.
Strike war klar, dass selbst entfernte Bekannte keine noch so nichtige Gelegenheit verstreichen lassen würden, ein Gespräch mit ihm anzufangen; einen Vorwand dazu hatten sie alle, denn offenbar wusste inzwischen ganz St. Mawes, dass bei seiner Tante Joan zehn Tage zuvor Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden war und Strike sowie seine Halbschwester Lucy mit ihren drei Söhnen sofort angereist waren, um Joan und Ted in dieser schweren Stunde beizustehen. Seit einer Woche musste er neugierige Fragen beantworten, Mitleidsbekundungen entgegennehmen und höflich Hilfsangebote ablehnen, sobald er das Haus verließ. Allmählich wusste er nicht mehr, wie er »Nein, es sieht nicht gut aus, und ja, das ist für uns alle ziemlich beschissen« noch formulieren sollte.
Mit zwei frischen Pints bahnte sich Polworth einen Weg zurück an ihren Tisch. »Hier, Diddy.« Er setzte sich wieder auf seinen Hocker.
Der alte Spitzname spielte nicht etwa, wie die meisten annahmen, ironisch auf Strikes Körpergröße an, sondern war eine Verballhornung von didicoy, des im Kornischen gebräuchlichen Ausdrucks für das fahrende Volk, und eine Anspielung auf Strikes unstete Kindheit; der Klang des Namens besänftigte Strike und erinnerte ihn wieder daran, weshalb er mit Polworth länger als mit jedem anderen befreundet war.
Fünfunddreißig Jahre zuvor war Strike mit einem Jahr Verspätung in St. Mawes eingeschult worden. Er war ungewöhnlich groß für sein Alter gewesen und hatte einen für kornische Ohren fremden Akzent gehabt. Zwar hatte er tatsächlich in Cornwall das Licht der Welt erblickt, doch seine Mutter war, sobald sie sich von der Geburt erholt hatte, mit dem Baby im Arm zurück in ihr geliebtes London geflüchtet, wo sie ihr gewohntes Nomadenleben zwischen verschiedenen Wohnungen, besetzten Häusern und wilden Partys wieder aufgenommen hatte. Vier Jahre nach Strikes Geburt war sie mitsamt Sohn und der neugeborenen Lucy nach St. Mawes zurückgekehrt, nur um in den frühen Morgenstunden erneut aufzubrechen – diesmal jedoch, ohne Strike und seine Halbschwester mitzunehmen.
Strike hatte den genauen Wortlaut der Nachricht, die Leda auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, nie in Erfahrung gebracht. Bestimmt hatte sie Schwierigkeiten mit einem Vermieter oder Liebhaber gehabt oder auf keinen Fall irgendein Musikfestival verpassen wollen: Mit zwei Kindern im Schlepptau hatte sie nicht mehr einfach tun und lassen können, was sie wollte. Aber wie immer die Gründe für ihre immer längere Abwesenheit gelautet haben mochten: Ledas Schwägerin Joan, die so konventionell und ordnungsliebend war wie Leda flatterhaft und chaotisch, hatte kurzerhand eine Schuluniform für Strike gekauft und ihn an der örtlichen Grundschule angemeldet.
Als er der Klasse vorgestellt wurde, hatten ihn die anderen Kinder angeglotzt und teils sogar gekichert, kaum dass der Lehrer den Vornamen des Neuen – Cormoran – verkündet hatte. Das Ganze war äußerst verwirrend für Strike gewesen, hatte ihm seine Mum doch »Hausunterricht« versprochen; er hatte versucht, seinem Onkel Ted begreiflich zu machen, dass Mum mit dem Schulbesuch bestimmt nicht einverstanden wäre, doch der sonst so nachsichtige Ted hatte dem Jungen unmissverständlich klargemacht, dass er trotzdem würde gehen müssen. Und so hatte sich Strike unter lauter fremden Kindern mit merkwürdigem Akzent wiedergefunden und – obwohl er grundsätzlich sehr selten weinte – mit einem apfelgroßen Kloß im Hals an einem alten Rollladenschreibtisch Platz genommen.
Nicht einmal Strike hatte sich je befriedigend erklären können, warum ausgerechnet Dave Polworth – der in der Klasse den Ton angab – ihn unter seine Fittiche nahm. Aus Furcht vor Strikes Größe sicher nicht: Daves beste Freunde waren zwei kräftige Fischersöhne, und Dave selbst war berüchtigt dafür, dass es sich mit seiner Streitlust umgekehrt proportional zu seiner Statur verhielt. Gleich am allerersten Schultag wurde Strike sowohl Daves Freund als auch dessen Protegé. Dave hatte es zu seinem persönlichen Anliegen gemacht, seine Klassenkameraden davon zu überzeugen, dass Strike ihren Respekt verdiente: Obwohl der Neue nicht wusste, wo seine Mum steckte, war er immerhin in Cornwall geboren und außerdem der Neffe von Ted Nancarrow von der Küstenwache. Dass er so merkwürdig redete, war letztlich nicht seine Schuld.
Trotz ihrer Krankheit hatte sich Strikes Tante gefreut, dass er eine ganze Woche geblieben war, und obwohl er am kommenden Morgen wieder abreisen würde, hatte Joan ihn an diesem Abend förmlich aus dem Haus gescheucht, damit er mit dem »kleinen Dave« Geburtstag feiern konnte. Sie legte viel Wert auf die Pflege alter Bekanntschaften und freute sich darüber, dass Strike und Dave Polworth nach so vielen Jahren immer noch miteinander befreundet waren. Für Joan war diese Freundschaft nicht nur Beweis dafür, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sich den Wünschen seiner nutzlosen Mutter zu widersetzen und ihn zur Schule zu schicken, sondern auch, dass Strikes wahre Heimat Cornwall war, auch wenn er in der Zwischenzeit weit herumgekommen war und gegenwärtig in London wohnte.
Polworth nahm einen tüchtigen Schluck von seinem vierten Pint. Dann warf er der dunkelhaarigen Frau und ihrer blonden Bekannten, die Strike nach wie vor beobachteten, einen finsteren Blick zu. »Scheißtouristen.«
»Und wo wäre dein Park ohne sie?«, fragte Strike.
»Jetzt mal halblang«, entgegnete Polworth. »Wir haben zig einheimische Besucher und jede Menge Stammgäste.«
Polworth hatte vor Kurzem seine leitende Position bei einem Ingenieurbüro in Bristol aufgegeben und war Chefgärtner einer öffentlichen Parkanlage an der Küste unweit von St. Mawes geworden. Er war erfahrener Taucher und Surfer und hatte schon an Ironman-Wettbewerben teilgenommen. Seit seiner Kindheit war er ruhelos und geradezu besessen von körperlicher Aktivität. Weder sein fortschreitendes Alter noch die Büroarbeit hatten ihn zähmen können.
»Also bereust du es nicht?«, fragte Strike.
»Scheiße, nein!«, antwortete Polworth im Brustton der Überzeugung. »Ich musste einfach wieder an die frische Luft und mir die Hände schmutzig machen. Jetzt oder nie, hab ich mir gedacht. Immerhin werde ich nächstes Jahr vierzig.«
Polworth hatte sich auf die Stelle beworben, ohne seine Frau davon in Kenntnis zu setzen. Nachdem er den Job bekommen und seinen alten gekündigt hatte, hatte er die Familie vor vollendete Tatsachen gestellt.
»Und Penny hat sich damit abgefunden?«, wollte Strike wissen.
»Sie droht mir immer noch einmal wöchentlich mit der Scheidung«, antwortete Polworth gleichmütig. »Aber es war besser so, als erst fünf Jahre lang mit ihr zu diskutieren. Und es hat ja auch prima geklappt. Die Kinder sind begeistert von der neuen Schule, und Pennys Firma hat sich bereit erklärt, sie ins Großstadtbüro zu versetzen.« Mit »Großstadt« meinte Polworth nicht etwa London, sondern Truro. »Sie ist glücklich, sie will es nur nicht zugeben.«
Das bezweifelte Strike insgeheim. Polworths Risikobereitschaft und romantische Vorstellungen gingen Hand in Hand mit seiner Neigung, unbequeme Tatsachen auszublenden. Weil Strike aber selbst genug Probleme hatte und sich nicht auch noch um Polworth Sorgen machen wollte, hob er das volle Bierglas. »Dann herzlichen Glückwunsch«, sagte er in der Hoffnung, dass sein Freund nicht wieder auf Politik zu sprechen käme.
»Prost«, sagte Polworth. »Na, was meinst du – kommt Arsenal weiter?«
Strike zuckte nur mit den Schultern. Er befürchtete, eine Diskussion über die Champions-League-Aussichten seiner bevorzugten Londoner Fußballmannschaft könnte eine weitere Diskussion über seine mangelnde Loyalität gegenüber der kornischen Sache nach sich ziehen.
Polworth verlegte sich auf eine neue Strategie, um Strike aus der Reserve zu locken. »Und was macht das Liebesleben?«
»Momentan gar nichts.«
Polworth grinste. »Joanie ist der Meinung, dass du früher oder später mit deiner Geschäftspartnerin zusammenkommst. Wie heißt sie noch? Robin, oder?«
»Ach ja?«
»Hat sie mir vorletztes Wochenende erzählt. Da war ich bei ihnen und hab ihre Sky Box repariert.«
»Haben sie gar nicht erwähnt.« Strike deutete mit dem Bierglas auf Polworth. »Echt nett von dir, Kumpel. Besten Dank.«
Doch Strikes Ablenkungsmanöver lief ins Leere. Polworth ließ einfach nicht locker.
»Ted war der gleichen Meinung. Sie sind beide davon überzeugt, dass es früher oder später zwischen euch funkt. Oder etwa nicht?«, fragte er, als Strike sich nicht weiter dazu äußerte.
»Nein.«
»Und wieso nicht?« Polworth runzelte die Stirn. Robin schien doch – genau wie die Unabhängigkeit Cornwalls – ein für Strike naheliegendes und obendrein attraktives Zukunftsziel zu sein. »Sie sieht gut aus – weiß ich aus der Zeitung. Vielleicht nicht ganz so gut wie Mylady Berserko«, fügte Polworth hinzu; den Spitznamen hatte er Strikes Exverlobter schon vor langer Zeit verpasst. »Aber dafür ist sie zumindest nicht durchgeknallt, oder?«
Strike lachte.
»Lucy mag sie«, fuhr Polworth fort. »Ihr passt perfekt zusammen, meint sie.«
»Wann hast du denn mit Lucy über mein Liebesleben gesprochen?«, fragte Strike leicht gereizt.
»Vor ungefähr einem Monat«, sagte Polworth. »Sie war übers Wochenende zu Besuch und hatte ihre Jungs dabei. Wir haben sie zum Grillen eingeladen.«
Schweigend nahm Strike einen Schluck.
»Ihr kommt prima miteinander aus, hat sie erzählt.« Polworth ließ ihn nicht aus den Augen.
»Das stimmt.«
Mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen sah Polworth ihn an.
»Das würde bloß alles ruinieren«, sagte Strike. »Ich will die Detektei nicht aufs Spiel setzen.«
»Verstehe. Aber hat es dich nie gereizt …?«
Es folgte eine kurze Pause. Strike gab sich alle Mühe, nicht zu der dunkelhaarigen Frau und ihrer Freundin hinüberzusehen, die – da war er sich sicher – in genau diesem Augenblick über ihn redeten.
»Doch, hin und wieder schon«, gestand er. »Aber sie steckt gerade mitten in einer unschönen Scheidung. Außerdem verbringen wir sowieso schon genug Zeit miteinander. Und sie ist eine sehr angenehme Geschäftspartnerin.«
Angesichts ihrer langen Freundschaft und weil sie sich schon über Politik in die Haare geraten waren, bemühte sich Strike, seinen Unmut über Polworths Fragen hinunterzuschlucken – außerdem hatte sein Kumpel heute Geburtstag. Aber weshalb versuchten eigentlich sämtliche verheirateten Leute in Strikes Bekanntenkreis geradezu krampfhaft, andere in den Hafen der Ehe zu lotsen, sogar wenn sie selbst kein besonders leuchtendes Beispiel dafür abgaben? Die Polworths beispielsweise befanden sich im Dauerclinch. Penny hatte ihren Ehemann in Strikes Gegenwart häufiger als »blöden Penner« bezeichnet, als ihn beim Namen zu nennen, und Polworth hatte seine Freunde an nicht wenigen Abenden detailreich mit Schilderungen unterhalten, wie es ihm gelungen war, seine eigenen Wünsche und Vorhaben gegen die Interessen seiner Frau und unter ihrem Protest durchzuboxen. Beide wirkten am glücklichsten und entspanntesten in der Gesellschaft von Vertretern des jeweils eigenen Geschlechts. Bei den wenigen Gelegenheiten, da Strike anlässlich einer Feier bei ihnen eingeladen gewesen war, hatten sich die Männer in einen und die Frauen in einen anderen Bereich des Hauses zurückgezogen, als wäre dies ein unabänderliches Naturgesetz.
»Und was, wenn Robin Kinder will?«, hakte Polworth nach.
»Glaub ich nicht«, sagte Strike. »Sie liebt ihren Job.«
»Das sagen sie alle«, meinte Polworth geringschätzig. »Wie alt ist sie jetzt?«
»Zehn Jahre jünger als wir.«
»Dann will sie bald Kinder«, versicherte Polworth ihm. »So ist das doch immer, Frauen sind da nur früher dran. Bei denen tickt die Uhr.«
»Tja, von mir kriegt sie jedenfalls keine. Ich will keine Kinder. Und je älter ich werde, desto weniger bin ich davon überzeugt, dass die Ehe das Richtige für mich wäre.«
»Das dachte ich auch, Kumpel«, sagte Polworth. »Aber dann ist mir klar geworden, dass ich auf dem falschen Dampfer war. Das hab ich dir doch erzählt, oder? Wie ich Penny am Ende doch einen Antrag gemacht habe?«
»Ich glaube nicht«, sagte Strike.
»Hab ich dir nie die Tolstoi-Geschichte erzählt?« Polworth war überrascht.
Strike, der gerade das Glas an die Lippen hatte heben wollen, ließ es verblüfft wieder sinken. Trotz seines messerscharfen Verstands hatte sich Polworth seit der Grundschule standhaft geweigert, irgendetwas zu lernen, was keinen sofortigen praktischen Nutzen hatte, und – von Betriebsanleitungen abgesehen – das gedruckte Wort stets gescheut.
»Tolstoi. Das war ein Schriftsteller«, erklärte Polworth, der Strikes Miene falsch gedeutet hatte.
»Ach«, sagte Strike. »Danke auch. Was hat Tolstoi …«
»Das will ich dir ja erklären, oder? Ich hatte mich gerade zum zweiten Mal von Penny getrennt. Sie hatte mir in einem fort in Sachen Verlobung in den Ohren gelegen, aber ich wollte nichts davon wissen. Ich sitze also mit meinem Kumpel Chris im Pub und erzähle ihm, wie satt ich es habe, dass sie ständig wieder von Verlobung anfängt – du erinnerst dich doch an Chris, oder? Großer Kerl, lispelt, du hast ihn bei Rozwyns Taufe kennengelernt. Wie dem auch sei – neben uns sitzt ein älterer Typ. Cordsakko, gewelltes Haar, ein bisschen angeschwuchtelt. Ich war sauer, weil ich schon gemerkt hatte, dass er uns zuhört, und hab ihn gefragt, was es da Scheiße noch mal zu glotzen gibt. Da sieht er mir direkt in die Augen und sagt: ›Wie man nur ein Bündel tragen und doch dabei etwas mit den Händen verrichten kann, sobald das Bündel auf den Rücken gehängt ist, so ist es auch mit der Heirat. Dies habe ich an mir erfahren, als ich geheiratet hatte. Meine Hände waren da plötzlich wieder frei. Aber ohne die Ehe ein solches Bündel mit sich schleppen heißt mit Händen laufen, die so vollgepackt sind, dass man nichts sonst zu tun vermag. Sieh Mazankow, Krupow an. Sie haben ihre Karrieren durch die Weiber zugrunde gerichtet.‹ Ich dachte, Mazankow und Krupow wären Kumpels von ihm, und hab ihn gefragt, was zum Geier er mir da erzählt. Er hätte Tolstoi zitiert, meint er daraufhin. Wir kommen ins Gespräch, und ich sag dir, Diddy, dieser Moment hat mein Leben verändert. Plötzlich ging mir ein Licht auf.« Polworth deutete auf die leere Luft über seinem schütteren Haar. »Der Typ hat mir die Augen geöffnet. Das ist das Dilemma des Mannes: Ich sitze da, langweile mich zu Tode, versuche vergeblich, an einem Donnerstagabend irgendwen aufzureißen, und dann geh ich doch wieder allein nach Hause und mit weniger Geld in der Tasche. Ich hab an die ganze Kohle gedacht, die für die Jagd auf Muschis draufgeht, an den ganzen Aufwand und ob ich mit vierzig immer noch einsam zu Hause sitzen und mir Pornos angucken will, und da denk ich mir: Genau das ist doch der Punkt. Deshalb gibt es die Ehe. Finde ich eine Bessere als Penny? Macht es mir echt so viel Spaß, irgendwelche Frauen in der Kneipe aufzureißen? Penny und ich kommen doch halbwegs miteinander aus. Ich hätte es viel schlechter treffen können. Sie sieht ganz gut aus. Ich hab also schon eine Muschi, die daheim auf mich wartet. Stimmt doch, oder nicht?«
»Schade, dass sie das jetzt nicht gehört hat«, sagte Strike. »Sie hätte sich auf der Stelle noch mal in dich verliebt.«
»Ich hab dem Cordtypen jedenfalls die Hand geschüttelt«, fuhr Polworth fort, ohne Strikes Sarkasmus zur Kenntnis zu nehmen. »Und ich hab ihn gebeten, mir den Titel des Buchs aufzuschreiben. Dann bin ich raus aus der Kneipe, hab ein Taxi zu Pennys Wohnung genommen und an die Tür gehämmert, bis sie aufgewacht ist. Sie war auf hundertachtzig, weil sie dachte, dass ich nur da wäre, weil ich besoffen war und ficken wollte und keine Bessere auftreiben konnte. ›Nein, du dumme Nuss‹, hab ich gerufen, ›ich bin hier, weil ich dich heiraten will.‹ Das Buch hieß übrigens Anna Karenina. War aber scheiße«, sagte Polworth und leerte sein Pint.
Strike lachte.
Polworth rülpste laut, dann sah er auf die Uhr. Er wusste, wann es an der Zeit war, nach Hause zu gehen, und hatte für lange Abschiedsszenen ebenso viel Geduld wie für russische Literatur.
»Ich muss los, Diddy.« Er stand auf. »Wenn ich vor halb zwölf zurück bin, krieg ich einen Geburtstagsblowjob. Und siehst du – genau das meine ich, Kumpel: Nur darum geht’s.«
Strike gab Polworth grinsend die Hand. Polworth trug ihm noch auf, Joan schöne Grüße auszurichten und sich zu melden, sobald er wieder in der Gegend wäre. Dann drängelte er sich durch den Pub und war verschwunden.
EDMUND SPENSER
Die Feenkönigin
Strike schmunzelte immer noch über Polworths Geschichte, als ihm auffiel, dass die dunkelhaarige Frau von der Bar Anstalten machte, zu ihm herüberzukommen, obwohl ihr die Blondine mit der Brille offensichtlich davon abriet. Strike leerte sein Pint, steckte sein Portemonnaie ein und vergewisserte sich, dass er seine Zigaretten in der Tasche hatte. Dann richtete er sich unter Zuhilfenahme der Wand gerade auf und setzte sich vorsichtig in Bewegung. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er sich nach vier Pints nicht immer auf seine Beinprothese verlassen konnte. Sobald er sich sicher war, das Gleichgewicht halbwegs halten zu können, machte er sich auf den Weg nach draußen. Dabei nickte er denjenigen Bekannten, die er nicht ignorieren konnte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen, mit ernster Miene zu, schaffte es zum Ausgang, ohne behelligt zu werden, und trat hinaus in die laue Nacht.
Auf den breiten, unebenen Steinstufen, die zur Bucht hinunterführten, drängten sich trinkende und rauchende Gäste. Strike zwängte sich zwischen ihnen hindurch und holte seine Zigaretten aus der Tasche.
An diesem milden Augustabend war das malerische Ufer voller Spaziergänger. Strike selbst hatte einen viertelstündigen Fußmarsch vor sich, der zum Teil über eine steile Anhöhe führte. Aus einem spontanen Impuls heraus überquerte er die Straße und hielt auf die Steinmauer zu, die den Parkplatz und das kleine Fährterminal vom Meer trennte. Er lehnte sich dagegen, zündete sich eine Zigarette an und starrte hinaus auf den rauchgrau-silbernen Ozean. Hier war er für einen Moment nur einer von vielen Touristen in der Dunkelheit, konnte in Ruhe rauchen und musste keine Fragen zu Joans Krankheit beantworten. Er wollte seine Rückkehr auf das unbequeme Sofa, auf dem er die letzten sechs Nächte geschlafen hatte, nach Möglichkeit hinauszögern.
Bei seiner Ankunft hatte Joan ihm eröffnet, dass es ihm als kinderlosem, ungebundenem ehemaligem Soldaten sicher nichts ausmache, im Wohnzimmer zu übernachten: »Du kannst ja überall schlafen«. Strike hatte zuvor am Telefon vorgeschlagen, sich ein Zimmer in einem Bed & Breakfast zu nehmen, statt die Kapazitäten des kleinen Hauses über Gebühr zu beanspruchen. Dies hatte Joan rundheraus abgelehnt. Dass Strike sie besuchen kam, war selten genug, und dann auch noch gleichzeitig mit seiner Schwester und seinen Neffen – nein, Joan hatte so viel wie möglich von seiner Anwesenheit haben und sich einmal mehr als Versorgerin fühlen wollen, auch wenn sie durch die ersten Chemobehandlungen geschwächt gewesen war.
Also hatte sich der große, schwere Strike, der mit einer Campingliege weitaus zufriedener gewesen wäre, ohne zu murren und Abend für Abend auf den rutschigen Satinbezug des steifen Rosshaarsofas gelegt, nur um am folgenden Morgen von seinen Neffen geweckt zu werden, die mit schöner Regelmäßigkeit vergaßen, dass sie das Wohnzimmer erst nach acht Uhr betreten sollten. Wenigstens Jack hatte den Anstand, eine Entschuldigung zu flüstern, wenn er seinen Onkel wieder einmal aus dem Schlaf gerissen hatte. Luke, der Älteste, polterte jeden Morgen schreiend die enge Treppe hinunter und rannte kichernd an Strike vorbei in die Küche.
Außerdem hatte Luke Strikes nagelneue Kopfhörer ruiniert, und der Detektiv hatte sich verpflichtet gefühlt, so zu tun, als machte es ihm nichts aus. Sein ältester Neffe hatte es darüber hinaus für einen spaßigen Einfall gehalten, eines Morgens mit Strikes Prothese in den Garten zu laufen und seinem Onkel damit durch das Fenster zuzuwinken. Als Luke sie ihm endlich zurückgegeben hatte, hatte Strike – dessen Blase zum Bersten voll gewesen war und der die steile Treppe ohne künstliches Bein niemals bewältigt hätte – ihn so scharf zurechtgewiesen, dass der Junge den restlichen Vormittag über ungewöhnlich still gewesen war.
Unterdessen teilte Joan Strike allmorgendlich mit, dass er »gut geschlafen« habe, statt sich zu erkundigen, ob das auch wirklich stimmte; sie hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, ihre Familie mit subtilem Druck dazu zu bringen, genau das zu sagen, was sie hören wollte. Als Strike noch in seinem Büro geschlafen hatte und stets von der Insolvenz bedroht gewesen war (was er seiner Tante und seinem Onkel selbstverständlich verschwiegen hatte), hatte Joan ihm am Telefon fröhlich erzählt, wie toll das Geschäft für ihn laufe. Auch damals hätte er es als unnötigen Affront betrachtet, ihre optimistische Einschätzung zu korrigieren. Und nachdem er seinen Unterschenkel in Afghanistan durch eine Sprengfalle verloren hatte, hatte eine weinende Joan an seinem Krankenhausbett gestanden und dem vom Morphium benebelten Strike mitgeteilt, dass er es »doch ganz bequem« habe: »Immerhin hast du keine Schmerzen.« Er liebte seine Tante, die über weite Strecken seiner Kindheit seine Erziehung übernommen hatte, doch sobald er sich länger in ihrer Gegenwart aufhielt, beschlich ihn ein erdrückendes, erstickendes Gefühl; ihr Beharren, in sämtlichen sozialen Belangen den schönen Schein zu wahren und unbequeme Wahrheiten zu leugnen oder zu ignorieren, ermüdete ihn auf Dauer.
Etwas glänzte im Wasser unter ihm, er sah geschmeidiges Silber und ein kohlschwarzes Augenpaar: Direkt vor Strike drehte eine Robbe träge ihre Kreise. Er betrachtete sie und fragte sich, ob sie ihn ebenfalls sehen konnte. Aus Gründen, die er nicht hätte benennen können, wanderten seine Gedanken zu seiner Geschäftspartnerin.
Ihm war bewusst, dass er Polworth nicht die ganze Wahrheit über seine Beziehung zu Robin erzählt hatte. Diese Wahrheit – die weder seinen Freund noch sonst jemanden etwas anging – lautete, dass er seine komplizierten, widersprüchlichen Gefühle nicht näher analysieren wollte: dass er beispielsweise dazu neigte, sich nach dem Klang ihrer Stimme zu sehnen, wenn er allein, gelangweilt oder niedergeschlagen war.
Er sah auf die Uhr. Robin hatte heute einen freien Tag gehabt, aber womöglich war sie noch wach. Er hatte sogar einen glaubhaften Vorwand, ihr eine Nachricht zu schreiben: Saul Morris, der Neuzugang unter ihren freien Mitarbeitern, hatte seine Monatsspesen noch nicht erstattet bekommen, und Strike hatte diesbezüglich keine Anweisungen hinterlassen; wenn er Robin dazu jetzt eine Nachricht schrieb, war es durchaus möglich, dass sie ihn anrief, um sich nach Joans Befinden zu erkundigen.
»Verzeihung?«, sagte eine nervöse Stimme hinter ihm.
Ohne sich umzudrehen, wusste Strike, dass es die dunkelhaarige Frau aus dem Pub war. Sie hatte einen Home-Counties-Akzent und klang halb entschuldigend, halb aufgeregt, wie so viele, die mit ihm über seine detektivischen Glanzleistungen reden wollten.
»Ja?« Er drehte sich um.
Die blonde Bekannte hatte sie nach draußen begleitet. Oder war es möglich, schoss es Strike durch den Kopf, dass sie mehr waren als nur Bekannte? Zwischen den beiden Frauen, die er auf Anfang vierzig schätzte, herrschte ein schwer zu fassendes Gefühl der Vertrautheit. Beide trugen Jeans und Hemden. Die leicht wettergegerbte Drahtigkeit der Blondine ließ auf mit Wandern oder Radfahren verbrachte Wochenenden schließen. Gleichzeitig verliehen ihr die hohen Wangenknochen, die Brille und das zu einem Pferdeschwanz gebundene Haar etwas Strenges. Sie trug kein Make-up; landläufig hätte man sie wohl als »natürliche Schönheit« bezeichnet.
Die dunkelhaarige Frau war etwas zierlicher. Ihre großen grauen Augen leuchteten blass in dem schmalen Gesicht. Im Zwielicht besaß sie eine intensive, beinahe fanatische, an eine mittelalterliche Märtyrerin erinnernde Aura.
»Sind Sie … Sind Sie Cormoran Strike?«, fragte sie.
»Ja«, sagte er nicht unbedingt freundlich.
»Oh«, keuchte sie. »Das … das ist wirklich sehr seltsam. Sie möchten im Augenblick bestimmt nicht … Tut mir leid, Sie zu stören! Sie sind ja nicht im Dienst.« Sie kicherte nervös. »Ich heiße übrigens Anna, und ich wollte Sie fragen, ob …« Sie holte tief Luft. »Ob ich bei Gelegenheit mit Ihnen über meine Mutter sprechen könnte.«
Strike schwieg.
»Sie ist verschwunden«, fuhr Anna fort. »Ihr Name ist Margot Bamborough. Sie war Allgemeinärztin, hat eines Tages nach der Arbeit ihre Praxis verlassen und wurde nie wiedergesehen.«
»Haben Sie sich schon mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«, fragte Strike.
Anna gab ein seltsames kurzes Lachen von sich. »Natürlich. Die weiß Bescheid und hat auch ermittelt. Aber sie hat nichts herausgefunden. Meine Mutter«, ergänzte sie, »ist 1974 verschwunden.«
Das dunkle Wasser klatschte gegen die Steine. Strike glaubte, die Robbe durch die feuchten Nasenlöcher schnauben zu hören. Drei betrunkene Jugendliche torkelten an ihnen vorbei zum Anleger. Ob sie wussten, dass die letzte Fähre schon um sechs abgelegt hatte?
»Gerade, also letzte Woche«, legte die Frau hastig nach, »war ich bei einem Medium …«
Scheiße, dachte Strike. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Detektiv war er schon des Öfteren Leuten begegnet, die gegen Bezahlung übersinnliche Einsichten feilboten. Er hatte nur Verachtung für sie übrig: Seiner Meinung nach waren das ausnahmslos Blutsauger, die die Leichtgläubigen und Verzweifelten um ihr Geld brachten.
Das Tuckern eines Motorboots störte die nächtliche Stille. Aber offenbar hatten die drei betrunkenen jungen Männer genau darauf gewartet. Sie lachten, stießen einander mit den Ellbogen an und scherzten darüber, wer wohl zuerst seekrank würde.
»Das Medium hat gesagt, dass ich ein ›Zeichen‹ bekäme«, fuhr Anna fort. »›Sie werden herausfinden, was mit Ihrer Mutter passiert ist. Sie werden ein Zeichen erhalten, und dann werden Sie Ihren Weg sehr bald klar vor sich sehen.‹ Und als ich Sie vorhin im Pub entdeckt habe – Cormoran Strike im Victory, das muss man sich mal vorstellen! –, war das ein so unglaublicher Zufall, dass ich Sie einfach ansprechen musste.«
Eine sanfte Brise fuhr durch Annas dunkles, silbersträhniges Haar.
»Wir sollten gehen, Anna. Na komm«, sagte die Blondine streng und legte einen Arm um Annas Schultern. Dabei blitzte ein Ehering an ihrem Finger auf. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie zu Strike.
Mit sanftem Druck versuchte sie, Anna von Strike wegzuführen. Anna schniefte und murmelte: »Tut mir leid, ich … hab wohl zu viel Wein getrunken.«
»Moment.« Schon öfter hatte Strike seine unstillbare Neugier verflucht, seine Unfähigkeit, ein Rätsel auf sich beruhen zu lassen – insbesondere wenn er so müde und gereizt war wie heute. Doch 1974 war sein Geburtsjahr. Margot Bamborough wurde bereits vermisst, solange er lebte. Er konnte nicht anders: Er musste mehr in Erfahrung bringen.
»Machen Sie hier Urlaub?«
»Ja«, antwortete die Blondine. »Wir haben eine Zweitwohnung in Falmouth. Eigentlich leben wir in London.«
»Ich fahre morgen Vormittag dorthin zurück«, sagte Strike (Was zum Teufel soll das hier werden?, fragte eine Stimme in seinem Kopf), »und könnte unterwegs bei Ihnen in Falmouth vorbeischauen … falls es Ihnen passt.«
»Wirklich?«, keuchte Anna. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Augen feucht geworden waren, doch so musste es gewesen sein, weil sie sie jetzt trocken tupfte. »Das wäre ganz wunderbar. Danke. Vielen Dank! Ich gebe Ihnen die Adresse.«
Die Blondine schien von der Vorstellung, Strike wiederzusehen, nicht ganz so angetan zu sein. »Schon gut«, sagte sie trotzdem, noch während Anna in ihrer Handtasche kramte, »ich hab eine Visitenkarte dabei.« Sie zog ihr Portemonnaie aus der Gesäßtasche und reichte Strike eine Karte, auf der »Dr. Kim Sullivan, zertifizierte Psychologin« stand. Darunter war eine Adresse in Falmouth abgedruckt.
»Danke.« Strike steckte die Karte in seine Brieftasche. »Dann sehen wir uns morgen Vormittag.«
»Tut mir leid, vormittags bin ich in einer Telefonkonferenz«, wandte Kim ein, »aber die ist um zwölf zu Ende. Oder ist das zu spät für Sie?«
Was sie eigentlich sagen wollte, lag auf der Hand: Sie reden nur in meiner Anwesenheit mit Anna.
»Nein, kein Problem«, sagte Strike. »Dann bis morgen um zwölf.«
»Vielen herzlichen Dank!«, sagte Anna.
Kim nahm deren Hand, und die beiden gingen davon. Strike sah ihnen nach, bis sie aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne heraus waren, dann drehte er sich wieder zum Meer um. Das Motorboot mit den drei Jugendlichen war bereits abgefahren. Inzwischen wirkte es geradezu winzig in der großen Bucht, und das Dröhnen des Motors verebbte allmählich zu einem entfernten Summen.
Strike, der die Nachricht an Robin völlig vergessen hatte, zündete sich die nächste Zigarette an, nahm sein Handy heraus und googelte Margot Bamborough.
Zwei Fotografien erschienen auf dem Display: zum einen das grobkörnige Porträt einer Frau mit attraktivem, ebenmäßigem Gesicht, weit auseinanderstehenden Augen und dunkelblondem gewelltem und zu einem Mittelscheitel frisiertem Haar. Sie trug eine Bluse mit breitem Kragen über einem Häkeltop.
Das zweite Bild zeigte dieselbe Frau, nur etwas jünger und im unverkennbar schwarzen Korsett eines Playboy-Bunnys, mit schwarzen Hasenohren, einer schwarzen Strumpfhose und einem weißen Schwanzpuschel. Sie hielt ein Tablett mit Zigaretten in den Händen und lächelte in die Kamera. Hinter ihr stand eine identisch gekleidete Frau und grinste breit. Sie hatte leicht vorstehende Schneidezähne und war etwas kurviger als ihre gertenschlanke Kollegin.
Strike scrollte weiter, bis er in den Suchergebnissen auf einen berüchtigten Namen stieß.
… der jungen Ärztin und Mutter Margaret »Margot« Bamborough. Die Umstände ihres Verschwindens am 11. Oktober 1974 weisen Parallelen zu Creeds Entführungen von Vera Kenny und Gail Wrightman auf.
Bamborough, die in der St.-John’s-Praxis in Clerkenwell arbeitete, war um achtzehn Uhr mit einer Freundin im nahe gelegenen Three Kings Pub verabredet, kam dort jedoch nie an.
Mehrere Augenzeugen beobachteten zu dem Zeitpunkt, da Bamborough sich auf dem Weg zu ihrer Verabredung befunden haben müsste, in der Umgebung einen weißen Lieferwagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war.
Detective Inspector Bill Talbot, der die Ermittlungen im Fall der vermissten Margot Bamborough leitete, war schon früh davon überzeugt, dass die junge Ärztin Opfer des Serienmörders geworden war, der zu der Zeit im Südosten Londons sein Unwesen trieb. In der Kellerwohnung, in der Dennis Creed seine Opfer gefangen hielt, folterte und sieben Frauen ermordete, wurden jedoch keine Spuren von Bamborough sichergestellt.
Zu Creeds Markenzeichen gehörte, die Leichen seiner Opfer zu enthaupten und …