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* Ward Halstead, mein Kollege an der Universität von Chicago, widmete sein ganzes Lebenswerk der «biologischen Intelligenz». Mit verschiedenen Experimenten maß er die körperliche Verarbeitung verschiedener Dinge: Zeit, Rhythmus, Raumordnungen, zwischenmenschliche Eindrücke, Gesichter. Als er mein Werk über den Felt Sense las, wandte er seinen Ausdruck «biologischer Computer» darauf an. Die Zusammenfassung Hunderttausender Operationen wird in einem Sekundenbruchteil vom Körper vollbracht.
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Eigentum von «Changes», 5655 University Ave., Chicago, Illinois. Verfaßt von Eugene Gendlin und Mary Hendricks unter Mitarbeit von Allan Rohlfs u.a.
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*Die Methode des «Wiederholens» wurde von Carl Rogers entdeckt. Training darin bietet die «Familienkonferenz» von Thomas Gordon.
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*Die Methode des «Rollentausches» wurde von Fritz Perls erfunden. Hier wird sie in der Art des Focusing angewandt.
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*Die «Reiterations»-Methode wurde von Garry Prouty entwickelt.
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*Die «Changes»-Gruppen wurden von Kristin Glaser gegründet.
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*Gendlin, Eugene T.: Experiencing and the Creation of Meaning. New York 1962 Ders.: Experiential Phenomenology. In: Natanson, M. (Hrsg.): Phenomenology and the Social Sciences. Evanston, Ill., 1973.
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*Johannes Wiltschko und Klaus Renn leiten das Deutsche Ausbildungsinstitut für Focusing und Focusing-Therapie. Die ersten drei Abschnitte hat Johannes Wiltschko geschrieben, den vierten Klaus Renn, den fünften bis achten beide zusammen.
Die Originalausgabe von Eugene T. Gendlins «Focusing» erschien 1978 in den USA; drei Jahre später, 1981, wurde die deutsche Übersetzung veröffentlicht. Nun, beinahe 20 Jahre später, erscheint die erste deutsche Taschenbuchausgabe dieses Klassikers der Focusing-Literatur: ein Zeichen für das ungebrochene und im Gegenteil wachsende Interesse an dem Werk und der Methode, die es darstellt.
Die Neuauflage ist willkommener Anlaß, zurückzuschauen auf Grundlagen und Geschichte des Buches – und auf die Wirkungen,die es zeitigte. Mit seinem ersten Erscheinen faßte Gendlin die Ergebnisse jahrzehntelanger Arbeit, bis dahin verstreut publiziert in vielen Fachartikeln, für eine breitere Öffentlichkeit zusammen. «Giving psychology away» – dieses Motto war auch Gendlins Anliegen: In guter pragmatischer amerikanischer Tradition sollten die Ergebnisse psychologischer und philosophischer Forschung zum Nutzen aller verbreitet werden.
Was aber hat Gendlin der Öffentlichkeit mit «Focusing» anzubieten? Diese Frage führt zurück in die Entstehungsgeschichte des Focusing-Konzeptes – und damit auch in die Geschichte von Eugene T. Gendlin.
Als Jude flüchtete er mit seiner Familie vor den nationalsozialistischen Verfolgungen in die USA. An der University of Chicago studierte Gendlin Philosophie. Auf der Suche nach Forschungsfeldern, in denen die Beziehung zwischen dem Erleben und den Symbolisierungen dieses Erlebens im Bewußtsein genauer analysiert würde, stieß Gendlin auf die Psychotherapie.
An der University of Chicago lernte Gendlin 1951 den Begründer der Klientenzentrierten Psychotherapie, Carl R. Rogers, kennen, der mit seinem Forschungsteam genau diese Fragestellungen untersuchte. Ziel war es, die Wirksamkeit der eigenen therapeutischen Arbeit zu erforschen und zu verbessern. Bis Mitte der sechziger Jahre blieb Gendlin eng mit Rogers verbunden und beeinflußte mit eigenen philosophischen und methodischen Arbeiten die Entwicklung der Klientenzentrierten Psychotherapie.
Bei seinen Untersuchungen über die Wirksamkeit von Psychotherapie entdeckte Gendlin in den sechziger Jahren ein Phänomen, das seine weitere Arbeit stark bestimmen sollte: Er fand heraus, daß der Erfolg einer Psychotherapie weniger von der methodischen Richtung des Therapeuten abhing oder davon, worüber ein Klient in der Sitzung sprach – ausschlaggebend für die Entwicklung erschien die Art und Weise, wie ein Klient sich über sich selbst äußerte. Dieses Wie konnte Gendlin genauer beschreiben: Um persönliche Probleme erfolgreich lösen zu können, war es offenbar erforderlich, beim Denken und Sprechen über ein Thema die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf das unmittelbare körperliche Erleben zu richten. Die direkte Bezugnahme auf die im Augenblick des Sprechens erlebte Bedeutung einer Situation oder eines Themas nannte Gendlin Focusing. Klienten, die in der Lage waren zu diesem inneren Focusing-Prozeß, profitierten nach seinen Beobachtungen stärker von der Psychotherapie. Um denjenigen zu helfen, denen diese «innere Beteiligung» fehlte, entwickelte Gendlin ein Training, mit dem Klienten nach und nach Aufmerksamkeit für ihr eigenes inneres Erleben aufbauen konnten.
In seinen philosophischen und therapeutischen Untersuchungen entfaltete Gendlin, der ab Mitte der sechziger Jahre als Professor an der University of Chicago in den Fachgebieten Philosophie und Psychotherapie forschte und lehrte, die Grundlagen des Focusing weiter. So fand er als konkret faßbaren Bezugspunkt für das unmittelbare Erleben einer Situation eine spezifische körperliche Befindlichkeit, den Felt Sense. Er konnte nun Menschen, die Focusing lernen wollten, folgende Anleitung geben: Wenn du über ein Thema sprichst, so achte darauf, welches körperliche Gefühl im Brust- und Bauchraum entsteht. Bleibe in Kontakt mit dieser körperlich fühlbaren Bedeutung, dem Felt Sense, und versuche, auch diese auszudrücken. Wenn Lösungen für ein Problem gesucht werden, frage die spürbare Körperstelle, was sie braucht, um sich wohler zu fühlen.
Diese unmittelbare Bezugnahme auf das Gefühl oder Gespür für eine Situation in seiner speziellen Qualität als Felt Sense kann nach wie vor als zentrales und einzigartiges Merkmal des von Gendlin entwickelten Focusing gelten. Ein scheinbar kleines Detail, dem jedoch theoretisch wie praktisch umwälzende Bedeutung zukommt, weit über den Bereich der Psychotherapie hinaus. So bietet Focusing die Möglichkeit, auch im Alltag die Bereiche menschlicher Existenz bewußt mit einzubeziehen, die in anderen Psychotherapie-Ansätzen gerade als das Unbewußte gelten. Gendlin beschreibt präzise die günstigen Haltungen und methodischen Schritte, um Gefühl und Verstand in einen produktiven Kontakt zu bringen. So können wir erleben, daß Denken nicht chaotisch wird, wenn diese Art von Gefühl, der Felt Sense, darin Eingang findet – sondern vielmehr produktiver, kreativer und in die Zukunft tragend. Gendlin bietet uns also an: das «missing link» zwischen Denken und Fühlen in der westlichen Kultur. In einer Zeit, in der äußere Strukturen als Orientierungshilfen für das Individuum zunehmend fragwürdiger werden, bietet Focusing so eine Art Navigationshilfe und ermutigt, eigene Wege und lebendige persönliche Ordnung zu finden.
Nach der ersten zusammenfassenden Veröffentlichung seines Focusing-Konzeptes in dem vorliegenden Buch hat Gendlin in den achtziger und neunziger Jahren seine Forschungen auf dem Feld von Psychologie und Philosophie vertieft. Dabei vervollständigte er schrittweise seine Konzeption einer erlebenszentrierten Psychotherapie (Experiential Psychotherapy): Indem er mit Focusing den Kernprozeß menschlicher Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt der Therapie stellt, wird die Frage leitend, was Therapeut und Klient tun können, um diesen inneren Prozeß in der therapeutischen Beziehung zu fördern. Therapie ist nicht das, so Gendlin, was der Therapeut macht, sondern der Prozeß, der im Klienten möglich wird. Dabei zeigt Gendlin, wie auch Konzepte und Methoden anderer psychotherapeutischer Schulen durch die Orientierung am Felt Sense des Klienten genutzt werden können, um Raum für innere Bewegung und Veränderung zu schaffen. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese erlebenszentrierte Nutzung verschiedener therapeutischer Konzepte lieferte Gendlin schon Mitte der achtziger Jahre mit seinem Werk über Traumarbeit. Dort beschreibt er anschaulich die vielfältigen Möglichkeiten der Anwendung unterschiedlicher Traumtheorien und zeigt, wie Focusing helfen kann, aus Träumen einen spürbaren Sinn für das Leben des Träumers zu entwickeln. In seinem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Hauptwerk «Focusing – orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erfahrungsgeleiteten Methode» erläutert Gendlin, wie neben Traumarbeit auch die erlebenszentrierte Nutzung anderer therapeutischer Wege, beispielsweise Körperarbeit, Imaginationstechniken, kognitive Neubewertung, Handlungsänderung oder der Umgang mit Über-Ich-Prozessen, miteinbezogen werden kann.
Neben diesen therapeutischen Fragestellungen blieb die Weiterentwicklung der Focusing-Methode zur Selbsthilfe im Alltag grundlegendes Anliegen. In den achtziger Jahren gründete Gendlin in Chicago das International Focusing Institute (IFI ), das Interessierten aus aller Welt die Möglichkeit bieten sollte, Focusing kennenzulernen. Dort wurden didaktische und methodische Konzepte entwickelt, die im Rahmen von Gruppenübungen und Einzelbegleitung den Zugang zum Felt Sense erleichtern und Focusing lehren helfen sollten. Über die Jahre hat sich ein weltweites Netz von Trainern und Koordinatoren entwickelt, die in ständigem Austausch mit dem International Focusing Institute, mittlerweile in New York angesiedelt, und in Zusammenarbeit mit Gendlin an der Weiterentwicklung der Methode und deren Vermittlung und Anwendung arbeiten.
Bis heute ist dabei das vorliegende Buch «Focusing. Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme» von unschätzbarer Bedeutung. Mit ihm hat Gendlin eine präzise Beschreibung der Focusing-Methode vorgelegt. Sie eignet sich für Leserinnen und Leser, die sich ein fundiertes Bild über diesen Ansatz machen und Focusing als Selbsthilfetechnik erlernen wollen. Einschränkend sei aber betont, daß es nach unserer Erfahrung kaum möglich ist, Focusing allein durch Lesen zu lernen. Für den Anfänger ist die Anleitung durch eine Focusing-erfahrene Person eine große Hilfe und Erleichterung. Insbesondere der Zugang zum Felt Sense ist für die meisten zunächst eine Hürde. Wenn jemand also versucht, Focusing nur anhand dieses Buches zu erlernen, sollte er nicht enttäuscht sein oder sich für unfähig halten, wenn dies nicht oder nur unvollständig gelingt. Mit Geduld und der Hilfe erfahrener Begleiter lassen sich diese Anfangsschwierigkeiten überwinden.
Eine andere Schwierigkeit begegnet denjenigen, die mit Methoden wie Meditation, Imagination oder Körperarbeit bereits einige Erfahrungen haben: Sie erkennen oft das Spezifische des Focusing nicht auf Anhieb. Es gibt viele Möglichkeiten und Methoden der Bezugnahme auf den Körper – und Focusing ist eine sehr spezifische Form. Die vorschnelle Gleichsetzung von Focusing mit schon bekannten Methoden kann dazu führen, daß die besondere Qualität und Wirksamkeit des Focusing nicht richtig wahrgenommen wird. In jedem Fall bietet dieses Buch eine Vielzahl von Informationen und Hilfestellungen für alle, die sich näher mit Focusing beschäftigen möchten. Selbst erfahrene Focuser sind immer wieder überrascht, wie genau und reich an Anregungen und Hinweisen dieses Standardwerk ist.
In der Praxis zeigt sich, daß Focusing als Selbsthilfe zur Lösung persönlicher Probleme am wirksamsten ist, wenn eine andere Person die Begleitung des inneren Prozesses unterstützt. Das Modell der Focusing-Partnerschaften, das in diesem Buch beschrieben wird, ist auch im deutschen Sprachraum sehr erfolgreich: Immer mehr Menschen,die genügend Focusing-Begleiterfertigkeiten erworben haben, schließen sich zu kleinen Gruppen zusammen, um sich im Alltag regelmäßig zu treffen und abwechselnd zu begleiten. Ehepartner oder Freunde sind häufig zu stark von Themen und Problemen betroffen, um wirklich Raum geben zu können für alles, was in einem Klärungsprozeß auftaucht. Focusing-Partnerschaften können so eine wirksame Alternative zur Problemlösung im Alltag werden. Das ist in einer gesellschaftlichen Situation, in der es immer schwieriger wird, Gesprächspartner zu finden, die zuhören und wertungsfrei einen inneren Klärungsprozeß begleiten können, von wachsender Bedeutung. In dieser Situation einer fließenden Entwicklung mag das vorliegende Werk wieder als Quelle erscheinen.
Gengenbach/Weingarten (Baden) im Juni 1998
Heinz-Joachim Feuerstein
Professor für Psychologie an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl
Dieter Müller
Focusing Zentrum Karlsruhe
Wissenschaftler und Allgemeinheit hegen oft den gleichen Wunsch: Forschungsergebnisse sollen in den Alltag übertragbar sein. Focusing vermag diese Erwartung zu erfüllen. Sowohl der Fachmann als auch der Laie kann sich dieser Methode bedienen.
Focusing als eigentlicher Prozeß psychischer Veränderung ist eine Neuentdeckung. Es ist ein körperlich spürbar ablaufender Prozeß, bei dem sich aus Körperempfindungen Sinngehalte ergeben. Dieser Prozeß bringt ein Evidenzerleben mit sich, das demjenigen, der es erfährt, absolute Sicherheit vermittelt, das eigentlich Bedeutsame einer Sache gefunden zu haben. Dieses spezielle Sprechen-Lassen aus dem Körper, um die eigentlichen Bedeutungen eines Problems in evidenter Weise zu erfahren und zu erkennen, ist Focusing.
Focusing ist ein ganzheitliches Geschehen, das Körperempfindungen, Gefühle und Denken einschließt. Ein ganz spezielles Innerlich-aufmerksam-Sein auf jene unklaren Empfindungen im Körper, in denen der Kummer tatsächlich und konkret liegt, bringt den Focusing-Prozeß in Gang. Er läuft in Schritten ab, die schließlich zu einer eindeutig spürbaren psychischen Veränderung führen. Körperliche Entspannung und Erleichterung gehen damit einher. Sie sind der Test dafür, ob Focusing tatsächlich stattfand.
Focusing ist somit ein natürlicher Prozeß, der dann abläuft, wenn man sich in ganz spezifischer Weise seinem Erleben zuwendet. Wie dies zu geschehen hat, läßt sich erlernen. Damit wird Focusing auch zu einer Selbsthilfemethode. In jeder erfolgreichen Psychotherapie läuft unerkannt ein Focusing-Prozeß ab, ohne daß er dem Psychotherapeuten als solcher bewußt sein muß. Wer Focusing jedoch kennt, kann es ganz gezielt in jeder Psychotherapie einsetzen, um den Heilungsprozeß zu vertiefen, zu verwesentlichen.
Focusing wurde im Rahmen der klientenzentrierten Psychotherapie entwickelt. Carl Rogers, der Begründer der klientenzentrierten Psychotherapie, postuliert das empathische Verstehen, das wirkliche Zuhören-Können. Indem er sich in den Bezugsrahmen des Klienten versetzt, versucht Rogers, die Gefühlsbedeutung der Aussage eines Klienten zu verstehen und dem Klienten sein Verständnis mitzuteilen. Gendlins empathisches Verstehen gilt im speziellen dem inneren Prozeß, der im Klienten abläuft. Wenn Rogers die Gefühle, die eine Aussage begleiten, widerspiegelt, läßt Gendlin die Aussage zuerst körperlich empfinden, bis aus der Körperempfindung die gefühlte Bedeutung spricht.
Die therapeutische Beziehung, Wärme und Akzeptiertwerden sind für Rogers wie für Gendlin unabdingbare Voraussetzungen für den therapeutischen Prozeß. Wenn Rogers sie als Rahmenbedingungen sieht, innerhalb derer der Reifungsprozeß stattfinden kann, dann sind sie für Gendlin die Basis dafür, daß der Klient vertrauensvoll in den Focusing-Prozeß einsteigen kann. Rogers nimmt persönlich Beziehung zu seinem Klienten auf. Gendlin nimmt die Beziehung zum inneren Focuser im Klienten auf.
Die Vorgehensweisen dieser beiden berühmten klientenzentrierten Psychotherapeuten liegen auf einem Kontinuum, auf einem breiten Band verschiedener Möglichkeiten. Gendlins präzise Focusing-Anweisungen liegen an einem Ende dieses Kontinuums, Rogers’ offen gewährende Haltung am anderen. In bestimmten Fällen geht Rogers auch gezielter und selektiver vor. Dann bewegt er sich in die Mitte dieses Kontinuums. Gendlin tut dasselbe vom anderen Ende aus: Sobald der Focusing-Prozeß selbständig abläuft, macht er nichts anderes, als empathisch-verstehend dabeizusein.
Mit Focusing hat Gendlin nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der klientenzentrierten Psychotherapie geleistet, sondern so etwas wie die Quintessenz psychischer Veränderung entdeckt. Die Bedeutung dieser Entdeckung läßt sich heute wohl noch gar nicht abschätzen.
Mit der hier vorliegenden Ausgabe erscheint das Werk erstmals auf deutsch. Die Übersetzerin, Katharina Schoch, und ich haben uns bemüht, die deutsche Fassung allgemeinverständlich und doch fachlich korrekt zu gestalten. Damit vermag das Buch sowohl dem Fachmann wie dem Laien zu entsprechen.
Zürich, im August 1980 Agnes Wild-Missong
Focusing, die in diesem Buch geschilderte Technik, ist wie geschaffen für unsere turbulente Zeit, in der so viele alte Normen und alte Rollen ihre Gültigkeit verlieren. Die meisten von uns müssen die nächsten Schritte auf ihrem Lebensweg selbst suchen, ertasten und neu erschaffen, ohne daß sie sich an einem Licht, einem vorgezeichneten Pfad oder einer allgemeinverbindlichen Tradition orientieren können. Wir bemühen uns, mit der rapid voranschreitenden technischen Entwicklung Schritt zu halten, uns selber und unsere Beziehungen zu verstehen, unser Wohlbefindenzu erhöhen, nach einem Sinn in unserer Arbeit und einem neuen Schwerpunkt in uns selbst zu suchen.
In einer Serie von Essays beschrieb der Anthropologe Anthony C.W. Wallace das Phänomen kultureller «Erwachensprozesse». Nach seinen Beobachtungen werden solche Prozesse durch Streßsituationen ausgelöst. Die herkömmlichen Werte einer Kultur, die angelernten Verhaltensweisen sind blockiert. Die Menschen können nicht mehr in die traditionellen Rollen schlüpfen, ihr Leben entwickelt sich nicht so, wie es ihnen vorgezeichnet worden ist.
Unter dem Druck des Zerfalls sozialer Normen finden einige wenige kreative Persönlichkeiten –Wallace bezeichnet sie als «New Lights», neue Lichter – einen Ausweg, einen neuen Pfad durch das kulturelle Chaos. Als Reaktion darauf formiert sich vorerst eine Gegenbewegung, die eine Rückkehr zu den alten Traditionen fordert; schließlich aber setzen sich die neuen Ideen aus historischer Notwendigkeit durch und finden allgemeine Anerkennung, womit die Gesellschaft in ein neues Zeitalter eingetreten ist.
Unsere Kultur befindet sich zweifellos im frühen Stadium der von Wallace beschriebenen Umwälzung. Jeder Aspekt unserer Gesellschaft, jede Institution sieht sich in Frage gestellt. Die politischen Strukturen, die etablierten Kräfte in Erziehung und Medizin, die Wirtschaft, die Familie, die Religion, die Arbeitswelt – sie alle sind Veränderungen unterworfen. Es gibt keine allgemeingültigen Richtlinien mehr.
«Viele Menschen sehen sich mit einer erstaunlichen Tatsache konfrontiert», schreibt Eugene Gendlin. «Die alten Verhaltensmuster, die das reibungslose Funktionieren unseres Lebens gewährleisten sollten – und die das einst auch taten –, haben heute ihren Sinn verloren. Heutige Eltern können sich zum Beispiel nicht mehr so verhalten, wie das ihre eigenen Eltern getan haben. Es gibt aber noch keine neuen Normen, an die wir uns halten können. Wir müssen unseren Weg selber suchen …»
Die alten Normen erfüllten einstmals ihren Zweck, meint Gendlin. Außer einigen Nonkonformisten paßten sich die meisten Leute den vorgegebenen Rollen an. «Nur eine kleine Minderheit gebildeter und denkender Menschen schuf sich neue Rollen und Verhaltensmuster.» Heute aber ist eine breite Schicht von Menschen gebildet und belesen, was ein verstärktes Bedürfnis nach Kreativität mit sich bringt. Diese Leute fühlen sich durch die vorgefertigten Rollen und Emotionen eingeengt. Ihre Gefühle sind «viel komplexer als diejenigen, die die gesellschaftlich akzeptierten Rollen verlangen und anbieten».
Die radikalen Wandlungen, die unsere Kultur durchmacht, lösen in uns neue «unklare» Gefühle, Emotionen und Empfindungen aus, für die es keine allgemeinverständlichen Definitionen gibt. Wir müssen versuchen, neue Formen zu schaffen, die der neuen Zeit angemessen sind. Das bedeutet für uns eine einzigartige, noch nie dagewesene Chance. «Wenn wir uns selbst und unsere Mitmenschen als Schöpfer neuer Formen akzeptieren, werden wir uns und anderen keine Normen mehr aufzwingen müssen.»
Eugene Gendlin und seine Miterforscher des Focusing-Prozesses sind die «New Lights» in diesem Prozeß des Erwachens, die nicht nur kulturelle Alternativen anbieten, sondern auch ein Werkzeug zum Verständnis unserer unklaren Gefühle und zur Schaffung neuer Lebensformen. Focusing ist ein Schlüssel zu persönlichem Antrieb und zu persönlicher Entfaltung, ein dynamischer Prozeß, der uns hilft, uns in dem Labyrinth der neuen Welt zurechtzufinden.
Wie jede machtvolle neue Idee läßt sich Focusing nicht leicht in den gewohnten Begriffen schildern. Es führt uns in unvertrautes Gelände, in das Reich des kreativen Potentials, das wir bisher den Künstlern und Erfindern vorbehalten glaubten.
Unser Gehirn und unser Körper wissen viel mehr als das, was unserem Verstand normalerweise zugänglich ist. Nur ein Bruchteil dessen, was wir in unserem tiefsten Inneren wissen, ist unserem Bewußtsein erschlossen. Das zentrale Nervensystem empfängt und verarbeitet eine Menge von Informationen, die außerhalb der Reichweite unseres alltäglichen Wissens liegen. Einige dieser Informationen sind im Unterbewußtsein am besten aufgehoben. Konflikte, Schmerzen und ungelöste Probleme können aber eine Quelle chronischen Unwohlseins, blockierter Entwicklung und sogar körperlicher Krankheit werden.
Die Einheit von Körper und Geist ermöglicht neue Schritte. Unser tiefstes körperliches Wissen kann empfangen und weiterentwickelt werden. Focusing, dessen Schritte in diesem Buch klar und sorgfältig beschrieben werden, berührt und artikuliert ein neues, sublimes Wissen. Es horcht auf den «Körper», worunter Gendlin die Ganzheit dessen versteht, was über unser Bewußtsein hinausgeht (die durch Focusing ausgelösten «Shifts», die körperlich empfunden werden, schließen ebenfalls tiefere Gehirnstrukturen mit ein).
Focusing ist sowohl äußerst komplex als auch überraschend einfach. Es ist geistig und kinästhetisch, es ist mysteriös in seiner Fähigkeit, verborgene Weisheit hervorzubringen, es ist ganzheitlich als «Felt Sense» eines Problems. Obwohl Focusing eine für sich allein wirksame Methode ist, läßt es sich auch als Ergänzung zu anderen Methoden wie Biofeedback oder Meditation sinnvoll anwenden, um kreative Prozesse auszulösen und Probleme zu definieren. Kurz: Focusing hilft bei jeder Form von Blockiertsein.
Ich habe von Focusing zum ersten Mal bei einer klinischen Konferenz 1977 in Chicago gehört. Norman Don, ein Psychologe, berichtete über eine neue Untersuchung, in welcher er die Gehirnwellen erfahrener Focuser aufgezeichnet hatte, während sie einen «Shift» erlebten – Gendlins Bezeichnung für die körperliche Veränderung und das Gefühl der Erleichterung, die das plötzliche neue Verstehen eines zuvor unklaren Gefühls hervorrufen. Alpha- und Teta-Rhythmus im Gehirn veränderten sich unmittelbar, bevor die Versuchsperson einen «Felt Shift» signalisierte. Die darauffolgende elektroenzephalographische Aktivität zeigte eine «Reorganisation auf einer höheren Integrationsebene» an. Ich berichtete über Dons Experimente im «Brain/Mind Bulletin», Mai 1977.
Im April 1978 las ich die ersten Kapitel aus dem Focusing-Manuskript. Meine Neugierde auf diese Methode und ihre Physiologie war geweckt, so legte ich meine eigene Arbeit beiseite und begann das Ganze zu lesen.
Zunächst war ich beeindruckt von dem leicht lesbaren, ansprechenden Stil des Buches, dem Bemühen, das Focusing-Konzept auf allgemeinverständliche Art darzustellen. Dann wuchs meine Faszination wegen der Möglichkeiten, die diese Methode eröffnet. Nach den Anweisungen des Buches machte ich meinen ersten Focusing-Versuch – und war begeistert! Der Prozeß vermittelte einen überwältigenden Einblick ins eigene Innere, eine plötzliche Fusion von intellektuellem und körperlichem Wissen. Dieser «Shift» löste eine Spannung, derer ich mir nur vage bewußt gewesen war. Ich fühlte mich seltsam leicht, frei und heiter, als ob ich eine alte Last losgeworden wäre. Gleichzeitig brachte dieser Shift das Ende einer jahrelangen Migräne.
Seither habe ich die Grundbegriffe des Focusing einer Reihe von Menschen, darunter meinen Kindern, beigebracht. Obwohl Focusing am besten als wohlüberlegte, langfristige Strategie angewandt wird, bewährt es sich auch als eine Art von psychologischer «erster Hilfe» in Streßsituationen. Für einen verzweifelten Menschen kann es ebenso lebenswichtig sein wie eine Aderpresse für ein Unfallopfer. Und ich habe Focusing zahllosen Freunden angeraten, die sich blockiert fühlen und neuen Methoden gegenüber aufgeschlossen sind.
Nach den Erkenntnissen der modernen Psychologie können wir unsere Probleme lösen, indem wir unter die Oberfläche unseres Bewußtseins dringen. Neue Fragen und Antworten scheinen aber außerhalb unserer Reichweite zu liegen. Das Erfassen und Nutzbarmachen des Unterbewußtseins blieb bisher eine Frage des Glücks und des Zufalls.
Focusing entstand aus der Beobachtung durch Gendlin und seine Mitarbeiter, daß die traditionelle Therapie vielen Leuten nicht helfen konnte. Die wenigen erfolgreichen Klienten unterschieden sich von den anderen aber durch ihre Fähigkeit, einen inneren Prozeß auszulösen. Gendlin entschloß sich, diesen Prozeß zu erforschen und ihn damit für jedermann zugänglich und erlernbar zu machen. Focusing ist eine nach innen gerichtete Bewegung, die Informationen aus dem tieferen, weiseren Selbst zieht (dem «Körper»). Wenn die richtigen Schritte ablaufen, normalerweise innerhalb etwa einer halben Minute, tritt der «Felt Shift», die körperliche Erleichterung, ein.
Interessanterweise scheint es, daß beim Phänomen des «Felt Shift» beide Gehirnhälften mit einbezogen sind. Die analytische linke Hälfte, die in der Sprache die dominierende Rolle spielt, benennt das, was bisher unartikuliert und diffus in der ganzheitlichen, stummen rechten Hälfte war. Neue Informationen scheinen primär durch die rechte Hälfte vermittelt zu werden, die auch mit der entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnrinde enger verbunden ist.
Das Auftreten eines Schritts zur Lösung eines Problems und das gleichzeitige Gefühl körperlicher Erleichterung deuten auf eine plötzliche Erkenntnis in beiden Gehirnhälften hin.
Der «Felt Shift» ist im wesentlichen identisch mit einer befreienden Einsicht in den kreativen Prozeß. Ein spontan kreativer Mensch hat gelernt, auf zunächst vage Empfindungen zu achten, die einen neuen Sinn ergeben können. Der Zugang zur Kreativität wird durch Focusing erleichtert. Gendlin hat festgestellt, daß die meisten Versuche, Kreativität zu lehren, auf das Negative ausgerichtet sind: auf die Überwindung alter Ideen. Es gibt aber wenig Strategien zum Aneignen der neuen. Focusing ist eine davon. Es spricht das Unausgesprochene aus. Es verleiht verschwommenem, unartikuliertem Wissen Ausdruck und Definition.
Und: Focusing ist optimistisch. Es sieht den Menschen als Prozeß, nicht als Krankheitsfall.
Auch tiefere Veränderungen können durch Focusing ausgelöst werden. In solchen Fällen, sagt Gendlin in einem Interview, tritt ein «Body Shift» manchmal ohne die üblichen begleitenden Worte, Sätze oder Bilder ein. Es handelt sich dann um eine völlig neue Konstellation, um Ideen, die so neu sind, daß wir noch keine Worte haben, sie zu benennen. Normalerweise, sagt Gendlin, reagieren wir auf die althergebrachte Weise, «indem wir unsere Erfahrungen in dieselben alten Konzepte verpacken, während wir eigentlich etwas Umfassenderes, Weiteres benötigen würden». Wenn aber der Focuser auf die körperliche Empfindung der «shifting constellation» horcht, werden schließlich eine neue Sprache und neue Metaphern, die dem neuen Verständnis angepaßt sind, auftauchen.
Eugene Gendlins «Focusing» ist keine konventionelle Neuauflage von Selbsthilfe-Weisheit. Es ist sowohl praktische Anleitung als auch Philosophie. Es behandelt die Weisheit des Körpers, die Schritte der Focusing-Technik, die Kunst, anderen zuzuhören. Es sucht nach dem Potential für eine neue Art von Beziehungen und eine neue Art von Gesellschaft, die veraltete Rollen und Muster überwindet. «Eine neue Gesellschaft ist im Entstehen begriffen», sagt uns Gendlin, «in welcher der individuelle Menschweiter entwickelt ist und bewußter lebt als jemals in der Geschichte – eine Gesellschaft, in der jeder einzelne über sich selbst bestimmt.» Dieses Buch handelt von dieser Gesellschaft und davon, wie wir ihr Entstehen fördern können, indem wir uns selbst und anderen helfen.
Marilyn Ferguson
Los Angeles
November 1980