Helen Fisher
Roman
Aus dem Englischen von
Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
Knaur eBooks
Helen Fisher verbrachte ihre Kindheit in Amerika, den Großteil ihrer Jugend jedoch in Suffolk, wo sie heute mit ihren beiden Kindern lebt. Sie studierte Psychologie an der Westminster University und Ergonomik an der UCL und arbeitete als Gutachterin in der Forschung. Zurzeit ist sie am West Suffolk College tätig. DIE ZEITSPRINGERIN ist ihr erster Roman.
© 2020 Helen Fisher
© 2021 für der deutschsprachigen Übersetzung Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Der Auszug aus dem Gedicht »Ein Abschied: Mit dem Verbot zu trauern« wurde entnommen aus:
John Donne: Alchimie der Liebe
Ausgewählt, übertragen sowie mit einem Nachwort und Anmerkungen versehen von Werner von Koppenfels.
Copyright der deutschsprachigen Übersetzung © 1996, 2004 Diogenes Verlag AG Zürich
Der Auszug aus dem Gedicht »Heaven« wurde entnommen aus:
Rupert Brooke: 1914 and Other Poems, London 1915.
Copyright der deutschsprachigen Übersetzung © 2020 Sebastian Wohlfeil
Covergestaltung: Nicole Pfeiffer
Coverabbildung: gettyimages / artvea; visualgo; Katsumi Murouchi
ISBN 978-3-426-45828-0
Meinen Kindern Cleo und Dylan gewidmet,
die gut, freundlich, klug und witzig sind.
Für immer in Liebe
Meine Mutterlosigkeit ist wie eine Zahnlücke: Ich spüre sie ständig, aber ich kann sie verbergen, solange ich den Mund halte. Also rede ich nur selten über meine Mutter.
Es ist ein trauriges Detail, mit dem ich in meine unglaubliche kleine Geschichte einsteige, aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe mein Leben. Ich bin eine ziemlich normale Frau von Mitte dreißig, ich habe zwei Töchter und einen Mann namens Eddie, der gerade eine Ausbildung zum Pfarrer macht. Er scheint davon auszugehen, dass ich die perfekte Pfarrersfrau abgeben werde, aber ich weiß noch nicht so recht, ob ich der Herausforderung gewachsen bin. Im Vergleich zu meinem Mann bin ich eher rational veranlagt, gehe die Dinge lieber von der wissenschaftlichen Seite her an. Andererseits müsste ich nach allem, was ich in letzter Zeit erlebt habe, eigentlich alles für möglich halten.
Eddie behauptet, ich hätte sämtliche notwendigen Eigenschaften für eine Pfarrersfrau, und ich muss zugeben, dass ich mich für einen guten Menschen halte. Zum Beispiel können Sie mir alles anvertrauen, ich werde mir kein Urteil erlauben, und falls ich mich doch mal über etwas wundern sollte, lasse ich es mir nicht anmerken. Ich bin Eddie gegenüber immer ehrlich gewesen, das war von Anfang an klar zwischen uns: keine Lügen.
Bis jetzt.
Jetzt bin ich eine Lügnerin. Jetzt bin ich eine Diebin.
Und ich kann nicht einmal mehr guten Gewissens behaupten, ich sei normal. Aber das sollen Sie selbst beurteilen. Meinen Mann anzulügen, macht mich ganz krank, und ich will unbedingt damit aufhören, aber Lügen sind wie Zehen – sie treten nie einzeln auf. Das Schlimmste ist, dass ich angefangen habe, meine Mutter zu besuchen, und diese Tatsache verheimliche; und als mein Mann wissen wollte, woher all die blauen Flecken und Schrammen an meinem Körper stammen, habe ich auch gelogen. So viele Lügen. Wenn ich Eddie die Wahrheit sagen würde, dann würde er, lieb, wie er ist, versuchen, mich zu verstehen. Aber logisch betrachtet ist es wahrscheinlicher, dass er mich für verrückt hält.
Vielleicht tue ich ihm ja auch unrecht, denn er liebt und braucht mich genauso, wie ich ihn liebe und brauche, und im Lauf der letzten Monate ist mir etwas Wichtiges klar geworden. Ich kann Eddie nicht sagen, was los ist, so gern ich es auch täte. Nicht, weil er mir nicht glauben würde, sondern weil er mir tatsächlich glauben könnte.
Und wenn das passiert und Eddie mir glaubt, wird er versuchen, mich aufzuhalten.
Aber lassen Sie mich zum Anfang zurückgehen. Wenn ich nur wüsste, wo genau der Anfang ist. Die Zeit ist nicht so leicht zu verstehen, wie ich es einmal geglaubt habe.
Begonnen hat es mit dem Foto und dem Karton. Ach je, ich schreibe begonnen, wobei wir wieder beim Anfang wären. Okay, wir machen es anders. Über das Thema »Anfang« und das, was das wirklich bedeutet, könnte ich ins Philosophieren geraten, aber darauf möchte ich jetzt nicht eingehen. Und da Sie ja, was die Situation betrifft, noch gar nicht im Bilde sind, schlage ich vor, dass wir das Thema vorerst beiseitelassen (es wird wieder auftauchen, das verspreche ich Ihnen). Sagen wir einfach so: Es ist das Vernünftigste, die Geschichte mit dem Foto zu beginnen.
Es ist ein Foto, wie es unzählige Menschen besitzen. Man findet es in einem Buch, das man seit Jahren nicht mehr aufgeschlagen hat, oder es fällt aus einem alten Album, weil die Fotoecken nicht mehr haften. Ich wette, bei Ihnen findet sich auch so ein Foto in irgendeinem alten Schuhkarton, versteckt zwischen anderen Überresten Ihres Lebens wie Liebesbriefen, Postkarten und Tauffotos von unbekannten Säuglingen. Mein Foto ist aus einem Kochbuch herausgefallen, das keine Bilder enthält, dafür aber Fettflecken auf den Seiten mit den Lieblingsrezepten, schokoladige Fingerabdrücke und handgeschriebene Notizen. Meine Mutter, der das Kochbuch einmal gehörte, war eine leidenschaftliche Naschkatze; die am schlimmsten beschmierten Seiten sind die mit den Rezepten für Brownies und für Sticky-Toffee-Pudding.
Auf dem Foto bin ich zu sehen. Auf der Rückseite steht »Faye, Weihnachten 1977«. Ich habe das Foto umgedreht, und die sechsjährige Faye von vor dreißig Jahren strahlte mich an. Rosige Wangen, braune Augen, wilde Locken. Auf dem Foto hocke ich in einem Karton, in dem sich ein Hüpfball befunden hatte, und sehe aus wie eine Puppe, die am Weihnachtsmorgen aus ihrer Geschenkverpackung steigt. Ich trage einen ziemlich flauschigen rosa Bademantel mit einem kleinen, runden Kragen, und der Weihnachtsbaum hinter mir ist mit bunten Lichtern und Lametta geschmückt. Ich sehe total glücklich aus. Was sonst? Ich bin ein Kind, es ist Weihnachten, und meine Mutter machte ein Foto von mir. Es war bestimmt ein vollkommen sorgloser Tag. Meine Mutter, an die ich kaum Erinnerungen habe, wird die Liebe im Blick ihrer kleinen Tochter genossen haben. Meine Liebe. Ich habe genauer hingeschaut, versucht, hinter das Offensichtliche zu blicken, mehr zu sehen, als das Foto mir zeigen konnte.
Ich arbeite bei RNIB, einer gemeinnützigen Organisation für Blinde, wo ich Produkte für Menschen entwickle, die entweder stark sehbehindert oder blind sind. Vor einem Jahr habe ich zum Thema Hightech-Kameras recherchiert. Ein Blinder, mit dem ich zusammenarbeite – mein Freund Louis –, beteiligte sich lebhaft an den Diskussionen über Kameras der Zukunft und was sie würden leisten können. Sein größter Wunsch war es, ein Foto in die Hände nehmen und ertasten zu können, was darauf abgebildet war, und zwar nicht nur das, was man sehen konnte, sondern auch, was hinter dem Bild lag. Er sagte, er wollte den Leuten auf den Fotos einen Arm um die Schultern legen, und er war sich ganz sicher, dass das eines Tages möglich sein würde. Er ist von Geburt an blind, und ich glaube, er vermutet, dass Sehende schon jetzt mehr auf Fotos erkennen, als tatsächlich möglich ist.
Aber ich verstehe, was er meint, denn wenn ich das Foto von mir vor dem Weihnachtsbaum betrachte, möchte ich am liebsten hineingreifen und das Gesicht meiner Mutter berühren. Sie ist auf dem Bild nicht zu erkennen, und doch ist sie da. Ich verspüre den verzweifelten Wunsch, sie zu sehen und anzufassen, in das Bild zu steigen und ein paar Minuten mit ihr unter dem Weihnachtsbaum zu verbringen.
Jetzt wissen Sie also, dass ich meine Mutter schon vor langer Zeit verloren habe. Ich erwähnte bereits, dass ich angefangen habe, sie zu besuchen, und dass Eddie, wenn er davon wüsste, versuchen würde, mich davon abzuhalten. Und Sie werden sich denken können, dass Eddie, würde ich meine Mutter auf dem Friedhof besuchen, kein Problem damit hätte. Bitte, wenden Sie sich nicht von mir ab, wenn ich Ihnen erzähle, was ich neuerdings tue. Versetzen Sie sich in meine Situation und stellen Sie sich vor, Sie würden Ihrem Lebensgefährten, Ihrem Chef oder Ihrer besten Freundin von so etwas erzählen. Ich glaube, Sie würden ebenfalls lügen, denn wenn Sie behaupteten, Sie sagten die Wahrheit, würden Sie in der Klapsmühle landen.
Kann es sein, dass Sie verächtlich schnauben oder mitfühlend lächeln? Oder dass Sie sich zurückziehen und hinter sich nach der Türklinke tasten? Ich möchte nicht, dass Sie das tun. Ich möchte, dass Sie mir mit ernster Miene in die Augen sehen und sagen: »Weiter!« Und wenn Sie das tun, dann erzähle ich Ihnen meine Geschichte zu Ende.
Ich besuche meine Mutter, die gestorben ist, als ich acht Jahre alt war, und ich rede nicht vom Friedhof, ich rede von Besuchen, bei denen wir uns bei Tee und Keksen persönlich gegenübersitzen.
So, jetzt ist es heraus. Wenn Sie nicht mehr weiterlesen wollen, habe ich Verständnis dafür.
Die Menschen, die mir am meisten bedeuten, sind Esther und Evie. Dann kommt Eddie. Aber es ist nicht ganz so einfach, denn da sind auch noch Cassie und Clem, meine besten Freundinnen, die für mich wie Schwestern sind, die ich nie hatte. Aber wenn ich mir selbst Schwestern erschaffen oder aussuchen hätte können, dann wären sie es geworden. Einmal, es muss nach zwei Uhr nachts gewesen sein, redeten wir drei darüber, wem wir den letzten Rettungsring zuwerfen würden, wenn wir uns auf einem sinkenden Schiff befänden und alle anderen, einschließlich unserer Kinder, im Wasser wären. Als ich mit meiner Antwort zögerte, bekam ich nicht nur Schimpfwörter an den Kopf, sondern auch ein Kissen ins Gesicht geworfen. Ein natürlicher Impuls wäre es, einem meiner Kinder den Rettungsring zuzuwerfen, aber ich dachte, Rette denjenigen, der deine Lieben rettet. Also sagte ich: Eddie. »Und was ist mit uns?«, jammerte Clem, und dann wollte sie wissen, wem ich den Rettungsring zuwerfen würde, wenn nur sie und Cassie im Wasser wären. Und das war wirklich eine noch viel schwierigere Frage. Wenn man ohne Familie aufwächst und dann am College Mädchen wie Cassie und Clem kennenlernt, dann hat man auf einmal eine Familie.
Mein Leben bestand aus meinen Töchtern, Eddie, unseren Freunden, Arbeit und Haushalt. Das war so ziemlich alles, und es lief rund. Aber dann ist diese Sache passiert, die alles in Mitleidenschaft gezogen hat. Mein Fokus hatte sich verändert, und das Leben war plötzlich nicht mehr einfach.
Seit ich das Foto gefunden habe, steckt es immer in meiner Brieftasche, als wäre es ein Glücksbringer. Ich habe zwar Angst, es zu verlieren, aber ich muss es unbedingt bei mir haben. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel und so intensiv an meine Mutter gedacht und daran, was mir alles entgangen ist. Und wenn ich meine Kinder anschaue, denke ich, wie viel ihr entgangen ist. Als ich so alt war, wie meine Töchter jetzt sind, war sie schon tot.
In meiner frühen Kindheit gab es nur uns beide. Keinen Vater und auch sonst keine Angehörigen. Ich habe ein paar flüchtige Bilder von meiner Mutter im Kopf, aber die sind wie Schmetterlinge, sie flattern in mein Blickfeld und wieder davon, ehe meine Augen sie richtig erfassen können. Und als meine Mutter gestorben ist, also davon habe ich auch keine klaren Bilder, nur ein Gefühl von Verlust, aber auch von Erwartung und Fassungslosigkeit. Ich dachte, sie würde wiederkommen, ich glaubte tatsächlich, ich würde sie wiedersehen. Sie war krank, das wusste ich; sie hatte einen schlimmen Husten und war furchtbar erschöpft, auch wenn sie immer ein Lächeln für mich hatte. Ich konnte mir jederzeit Streicheleinheiten bei ihr abholen: einfach die Tür aufmachen, auf nackten Füßen über den Teppich laufen, ins Bett klettern, mich in ihre Arme werfen, ihre Wärme spüren. Die Erinnerung ist ein bisschen vage, aber es ist ein schönes Gefühl. Und dann, eines Morgens, bin ich aufgewacht, und sie war weg. Ich bin die Straße runtergelaufen und habe bei Leuten geklingelt, die ich kannte – ein altes Ehepaar. Ich habe ihnen gesagt, dass meine Mutter krank war und dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. In der Nacht habe ich bei ihnen geschlafen, bei Em und Henry, und in der nächsten Nacht auch. Sie haben viel telefoniert, es wurde viel geflüstert, und es kam ein Polizist, und alle erklärten mir, dass meine Mutter gestorben war, aber dass ich keine Angst zu haben brauchte. Schließlich bin ich für immer bei Em und Henry geblieben, das heißt, bis ich aufs College kam. Die beiden haben mir nie etwas darüber erzählt, was geschehen war, und ich habe mich nicht zu fragen getraut. Ein paarmal sind wir sonntags zu einem Friedhof gefahren und haben Blumen auf das Grab meiner Mutter gelegt, aber ansonsten war sie einfach aus meinem Leben verschwunden.
Ich hatte Fragen, auf die es wahrscheinlich keine Antworten gab, und die Lücken habe ich mit Vermutungen gefüllt. Ich vermute, dass sie an Krebs gestorben ist, aber eigentlich weiß ich das nicht so genau, denn warum ist nie ein Arzt gekommen, und warum hat sie nicht tot in ihrem Bett gelegen? Vielleicht ist das der Grund, warum ich wie Louis das Bedürfnis hatte, mehr aus dem Foto herauszuholen, als es mir geben konnte. Und je länger ich es betrachtete, und je länger ich den Karton anstarrte, der den Hüpfball enthalten hatte, desto mehr zerbrach ich mir den Kopf darüber, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.
Kurz nachdem ich meine Mutter verloren hatte und ich zu Em und Henry gezogen war, bekam ich mein neues Kinderzimmer, altmodisch, aber gemütlich eingerichtet, mit viel Rosa, und da, mitten im Zimmer, stand der Karton, in dem der Hüpfball gewesen war. Der Karton war ziemlich ramponiert, aber man hatte die Seiten mit braunem Paketband verstärkt. Ich öffnete ihn und sah, dass er alle meine Sachen enthielt. Offenbar waren Em und Henry zu dem Schluss gekommen, dass mein Aufenthalt bei ihnen von Dauer sein würde, und hatten ein paar von meinen Spielsachen aus unserem Haus geholt.
Ich reihte meine Schlümpfe ordentlich nebeneinander auf dem Teppich auf. Es waren fünf, sie waren aus Plüsch und fielen immer um. Als Nächstes kam mein Slinky. Ein weißes Telefon auf Rädern, es hatte Augen, die sich bewegten, wenn man es hinter sich herzog. Für dieses Spielzeug war ich eigentlich schon zu groß. Dann der Little Professor und Major Morgan. Ich legte sie nebeneinander wie zwei winzige elektronische Onkel, und ihre glücklichen Gesichter machten mich traurig. Ich schaltete den Little Professor ein, und auf dem Display erschien eine Matheaufgabe. Sie war zu leicht für mich, und ich beantwortete sie absichtlich falsch. Nach drei Versuchen verriet er mir lautlos die richtige Lösung, und obwohl ich ihn am liebsten an die Wand geworfen hätte, legte ich ihn sorgfältig wieder neben den Major. In dem Karton befanden sich auch ein Happy-Families-Quartett und meine Bücher, vor allem Romane von Enid Blyton, Der Zauberwald und Die neuen Abenteuer des Wunschstuhls zum Beispiel, dazwischen versteckt wie ein blinder Passagier das Kochbuch meiner Mutter, das einzige, das ich sie je hatte benutzen sehen, klein und eselsohrig, mit einem weichen, schwarzen Einband wie eine alte Bibel. Ich schlug das Kochbuch an einer Stelle auf, wo die Seiten besonders bekleckert waren, fuhr mit den Fingerspitzen über die Fingerabdrücke, die vermutlich von meiner Mutter stammten, und über die winzigen handschriftlichen Notizen am Rand der Seite, über das Häkchen, das sie neben eines ihrer Lieblingsrezepte gesetzt hatte. Dann klappte ich das Buch wieder zu, küsste es und legte es zu den anderen Büchern.
Ganz unten im Karton lag ein Paar Rollschuhe. Ich presste sie mir an die Lippen, die metallenen Rollen waren ganz rau von den vielen winzigen Steinchen, die sich beim Fahren hineingedrückt hatten. Die Rollschuhe waren verstellbar, und Henry half mir später, sie an meine jeweilige Schuhgröße anzupassen. Es befanden sich noch mehr Sachen in dem Karton. Ich nahm sie alle heraus und breitete sie auf dem rosafarbenen Teppichboden aus. Der Hüpfball lag in einer Zimmerecke, und mit seinem aufgemalten Gesicht schaute er mich an, als wüsste er etwas, das ich nicht wusste; sein Grinsen war mir unheimlich, und ich drehte ihn schließlich mit dem Gesicht zur Wand. Als der Karton leer war, faltete ich ihn zusammen und verstaute ihn im Wandschrank. Jahre später, als ich auszog, fiel er mir wieder ein, und ich verstärkte ihn noch einmal mit viel Paketband. Seitdem begleitet mich dieser Karton bei jedem Umzug.
Das nächste Mal habe ich den Karton in Eddies Arbeitszimmer wiedergesehen, und zwar an dem Tag, als ich eine Tasse Tee für Eddie aufgebrüht hatte und an seine Tür klopfte, um sie ihm zu bringen. Er drehte sich mit seinem Schreibtischstuhl um, nahm die Kopfhörer vom Kopf und stoppte das Video, das er sich gerade am Computer anschaute. Er streckte seine langen Beine aus und dehnte seine Finger, wie er es immer macht, wenn er eine Weile konzentriert gearbeitet hat.
»Was tust du gerade?«, fragte ich, stellte die Teetasse auf seinen Schreibtisch und fuhr ihm mit den Fingern durch das zerzauste braune Haar. Ist es unrecht, zu denken, dass Eddie für einen Pfarrer viel zu gut aussieht?
»Ich studiere das Buch der Offenbarungen und überlege, wie ich es im Gottesdienst verwenden kann.« Er zog mich an sich, und ich setzte mich ihm auf den Schoß und schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge.
»Du riechst gut«, sagte ich, und er umschlang mich mit den Armen. Er ist so groß, und ich bin so zierlich, dass ich manchmal denke, er könnte seine Arme zweimal um mich wickeln. Er massierte mir den Nacken mit dem Daumen. Ich lehnte mich zurück, um ihm in die braunen Augen zu sehen, und er küsste mich. Er ist der beste Küsser aller Zeiten. Das habe ich beim ersten Kuss gedacht, und ich denke es immer noch. Ich spürte, wie er eine Erektion bekam.
»Offenbarungen machen dich an?«, fragte ich lächelnd, ohne die Lippen von seinen zu lösen.
»Es ist ziemlich abgedrehtes Zeug.« Er küsste mich noch einmal.
»Nachher Lust auf ein bisschen abgedrehtes Zeug?«
»Mal sehen«, sagte er, und ich kniff ihn spielerisch in den Arm. Den Kopf immer noch an seiner Schulter, fiel mein Blick auf einen Karton in der Zimmerecke. Er wirkte ramponiert wie ein altgedienter Soldat, der eine Geschichte zu erzählen hat. Auf einer Seite befand sich ein ausgebleichtes Bild von einem Mädchen mit weißen Socken, schwarzen Schuhen und einem gelben, viel zu kurzen Kleid – Siebzigerjahre-kurz –, das auf einem Hüpfball hopste. Die Schrift war kaum noch zu entziffern, weil sie teilweise mit braunem Paketband überklebt oder ganz verschwunden war, da man Klebeband abgerissen hatte.
»Wo hast du den Karton gefunden?«, fragte ich und richtete mich auf.
»Auf dem Dachboden. Ich brauchte ein paar alte Lehrbücher und hab sie darin runtergetragen. Sieht ziemlich alt aus, oder?«
»Das ist der Karton auf meinem Foto«, sagte ich und schaute Eddie an.
»Welches Foto?«
»Na, das Foto von mir und meiner Mutter. Okay, sie ist nicht darauf zu sehen. Das Foto von mir vor dem Weihnachtsbaum.« Ich stand auf, um es aus meiner Handtasche zu holen, und kam damit zurück wie ein Kind mit einem Schatz, der nur ihm selbst und niemandem sonst etwas bedeutet.
Eddie nahm mir das Foto ab und fuhr mit der Fingerspitze über mein Kindergesicht. »Sieh mal einer an.« Er lächelte. »Du hast dich besser gehalten als der Karton«, sagte er. »Du bist immer noch hübsch, aber der Karton sieht aus, als wäre es ihm übel ergangen. Vielleicht sollten wir ihn wegwerfen.«
»Was?« Ich sprang auf, nahm ein paar Bücher aus dem Karton, hob ihn hoch und schlang schützend die Arme um ihn. »Wie kannst du so was sagen? Er ist auf meinem Foto. Ein Beweis, dass ich da war.«
»Aber so ramponiert, wie er ist, fällt wahrscheinlich der Boden raus, wenn man das nächste Mal was Schweres darin transportiert.«
»Du musst ihn ja nicht benutzen. Aber wag es nicht, ihn wegzuwerfen.«
Eddie hob die Hände, als spielten wir Räuber und Gendarm. »Okay, versprochen! Tut mir leid!« Er grinste mich an, als wäre ich ein verrücktes Huhn, das er aber heiß und innig liebte. Ich zog eine Grimasse, um ihm zu zeigen, wie verrückt ich sein konnte, wenn ich wollte, und drückte den Karton noch fester an mich.
Es klopfte an der Tür, und als ich mich umdrehte, stand Esther da, die Hände vor sich wie zum Gebet gefaltet.
»Hallo, Liebes«, sagte ich und stellte den Karton ab. Esther kam zu mir gelaufen und fiel mir um den Hals. Ich streichelte ihr über das glänzende braune Haar und kniff ihr zärtlich in ein Ohrläppchen. Ihre Ohrläppchen reizten mich immer dazu, daran zu knabbern. Sie löste sich von mir und hockte sich vor den Karton.
»Wie schön«, sagte sie und zeichnete mit der Fingerspitze die Umrisse des kleinen Mädchens in dem gelben Kleid nach, das etwa in ihrem Alter war. Das Mädchen wäre jetzt mindestens Anfang vierzig, ging es mir durch den Kopf, aber wie eine Zeitreisende aus den Siebzigerjahren war sie in Eddies Arbeitszimmer aufgetaucht. Wo sie wohl als Nächstes landen würde?
»Kann ich den Karton haben?«, fragte Esther.
»Nein«, antwortete ich ein bisschen zu hastig, und Esther sagte einfach nur »Okay«.
»Was willst du denn damit?«, fragte ich schuldbewusst, wie ich mich immer fühle, wenn ich den Mädchen etwas verweigere.
»Ich wollte das Bild ausschneiden. Das Mädchen sieht so schön aus, findest du nicht auch?«, erwiderte Esther, ohne den Blick von der Besucherin aus der Vergangenheit abzuwenden.
»Ja«, sagte ich und hockte mich neben meine Tochter, die immer alles Schöne ausschneidet, was sie in Zeitschriften und auf Postkarten findet. Einmal, als sie sechs Jahre alt war, hockte sie in ihrem Zimmer, die Zunge zwischen den Zähnen, eine winzige Schere in der Hand, und schnippelte an einem kleinen, alten, mit Goldschnitt versehenen Notizbuch herum, das sie für ein paar Cent bei einem Garagenflohmarkt gekauft und nie benutzt hatte. Auf meine Frage hin, was sie da machte, antwortete sie, das Gold sei das Beste an dem Buch, und sie wolle es abschneiden.
»Man muss das Leben nehmen, wie es ist«, sagte ich.
»Das versteh ich nicht«, antwortete sie, immer noch auf ihre Aufgabe konzentriert.
»Es bedeutet, dass sich das Gute manchmal nicht vom weniger Guten trennen lässt und dass wir das akzeptieren müssen.«
»Ich weiß, was es bedeutet, aber ich versteh nicht, warum wir nicht alles Gute haben können. Wir sind alle gut, du und Daddy und ich und Evie und unser Haus. Hier gibt es nichts, was nicht gut ist.«
»Und wenn ich euch ausschimpfe?«, fragte ich. Sie hörte mit dem Schnippeln auf und schaute mich nachdenklich an. »Sogar, wenn du mich ausschimpfst, ist es gut, weil ich weiß, dass du mich lieb hast. Wenn eine andere Mummy mich ausschimpfen würde, wär das nicht gut.«
»Da hast du recht«, stimmte ich ihr zu.
Aber nachdem Esther den ganzen Goldschnitt abgeschnippelt hatte, sah das Notizbuch ziemlich zerfleddert aus, und die goldenen Ränder waren auch nicht schön. Als sie anfing zu weinen, habe ich sie in die Arme genommen und getröstet und musste an meine Mutter denken. Esther hatte recht: Wie sehr hätte ich mir gewünscht, meine Mutter wäre da, und sei es nur, um mich wegen irgendetwas auszuschimpfen.
»Dieser Karton ist mir wichtig«, sagte ich jetzt zu Esther.
In dem Moment kam Evie herein, den Daumen im Mund, der vom Lutschen schon ganz schrumpelig war, und die Haare in alle Richtungen abstehend, so als hätte sie gerade geschlafen – dabei sieht sie eigentlich immer so aus: verträumt und nachdenklich. Ich setzte mich auf den Boden, und Evie kletterte mir auf den Schoß. Den Kopf schief gelegt, streckte sie die Hand nach dem Karton aus. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, als wären wir alle mit dem Karton verbunden, Esther und Evie, die ihn befühlten, ich, die ich Evie auf dem Schoß hielt und ihn auf diese Weise indirekt berührte, und sogar Eddie, der mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl saß und uns betrachtete wie ein paar kleine Kätzchen, war mit ihm verbunden durch den Teppichboden, auf dem der Karton und seine Füße standen.
»Warum ist dir der Karton denn so wichtig, Mummy?«, fragte Esther, und Eddie beugte sich vor und gab ihr das Foto.
»Was glaubst du, wer das ist?«, fragte er. Evie rutschte auf meinem Schoß ein bisschen nach vorn und hörte auf, an ihrem Daumen zu nuckeln, ohne ihn jedoch aus dem Mund zu nehmen. Die Kinder betrachteten das Foto.
»Bin ich das?«, fragte Evie.
Esther blickte von dem Foto auf und schaute ihre Schwester an. »Es sieht ein bisschen aus wie Evie, aber das ist nicht ihr Bademantel.«
Es stimmte. Evie war ungefähr genauso alt wie ich auf dem Foto, und abgesehen vom Haarschnitt sahen wir fast gleich aus.
»Das bin ich«, sagte ich und nahm ihnen das Foto vorsichtig ab. »Seht ihr, worin ich da hocke?«, fragte ich.
»Der Karton!«, rief Esther und betrachtete den ramponierten Karton, der vor ihr stand.
»Der ist ja uralt«, sagte Evie.
»Hm. Ungefähr so alt wie ich«, sagte ich und tat so, als wäre ich beleidigt.
»Aber der Karton ist nur ein oller Karton«, sagte Evie, »und du bist unsere liebe Mummy.« Sie kuschelte sich an mich, und einen Moment lang war ich überwältigt von der Wärme, die mir aus allen Richtungen entgegenströmte, von Esther und Evie und von Eddie, der auf uns aufpasste. Doch wie immer in solchen Momenten empfand ich gleichzeitig eine große Leere. Als befände sich in meinem Innern ein Korridor mit einer Tür an einem Ende, und jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, alles wäre gut, öffnete sich die Tür, und kalte Luft wehte herein und erinnerte mich an das, was mir schon so lange fehlte. Meine wunderbare Mutter. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich schaute Eddie an, der nickte und mich anlächelte, als wüsste er, was in mir vorging. Aber er wusste es nicht, jedenfalls nicht alles.
»Also, kann ich den Karton haben?«, fragte Esther.
»Nein«, sagte ich sanft. »Ich brauche ihn noch, auch wenn ich nicht sagen kann, warum.«
Evie, die genau wusste, wie sehr es mir widerstrebte, den Kindern etwas zu verwehren, nutzte den Moment aus.
»Mummy, können wir Popcorn machen und einen Film anschauen?«
»Also, da sage ich nicht Nein«, antwortete ich, und die Mädchen jubelten.
Eddie setzte sich die Kopfhörer auf und wandte sich wieder seinem Computer zu. Ich machte Popcorn, dann kuschelten wir drei uns aufs Sofa und schauten uns Mary Poppins an. Zum x-ten Mal.
Während mein Mann und meine Kinder beschäftigt waren, entschloss ich mich, den Karton zurück auf den Dachboden zu schaffen, wo ihm weder Scheren noch Mülltonnen zur Gefahr werden konnten. Ich stieg auf einen Stuhl und zog die Klappe in der Decke auf. Es ertönte ein Klicken, dann glitt die schwere Leiter so schnell nach unten, als befürchtete sie, ich könnte es mir anders überlegen. Mit einem metallischen Knirschen kam sie auf dem Boden auf, und ich hätte beinahe die Finger eingeklemmt. Den Karton in einer Hand, um mich mit der anderen an den kalten Sprossen festhalten zu können, stieg ich auf den Dachboden. Oben angekommen, tastete ich nach der Schnur an der von der Decke baumelnden Glühbirne, die den Raum jedoch nur schwach beleuchtete. Neben der Bodenöffnung lag eine klobige gelbe Taschenlampe. Ich schaltete sie ein und zog den Karton hinter mir her.
Es war warm auf dem Dachboden – die Sommersonne brannte aufs Dach –, und es roch angenehm wie in einer Autowerkstatt. Ich mag diesen Geruch, er ist zugleich frisch und abgestanden, und er erinnerte mich daran, dass der Dachboden kein Ort ist, der zu unserem Alltag gehört, sondern ein Ort der Vergangenheit, wo wir Dinge aufbewahren, die in unseremLeben keine Rolle mehr spielen, von denen wir uns aber auch nicht trennen können. Ach ja, und natürlich den Weihnachtsschmuck.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, den Karton vor mir. Ich trug einen ausgeleierten alten Pullover – er gehörte Eddie – und Jeans. Der Pullover war mir viel zu groß, doch ich liebte ihn. Ich war barfuß, aber froh, dass meine Arme und Beine bedeckt und geschützt waren. Ich fasste mein wildes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe durch den dunklen Raum wandern. Ich steige nicht oft hierherauf. Ebenso wie die dunklen Nischen meiner Erinnerung ist der Dachboden ein Teil des Hauses, den ich eher meide, aus Angst, die Relikte der Vergangenheit könnten etwas in mir öffnen, das ich im Verborgenen lassen möchte. Für mich ist das gefährliches Terrain, das zu erkunden ich gewöhnlich lieber Eddie überlasse. Aber da ich den Karton niemandem anvertrauen wollte, hatte ich mich entschlossen, ihn selbst nach oben zu schaffen und in Sicherheit zu bringen. Und da ich nun schon mal hier oben war, konnte ich mich auch gleich umsehen. Beim ersten Anzeichen einer Spinne würde ich jedoch die Flucht ergreifen, sagte ich mir.
Der Dachboden zeigte sich mir wie eine Serie von Schnappschüssen, als ich die Taschenlampe auf verschiedene Gegenstände richtete. Es gab Stapel von Plastikbehältern, die vollgestopft waren mit Büchern und Aktenordnern, große Pappkartons mit Beschriftungen wie »Küche« und mehrere kleine, mit Kordel verschnürte Pappkartons, an denen ein Zettel hing mit der Aufschrift: »Wichtig! Nicht wegwerfen!«
Ich entdeckte eine Plastikbox von McDonald’s, die aussah wie ein Haus von der Größe eines Fußballs. Ich öffnete sie und stellte fest, dass sie mit bunten Murmeln gefüllt war. Wieso heben wir dieses ganze Zeug auf?, dachte ich. Aber ich gebe zu, ich wollte es auch nicht nach unten tragen und in die Mülltonne werfen. Es ist schwierig, sich von Erinnerungsstücken zu trennen, und zu einfach, sie aufzubewahren.
Wenn wir an den Strand gehen, sammeln Evie und Esther Steine, die sie Eddie und mir geben. Wenn einer ganz besonders glatt oder rund ist, wenn er aussieht wie ein Gesicht oder ein Hund oder ein Herz, erlangen diese kleinen, gewöhnlichen Gegenstände Schatzstatus. Sobald sie bewundert werden – und je länger sie in der Hand liegen –, fällt es den Kindern schwer, sich wieder von ihnen zu trennen. Sie landen in meinen oder Eddies Jackentaschen, und seine Hand zu halten und gleichzeitig die Steine in meiner Tasche zu spüren, das ist für mich Strandgefühl. Wenn wir schließlich mit völlig ausgebeulten Jackentaschen nach Hause kommen, weiß ich nie, was ich mit den Steinen machen soll. Inzwischen stehen überall im Haus mit Steinen gefüllte Kannen und Krüge herum. Ich habe sogar extra ein paar Glasvasen gekauft, in denen man die Steine bewundern kann. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie auf den Dachboden zu verbannen, es wäre eine Beleidigung für die Mädchen und für unsere gemeinsamen Strandspaziergänge. Aber es werden immer mehr Steine. Wahrscheinlich werden wir sie irgendwann wegschaffen müssen.
Wir bewahren Dinge auf, um an etwas festzuhalten, was uns wichtig ist, aber dabei sitzen wir einem Trugschluss auf. Wenn ich es nicht übers Herz bringe, diese Steine wegzuwerfen, dann schmerzt mich in Wirklichkeit der Verlust der schönen Tage mit meinen Töchtern. Mich schmerzt das Wissen, dass sie eines Tages, wenn ich zurückschaue, fort sein werden und ich mir vorkommen werde wie ein Ballon, der der Hand entwischt ist, die ihn hielt, und losgelöst von allem hoch oben am Himmel schwebt. Solange ich diese Steine habe, muss ich mir nicht eingestehen, dass diese Tage längst vergangen sind. Steine hin oder her, die Vergangenheit ist immer weit weg, egal, ob sie zehn Minuten oder zehn Jahre zurückliegt. Diese Dinge sind keine Brücken in die Vergangenheit, sie sind Brücken zur Erinnerung an die Vergangenheit, aber nicht die Vergangenheit.
So dachte ich zumindest, bevor ich auf den Dachboden gestiegen war.
Als ich schließlich wieder nach unten ging, sah ich es anders.
Der Lichtkegel der Taschenlampe bildete einen Tunnel zum anderen Ende des Dachbodens, und in dem Moment fühlte es sich tatsächlich so an, als führte er an einen anderen Ort und in eine andere Zeit. Ich sah einen braunen Koffer, den ich als Jugendliche mit nach Griechenland genommen hatte. Er enthielt die Babykleidung der Mädchen, von der ich mich nicht hatte trennen können. Aber jetzt kamen mir die Sachen vor wie aus einem Kuriositätenladen, und ich sagte mir, dass es an der Zeit war, sie zu verschenken. Auf dem Koffer klebte ein Aufkleber mit einem Bild von Shaggy in seinem grünen T-Shirt und seiner braunen Hose und einer Sprechblase, in der stand: »Scooby-Doo, wo bist du?« Als ich damals nach Griechenland gefahren war, hatte ich einen Freund, der eine Art Hippie war. Er trug genauso ein grünes T-Shirt wie Shaggy und auch die gleiche Frisur. Als er den Aufkleber auf meinem Koffer anbrachte, sagte er: »Schick mir Ansichtskarten. Dieser Aufkleber soll dich daran erinnern, dass ich mich die ganze Zeit fragen werde, wo du grade bist und was du machst.« Ich hatte den Aufkleber ganz vergessen und hätte mich wohl nie wieder an diesen Freund erinnert, wäre der Koffer nicht gewesen.
In dem Lichttunnel tauchten noch andere Sachen auf, die mir ein Lächeln entlockten: ein altes, beigefarbenes Telefon mit Wählscheibe und klobigem Hörer, ein hölzerner Tennisschläger, der Eddie gehört haben musste, ein Basketball, der ziemlich grau aussah, aber vermutlich wieder in Orange erstrahlen würde, wenn man den Staub abwischte. Ich entschloss mich, den Ball mit nach unten zu nehmen und Eddie zu bitten, hinterm Haus einen Basketballkorb anzubringen. Ich kann ziemlich gut werfen, und den Mädchen würde es Spaß machen.
Ich habe so wenige Erinnerungsstücke von meiner Mutter, ich habe so vieles verpasst. Ich mache Em und Henry keine Vorwürfe, aber ich finde, sie hätten mir mehr erzählen und auch mit mir über meine Mutter reden können. Sie waren kinderlos, und als sie mich bei sich aufgenommen haben, waren sie schon alt. Es war ein Glück für mich, dass sie sich so liebevoll um mich gekümmert und mich später sogar adoptiert haben. Sie waren wie liebevolle Großeltern, und ich nehme an, sie haben meine Mutter deshalb nie erwähnt, weil sie glaubten, mir dadurch den Verlust leichter zu machen. Sie haben mir erzählt, dass sie krank geworden und dann gestorben war, aber das wusste ich ja bereits; allerdings wusste ich nicht, dass man an einem Husten und einer Erkältung sterben konnte. Wenn ich heutzutage eine Erkältung bekomme, beunruhigt mich das dermaßen, dass ich Angst bekomme, dass meine Kinder ohne Mutter aufwachsen müssen.
Inzwischen ist mir klar, dass es etwas Ernsteres gewesen sein muss, aber damals glaubte ich, es wäre einfach eine Erkältung, und stellte diese Erklärung nicht infrage. Vielleicht hatte ich als Kind noch mehr Erinnerungen an meine Mutter, aber damals war sie für mich eine Figur wie in einem Märchen, das später zu dem geworden ist, was es für alle Erwachsenen ist: eine Illusion, eine Kindergeschichte mit einer Handlung, hinter der ein ganz anderer Sinn steckt. Es gab wenige Brücken zu meiner Mutter. Wahrscheinlich bedeutete mir deswegen dieses Foto so viel, auch wenn sie darauf nicht abgebildet war.
Ich seufzte. Ich hatte gewusst, dass ein Ausflug auf den Dachboden mich zum Nachdenken bringen, meine Erinnerungen wecken würde. Ich wollte mich erinnern, und zugleich wollte ich es nicht. Plötzlich wollte ich unbedingt wieder unten sein, in der Gegenwart und an dem Ort, den ich verstand, bei meinen Töchtern, die ich vor dem Fernseher lachen hörte. Ich wollte bei Eddie sein und mich von ihm küssen lassen.
Ich stand auf, den Karton in der Hand, und überlegte, wo ich ihn am besten verstauen konnte, ob ich ihn zusammenfalten oder so lassen sollte, wie er war. Klein, wie ich bin, hätte ich aufrecht gehen können, trotzdem zog ich instinktiv den Kopf ein, während ich auf meinen nackten Füßen tiefer in den Dachboden vordrang. Ich musste mir unbedingt die Zehennägel lackieren, kam es mir in den Sinn. Als ich einen Schritt zurück machte, stieß ich mir den Kopf an der Glühbirne. Sofort wurde es stockdunkel, bis auf den Strahl der Taschenlampe, und um mich herum hörte ich das leise Klimpern der Glasscherben. Automatisch kniff ich die Augen zu und betastete mein Gesicht. Ich öffnete die Augen wieder und richtete die Taschenlampe auf den Boden. Um meine Füße herum waren winzige Glasscherben auf der gelben Dämmwolle und auf den Holzdielen verstreut. Die konnten doch nicht von einer einzigen Glühbirne stammen, oder? Wenn ich jetzt einen Schritt machte, würde ich in die Scherben treten, und ich stellte mir vor, wie ich sie mir hinterher mit einer Pinzette aus der Haut zog. Vorsichtig stellte ich den Karton ab und stieg hinein; es war die einzige scherbenfreie Stelle.
Ich öffnete den Mund, um nach Eddie zu rufen, hoffte inständig, er würde mich hören, obwohl er Kopfhörer auf den Ohren hatte. Doch dann schloss ich den Mund wieder, noch ehe ich einen Ton von mir gegeben hatte. In dem Karton zu stehen, machte mich auf einmal unglaublich wehmütig. Mein Foto lag immer noch in Eddies Arbeitszimmer, aber ich hatte es ganz deutlich vor Augen, sah mich als Kind über den Rand des Kartons lächeln. Und ähnlich wie das Mädchen in dem gelben Kleid, das mir auf dem Hüpfball aus der Vergangenheit entgegenkam, war ich jetzt aus der Zukunft in den Karton aus der Vergangenheit gestiegen. Das kleine Mädchen, das ich damals gewesen war, hätte sich nie träumen lassen, dass sie eines Tages einmal in demselben Karton stehen würde, zu groß, um darin zu sitzen, aufgewachsen ohne die warmherzige Mutter, die es so lieb gehabt hatte.
Dann spürte ich, wie ich nach rechts sank. Es war irritierend, wie wenn man auf einem Stuhl sitzt, an dem ein Bein etwas kürzer ist als die anderen und es sich einen Moment lang anfühlt, als wäre die ganze Welt aus dem Gleichgewicht geraten. Dann passierte es wieder, diesmal auf der linken Seite. Anscheinend würde der Boden unter dem Karton gleich nachgeben, und ich würde durch die Decke fallen. Ich erstarrte, hielt den Atem an und schloss die Augen, aber nichts davon machte mich leichter oder ließ mich abheben. Und dann fühlte es sich so an, als würde der Boden aus dem Karton fallen, genau wie Eddie es vorausgesagt hatte.
Ich fiel schnell und senkrecht. So schnell, dass es mir den Atem raubte und mich am Schreien hinderte. Ich bewegte mich so schnell abwärts wie ein Seidenschal, der mit einem Ruck vom Kleiderhaken gerissen wird. Und es war stockdunkel.
Ich wusste, dass ich nicht durch die Decke gefallen war, denn wenn dem so gewesen wäre, dann wäre ich längst auf dem Fußboden aufgeschlagen. Ich strampelte mit den Beinen, suchte instinktiv Halt mit den Füßen. Die Fallgeschwindigkeit hinderte mich daran, die Arme am Körper zu halten, stattdessen waren sie über meinem Kopf ausgestreckt. Der Luftzug schob den weiten Pullover nach oben, er blieb kurz am Kinn hängen, dann glitt er mir über den Kopf und flog davon.
Nach oben strömende Luft füllte mir Mund und Nase, es war, als versuchte ich, durch die Nase zu atmen, während ich den Kopf bei voller Fahrt aus dem Autofenster streckte – nicht zu empfehlen, übrigens. Das Rauschen in meinen Ohren erinnerte mich daran, wie ich einmal hinter einem Wasserfall gestanden hatte, es war laut und dröhnend. Ich weiß, es ist schwer zu glauben, aber Tatsache ist, dass ich ein paar Minuten zuvor auf meinem Dachboden in einem Karton gestanden hatte und jetzt in totaler Finsternis unaufhaltsam in die Tiefe raste und nichts darauf hindeutete, dass ich bald auf festen Boden treffen würde.
Dann spürte ich, wie die Geschwindigkeit nachließ, wie die Luft wieder dicker wurde und ich durch den Mund atmen konnte. Meine Beine bewegten sich so elegant wie die einer Schwimmerin. Es war wie Brustschwimmen, nur in senkrechter Haltung. Unter mir tauchte ein Lichtschimmer auf.
Erinnern Sie sich, wie Alice in dem Disney-Film Alice im Wunderland bei ihrem Sturz ins Kaninchenloch genug Zeit hat, sich beim Fallen alles um sie herum anzusehen? Ich glaube, es gab Lampen und Uhren und Spielkarten. Inzwischen fiel ich genauso langsam, aber es gab nichts zu sehen. Ich spürte, wie meine Augen sich immer stärker weiteten bei dem Versuch, irgendetwas zu erkennen. Unter mir – ganz tief unten – drehten sich viele bunte Lichter wie die eines trägen Kaleidoskops. Ich sah, wie die Lichter unter meinen strampelnden Beinen zusammenrückten und sich deutlicher abzeichneten. Einen Moment lang dachte ich, ich wäre durch die Decke gefallen, mit dem Kopf aufgeschlagen und bewusstlos geworden. Irgendwann würde Eddie mich finden und wiederbeleben.
Aber kaum hatte ich mich mit der Vorstellung angefreundet, dass ich in der realen Welt das Bewusstsein verloren hatte – das war doch sicher die einzig mögliche Erklärung? –, rang ich plötzlich nach Luft, als steckte ich in einem Korsett, das immer enger und enger gezurrt wurde. Ich versuchte, die Finger zwischen meinen Körper und das, was auch immer mich einschnürte, zu bekommen, aber es gelang mir nicht. Denn da war nichts. Trotzdem konnte ich nicht mehr atmen. Eddie, du musst mich bald finden, sonst sterbe ich. Das Rauschen verstummte, dann wurde die Stille unterbrochen von einem anderen Geräusch, das leise und bedrohlich klang, ein rhythmisches Pochen wie von Wildpferden, die über den Strand galoppierten. Oder wie der Herzschlag eines Riesen, der einen gerade verschluckt hat.
Trotz Atemnot schaffte ich es, mich im Fallen zusammenzurollen wie ein Säugling. Jetzt fiel ich wieder schneller. Meine Angst zu ersticken überlagerte alle anderen Ängste. Wenn ich nicht bald Luft bekam, würde ich sterben. Die bunten Lichter unter mir rasten auf mich zu, und ich kniff die Augen zu und erwartete den Aufprall.
Ich landete so hart, dass ich dachte, ich hätte den Boden durchschlagen. Aber der Aufprall befreite mich von meinem Korsett, und ich schnappte geräuschvoll nach Luft. Ich war immer noch zusammengekrümmt, die Muskeln und Knochen an meiner rechten Seite schmerzten, und ich sog gierig die Luft ein.
Es gelang mir, den Kopf ein wenig zu drehen und mich umzusehen. Es war Nacht, ich lag auf einem Hüpfballkarton – allerdings auf einem, der neuer wirkte –, der durch die Kollision fast vollständig eingedrückt worden war, und über mir blinkten festlich die bunten Lichter eines Weihnachtsbaums.