Micaiah Johnson
Roman
Aus dem amerikanischen
Englisch von Simon Weinert
Knaur eBooks
Micaiah Johnson wuchs in der kalifornischen Mojave-Wüste auf, umgeben von Bäumen namens Joshua und Frauen, die Geschichten erzählten. Sie erhielt ihren Bachelor of Arts in kreativem Schreiben an der University of California, Riverside, und ihren Master of Fine Arts in Literatur an der Rutgers University – Camden. Derzeit promoviert sie an der Vanderbilt University, wo sie sich mit »Critical race theory« und Robotern beschäftigt. Ihr Debütroman »Erde 0« war ein Sunday Times Bestseller, New York Times Editor’s Choice, und gehört zu NPRs besten Büchern 2020. Mit »Erde 0« legt die Autorin einen Science-Fiction-Roman vor, der nicht nur mit detailliert und glaubwürdig ausgearbeiteten Parallelwelten, vielfältigen Charakteren und einer rasanten Story besticht, sondern fast nebenbei auch hochaktuelle Themen wie Diversity, Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung behandelt.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Space between Worlds« bei Del Rey, New York.
© 2020 by Micaiah Johnson
Published by Arrangement with Micaiah Vetack
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Das Zitat von Brian Greene stammt aus: Greene, Brian: The Hidden Reality. New York: Vintage, 2011. Die Übersetzung orientiert sich an der deutschen Fassung: Greene, Brian: Die verborgene Wirklichkeit. München: Siedler Verlag, 2012.
Das Zitat von Michio Kaku stammt aus einem Gespräch mit Michio Kaku auf "The Future of Humanity @ Talks at Google (Transcript)". Die Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen. Das Gespräch ist abrufbar auf https://singjupost.com.
Das Zitat von Ocean Vuong stammt aus: Vuong, Ocean: Night Sky with Exit Wounds. Port Townsend, WA: Copper Canyon Press, 2016. Die Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen.
Das Zitat von Danez Smith stammt aus: Smith, Danez: Don't Call Us Dead. Poems Minneapolis: GRAY WOLF PR, 2017. Die Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen.
Redaktion: Silvana Schmidt
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
ISBN 978-3-426-45755-9
Das Zitat von Brian Greene stammt aus: Greene, Brian: The Hidden Reality. New York: Vintage, 2011. Die Übersetzung orientiert sich an der deutschen Fassung: Greene, Brian: Die verborgene Wirklichkeit. München: Siedler Verlag, 2012.
Das Zitat von Michio Kaku stammt aus einem Gespräch mit Michio Kaku auf »The Future of Humanity @ Talks at Google (Transcript)«. Die deutsche Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen. Das Gespräch ist abrufbar auf https://singjupost.com.
Das Zitat von Ocean Vuong stammt aus: Vuong, Ocean: Night Sky with Exit Wounds. Port Townsend, WA: Copper Canyon Press, 2016. Die deutsche Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen.
Das Zitat von Danez Smith stammt aus: Smith, Danez: Don‘t Call Us Dead. Poems Minneapolis: GRAY WOLF PR, 2017. Die deutsche Übersetzung wurde von Simon Weinert vorgenommen.
Für Großmutter Baum
Ich liebe dich. Du hast mich geschaffen. Bitte lies dieses Buch nicht.
Für Dich
Du wirst immer bei mir sein, wenn auch nicht auf die Weise,
die wir uns erhofft haben.
Wo ich herkomme, gibt es zu viel Sonne, ich musste
etwas davon hergeben. Und deshalb habe ich dich hergegeben.
Irgendwo in den weit entfernten Regionen eines unendlichen Kosmos dürfte es eine Galaxie geben, die genau wie die Milchstraße aussieht, mit einem Sonnensystem, das große Ähnlichkeit mit unserem hat, mit einem Planeten, der ein Doppelgänger der Erde ist, mit einem Haus, das von jenem, in dem Sie wohnen, nicht zu unterscheiden ist; in diesem Haus wohnt jemand, der genauso aussieht wie Sie, der gerade jetzt dieses Buch liest und sich vorstellt, wie Sie in einer weit entfernten Galaxie gerade jetzt zum Ende dieses Satzes gelangen. Und es gibt auch nicht nur eine solche Kopie. In einem unendlichen Universum sind es unendlich viele. In manchen davon liest Ihr Doppelgänger jetzt genau wie Sie diesen Satz. In anderen ist er Ihnen ein wenig voraus, oder er will eine Kleinigkeit essen und hat das Buch beiseitegelegt.
In wieder anderen ist er, nun ja, ein eher unsympathischer Zeitgenosse, und man würde ihm nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollen.
Aus: Brian Greene – Die verborgene Wirklichkeit
Als die Existenz des Multiversums bestätigt wurde, nahmen es sowohl die spirituellen als auch die wissenschaftlichen Gruppierungen als Beweis ihrer Legitimierung.
Die Wissenschaftler sagten: Schaut, wir haben euch doch gesagt, dass es Paralleluniversen gibt.
Und die Spirituellen sagten: Wir wussten schon immer, dass es mehr als ein Leben gibt.
Selbst wertlose Dinge können wertvoll werden, wenn sie selten sind. Das ist die Lehre, die sich aus meinem Leben ziehen lässt.
Ich stehe am Fuß eines Berges und betrachte eine Landschaft, die ich nie hätte zu Gesicht bekommen sollen. Auf dieser Welt – Erde Nummer 197 – bin ich im Alter von drei Monaten gestorben. In meiner Akte wird schlicht eine Atemwegserkrankung als Todesursache angegeben, doch die Adresse auf dem Totenschein gehört zu derselben Einzimmerbude, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht habe, deshalb kann ich mir das Wellblechdach, den Betonboden und die Matratze, die meine Mutter und ich uns auf so vielen Welten teilten, nur allzu gut vor meinem inneren Auge vorstellen. Ich weiß, dass ich warm gestorben bin, im Schlaf, während ich den ehrlichen Staub auf der Haut meiner Mutter einatmete.
»Cara, antworte. Cara?«
Dell ruft schon die ganze Zeit, aber noch klingt sie nur genervt, und ich werde erst antworten, wenn sie sich Sorgen macht. Nicht weil ich gerne schwierig bin – obwohl das auch der Fall ist –, sondern weil ihre Sorge, eine Mission könnte fehlschlagen, genauso klingt wie die Sorge um mich.
Hinter mir werden Daten von einem festen Port auf einen mobilen geladen. Sobald der Download abgeschlossen ist, nehme ich das Mobilgerät wieder mit zu Erde 0, unserer ursprünglichen Erde, derjenigen, die andere für die wirkliche Erde halten. Die von mir gesammelten Daten sind unterteilt in helle Informationen – Bevölkerung, Temperaturschwankungen, allgemeine Nachrichten – und dunkle Informationen – was wirkt sich auf ihre Aktien aus, das sich auch auf unsere auswirken könnte? Wenn es sich um eine zukünftige Welt handelt, beinhalten sie manchmal auch eine komplette Auflistung dazu, wo welche Aktien an einem bestimmten Tag abschließen. Die Existenz der dunklen Informationen ist streng geheim, auch wenn mir nicht klar ist, weshalb das irgendjemanden kümmern sollte. Insidergeschäfte klingen noch nicht einmal nach Verbrechen – zumindest nicht nach echten Verbrechen, jene mit Blut.
»Cara …«
Immer noch bloß genervt. Ich schaue, wie weit der Download vorangeschritten ist. Sechzig Prozent.
»Cara, du musst mir antworten.«
Aha.
»Ich bin hier.«
Kurz ist es still, während sie wieder auf Gleichgültigkeit umschaltet, aber ich habe die Panik herausgehört. Eine Sekunde lang war sie besorgt.
»Du musst mich nicht immer warten lassen.«
»Und du musst mich nicht immer zwei Meilen entfernt von meinem Download-Port absetzen, aber wir sind wohl beide ein bisschen kleinlich, was, Dell?«
Aus einer Entfernung von hundertsechsundneunzig Welten kann ich ein Lächeln heraushören, das keines ist. Seit ich diesen Job vor sechs Jahren begonnen habe, habe ich mich vor dem körperlichen Training immer gedrückt. So engstirnig, wie sie ist, sollte man meinen, sie hätte mich längst verpfiffen. Doch stattdessen reagiert sie darauf, indem sie mich immer möglichst lange Strecken laufen lässt.
»Du wirst hier gebraucht. Auf deinem Tisch liegt eine Akte.«
»Ich habe meine Züge für diese Woche schon erledigt.«
»Kein Zug. Eine neue Akte.«
»Aber …«
Ich lege mir die Hand auf die Brust und rechne damit, das Fehlen eines Stück Fleisches zu spüren, wie eine herausgerissene Grassode.
Ich will ihr gerne sagen, dass das nicht sein kann. Ich will ihr sagen, dass ich das bemerkt hätte. Doch stattdessen sage ich ihr, dass ich noch eine Stunde brauchen werde, und beende die Verbindung.
Wenn ich eine neue Welt zugeteilt bekommen habe, bedeutet das, dass mein dortiges Ich diese Erde nicht länger nutzt. Ich bin also wieder einmal gestorben, irgendwo anders, ohne etwas zu spüren.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich so sitze und auf einen Horizont starre, der der meine ist, aber auch wieder nicht. Mit einem Klingeln meldet der Port, dass der Download abgeschlossen ist. Ich könnte von hier aus traversen, denn hier sieht mich niemand, aber ich schinde ein wenig Zeit, indem ich den Ort etwas auskundschafte, den das Schicksal mir vorenthalten wollte.
Ein weiteres meiner Ichs ist nicht mehr. Als ich mit dem Abstieg beginne, bin ich ein bisschen wertvoller als zu dem Zeitpunkt, als ich den Berg erklommen habe.
Als ich noch klein war und das Multiversum nur eine Theorie, war ich wertlos. Ein Mädchen mit brauner Haut, die Tochter einer Abhängigen, in einem jener Viertel außerhalb der Mauern von Wiley City, aus denen die Leute nicht mehr herauskamen oder in die sie erst gar nicht hineingingen. Doch dann hat Adam Bosch, der neue Einstein und Gründer des Instituts, das mich bezahlt, die Möglichkeit entdeckt, in andere Universen zu blicken. Natürlich konnten wir es nicht dabei belassen, wir mussten sie betreten. Wir mussten anfassen, schmecken und mitnehmen.
Aber die Welt sagte Nein.
Die Ersten, die in andere Welten entsandt wurden, kamen bereits tot zurück oder als zuckende, sterbende Wracks mit mehr gebrochenen Knochen als gesunden. Wenn jemand die neue Welt lebend erreichte, dann erlag er dort seinen Verletzungen, und sein Leichnam wurde zurückgeholt.
Es brauchte die Leichen einer Menge kluger Leute, bis man feststellte, dass man von Welten abgewiesen wird, in denen man selbst noch am Leben ist. Dann nämlich stellt man eine Anomalie dar, die das Universum nicht zulässt, und es schickt einen wieder zurück – wenn es sein muss, in zwei Hälften. Doch Boschs Apparat konnte nur mit Welten interagieren, die unserer sehr ähnlich waren, und die meisten Wissenschaftlerinnen – mit ihrer sicheren, behüteten Jugend und der hohen Lebenserwartung – hatten in den anderen Welten lebende Doppelgängerinnen. In Wiley City, der Stadt, in der Adam Boschs Firma sitzt, gab es keine Kindersterblichkeit mehr, und die meisten Virenkrankheiten waren zu Tode geimpft worden.
Sie brauchten Leute aus der Gosse. Leute aus der Schwarzen Bevölkerung, arme Leute mit brauner Haut. Leute, die aus irgendwelchen Gründen auf der »falschen« Seite der Mauer gelandet waren, auch wenn sie diejenigen waren, die die Mauer gebaut hatten. Leute, die zum Arbeiten gekommen oder hierhergeflohen waren. Oder die schon hier gewesen waren, als die erste Neoliberale das Land begutachtet und beschlossen hatte, hier ein Paradies zu errichten. Leute, die dies bereits für das Paradies hielten. Sie brauchten Leute wie mich. Sie brauchten mich.
Auf dreihundertzweiundsiebzig der dreihundertachtzig Welten, mit denen wir interagieren können, bin ich tot. Nein, inzwischen sogar auf dreihundertdreiundsiebzig. Ich bin keine Wissenschaftlerin. Ich bin ein Niemand, aber sie brauchen mich halt. Auf dem Papier nennen uns die hohen Tiere »Traverser«. Mithilfe von Ports, die die vorangegangene Traversergeneration installiert hat, downloaden wir die Daten der Region und bringen sie zurück, damit die schlauen Köpfe sie auswerten können. Wir sind nicht besser als Tauben, und deshalb nennen sie uns auch so – wenn auch nicht auf dem Papier.
Irgendwann wird das Eldridge-Institut einen Weg finden, Daten auch aus der Ferne von anderen Welten herunterzuladen, und dann bin ich wieder wertlos.
Zurück auf Erde 0, gehe ich zu meinem Schreibtisch, gleich nachdem ich mir Büroklamotten angezogen habe. Inmitten der Ansammlung von Schreibtischen, von denen mehr als zwei Drittel im Moment unbesetzt sind, ragt Dell hoch auf, ihr Gesicht angespannt, weil sie auf die einzige Person warten muss, die es wagt, schwierig zu sein.
»In diesen Niederungen, Dell? Ich dachte, du kriegst Ausschlag, wenn du weiter runter als bis zum sechzigsten Stock gehst.«
Sie lächelt, nicht so als würde sie meine Bemerkung witzig finden, sondern mehr als wolle sie zeigen, dass sie es kann.
»Ich werd’s überleben.«
O ja, sicher. Überleben ist genau Dells Problem, hier auf Erde 0. In dieser Welt wollte sie eine Traverserin sein. Sie war auch genau die Richtige dafür, denn als Pilotin der Air Force hatte sie die Augen bereits aufs All gerichtet, bevor sich die Möglichkeit des Besuchs anderer Welten auftat. Aber Dell stammt aus gutem Hause, einer Familie, die seit mehreren Generationen reich ist. In manchen Welten sind ihre Eltern nie aus Japan ausgewandert. In manchen arbeitet sie in der Privatwirtschaft und nicht in diesem staatlichen Forschungshybrid. Aber sie hat in mehr als achtundneunzig Prozent aller Welten überlebt, und in den meisten davon geht es ihr prächtig. Ich habe drei Dutzend Dells kennengelernt, und bis auf eine trugen sie alle Kleider, die teurer waren als meine.
Als ich meine Jacke ausziehe, zucken wir beide zusammen. Meine Arme sind mit lang gezogenen Blutergüssen übersät, und das sind nur diejenigen, die zu sehen sind.
»So schlimm sollte es nicht sein«, sagt sie, während ihre Blicke über die Quadranten meines Körpers gleiten, als wäre sie heftig am Rechnen.
»Das ist nur, weil ich Doppelschichten geschoben habe.«
»Ich habe dir davon abgeraten.«
»Ich brauche das lange Wochenende.«
Wir hatten dieses Gespräch diese Woche schon fünfmal, und jedes Mal endet es an dieser Stelle: wenn ihre Sorge um mich nicht mehr gegen die Anstrengung ankommt, die eine Diskussion mit mir bedeutet. Sie nickt, betrachtet meinen Arm aber lange genug, dass ich es spüre. Erst als sie meinen Blick bemerkt, schaut sie weg.
Schon früh haben mir die Profis in den oberen Stockwerken, Wissenschaftler wie Bosch und Watcherinnen wie Dell, erklärt, dass die Blutergüsse vom Widerstand eines Objekts stammten, das in eine andere Welt gezwungen wird, wie wenn man gleichpolige Magnete mit Gewalt aneinanderdrückt. Andere Traverserinnen – und die sind alle sehr abergläubisch – haben mir gesagt, dass dieser Druck einen Namen habe, nämlich »Nyame«. Der Preis für die Reise sei Nyames Kuss.
Dell berührt die durchsichtige Scheibe, die sie mir geschickt haben. Sie sieht aus wie ein Blatt aus Plastik, aber wenn sie einmal aktiviert ist, weiß ich alles Grundlegende über die Welt, die mir zugeteilt wurde. Gleich am Anfang war mir aufgefallen, dass die Leute in der Stadt so sehr auf Plastik standen, wie in meinem Kaff zu Hause alle auf Metall abfuhren. Hier ist alles Plastik. Und zwar dasselbe Plastik. Wenn ein Plastikteil kaputtgeht, werfen sie es in einen Müllschlucker und machen daraus ein anderes Plastikteil oder dasselbe Plastikteil, nur eben wieder funktionstüchtig. Sie haben so viel Plastik, wie der Rest der Welt Wasser hat. Es gibt zu keinem Zeitpunkt mehr oder weniger davon, in dem Kreislauf befindet sich immer genau dieselbe Menge Plastik.
»Weißt du, welche deine neue Welt ist?«, fragt sie.
»Du hast es mir noch nicht gesagt.«
»Errätst du es?«
Ich sollte Nein sagen, denn ich hasse es, wenn sie diese Spielchen mit mir treibt, doch stattdessen antworte ich, denn ich will sie beeindrucken.
»175«, sage ich. »Wenn ich schon raten muss.«
Ich merke, dass ich recht habe, denn sie sieht mich anders an. Als fände sie mich interessant. Als wäre ich ein Insekt.
»Reines Glück.« Sie schiebt mir die Scheibe zu.
»Eher nicht. Es gibt ja nur acht Möglichkeiten.«
Ich setze mich und ziehe den Speicher heraus, der die Erträge meines letzten Auftrags enthält. Sobald ich ihn einstecke, laden sich die dunklen Informationen bei irgendwelchen Unbekannten hoch und werden gelöscht. Die hellen Informationen schicke ich den Analystinnen, die sie interpretieren und für die Wissenschaft aufbereiten.
Eldridge glaubt, wir Traverser wüssten nicht Bescheid über das erste der beiden Infopakete. Wie die Weltraumforschungsorganisationen der Vergangenheit ist Eldridge im Grunde eine unabhängige Firma, auch wenn sie massiv durch die Regierung von Wiley City finanziert wird. Außerhalb der Stadtgrenzen, in dem menschenleeren Wüstenstreifen zwischen hier und Ashtown, steht eine Industrieluke, durch die Ressourcen aus anderen Welten hierhergelangen; und die Steuerzahler, Regierungsbeamtinnen und Arbeitnehmer von Eldridge sollen glauben, dass die Firma damit ihren ganzen Gewinn erwirtschaftet – also das, was nicht durch Forschungsfördermittel in die Kassen kommt. Klar, Rohstoffe aus anderen Welten herbeizuschaffen, damit wir unsere eigenen schonen können, ist schon einiges wert. Aber damit wird man nicht zum zehntreichsten Mann der Stadt. Denn genau das ist unser Chef und Firmengründer.
Weil keine Traverserin je zu den Gesetzeshütern gegangen ist oder unangenehme Fragen gestellt hat, glauben sie, sie hätten die Arbeitskräfte der unteren Ränge mit dieser Scharade reingelegt. Tatsächlich ist es uns einfach nur egal. Arbeit ist Arbeit, und sich gegenseitig auszumanövrieren, um mit dem Kauf und Verkauf von unsichtbaren Dingen Kohle zu machen, klingt nach einem Problem reicher Leute.
Ich blicke zu Dell auf, die immer noch neben mir steht. Sie gehört zu den reichen Leuten, aber sie ist so reich, dass sie immer reich sein wird. Ihre Familie hat über Dekaden so viel angehäuft, dass sie auch nach zwei Generationen voller hirnrissiger Entscheidungen kaum bankrott gewirtschaftet wäre. Von der Sorte gibt es viele in der Stadt. Keine Neureichen wie Adam Bosch, sondern ganze Familien, deren Reichtum auf so viele Mitglieder verteilt ist, dass es nicht auffällt.
»Noch etwas?«, frage ich.
»Saeed ist weg«, sagt sie.
»Star? Sie haben sie gefeuert?« Als sie nickt, frage ich: »Hat sie Scheiße gebaut?«
Ich hoffe es. Starla Saeed gehört zu den letzten Traverserinnen, die schon da waren, als ich angefangen habe. Sie wurde während eines Konflikts geboren, den man zwar Bürgerkrieg nannte, bei dem es sich im Grunde aber nur um ein systematisches Massaker eines Herrschers an seinem Volk handelte. Mit zwölf begab sie sich auf eine Seereise, auf der mehr Leute ertrunken sind, als am Ziel ankamen. Sie kann in über zweihundert Welten reisen.
Wenn sie Scheiße gebaut hat, dann wird sie schlicht gefeuert, und es geht mich nur deshalb etwas an, weil wir denselben Job machen und uns eine Zeit lang nähergestanden haben. Wenn sie aber einem Personalabbau zum Opfer gefallen ist, dann ist sie ein Grubenwarnvogel.
»175 war die letzte Welt, zu der nur sie Zugang hatte. Als dein Tod auf dieser Welt bekannt wurde … Weshalb sollen sie Lohn und Arbeitgeberleistungen für zwei zahlen, wenn sie die Welt nun auf deine Liste setzen können?«
Was sie nicht sagt, aber sehr wohl denkt: Weshalb sollte man einer einfachen Botin überhaupt einen anständigen Lohn zahlen?
»Vor nächster Woche kommt 175 nicht auf deinen Schichtplan, aber es würde nicht schaden, wenn du dich übers lange Wochenende schon mal damit vertraut machen könntest. Und pass wegen der Blutergüsse auf. Die müssen vor deiner nächsten Exkursion unbedingt abklingen.«
Und wieder kann ich ihre Angst um die Erhaltung meiner Arbeitskraft interpretieren, wie ich will, und ich entscheide mich dafür, Zuneigung darin zu sehen. Die Art, mit der sie meine Arme und meine Brust mustert, lässt es mir kalt den Rücken hinunterlaufen, und für eine Sekunde frage ich mich, ob ich es mir nur einbilde. Doch als sie meine Reaktion sieht, weicht sie zurück und stößt beinahe mit Jean zusammen.
»Ms Ikari«, sagt er förmlich, denn so mag sie es.
»Mr Sanogo«, sagt sie ebenso förmlich, denn das mag er gar nicht.
Den berühmten Jean Sanogo kennt man aus den Zeitungen nur als Jean oder Papa Jean.
»Wie geht es unserer besten Mitarbeiterin heute?«, fragt er.
»Sie ist ein Dickkopf. Sie hat mehr Blutergüsse als sonst, sag du ihr, dass sie aufpassen muss.« Dell wirft einen finsteren Blick über die Schulter. »Auf dich hört sie vielleicht.«
»Ich kann dir versichern, dass meine Worte genauso wenig fruchten«, sagt er, und Dell geht.
Ich habe das Datenpaket unter meinem Benutzernamen hochgeladen, logge mich aus und logge mich mit zusätzlichen Berechtigungen wieder ein. Den geklauten Zugang benutze ich, um eine Kopie der hellen Informationen an meine Manschette zu schicken und sie später in Ruhe durchlesen zu können.
Jean zieht sich den Stuhl eines abwesenden Traversers heran.
»Dell wirkt angespannt. Du darfst sie nicht so reizen, wenn du auf Exkursion bist.«
»Aber wie soll sie denn sonst merken, dass ich sie mag?«
»Du flirtest schon seit fünf Jahren mir ihr. Sie weiß es.« Er beugt sich vor, stellt eine dampfende Tasse ab und rückt die Brille zurecht, um meine Fortschrittsanzeige zu betrachten. »Werde ich etwa Zeuge von Firmendiebstahl unter meinem Namen? Mein Herz blutet.«
»Komm schon, alter Mann. Es ist ja wohl kein Diebstahl, wenn ich es nur durchlese. Wenn man etwas nimmt, was trotzdem noch da ist, klaut man es ja nicht.«
»Du wirst feststellen, dass ein Großteil unseres Rechtssystems dir da widersprechen würde.«
Ich winke ab. Rechtssystem ist ein Wiley-City-Wort par excellence, und zwischen mir und Jean hat das nichts verloren.
Er weiß, was ich tue. Es war nicht nur seine Idee, sondern ich nutze auch seine Zugangsdaten, um mir die Daten selbst zu übermitteln. Er glaubt, dass ich für die Firma aus anderen Gründen als nur wegen meiner Sterblichkeitsrate von Wert sein könnte, wenn ich mir die Zahlen anschaue und nach Mustern suche, so wie es die Analysten machen. Er glaubt, dass ich mehr als eine Traverserin sein könnte, dass ich so sein könnte wie er. Wenn ich die leeren Tische um mich herum betrachte, möchte ich nur zu gerne glauben, dass er recht hat.
Jean gehörte zur ersten Gruppe überlebender Traverser. Seine Teenagerzeit hat er in einem Grenzkrieg in der Elfenbeinküste bei einer Rebellenarmee zugebracht. Als Traverser konnte er mehr als zweihundertfünfzig Welten besuchen. Früher wanderte er mit uns auf anderen Welten, aber heute sitzt er in einem Zimmer und macht Politik rund ums Weltenwandern. Wenn er an die Öffentlichkeit tritt, wird meistens der berühmte Satz zitiert, den er sagte, als er zum ersten Mal den Fuß auf eine neue Welt setzte: Nun habe ich zwei Welten gesehen und den Raum dazwischen. Wir sind ein Wunder. Man schüttelt ihm die Hand, fotografiert ihn, aber er versichert mir ständig, dass er auch einmal wertlos war.
Jean war es, der mir von Nyame erzählt hat, so wie er es jedem neuen Traverser erzählt. Wo er herkommt, ist Nyame der Name einer Göttin, die im Dunkeln kauert und die Welten in ihrer Hand hält. Jean behauptet, dass er ihre Führung gespürt hat, als er das erste Mal zu einer anderen Welt gereist ist. Ich hatte noch nie viel Verständnis für Religion, aber ich respektiere ihn zu sehr, um ihm in dieser Sache zu widersprechen.
»Das ist 197, oder?«, fragt er und nickt in Richtung der Informationen, die ich eben beschafft habe. »Der Himmel, wegen dem die Leute aus der Wissenschaft so viel Geschrei gemacht haben.«
»Die nennt man Astronomen, Jean. Und ja, die hatten es ziemlich eilig damit. Sie wollten Bilder von einem Asteroiden, der hier noch zu weit entfernt ist, und sie wollten nicht noch eine Woche darauf warten.« Ich versuche, mit dem Arm zu kreisen, und zucke zusammen, weil es wehtut.
»Die haben Premium gezahlt, weil sie vorzeitig ein paar Bilder wollten?« Jean schnalzt geringschätzig mit der Zunge. »Zu viel Geld und zu wenig Sinn im Leben.«
Jeans Abneigung gegen die Astronomie ist ein Berufsrisiko und beruht auf Gegenseitigkeit. Diejenigen, die ausschließlich im Bereich der Weltraumforschung arbeiten, sind nicht besonders begeistert von Reisen zwischen den Universen, einem neuen Grenzland, das ihnen plötzlich einen fetten Batzen ihrer Zuschüsse wegschnappt. Im Gegenzug betrachten die Leute bei Eldridge die Weltraumforschung, wie ein junger Löwe einen älteren, kränklichen Löwen betrachtet – nicht direkt gewaltbereit, aber doch sehr zappelig angesichts der Aussicht, dass der Alte bald das Zeitliche segnen könnte.
Jean schiebt die Tasse, die ich ignoriert habe, ein Stück in meine Richtung. Seufzend trinke ich einen Schluck und kann das Gesöff kaum bei mir behalten.
»Ich habe echt auf Kaffee gehofft«, sage ich und zwinge mich, die trübe Mixtur aus Vitamin D, Zink und viel zu vielen schlecht aufgelösten Nährstoffen hinunterzuwürgen.
»Du brauchst keinen Kaffee«, sagt er mit einem Akzent, den ich mit meinem eingeschränkten Weltwissen anfangs für französisch hielt. »Diesmal hat Nyame dir einen heftigen Kuss verpasst.«
»Mit Zähnen.«
»Das sehe ich. Dell hat dich zur Beobachtung eingetragen.«
Natürlich. »Ich habe die Züge doch nur so dicht hintereinandergelegt, damit ich ein paar Tage freibekomme. Das habe ich ihr auch gesagt.«
»Urlaub? Ich hätte gedacht, dass es für dich reizvoller wäre, mal an einem Ort zu bleiben.«
»Kein Urlaub. Es … es ist eine Familienangelegenheit.«
Als ich Familie erwähne, lächelt er, woran man erkennt, welche Erfahrungen er gemacht hat. In den Welten, in denen er überlebt hat – in denen er kein Kindersoldat war und auch nicht starb, weil er als blinder Passagier nach Europa gelangen wollte –, tat er das nur wegen der Kraft seines Vaters und dem Mut seiner Mutter. Nach allem, was ich herausgefunden habe, starb er in den anderen Welten stets trotz aller Bemühungen seiner Eltern.
Die meisten meiner Tode lassen sich ziemlich direkt auf meine Mutter zurückführen.
»Genieße deine freie Zeit. Lerne nicht zu viel.«
»Ich versuch’s.«
Aber nicht zu sehr.
Seit er zum ersten Mal die Möglichkeit einer Beförderung zur Analystin erwähnt hat, bleibe ich immer zu lange auf, um Weltstatistiken und die Firmenleitfäden zu pauken. Meine Mutter hat immer gesagt, ich wäre bereits als Streberin auf die Welt gekommen, was der Wahrheit entspricht. Sie hat auch gesagt, dass mich das umbringen würde, was nicht geschehen ist. Noch nicht. Nicht hier.
Bevor ich nach Hause gehe, schaue ich noch bei Starla Saeed vorbei. Ich bin fast zu spät, denn als ich an ihrer Wohnung ankomme, begegne ich einem Haufen Uniformierter, die Kisten mit ihren Habseligkeiten hinaustragen.
Sie steht im Hof, flankiert von Leuten der Einwanderungsbehörde. Ihre Augen sind glasig, aber klar. Vielleicht hat sie geweint, aber jetzt nicht mehr. Sie wirkt stark, trotzig, hat den Kopf erhoben, gerade so, als hätte sie nicht alles verloren. Ich hoffe, dass ich auch einmal so aussehe, wenn sie mich holen.
»Star …«
Als sie sich zu mir umdreht, sieht sie mich weder überrascht noch sonderlich erfreut an, doch dann fällt ihr Blick auf den Korb mit Äpfeln in meiner Hand, und sie schmunzelt.
»Wir kommen nicht alle aus Ashtown, Caramenta«, sagt sie. »Manche von uns haben in ihren Heimatländern Obstbäume.«
Ich senke den Blick. Die meisten Traverserinnen stammen aus Lagern in der Nähe der abgeriegelten Städte, und ich bin einfach davon ausgegangen, dass die anderen Käffer genauso sind wie mein Ödland. Starla kommt aus der Nähe von Ira City im Nahen Osten, einer der größten und ältesten ummauerten Städte an einem Punkt zwischen den ehemaligen Staaten Irak und Iran. Vielleicht quellen die Siedlungen außerhalb von Ira über vor lauter Obst und Weißbrot und den ganzen anderen Dingen, die es in Ashtown nicht gibt.
Ein Mann läuft zu schnell mit seinem Karton, und man hört Gläser klirren. Sie schaut ihn an, als würde er ihr Baby am Fuß durch die Gegend schleifen. Sie wirkt, als wolle sie gleich losbrüllen – im Büro ist sie wegen ihres Jähzorns berüchtigt –, aber ihr Blick huscht zu einer der Polizistinnen, und sie schluckt es hinunter. Sie schäumt, aber sie kann nichts tun.
»Ich habe halt gedacht, das wäre etwas für dich. Ist ja ein langer Flug.« Ich halte ihr den Korb hin. »Du kannst mich trotzdem hassen, auch wenn du sie nimmst.«
Wieder lächelt sie, mit breitem Mund. »So werde ich’s machen.«
Schließlich greift sie nach dem Korb, aber mehr aus Mitleid, als weil sie das Obst mag.
»Ich werde dich vermissen«, sage ich.
»Dann halte nach mir Ausschau«, sagt sie. »Ich fehle nur auf ein paar hundert Welten, und das ist jetzt eine weitere davon. Ich empfehle dir mein Ich von Erde 83. Das ist mein Lieblings-Ich.«
Eine Frau in einem Overall erklärt den Beamten, dass alles ausgeräumt sei, worauf sie Star wegschieben. Über die Schulter schaut sie zu mir zurück.
»Vergeude deine Zeit nicht mit Schuldgefühlen«, sagt sie. »Du wirst schnell genug drankommen.«
Nur über meine Leiche … Aber das braucht sie nicht zu hören. Und am allerwenigsten braucht sie Zeuginnen. Denn bei der beschämenden Abführung eine Zeugin zu haben macht es nur noch schlimmer, selbst wenn es eine Freundin ist. Deshalb nicke ich ihr zum Abschied nur zu und wende mich ab.
Es gibt unendlich viele Welten. Welten um Welten bis ins Absurde, was heißt, dass es wahrscheinlich Welten gibt, in denen ich eine Pflanze bin oder ein Delfin oder in denen ich nie einen Atemzug getan habe. Aber diese Welten können wir nicht sehen. Die Maschine von Eldridge kann nur Frequenzen lesen und imitieren, die unseren ähnlich sind, und jedes Atom des Planeten trägt zu der Symphonie bei. Man sagt, dass Dinge wie Mineralien und Öl leichter transportiert werden können, wohingegen Menschen in der Zielwelt nicht existieren dürfen – denn deren Struktur ist so sehr von der der Welt eigenen Frequenz beeinflusst, dass kein Doppelgänger möglich ist. Bevor wir 382 verloren haben, erkannten wir die Vorzeichen von Krieg. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Atombomben es braucht, um den Gesang einer Welt so sehr zu ändern, dass wir ihn nicht mehr hören, aber wir haben 382 innerhalb einer Stunde verloren. Ein Ruck, und das Signal wurde schwächer. Ein zweiter Ruck und dann nichts mehr.
Es sollte uns mehr Angst machen, als es tut, aber das war ohnehin schon fremdes Territorium. Deshalb hatte die Welt auch die höchste Nummer. Jede Zahl bezeichnet ein Maß der Abweichung, eine leichte Veränderung gegenüber unserer eigenen Frequenz. Die Erden 1 bis 10 sind uns so nah, dass es sich kaum lohnt, sie zu besuchen. Wenn ich von dort Infos ziehe, was nicht öfter als zweimal im Jahr geschieht, dann nur um zu überprüfen, ob die Daten immer noch exakt mit unseren übereinstimmen. Drei der Welten, in denen ich noch lebe, gehören zu den ersten zehn.
Es verschafft mir eine gewisse Genugtuung, an Orte zu reisen, an denen ich tot bin, und dort Dinge zu berühren, die ich eigentlich nie hätte zu Gesicht bekommen sollen. In meiner Wohnung bewahre ich in versiegelten Beuteln eine Sammlung von Objekten aus allen Welten auf, in denen ich war. Katalogisiert habe ich sie nicht, aber ich kann jedes Objekt auf der Stelle zuordnen: Erde von der Stelle, an der in einer Welt die Hütte meiner Kindheit gestanden hätte, wenn die Slums sich dort so weit ausgedehnt hätten; glatte Steine aus einem Fluss, der in meiner Welt seit Jahrhunderten ausgetrocknet ist; ein Jadeohrring von einem Mädchen aus einer anderen Welt. Sie wollte, dass ich mich an sie erinnere, aber da sie nicht wusste, woher ich komme, durfte ich sie nur eine Nacht lang lieben. Es sind Hunderte, und wenn ich von Erde 175 zurückkehre, wird es ein Objekt mehr sein.
Die Welten, die in unserer Reichweite liegen, sind unserer im Hinblick auf Atmosphäre, Flora und Fauna sehr ähnlich, weshalb die meisten Viren dort bereits existieren. Für alle Fälle versiegele ich meine Andenken in Beuteln, die man bei Eldridge zum Sammeln von Proben nutzte, bevor dort niemand mehr Biologe spielen wollte und die Firma sich lieber auf Bergbau und Datenerhebung konzentrierte.
Ich starre meine Kleider an und rätsle, welche ich mitnehmen soll. Es ist nicht leicht, jemanden in Ashtown zu besuchen, wenn man in Wiley lebt. Nicht viele Leute verkehren zwischen den beiden Orten. Sicher, Leute aus Wiley gehen aus touristischen Gründen nach Ashtown, und manchmal bekommen junge Leute aus Ashtown Stipendien an einer Schule in Wiley, aber niemand versucht, zu beiden Orten zu gehören. Wiley City ist wie die Sonne, und Ashtown ist ein schwarzes Loch, und es ist fast unmöglich, dazwischenzustehen, ohne auseinandergerissen zu werden. Während meiner Zeit in der Stadt habe ich Klamotten angehäuft, in denen ich aussehe, als hätte ich mich noch nie in Ashtown aufgehalten. Wäre ich schlauer gewesen, hätte ich einen Satz Ashtown-Kleider für diese Besuche behalten, anstatt aufzufallen wie ein Spiegel in der Wüste. Aber im Grunde meines Herzens möchte ich auffallen. Ich möchte nicht so aussehen, als würde ich dorthin gehören, denn eines Tages möchte ich so tun, als hätte ich es nie getan.
Ich fummle gerade an einer Bluse herum, die ich nicht mitnehmen kann – schwarze Kunstseide, nichts, was ein einstiges frommes Ruralitenmädchen tragen würde –, als meine Schwester anruft.
Statt mit einem Gruß meldet sie sich mit einem wütenden Grunzen.
»Laufen die Vorbereitungen so gut, was?«, sage ich und lasse mich aufs Bett plumpsen. Esther ist noch Teenagerin, aber sie kommt mir älter vor, weil sie so viel Verantwortung geerbt hat.
»Ist schon gut«, sagt sie etwas geziert und gepresst. Ruralitinnen dürfen nicht wütend sein, zumindest nicht auf andere Leute, denn das würde gegen ihr Gebot des unendlichen Mitgefühls und Verständnisses verstoßen.
»Ist Michael immer noch zu nichts zu gebrauchen?«
Niemand stellt Esthers Glauben und ihr Temperament so sehr auf die Probe wie ihr Zwillingsbruder.
»Cara, du weißt, dass vor Gott alle Menschen Wert und Nutzen haben. Michael wäre für die Weihe eine wertvolle Hilfe … wenn er zu irgendeiner Vorbereitung erschienen wäre.«
Ah, da ist sie, Esthers Wut – und auch wenn sie es noch so sehr zu verschleiern versucht, das Gift ist doch tödlich.
»Und jetzt hat auch noch Vetter Joriah angekündigt, vielleicht vorbeizuschauen, und …«
Ich wälze mich vom Bett herunter. »Joriah?«
»Ja, du erinnerst dich doch. Groß, rothaarig? Er ist eine Weile zu uns rausgezogen, als wir noch klein waren, aber dann ist er als Missionar in die Wüste gegangen.«
Natürlich erinnere ich mich nicht. Wie auch?
»Jetzt hockt er in irgendeinem kleinen Ort auf der anderen Seite des toten Lands, aber Dad meint, er würde die Pilgerreise auf sich nehmen.«
Sie redet weiter, aber ich höre ihr nicht zu. Ich greife unters Bett und zerre meine Kiste mit Tagebüchern hervor. Esther sagte, als wir noch klein waren, deshalb suche ich ein Tagebuch aus der Zeit heraus, als Esthers Vater und meine Mutter schon verheiratet waren. Caramenta, 13 Jahre alt, steht auf dem Umschlag. Dann müsste Esther fünf gewesen sein.
»Hey, ich muss jetzt los, aber wir sehen uns ja bald.«
Mit einem Tastendruck auf meiner Manschette beende ich die Verbindung zu Esther und blättere dann das Tagebuch durch. Schließlich finde ich einen Eintrag, in dem Joriahs Einzug erwähnt wird. Ich blättere weiter, bis er wieder auszieht, und lese alles, was über ihn drinsteht. Anscheinend war er sehr witzig. Körperhygiene war allerdings nicht seine Stärke. In späteren Tagebüchern entdecke ich weitere Erwähnungen, aber dann ist es an der Zeit, aufzubrechen. Meine Mutter schreit mich zwar nicht an, wenn ich zu spät komme – wie sie es früher getan hat –, aber sie hüllt sich in dieses traurige Schweigen einer Märtyrerin, das ich nicht ausstehen kann. Ich räume die Tagebücher weg. In ihnen heißt Joriah immer nur »Jori«. Ich flüstere beide Varianten, damit es später nicht so klingt, als spräche ich die Namen zum ersten Mal aus.
Ich habe viele Dinge aus meiner Vergangenheit entsorgt, aber die Tagebücher behalte ich. Ich lese sie wie die Daten einer anderen Welt, studiere die Menschen, die mich lieben. Heute schreibe ich kein Tagebuch mehr. In meinem derzeitigen Notizbuch führe ich nur Listen. Damit habe ich angefangen, um mich im Eldridge-Code zu üben. Deshalb weiß ich nicht recht, ob das zählt. In der Schachtel unter meinem Bett befinden sich Tagebücher für jedes Jahr, für manche Jahre sind es sogar zwei. Das jetzige Buch habe ich nun schon seit sechs Jahren, und es ist immer noch nicht voll. Vielleicht weil es inzwischen nur noch wenige Dinge gibt, deren ich mir sicher bin.
Seit sechs Jahren wohne ich in Wiley City. In weiteren vier Jahren werde ich eingebürgert. Jetzt bin ich nirgends. Ich wohne in Wiley, bin vor dem Gesetz aber noch aus Ashtown, und beide können mich nicht so richtig für sich beanspruchen. Ein Zwischenstadium, nichts anderes als die von Sternen gesäumte Dunkelheit, durch die ich zwischen den Welten reise. Die Dunkelheit ist es wert, denn ich weiß, was mich auf der anderen Seite erwartet.
Gründe, warum ich gestorben bin:
Der Kaiser des Ödlands wollte an meiner Mutter ein Exempel statuieren und hat bei mir angefangen.
Einer der Liebhaber meiner Mutter wollte vertuschen, was er mir angetan hat.
Ich kam als Drogenabhängige zur Welt, und meine Lunge hat sich nicht entwickelt.
Ich kam als Drogenabhängige zur Welt, und mein Gehirn hat sich nicht entwickelt.
Ich wurde allein gelassen, und ein Fremder kam vorbei.
Die Runner jagten jemanden aus der Nachbarschaft, und ich war im Weg.
Die Runner jagten meine Mutter, und ich war im Weg.
Die Runner jagten den Liebhaber meiner Mutter, und ich war im Weg.
Die Runner jagten niemanden, suchten nur Terror und Chaos und fanden mich.
Manchmal wurde ich einfach in der Hütte vergessen, in die mich meine Mutter brachte, wenn sie arbeiten oder sich Meth einwerfen ging, und während sie high war und die Sonne knallte, schlief ich ein – allein, hungrig und für immer.
Gründe, warum ich überlebt habe:
Keine Ahnung, aber es gibt acht.