Der Ruf des Kriegers

Kevin Hearne

Der Ruf des
Kriegers

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Urban Hofstetter

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Kevin Hearne

Kevin Hearne, geboren 1970, lebt in Arizona und unterrichtet Englisch an der Highschool. Sein Debüt »Die Chronik des Eisernen Druiden« stand monatelang auf der New-York-Times-Bestsellerliste und war weltweit erfolgreich. »Der Ruf des Kriegers« ist der zweite Band der neuen epischen Fantasy-Reihe »Fintans Sage«.

Für Barden und Geschichtenerzähler und Leute,
die von einer besseren Welt träumen

Dramatis Personae

Fintan, Barde der Dichtergöttin Kaelin: Raelischer Barde, dem es obliegt, täglich für die Einwohner Pelemyns aufzutreten und die Geschichte der Gigantenkriege zu erzählen.

Dervan du Alöbar: Bryntischer Historiker, der den Auftrag hat, die Geschichte des raelischen Barden niederzuschreiben, dabei jedoch gegen seinen Willen immer mehr Spionagetätigkeiten aufgebürdet bekommt.

Olet Kanek: Tochter von Hathrim-Herdfeuer Winthir Kanek. Sie ist wie ihr Vater ein Feuerlord und entschlossen, sich von seinem Einfluss zu befreien.

Abhinava Khose: Der Entdecker des Sechsten Kennings ist zusammen mit seinen tierischen Begleitern Murr und Iep auf der Flucht vor der nentianischen Regierung.

Tallynd du Böll: Tidenhüterin und Zweite Könstad von Pelemyn, verwitwete Mutter zweier Jungen.

Hanima Bhandury: Bekannt als die Bienenstockmeisterin. Sie ist eine der gesegneten nentianischen Jugendlichen, die den Widerstand in Khul Bashab anführen.

Koesha Gansu: Joabeirische Kapitänin eines Erkundungsschiffs. Sie sucht nach einer Passage durch die Nordische Kluft – und nach ihrer vermissten Schwester.

Mai Bet Ken: Fornische Botschafterin in Ghurana Nent, hält Kontakt zu Melishev Lohmet. Sie versucht, ein Bündnis zwischen Forn und den Gesegneten des Sechsten Kennings zu schmieden.

Bhamet Senesh: Vizekönig von Khul Bashab. Er will das Sechste Kenning ausmerzen, das die Monarchie bedroht.

Tuala, Kurierin der Jägergöttin Raena: Raelische Kurierin, die ein asketisches Leben führt und sich nach ihrer Kindheitsliebe verzehrt.

Gondel Vedd: Kaurischer Linguist. Verheiratet, mag gern Senf und Bechars Fischlokal.

Daryck du Löngren: Bryntischer Gerstad einer Waldsöldnertruppe, zunächst in Diensten der Stadt Grynek, später von Fornyd.

Zwanzigster Tag

Der Zorn des Herdfeuers

Kaum etwas erregt eine Zuhörerschaft so sehr wie die Enthüllung, dass sich ein Verräter in der Nähe befindet. Die Spannung knistert wie frische Kiefernscheite auf einer Feuerstelle. Falls noch zusätzlicher Brennstoff benötigt wird, muss man nur erwähnen, dass besagter Verräter vermutlich für den Tod von Freunden und Angehörigen der Versammelten verantwortlich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass man danach noch einen ruhigen Abend genießen kann, geht gegen null.

Die Behauptung des raelischen Barden, ein Verräter habe mit den Knochengiganten gemeinsame Sache gemacht, verbreitete sich in der wütenden Menge wie ein zischendes Stück Butter in einer heißen Pfanne. Die Leute waren nicht nur über den Verrat entsetzt, sondern auch wegen des zeitlichen Ablaufs verwirrt. Wir befanden uns mittlerweile im Monat Tau, und er hatte von Ereignissen gesprochen, die sich im Spätsommer des vergangenen Jahres zugetragen hatten. Was bedeutete, dass der Pelenaut mindestens seit einem halben Jahr von diesem Verräter wusste.

»Moment«, sagte ein Matrose, der nicht weit von uns auf der Mauer stand. »Wer ist dieser Vjeko? Er wurde schon gefunden, oder? Sonst hättet Ihr ihn gar nicht erwähnt. Der Pelenaut hat Euch erlaubt, über ihn zu sprechen, weil er ihn bereits erwischt hat.«

»Morgen erfahrt ihr mehr, Freunde«, rief Fintan zum Feld der Überlebenden hinunter. Als er von seiner Bühne stieg und auf die Treppe zuging, die in die Stadt hinunterführte, erhob sich um ihn herum Protest.

»Kommt mit, Dervan«, sagte er und bedeutete mir, ihm zu folgen. »Ich muss mit Euch sprechen.«

»Geht bitte langsamer«, erwiderte ich. »Mit meinem Knie schaffe ich es nicht so schnell die Stufen hinunter.«

»Ach, richtig. Verzeiht. Wir sollten uns dennoch beeilen.«

»Weil alle weitere Erklärungen von Euch hören wollen?«

»Ja, und weil ich keine habe.«

Während ich auf meinen Stock gestützt vorsichtig hinter ihm die Treppe hinunterhinkte, dachte ich darüber nach, was das bedeutete. Irgendjemand musste ihn angewiesen haben, in Gondels heutiger Geschichte Vjeko zu erwähnen. Wahrscheinlich hatte Föstyr, die Lunge des Pelenauten, ihm Informationen gegeben, die von Rölly persönlich stammten. Auf der Straße angekommen, lächelte Fintan alle an, die sich bei ihm nach dem Verräter erkundigten, und vertröstete sie auf morgen, ohne stehen zu bleiben. Allmählich wurde mir klar, dass er tatsächlich nicht mehr wusste, als er gerade erzählt hatte. Offensichtlich war der Verräter noch nicht gefasst und sollte durch diese beunruhigende Enthüllung aus der Deckung gelockt werden.

»Ihr habt mich heute in Eurer Geschichte erwähnt«, sagte ich.

»Schön, dass es Euch aufgefallen ist.«

»Bei mir hat sich nie jemand nach diesem Krakennest oder Nest der Menschenfresser oder was auch immer erkundigt.«

»Das war nicht nötig. Zumindest diesen Teil der Geschichte kenne ich bereits und werde in den nächsten Tagen darüber berichten. Aber es gibt einen Grund, warum ich die Angelegenheit heute schon ansprechen sollte.«

»Welchen?«

»Bestimmt könnt Ihr es Euch denken. In gewisser Weise seid Ihr ein Teil dieses Rätsels. Ich bekomme wie alle anderen auch einzelne Informationen zugespielt und versuche, sie in das einzufügen, was ich bereits weiß.«

»Aber Ihr verfügt über viel mehr Informationen als ich.«

Er zuckte die Achseln. »Kann sein.«

Fintan führte uns zu Meister Yöndyrs Gasthaus, dem Ruf der Sirene, wo ein einzelner Matrose ihn beschützte und Störungen gering hielt. Seit der Ausweisung von Botschafter Jasindur Torghala drohte zwar kaum noch Gefahr durch nentianische Attentäter, doch in einer belebten Umgebung wie dieser musste irgendjemand die Leute abwehren, die »nur mal schnell« mit dem Barden sprechen wollten. Inzwischen erkannte ihn fast jeder. Ein wirklich kurzer Gruß war zwar stets willkommen, doch Meister Yöndyr sagte prinzipiell allen im Lokal Bescheid, wenn Fintan da war, und bediente uns wie Ehrengäste, sodass wir permanent unter Beobachtung standen. Allmählich fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn an einem ruhigeren Ort unterzubringen.

»Wie geht es Numa?«, fragte ich, nachdem zwei riesige Gläser Nebelmaid-Bier vor uns hingestellt worden waren. Fintans Lebensgefährtin, eine Kurierin des Triunischen Konzils von Rael, war am Vortag eingetroffen.

»Sie rennt gerade wieder nach Hause«, sagte er. »Unsere gemeinsame Zeit war zu kurz, aber es geht ihr gut, und ich bin glücklicher, nachdem ich sie gesehen habe.«

Ich brummte zustimmend und glaubte, ein leises Echo in dem gewaltigen Gefäß zu hören, aus dem ich gerade trank.

»In den Dingern könnte man glatt ertrinken«, sagte Fintan und packte seinen Humpen mit beiden Händen. »Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Behältnis größer ist als ein menschlicher Magen.«

»Eine wirklich angenehme Herausforderung«, erwiderte ich und schmatzte mit den Lippen.

Die Stimme des Barden hallte von den Innenwänden seines Glases wider, als er es an die Lippen hob: »Ja, das stimmt.« Als er das Bier abstellte, breitete sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht aus, das zum Teil von seiner langen Nase verdeckt wurde. Doch dann wurde er wieder ernst. »Ich habe noch eine andere, weniger angenehme Herausforderung für Euch. Am besten bringen wir die Sache hinter uns, bevor Meister Yöndyr uns das Essen serviert.«

»Ihr wolltet ja etwas mit mir bereden.«

Er nickte und seufzte. »Numa hat mir eine merkwürdig vage Botschaft vom Triunischen Konzil überbracht, die sich speziell an Euch richtet.«

»Das Triunische Konzil weiß, dass es mich gibt?«

Fintan schmunzelte. »Ja, sie wissen schon seit Wochen über unser gemeinsames Projekt Bescheid. Numa hat ihnen, gleich nachdem sie mich hier abgeliefert hatte, davon berichtet. Allerdings glaube ich, dass sie noch nichts von den nentianischen Mordanschlägen auf mich mitbekommen haben. Aber sie gehen davon aus, dass Ihr engen Kontakt zum Pelenauten habt und eine gute Alternative zu den üblichen diplomatischen Kanälen seid.«

Ich schnaubte. »Der übliche diplomatische Kanal wäre, dass Numa sich direkt an den Pelenauten wendet. Eure Kuriere können jederzeit mit Rölly sprechen. Es ergibt keinen Sinn, mich als Mittelsmann dazwischenzuschalten.«

Der raelische Barde breitete die Hände zu einer resignierten Geste aus. »Glaubt mir, ich verstehe, was Ihr meint. Aber sie finden, dass diese Nachricht besser nicht dem Pelenauten überbracht werden sollte, sondern vielleicht seiner Lunge oder irgendjemand anderem, der Euch geeigneter erscheint. Diese Entscheidung wollen sie ganz Euch überlassen.«

Blinzelnd zuckte ich die Achseln. »Also gut.«

»Dann werde ich jetzt wortwörtlich zitieren, was Clodagh erst zu Numa und Numa gestern zu mir gesagt hat.«

»Also … stammt die Botschaft nicht vom Triunischen Konzil, sondern von einem seiner Mitglieder«, sagte ich und wappnete mich innerlich.

Fintan nickte. »Sie lautet: ›Jemand, der in Diensten der bryntischen Regierung steht, hat mir einen persönlichen Gegenstand gestohlen. Versucht nicht, es abzustreiten: Ich weiß, dass Ihr ihn besitzt. Sollte dieser Gegenstand gegen mich oder Rael verwendet werden, müsst Ihr Euch auf schreckliche Konsequenzen gefasst machen.‹«

Damit war es heraus. Sie wusste, dass wir ihr kompromittierendes Tagebuch hatten, und stieß eine Drohung aus, damit wir nicht von den darin enthaltenen Informationen Gebrauch machten. Fintan hatte sogar angedeutet, dass sie von der Existenz des Geistes oder eines anderen geheimnisvollen obersten Spions wie ihm wussten. Diese Information war eindeutig eher für den Geist als für Pelenaut Röllend bestimmt. Da sie mir diese Information gegeben hatte, wusste oder vermutete sie offenbar, dass ich mit ihm in Kontakt war. Aber ich musste mich ahnungslos geben. »Ist das alles? Was für ein persönlicher Gegenstand soll das sein?«

Fintan zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich kenne nur diese Nachricht.«

»Möchte sie, dass ihr dieser Gegenstand zurückgegeben wird? Oder geht es ihr um eine offizielle Untersuchung und eine Wiedergutmachung? Was genau will sie?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Dann soll ich also einfach zum Pelenauten gehen, ihn beschuldigen, was auch immer gestohlen zu haben, und ihn davor warnen, es zu verwenden? Ihr gebt mir hier wochenalte Fischinnereien und wollt, dass ich ihnen Blumenduft entlocke. Das ist nicht meine Aufgabe. Das könnt Ihr vergessen.«

»Verstanden«, sagte er und hob erneut die Hände. »Ich widerspreche Euch nicht. Ich habe Euch die Botschaft überbracht, und man hat mir gesagt, dass ich es vollkommen Euch überlassen soll, was Ihr daraus macht. Wir können es einfach vergessen, wie Ihr vorgeschlagen habt, und genießen, was Meister Yöndyr uns gerade bringt.« Ich folgte seinem Blick und sah, wie der Wirt vergnügt ein Tablett voller Fleisch und Käse zu uns herbrachte. Dass er trotz der großen Versorgungsengpässe in der Stadt noch etwas hatte, war beeindruckend.

»Na schön«, sagte ich, bevor Meister Yöndyr in Hörweite war, »aber richtet dem Triunischen Konzil bitte so bald wie möglich aus, dass ich kein wie auch immer gearteter Kanal bin, sondern ein alter Soldat mit einem maroden Knie, der sich auf Geschichtsschreibung spezialisiert hat. Sie sollen mit der Lunge, unseren Diplomaten oder sonst wem sprechen und mich aus allem raushalten.«

»Das werde ich«, sagte er und strahlte, als unser Essen eintraf.

Während wir es genüsslich verspeisten, überlegte ich, was zu tun war. Der Geist musste informiert werden, doch offenbar wurde ich von jemandem beobachtet, dem es nichts ausmachte, Rael über alles in Kenntnis zu setzen, was ich tat. Sollte ich auch Rölly Bescheid sagen – oder vielleicht nur ihm? Wusste mein alter Freund überhaupt von dem Diebstahl, und dass Clodagh den Mord an meiner Frau befohlen hatte? Ich war mir nicht sicher, ob der Geist ihm alles sagte. Und vielleicht würde er überrascht und verärgert sein, wenn er herausfand, was alles ohne sein Wissen und sein Einverständnis geschehen war. Allerdings hatte Mynstad du Möcher gesagt, dass der Pelenaut Gerstad du Fesset mit einem Spezialauftrag nach Rael entsandt habe. Das bedeutete, dass Rölly zumindest von der Existenz des Tagebuchs wusste und möglicherweise sogar dessen ganzen Inhalt kannte.

Vielleicht wollten sie ja nur herausfinden, an wen ich mich als Erstes wenden würde. Ich hasste es, mir ständig Gedanken darüber machen zu müssen, was ich tun sollte und wer mich gerade beobachten könnte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich bei diesem Spiel nicht mitmachen musste und Fintan auch bereits wortreich erklärt hatte, dass ich es nicht tun würde. Die Sache einfach zu vergessen war die beste Option und würde mich so gut wie keine Mühe kosten.

Um den Vorgang zu beschleunigen, packte ich das riesige Bierglas und kippte seinen Inhalt mit zurückgelegtem Kopf in mich hinein, bis ich nichts mehr hinunterbrachte. Der lange, laute Rülpser, den ich gleich darauf ausstieß, brachte mir eine Runde ironischen Applaus von den anderen Gästen ein. Er war alles, was ich in die Erfüllung von Clodaghs Bitte investieren würde.

Als ich Stunden später betrunken in mein Haus taumelte und mich bemühte, Elynea und die Kinder nicht aufzuwecken, hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber ich wollte keine Kerzen anzünden und nachsehen, was es war, da ich in meinem Zustand wahrscheinlich das gesamte Gebäude abgefackelt hätte. Also ließ ich mich stattdessen ins Bett fallen, erwachte am zwanzigsten Tag von Fintans Vortragsreihe mit einem Kater und erkannte sofort, was mir merkwürdig vorgekommen war.

Das Haus war leer. Elynea war ein weiteres Mal ausgezogen und hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Sie lag auf einem Geschenkkorb mit meinen Lieblingsmarmeladen und lautete:

Lieber Dervan,

mit Bel Tes Weys Hilfe haben wir eine Unterkunft – nur für uns drei – in der Nähe der Möbelwerkstatt gefunden und müssen deine Großzügigkeit somit nicht länger strapazieren. Du warst der freundlichste und freimütigste Gastgeber, den man sich nur wünschen kann.

In ewiger Dankbarkeit

Elynea

Ich sah in ihrem Schlafzimmer nach. Das Bett war gemacht und all ihre Habseligkeiten verschwunden. Na dann. Gut für sie. Das waren wirklich erfreuliche Neuigkeiten.

Damit war ich allerdings wieder allein.

In letzter Zeit kam es nicht oft vor, dass ich morgens ungestört mein geröstetes Brot und eine Tasse Tee genießen konnte, aber es freute mich weniger, als ich erwartet hatte. Und es war, als würden meine Kaugeräusche von den Wänden des leeren Hauses widerhallen.

Um meine Stimmung ein wenig zu heben, unterhielt ich mich eine Weile mit Frau du Marröd von gegenüber und half ihr dabei, ihre Frühlingsbeete zu bepflanzen, bevor ich mich mit Fintan traf, um wie jeden Tag seine Geschichten aufzuschreiben.

Er sah nach unserem nächtlichen Gelage genauso müde aus wie ich. »Euch hat wahrscheinlich auch niemand gesagt, wie ich die unvermeidlichen Fragen nach dem Verräter beantworten soll?«, erkundigte er sich. »Oder habt Ihr irgendetwas für mich, das ich in die heutige Geschichte einbauen soll?«

»Nein. Wisst Ihr selbst wirklich nichts?«

»Sie haben mir nur die Information über Gondel Vedd gegeben, aber nicht verraten, was danach geschehen ist.«

»Das ist merkwürdig.«

»Im Moment ist es nicht so schlimm. Fürs Erste habe ich noch jede Menge andere Geschichten auf Lager.«

Nachdem wir unsere Arbeit erledigt und Tee getrunken hatten, fühlten wir uns einigermaßen wiederhergestellt.

»Ich glaube, früher habe ich mich von solchen Nächten schneller erholt«, sagte Fintan.

»Geht mir genauso.«

 

Das gewaltige Menschenmeer auf dem Feld der Überlebenden wogte und schien noch ungeduldiger als sonst auf die Geschichten des Barden zu warten. Ich machte mir ein wenig Sorgen, dass die Leute verärgert sein könnten, weil er zwar von einem Verräter gesprochen, dann aber niemanden enttarnt hatte.

Doch alle verstummten und schauten zu ihm, als er über die Saiten seiner Harfe strich und seine Stimme dank seines Kennings auf der gesamten Halbinsel und überall in der Stadt zu vernehmen war.

»Hallo, ihr guten Leute von Pelemyn«, sagte Fintan. »Heute werde ich euch ein Rauchlied der Hathrim singen. Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, misst das Volk des Ersten Kennings dem Rauch große Bedeutung bei. Anders als der Rauch selbst, der keine feste Form hat, besitzen diese Lieder eine ganz klare Struktur, die kurz nach der Entdeckung des Fünften Kennings festgelegt wurde. Traditionelle Rauchlieder sind immer fünfzeilig und oft meditativ.« Fintan begann, seine Harfe zu zupfen. Dabei entlockte er ihr eine Reihe an- und abschwellender Töne, die sich allmählich zu einem sanften Rhythmus zusammenfügten. »Viele halten Feuer für ein zerstörerisches Element, doch wenn man genauer hinsieht, verwandelt es die Dinge, wie zum Beispiel beim Schmieden, Backen oder Glasblasen. In den heutigen Geschichten werden wir von einigen Zerstörungen hören, aber wir sollten nicht davon ausgehen, dass das Werk Einzelner dem Wesen eines ganzen Volkes oder Glaubens entspricht. Tatsächlich möchte ich euch allen Hollit und Orden Panevik ans Herz legen, ein wunderbares, über elf Fuß großes Paar, das hier in Pelemyn lebt und arbeitet. Sie betreiben am Hafen ein Restaurant namens Geröstetes Suntschuck. Hollit ist die Köchin, und Orden mischt hinter der Theke wunderbare Getränke. Die beiden sind schon seit Jahren hier. Sie lieben Brynlön, und ich liebe Hollits Schwertflossensteak.« Fintan wartete ab, bis das höfliche Gelächter verklang. »Als Nächstes muss ich das Suntschuck probieren. Es soll sehr gut sein. Dieses Lied ist euch und meinen Freunden Hollit und Orden gewidmet.«

Er sang immer nur eine Zeile, gefolgt von längeren Instrumentalpassagen in aufsteigenden Tonarten, die bis zur dritten Zeile wieder zur ursprünglichen Tonart abfielen.

Ein erster Zug: Ich verspüre das Bedürfnis innezuhalten und nachzudenken.

Zwei Züge: Ich bin von Problemen geplagt, die ich so, wie ich bin, nicht lösen kann.

Drei Züge: Um mich wieder gut zu fühlen, muss ich mich wandeln, doch Wandel ist schmerzhaft.

Vier Züge: Gleich bleiben ist ebenfalls schmerzhaft. Also begrüße ich den Wandel.

Fünf Züge: Möge dieses Feuer mich verändern und mir den Weg in eine bessere Zukunft leuchten.

Nach der üblichen Pause, in der alle ihre Plätze einnahmen, zog er einen seiner schwarzen Scheinbildsteine heraus – Numa hatte ihm neue gebracht – und sah grinsend auf das Feld der Überlebenden hinab.

»Heute beginnen wir mit einer neuen Geschichte. Auf den Verräter Vjeko kommen wir wieder zurück, keine Sorge. Der Pelenaut hat viele Informationen für euch. Doch noch ist es nicht so weit.«

Damit erntete Fintan mehrere bestürzte Rufe. Einer davon stammte von mir. Aber er ließ sich nicht beirren. »Wir haben unsere neue Erzählerin bereits am Rande der Ereignisse erlebt, und erst gestern habt ihr gehört, wie sie sich an den Götterzähnen den Nentianern ergeben hat, doch nun wird sie mit ihren eigenen Worten zu euch sprechen. Freunde, ich präsentiere euch Olet Kanek.«

Er warf sein zerbrechliches steinernes Ei auf den Boden. Das darin enthaltene Gas stieg auf und hüllte ihn ein. Als es sich wieder verzog, hatte er eine wesentlich größere Gestalt angenommen. Olet Kanek maß mindestens elf Fuß, und sie steckte in einer Rüstung, bei der nur der Helm fehlte. Ihre roten Haare fielen ungebändigt auf ihre stahlbewehrten Schultern hinab. Sie war schön und gleichzeitig Furcht einflößend, denn es war offensichtlich, dass sie mit der Waffe, die sie an der Hüfte trug, umgehen konnte. Die Mundwinkel hatte sie besorgt nach unten verzogen, vielleicht machte sie aber auch nur eine ernste Miene.

Olet

Ich zündete die Blätter in einer Schale an und inhalierte. Die Gase brannten mir in der Kehle, eine feurige Salbe für mein versengtes Herz. Über unseren Köpfen kreisten hungrig kreischende Möwen und Schwarzschwingen. Das gurgelnde Plätschern, mit dem die Wellen an den Bootsrumpf schlugen, bildete einen unsteten Rhythmus zu ihren Arien. Ich konzentrierte mich darauf, den Rauch ein- und wieder auszuatmen, wobei ich darauf achtete, nicht nur die Toxine, sondern auch alle giftigen Gedanken aus meinem Körper entweichen zu lassen.

Meine Rauchwolke vermischte sich mit der von La Mastik, die ihre eigene Pfeife schmauchte. Die Flammenpriesterin und ich waren die beiden letzten Lavageborenen unter den Hathrim, die dem Ausbruch des Thayil entkommen waren. Es hatte sich einiges angesammelt, das wir mit der Reinheit des Feuers wegbrennen und transformieren wollten. Außerdem mussten wir für die Herausforderungen, die uns noch bevorstanden, in unseren Köpfen neuen Stahl schmieden, und auch das ging nur mit Feuer. La Mastik dachte mehr oder weniger das Gleiche wie ich und intonierte mit halb geschlossenen Augen ein andächtiges Gebet: »Mögen Eure Lungen sich stets als Blasebalge erweisen, mit denen man neue Feuer, neue Pfade und neue Werke schafft.«

»Möge unser Ziel rein und blau brennen«, erwiderte ich gemeinsam mit allen, die uns zusahen.

Sie öffnete die Augen und schaute in meine. Während wir tiefe Züge aus unseren Pfeifen nahmen, hielt sie meinen Blick fest. Es würde wehtun, doch es ließ sich nicht vermeiden. Die anderen Passagiere knieten mit gefalteten Händen an Deck und lauschten hingebungsvoll. Das Ritual des Begräbnisrauchs ist nicht nur für die Teilnehmenden, sondern auch für die Zuschauer tröstlich. Es schafft eine Schicht aus Ordnung über einem chaotischen Strudel und bietet Schutz vor Wind und Wetter. Wir alle brauchten es jetzt. Während wir in nördlicher Richtung nach Talala Fouz, der Hauptstadt von Ghurana Nent, segelten, konnten wir die traditionellen Totenriten nicht vollziehen und mussten daher mit dieser nachgeordneten Zeremonie vorliebnehmen.

»Thurik, bezeuge unsere Liebe und unseren Respekt für jene, die vor Baghra Khek fielen«, sagte La Mastik. »Ihr Andenken wird in uns brennen, bis wir selbst zu Asche zerfallen.«

Ich nickte anerkennend. Es ist gut, wenn wir Lavageborenen uns daran erinnern, dass wir nicht unsterblich sind. Es stimmte zwar, dass Gorin Mogen ganz allein ein grauenvolles Blutbad angerichtet hatte, anschließend war er jedoch von einem fornischen Grünärmel besiegt worden. Die Bantilpflanzen der Forner töteten einige Hundereiter, und ihre Samenkapseln erledigten noch viele weitere, die zu tief einatmeten. Dornenhände rissen zahlreichen Hathrim, die sich vor die Stadtmauern wagten, die Wirbelsäulen und Organe heraus. Doch die meisten Lavageborenen wurden von einer wild gewordenen Khernherde totgetrampelt. Die Tiere waren angeblich von einem nentianischen Jungen herbeigerufen worden, der das Sechste Kenning entdeckt hatte.

Wir mussten feststellen, dass die Kombination aus dem Fünften und Sechsten Kenning dem Ersten mehr als gewachsen ist, und sollten sie weiter zusammenarbeiten, wird sich die Welt verändern.

Für mich waren das alles glühend heiße, knisternde Scheite. Schließlich wollte ich schon lange, dass sich die Welt veränderte.

»Die Mogens«, begann ich, nachdem ich eine weitere Rauchwolke ausgestoßen hatte. »Gorin, Sefir und Jerin, deren Feuer uns gerettet und eine neue Stadt geschaffen hat.«

An dieser Stelle des Rituals waren Tränen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Es fiel mir nicht schwer, sie kommen zu lassen. Sie kamen ohne jede Anstrengung und rannen für Jerin, allerdings nicht für seine Eltern über meine Wangen.

Die Herausforderung würde darin bestehen, sie wieder zum Versiegen zu bringen, denn ich beklagte Jerins Tod aus tiefstem Herzen und hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, es zu zeigen. Ich war überrascht gewesen, in ihm einen Seelenverwandten zu entdecken, der sich genauso sehr von seinem Vater distanzieren wollte wie ich von meinem. Allerdings hatte es mich auch verärgert, dass ich Jerin mochte. Schließlich hatten unsere Väter unsere Ehe arrangiert, ohne unsere Zustimmung einzuholen. Ich hatte mir jemand Schrecklichen gewünscht, den ich verabscheuen konnte. Doch er hatte mich so sehr beeindruckt, dass ich geglaubt hatte, ihn vielleicht sogar lieben zu können. Und dann war er gestorben.

Ein bisschen Hoffnung war mir jedoch geblieben: Ich konnte immer noch unseren gemeinsamen Traum von einer Stadt verfolgen, die aus gutem Willen gegründet wurde und nicht auf einem Fundament aus Blut und Feuer stand.

Der Begräbnisrauch tat uns gut. An Bord der übrigen Boote, die neben und hinter uns segelten, waren zwar keine Lavageborenen, aber sie hatten Feuerschalen und Leute, die bereit waren, die Namen der Toten aufzuzählen. So erwiesen wir unseren Gefallenen die Ehre. Wir ließen die Aasvögel hinter uns, und die Sonne versank im Larischen Ozean, während wir unseren Kummer ausdrückten. Als wir damit fertig waren, sprach ich in die Stille und hoffte, dass meine Worte über das Wasser hinweg auch auf den anderen Booten zu hören sein würden.

»Hathrim, hört mir zu! Ich weiß nicht, was dieser nentianische König von uns verlangen wird, wenn wir in Talala Fouz eintreffen. Ich habe keine Ahnung, ob er auf unseren Vorschlag eingehen wird, aber ihr sollt alle wissen, dass ihr frei seid. Ihr könnt mich begleiten, wenn er uns ziehen lässt, aber ihr könnt auch jederzeit nach Hathrir zurückkehren. Ich bin nicht euer Herdfeuer. Ich will nicht über euch bestimmen. Ich bin nur eine Lavageborene, die an einem neuen Ort ein neues Leben mit neuen Regeln und neuen Freunden beginnen will. Und ihr könnt euch mir gerne anschließen, wenn ihr das möchtet. Möge Thuriks Flamme hell in euch allen brennen.«

Es war keine Rede, wie man sie von meinem Vater oder Gorin Mogen kannte. Sie schürte weder Feuer, noch weckte sie Leidenschaft. Sie drängte die Zuhörer auch nicht zu einer bestimmten Antwort oder Handlung. Stattdessen bürdete ich ihnen eine Wahl auf. Ich glaube, ein paar von ihnen waren enttäuscht, die meisten jedoch einfach verwirrt. Sie waren noch nie nicht von einem Feuerlord beherrscht worden. Alle gerieten in Bewegung. Die einen schauten schweigend, wie die übrigen reagierten, manche schüttelten ablehnend den Kopf, andere nickten zustimmend.

Mit diesem Ergebnis war ich zufrieden. Hätte ich einerseits Freiheit gepredigt und mich andererseits über abweichende Ansichten aufgeregt, wäre ich wie ein Sanddachs gewesen, der nach seinem eigenen Hintern schnappt. Nicht besser als mein Vater, das Herdfeuer Winthir Kanek, der mir an einem Tag erklärte, ich sei meines eigenen Glückes Schmied, und am nächsten, ich solle eine Ehe mit einem völlig Fremden eingehen.

In den Tagen nach dem Begräbnisrauch hielt ich meine Gefühle verborgen. Ich hatte Angst, dass ich meine Leute ins Verderben führen würde. Ich sorgte mich, dass ich sterben könnte, ohne je die Liebe erlebt zu haben. Und ich fürchtete mich davor, was mein Vater tun würde, wenn er herausfand, dass ich nicht nach Hause kommen würde. Doch solange die Sonne schien, lächelte ich, wechselte mich mit den anderen an den Rudern ab und behielt meine Sorgen für mich. Bei Einbruch der Nacht kauerte ich mich unter Eisheulerfellen zusammen und presste die Wange auf den Boden des gläsernen Rumpfes. Ich fragte mich, ob es je möglich sein würde, dass alle Leute egal mit welchem Kenning oder auch mit gar keinem Kenning in Frieden zusammenlebten.

Als wir endlich in Talala Fouz anlegten, wurden die meisten meiner Leute in ein eher schlecht als recht erschlossenes Gebiet am Nordufer des Westlichen Grabwassers abgeschoben, während man La Mastik und mich zum Palast eskortierte, damit wir dort unsere Petition vorbringen konnten.

Ich hatte einen von Taktiker Diyoghu Hennedigha und dem Vizekönig Melishev Lohmet unterzeichneten Brief dabei, wusste allerdings nicht, was darin stand. Ich konnte nicht ausschließen, dass er die Anweisung enthielt, uns auf der Stelle hinzurichten. Doch wir repräsentierten Tausende Hathrim. Uns alle zu töten, würde nicht leicht sein, und wir waren nicht auf einen Konflikt aus. Vielleicht würden sie einfach La Mastik und mich umbringen und unseren Leuten sagen, dass sie nach Hause zurückkehren sollten, wenn sie nicht ebenfalls sterben wollten.

Talala Fouz war die erste nentianische Stadt, die ich besuchte. Baghra Khek zählte für mich nicht, auch wenn Gorin Mogen ihr einen nentianischen Namen gegeben hatte.

Talala Fouz war ein erstaunlich geschäftiger Ort, voll erbärmlicher Armut und gewaltigem Reichtum. Manchmal musste man nur eine Straße überqueren, um diese beiden Gegensätze zu erleben. Der Königspalast war wie eine Torte mit weißen Wänden und steilen Dächern, umgeben von gepflegten Gärten und sprudelnden Bronzebrunnen. Der Raum mit dem Deckenfenster, in dem der Königsthron stand, war geräumig genug für uns.

Der aktuelle König von Ghurana Nent war bereits vor meiner Geburt gekrönt worden, und das einfache Volk hatte seinen Geburtsnamen längst vergessen. Da die hiesigen Herrscher als Inkarnation von Kalaads Willen galten, sobald sie auf dem Thron saßen, waren sie alle als König Kalaad bekannt, gefolgt von einer Ordnungszahl und nicht selten auch einem erniedrigenden Beinamen wie »der Ungewaschene« oder »der Unmanierliche«. Dieser hier war König Kalaad der Uninformierte, der vierundvierzigste Monarch von Ghurana Nent.

Ich fragte mich, ob dieser Beiname seine Entschuldigung dafür war, dass er seit zwanzig Jahren nichts Wesentliches geleistet hatte. Vielleicht wusste er nicht, dass das eine oder andere verbessert werden musste. Allerdings wirkte er überhaupt nicht ahnungslos, als wir vor ihn hintraten. Man sah ihm sein Alter zwar an – die einst schwarzen Haare waren mittlerweile einer langen weißen Mähne gewichen –, doch weder in seiner Haltung noch in seiner Miene war auch nur der kleinste Hinweis auf Senilität zu erkennen. In diesem Moment wurde mir klar, dass er in den vergangenen zwanzig Jahren tatsächlich etwas Bemerkenswertes geschafft hatte: Er hatte sich an der Macht gehalten und dafür gesorgt, dass das Königreich genauso blieb, wie er es wollte – profitabel für alle seine Unterstützer.

König Kalaad wandte sich nicht direkt an uns – zumindest nicht gleich. Er erteilte seine Anweisungen durch einen Kämmerer, obwohl wir ihn gut hören und sehen konnten. Der Kämmerer zeigte ihm unseren Brief, und er hob den Blick zu uns. Obwohl sein Thron um mehrere Fuß erhöht war, ragten wir über ihm auf. Ich sah ihm an, dass ihn das ärgerte. Er rieb sich das glatte Kinn, während er das Siegel betrachtete. Dann wedelte er mit dem Umschlag und sagte: »Lass sie dort drüben warten.« Offenbar wollte er uns nicht aus den Augenwinkeln sehen müssen, während er las. Mit gerunzelter Stirn erbrach er das Siegel und überflog mit geschürzten Lippen das Schreiben. Einmal hob er die Brauen. Als er fertig war, schnaubte er und sprach – erneut so laut, dass wir ihn verstehen konnten – mit seinem Kämmerer: »Lass sie zurückkommen. Ich habe Fragen an sie.« Erst als wir erneut vor ihm standen, ließ er sich zu einem direkten Gespräch mit uns herab. »Abgesehen von all dem Unfug über das Sechste Kenning, und dass Gorin Mogen mit weniger als einer Handvoll nentianischer Gefallener besiegt worden sein soll, steht hier, dass Ihr nicht nach Hathrir zurückkehren, sondern stattdessen unter meiner Kontrolle eine Stadt im Norden gründen wollt. Stimmt das?«

»Ja, König Kalaad.«

»Wie wollt Ihr das anstellen?«

»Wir werden unterwegs eine provisorische Straße anlegen, die wir später durch Rodungen erweitern und befestigen. Falls wir überleben, werden wir Euch zunächst einmal im Jahr Steuern schicken – und dann häufiger, sobald sich die Straße in einem besseren Zustand befindet.«

»Genau das ist meine Frage: Wie wollt Ihr den kommenden Winter im Grabwald überleben?«

Ich deutete auf La Mastik. »Wir sind beide Lavageborene, und im Grabwald mangelt es nicht an Brennstoff. Wir werden jagen, fischen, Pflanzen sammeln und von den Vorräten leben, die Ihr uns hoffentlich überlasst.«

»Ihr wollt also meine Erlaubnis und Vorräte?«

»Das ist korrekt.«

König Kalaad der Uninformierte schniefte. »Ich sehe nicht, was für mich dabei herausspringt. Wenn ich Euch Nahrung und andere Güter in den Grabwald mitnehmen lasse, unterstütze ich damit nur einen Massenselbstmord.«

»Ihr könnt sehr viel dabei gewinnen! Eine Passage durch den Grabwald, Zugang zur Nordküste und dem Holz, das dort oben wächst. Außerdem eine neue ausbaufähige Stadt, deren Bewohner Abgaben an Euch entrichten werden. Eine ähnliche Chance bietet sich Euch derzeit bereits in Baghra Khek, das mittlerweile zur Besiedlung bereitsteht und aufblühen kann. Die Entwicklung dieser Stadt hat Euch nichts gekostet.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wurde mir bewusst, dass das nicht stimmte. Hashan Khek hatte rund zweitausend Mann verloren, die von Gorin Mogen und seinen Lavageborenen und Hundereitern abgeschlachtet worden waren. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob der König diese Gefallenen als Verlust betrachtete. Melishev Lohmets Lieblingstaktiker, Ghuyedai, hatte jedenfalls nicht das Geringste auf ihr Leben gegeben. »Seht es doch so: Nun könnt Ihr zwei Städte zum Preis von einer entwickeln.«

Der König schnaubte. »Eine Verkaufspräsentation. Wie unerwartet.«

Ich sah ihm an, wie wenig er solche Gespräche mochte, und dass er drauf und dran war, mir eine Abfuhr zu erteilen. Also deutete ich an, womit er rechnen musste, wenn er Nein sagte: »Natürlich wäre damit auch sichergestellt, dass Ihr es nicht mit Tausenden von Hathrim zu tun bekommt, die in Euren Flussstädten nach Arbeit suchen. Unser Volk kann nicht zurückkehren. Daher müssen wir uns hier eine Zukunft schaffen.«

Er blickte zu seinem Kämmerer und bedeutete ihm mit erhobener Augenbraue, dass er seine Meinung hören wollte.

»Neue Ertragsströme werden allen gefallen«, sagte der Mann vorsichtig und bestätigte damit, was ich bereits vermutet hatte: Dieser Regierung ging es ausschließlich ums Geld, das einigen wenigen zugutekommen würde. Die vielen moralischen und logistischen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sahen, spielten nur insofern eine Rolle, als sie einer möglichen neuen Einkommensquelle im Weg standen.

Der König ließ sich seufzend auf seinen Thron zurücksacken. »Na gut. Versucht nördlich von Ghuli Rakhan Euer Glück. Könnt Ihr Eure Boote stromaufwärts segeln?«

»Ja.«

»Dann tut das. Sobald Ihr in Ghuli Rakhan eingetroffen seid, gehen die Boote in den Besitz des dortigen Vizekönigs über. Im Gegenzug wird er Euch aus seinen Beständen mit allem versorgen, was Ihr benötigt. Ich werde gleich einen entsprechenden Brief aufsetzen und ihn Euch mitgeben. Aber ich will, dass Ihr noch heute aus Talala Fouz verschwindet. Ist das klar?«

»Ja, das verstehen wir, aber können wir auch noch Reiseproviant bekommen?«

»Ihr dürft welchen vom königlichen Hoflieferanten kaufen – zu dem Rabatt, den wir selbst von den Händlern erhalten. Darum kümmere ich mich auch.« Er wandte sich zu seinem Kämmerer. »Bring sie zum Hoflieferanten und bestehe auf dem Preisnachlass. Dann sollen sie zurückkommen und den Brief an den Vizekönig abholen, den ich in der Zwischenzeit schreibe.« Er erhob sich von seinem Thron und tappte zum Schreibtisch, der seitlich im Raum stand. Dabei winkte er träge in unsere Richtung. »Das wäre alles«, sagte er huldvoll.

Nachdem unsere königliche Audienz so sang- und klanglos zu Ende gegangen war, folgten wir pflichtschuldig dem Kämmerer, um nicht nur Lebensmittel, sondern auch Trinkwasser einzukaufen, da das Grabwasser nicht genießbar war.

Der Transport all dieser Dinge zum Nordufer und die Vorbereitungen für unseren hastigen Aufbruch kosteten uns den Großteil des verbliebenen Tages, doch die Nentianer unterstützten uns dabei nach Kräften. Sie wollten uns so schnell wie möglich wieder loswerden, um weiter ungestört Profit aus ihren Untertanen und Rohstoffen schlagen zu können.

Während im Licht der tief stehenden Sonne die Boote beladen wurden, entfernten La Mastik und ich uns ein Stück und zündeten erneut unsere Pfeifen an, diesmal, um zu feiern.

Ich wedelte mit dem Brief an den Vizekönig. »Wir werden eine neue Stadt gründen, in der Gleichheit herrscht«, sagte ich. »Ohne Herdfeuer oder Vizekönig, stattdessen mit vom Volk gewählten Interessenvertretern, wie sie es in Rael machen. Wir werden etwas Neues für die Nentianer und die Hathrim schmieden. Und mein Körper wird keinem Mann gehören.«

La Mastik nickte und lächelte schmallippig, während sie eine Rauchwolke aus dem Mundwinkel blies. Die Kette aus Buntglas, die von ihrer Nase zu ihrem einen Ohr verlief, funkelte im Feuerschein. »Habt Ihr schon darüber nachgedacht, was Ihr tun wollt, wenn Euer Vater kommt? Wahrscheinlich hat er bereits gehört, was in Baghra Khek passiert ist, und sucht nach Euch.«

Ich zuckte die Achseln. »Noch ein Grund mehr, rasch aufzubrechen. Er kommt sicher nicht so schnell voran wie wir. Und er kann auch nicht einfach hier einfallen und uns aufspüren. Die Nentianer würden es bemerken.«

»Was werdet Ihr tun, wenn dieser weißhaarige König einen Vizekönig schickt, der unsere Stadt regieren soll?«

Ich zuckte die Achseln und zog gemächlich an meiner Pfeife. »Im Grabwald ist es gefährlich. Die Straße zu unserer Stadt wird viele Jahre lang nicht sicher sein.«

La Mastik blies grinsend einen Rauchring in den Sternenhimmel. »Thurik möge uns beschützen und unsere Feinde verbrennen.«

Ich erwiderte ihr ironisches Lächeln und gab die traditionelle Antwort: »Möge sein Feuer unseren Herd wärmen.«

 

Fintan löste sein Scheinbild auf und schrumpfte auf seine wesentlich geringere raelische Körpergröße zusammen. Dann holte er eine weitere Kugel heraus und prägte ihr die Gestalt ein, die er als Nächstes annehmen würde.

»Ihr erinnert euch sicher noch daran, dass Abhinava Khose und ich in der Zwischenzeit auf gestohlenen Pferden ebenfalls nach Talala Fouz unterwegs waren. Wir versuchten, unser Ziel vor einer Nachricht des Vizekönigs Melishev Lohmet zu erreichen, die uns möglicherweise als Pferdediebe oder noch Schlimmeres verleumden würde. Da wir kurz nach Olet eintrafen, hatte der König tatsächlich bereits von uns gehört. Es kann übrigens sein, dass ich es ein kleines bisschen aufregend fand, mit dem ersten Plagenbringer der Welt unterwegs zu sein.«

Er gluckste leise und warf seinen Scheinbildstein zu Boden. Die öligen Gase bildeten um ihn herum die Gestalt des gutaussehenden jungen Mannes aus Khul Bashab.