Anatol Regnier
Jeder schreibt für sich allein
Schriftsteller im Nationalsozialismus
—
C.H.Beck
Dieses Buch handelt von Schriftstellern im nationalsozialistischen Deutschland, ihrem Spagat zwischen Anpassung und künstlerischer Integrität unter den Bedingungen der Diktatur. Opportunisten und Konjunkturritter sind dabei, aber auch Autoren, die nur ihrer Arbeit nachgehen wollten und versuchten, moralisch sauber zu bleiben. Mit leichter Hand verknüpft Anatol Regnier die Biografien von Hans Fallada und Erich Kästner, Agnes Miegel und Ina Seidel, Gottfried Benn, Hanns Johst und Will Vesper. Es sind Geschichten von überraschender Widersprüchlichkeit, die das gesamte Spektrum menschlichen Verhaltens im Dritten Reich abbilden.
Anatol Regnier hat eine Vielzahl von Schriftstellernachlässen und Verlagskorrespondenz gesichtet und lässt die Protagonisten ausführlich selbst zu Wort kommen. War man als Dagebliebener, wie man sich auch drehte und wendete, Teil des Systems? Oder war es möglich, als Schriftsteller im nationalsozialistischen Deutschland integer zu bleiben? Die Befunde sind oft überraschend ambivalent und sehr viel differenzierter, als die Schwarz-Weiß-Logik Nazi/Antinazi vermuten lässt.
«Liest sich wie die Beschreibung eines Erdbebens, ein erregendes historisches Panorama dutzender Lebensdramen und katastrophaler Biografien. Anatol Regnier differenziert, er hat Mitgefühl und Ironie – und er ist gnadenlos in seinem Urteil, wenn es sein muss.»
Dominik Graf
Anatol Regnier, geboren 1945, ist Gitarrist, Chansonsänger und freier Autor. Er wurde 2005 mit dem Ernst Hoferichter Preis und 2012 mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet. Viel Anerkennung fand die Biografie seines Großvaters, Frank Wedekind (2008). Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen Wir Nachgeborenen (2014).
Einleitung
— 1 —: Eine veränderte geschichtliche Lage
— 2 —: Eine Frage der Haltung
— 3 —: Ein Theaterereignis
— 4 —: Emigration? Nicht für uns
— 5 —: Dichter unter sich!
— 6 —: Zwei Welten
— 7 —: Draußen und drinnen
— 8 —: Nur eine Unterschrift
— 9 —: Das haben Sie vorzüglich gemacht!
— 10 —: Jahresende 1933
— 11 —: Eine herzbeengende Lage
— 12 —: Leben am Rand
— 13 —: Wo ist der wahre Nationalsozialismus?
— 14 —: Eine Abrechnung
— 15 —: Wie macht man es richtig?
— 16 —: Bemerkungen zu zwei Büchern
— 17 —: Raus aus allem
— 18 —: In größter Sichtbarkeit den anderen voran
— 19 —: Aspekte 1935
— 20 —: Ferkeleien
— 21 —: Dichtung – Bühne – Politik
— 22 —: Volkes Gäste
— 23 —: Unter Frauen
— 24 —: Mephisto
— 25 —: Das war’s
— 26 —: Was gleichzeitig geschieht
— 27 —: Zwei Todesfälle, ein Geburtstag
— 28 —: Krieg (I)
— 29 —: Drei Frauen, ein Mann
— 30 —: Krieg (II)
— 31 —: Was jetzt? Die große Kontroverse
— 32 —: Schatten der Vergangenheit
— 33 —: Willkommen und Abschied
— 34 —: Die Reise
Dank
Anmerkungen
— 1 —: Eine veränderte geschichtliche Lage
— 2 —: Eine Frage der Haltung
— 3 —: Ein Theaterereignis
— 4 —: Emigration? Nicht für uns
— 5 —: Dichter unter sich!
— 6 —: Zwei Welten
— 7 —: Draußen und drinnen
— 8 —: Nur eine Unterschrift
— 9 —: Das haben Sie vorzüglich gemacht!
— 10 —: Jahresende 1933
— 11 —: Eine herzbeengende Lage
— 12 —: Leben am Rand
— 13 —: Wo ist der wahre Nationalsozialismus?
— 14 —: Eine Abrechnung
— 15 —: Wie macht man es richtig?
— 16 —: Bemerkungen zu zwei Büchern
— 17 —: Raus aus allem
— 18 —: In größter Sichtbarkeit den anderen voran
— 19 —: Aspekte 1935
— 20 —: Ferkeleien
— 21 —: Dichtung – Bühne – Politik
— 22 —: Volkes Gäste
— 23 —: Unter Frauen
— 24 —: Mephisto
— 25 —: Das war’s
— 26 —: Was gleichzeitig geschieht
— 27 —: Zwei Todesfälle, ein Geburtstag
— 28 —: Krieg (I)
— 29 —: Drei Frauen, ein Mann
— 30 —: Krieg (II)
— 31 —: Was jetzt? Die große Kontroverse
— 32 —: Schatten der Vergangenheit
— 33 —: Willkommen und Abschied
— 34 —: Die Reise
Verzeichnis der Quellen und Literatur
Archivalien
Gedruckte Quellen und Literatur
Personenregister
Für Anja
Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen befreit. Ich war damals 21 Tage alt. Fünf Monate später war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Wir lebten auf dem Land, von Nachkriegsnot merkte ich nichts. Gemüse lieferte der Garten, Milch und Eier der Bauer nebenan. Auf Briefmarken alter Kuverts, mit denen ich spielte, war der Kopf eines Mannes zu sehen – «Hitler», sagte man mir.
Der erste Eindruck von München: zerstörte Häuser, Polizisten in weißen Mänteln, die den Verkehr regelten, Amerikaner in Jeeps, langsam und lässig vorbeirollend, unerreichbar für uns, wir bewunderten, ich möchte sagen: liebten sie. In den Geschäften gab es alles. Einmal herrschte Zuckerknappheit, man bekam ein paar Wochen lang nur eine begrenzte Menge, dann war alles wieder normal. Der Bundespräsident hieß Heuss, der Bundeskanzler Adenauer, ein Dollar war vier Mark wert, und wer in Läden der amerikanischen Army und Air Force, den sogenannten PX-Stores, einkaufen konnte oder echte amerikanische Zigaretten rauchte (man erkannte sie sofort an ihrer Länge), war etwas Besonderes. Amerika war das Maß aller Dinge, Inbegriff des Guten, Sanften, Helfenden. Solange die Amerikaner da waren, schien es, konnte nichts Schlimmes passieren. In den Zeitungen nur Erfolgsmeldungen: steigende Produktion, Vollbeschäftigung, immer neue Rekorde. Es gab nur eine Richtung: nach oben. Die Ruinen verschwanden nach und nach, die Wohnungsnot ebbte ab. Irgendwann hatten auch wir ein Auto, ein paar Jahre später ein zweites, besseres.
Trotzdem war ich nicht gerne deutsch, und die Erwachsenen, meinte ich zu spüren, waren es auch nicht. Ich empfand die Atmosphäre als bedrückt und belastet, ohne zu wissen warum. Es ging uns gut, wir hatten alles, dennoch hatte alles Deutsche, zumindest für mich, einen schlechten Klang. Das Land schien irgendwie schlecht gelaunt. Unser Wohlergehen war anscheinend Gottes Gebot, aber von Leichtigkeit und Eleganz keine Spur. Woran lag das? Ich hätte es nicht benennen können, aber merkte oder glaubte zu merken, dass Franzosen, Schweizer, Niederländer, Norweger, die gelegentlich zu uns kamen, ein anderes Selbstbewusstsein mitbrachten, aufrechter durchs Leben gingen als die Deutschen um mich herum, sogar als meine Eltern, die als Künstler bekannt und geachtet waren.
Wurde bei uns über Politik gesprochen? Ja und nein. Die Wiederbewaffnung war ein großes Thema, Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß eine Reiz- und Hassfigur, die Angst vor einem Atomkrieg durchaus präsent. Oma Goldi, die Mutter meines Vaters, trug eine Anstecknadel mit der Aufschrift «Pax» am Revers. Dass die deutsche Vergangenheit schlecht, sehr schlecht gewesen war, lag als Selbstverständlichkeit in der Luft, übrigens nicht nur im Elternhaus, sondern auch bei allen anderen, bei unseren Lehrern, der Frau im Kiosk, der Bäckerin, dem Schuster, dem Kohlenhändler. Gelegentlich sagte jemand: «Der Hitler war an allem schuld» oder: «Beim Hitler hätte es das nicht gegeben», letzteres aber geduckt, sozusagen abseits. Deutscher Nationalstolz existierte nicht. Ich fand das gut: Worauf sollte man als Deutscher stolz sein? Ich war es jedenfalls nicht.
Was diesem Gefühl zugrunde lag, wurde auch in meiner aufgeklärten Familie nicht besprochen. Es wurde nichts verheimlicht und nichts beschönigt, aber auch nichts analysiert. Dass meine Mutter Pamela Wedekind von 1934 bis 1942 an Gustaf Gründgens’ Preußischem Staatstheater gespielt hatte, war bekannt und galt nicht als ehrenrührig – war Gründgens doch immer noch Deutschlands erster Theatermann. Bekannt war auch, dass sich mein Vater Charles Regnier um den Krieg gedrückt hatte – keinen Tag seines Lebens habe er eine Uniform tragen wollen, das habe er sich als junger Mann geschworen, und er war stolz darauf, es geschafft zu haben. Er war 1935 ein paar Monate im KZ gewesen, auch das war bekannt, später erfuhr ich: wegen Homosexualität. Man habe seinen Schädel vermessen, um irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen, viel mehr sagte er nicht. Es gab Erzählungen über die Bombennächte in München, das Sitzen im Luftschutzkeller, das Radeln zu den Münchner Kammerspielen durch zerstörte Straßen, für uns klang das gruselig, aber auch romantisch, in jedem Fall faszinierend, vor allem im Vergleich zur langweiligen Gegenwart. Aber ernsthafte Gespräche über die Vergangenheit, ein Beleuchten des Nationalsozialismus, in dem man schließlich zwölf Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte, gab es nicht. Heute weiß ich: Es hätte eine Überprüfung auch der eigenen Rolle erfordert, unbedeutend wie sie gewesen sein mag. Dazu waren meine Eltern von sich aus nicht bereit, und wir haben sie nicht gedrängt. Vielleicht wollten sie ihre Kinder schonen. Oder sich selbst. Vielleicht hielten sie eine solche Diskussion auch einfach nicht für notwendig.
Das Erwachen kam für mich als Musikstudent in London mit sechzehn Jahren. Ich lernte jüdische Jugendliche meines Alters kennen, wie ich von Pubertätsnöten geplagt, von sexuellem Begehren getrieben. Sie mochten mich und beäugten mich: ein Deutscher. Und ich, ohne Schuldbewusstsein aufgewachsen, fühlte mich plötzlich schuldig. Die Zahl «sechs Millionen», seit langem bekannt und gedankenlos referiert, wurde zur furchtbaren Realität. War das wirklich geschehen? Hatte es das wirklich gegeben? Die fabrikmäßige Ermordung von Millionen Menschen durch das deutsche Volk, dem ich angehörte? Ja, das hatte es gegeben, und kein Deuteln half darüber hinweg. Waren meine Eltern daran beteiligt? Nein, unmittelbar nicht. Aber sie waren dabei gewesen, hatten erlebt, wie jüdische Nachbarn Wohnung und Arbeit verloren und plötzlich nicht mehr da waren, hatten es hingenommen, während sie morgens aufstanden, einkaufen gingen, Trambahn fuhren, Briefe schrieben, ihren Beruf ausübten. War ihnen das moralische Dilemma bewusst, in dem sie sich befanden? Ich denke, ja. Kein Wunder, dass sie nicht darüber sprachen. Meine Eltern, die ich als gute, großzügige Menschen kannte (und bis heute habe ich keinen Grund, sie anders zu sehen) hatten ihre Unschuld verloren, und ich mit ihnen.
Mein Trauma verfolgte mich. Ich packte meine Gitarre und fuhr nach Israel. Man nahm mich wohlwollend, geradezu liebevoll auf. Ich hatte Erfolg als Musiker und Glück als Mensch. Aber zu meiner Herkunft zu stehen, zu sagen: «Ich bin Deutscher, nehmt mich, wie ich bin», traute ich mich nicht. Ich redete mich heraus, erlog eine Schweizer Abstammung, erfand diffuse jüdische Angehörige, war also genauso feige wie meine Landsleute, die sich im Dritten Reich wegduckten und den Mund hielten, genauer gesagt: noch feiger. Denn was hätte mir in Israel passieren können? Ganz genau gar nichts. Ich heiratete Nehama Hendel, Israels berühmte Sängerin, hatte jüdische Kinder, Israel wurde meine zweite Heimat. Alle wussten inzwischen, dass ich Deutscher bin, und wer sich an meine Schwindeleien erinnerte, vergab generös.
Ich versöhnte mich mit der Bundesrepublik, sie war nun einmal mein Land. Denn eines war klar: So furchtbar die Vergangenheit war, sie würde nie wiederkehren. Die Bundesrepublik, so schien es mir, war als Demokratie unerschütterbar, das aufrichtige Bemühen um Veränderung und Sühne, Ausgleich, Völkerverständigung und Freiheit ihr nicht abzusprechen. Niemals, glaubte ich, würde sich hier rechtsextremes Gedankengut wieder ausbreiten können. Nach einem solch tiefen Fall, einer solchen Katastrophe, einer solchen Schmach war das schlichtweg unvorstellbar.
Ich habe mich getäuscht, mit vielen anderen. Gerade als Europa sich einte und Deutschland wieder zusammenwuchs, als Grenzen fielen und eine nie gehabte Freiheit sich auftat, kehrten Nationalismus und Rechtsextremismus zurück, erstaunlicherweise auch in ehemals sozialistischen Gebieten, wo ich sie nach vierzig Jahren antifaschistischer Erziehung am wenigsten vermutet hätte. Auch in den Niederlanden, Frankreich und anderen europäischen Ländern erschallten plötzlich nationalistische, antidemokratische Töne, oft unter Jubel der Bevölkerung, als ob es Nationalsozialismus, Holocaust, Zweiten Weltkrieg und sechzig Millionen Tote nie gegeben hätte. Hat der Frieden zu lange gedauert? Ist uns die Freiheit nichts mehr wert? Haben wir aus der Vergangenheit nichts gelernt? Eine Demokratiemüdigkeit schien um sich zu greifen, wie sie auch die letzten Jahre der Weimarer Republik geprägt hat – dabei wissen wir, wie die Demokratie zerbrach und der Nationalsozialismus an die Macht kam. Meine Eltern und alle, die in meiner Kindheit erwachsen waren, haben es erlebt. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus wurde mein Lebensthema, wie für viele aus der unmittelbaren Nachkriegsgeneration. Aber Lebensgefühl und Lebenswirklichkeit dieser dunklen Zeit zu packen, in die Menschen hineinzuschauen, die damals gelebt haben, gelang mir nicht. Wer konnte verlässliche Auskunft geben?
2011 besuchte ich meinen Sohn Michael in London. Die Heizung war ausgefallen, der einzig warme Ort war das Bett. Auf dem Nachttisch lag Hans Falladas Roman «Jeder stirbt für sich allein». Ich hatte davon gehört, dass dieser Roman Jahrzehnte nach seinem Erscheinen plötzlich zum Welterfolg geworden war. Was hatte es damit auf sich? Ich las die Geschichte des Berliner Arbeiterehepaars Quangel, das nach dem Soldatentod seines einzigen Sohnes Postkarten in Mietshäusern ausgelegt hatte, auf denen es zum Widerstand gegen Hitler aufrief, mit dem Erfolg, dass Menschen, die sie lasen, nichts Eiligeres zu tun hatten, als sie der Gestapo zu übergeben. Das Ehepaar wurde verhaftet, der Mann geköpft, die Frau in Erwartung ihrer Hinrichtung bei einem Bombenangriff im Gefängnis getötet.
Eine faszinierende Lektüre. In aller Härte war hier offengelegt, was Menschen riskierten, die Widerstand gegen Hitler wagten. Die Ambivalenz menschlichen Handelns war thematisiert – erst der Verlust des Sohns ließ die Quangels Widerständler werden, in den Jahren davor hatten sie sich dem Nazi-Regime angepasst wie andere auch. Die Angst der Bevölkerung wurde deutlich: Mochten manche aus Regimetreue Quangels Postkarten abgeliefert haben, taten es die meisten wohl eher, weil sie fürchteten, sonst als infiziert zu gelten und selbst in die Mühlen der nationalsozialistischen Justiz zu geraten. Oder sie taten es, um vor der Obrigkeit gut dazustehen – womit auch das Thema Geltungsbedürfnis angesprochen war. Vor allem aber eröffnete mir Falladas Roman die Wirklichkeit des nationalsozialistischen Alltags, in Arztpraxen und Kanzleien, in kleinen Geschäften und muffigen Wohnungen, im ganzen Gewoge von Ehrgeiz und Anstand, Lügen und Betrug und anderen Äußerungen der menschlichen Natur. Überraschend normal war dieser Alltag. So also hatten die Leute gelebt, nicht viel anders als zu anderen Zeiten. Dennoch unterschied sich ihr Alltag wesentlich von unserem: Draußen marschierten nicht SS-Einheiten in Uniformen aus dem Kostümfundus, wie wir sie aus historischen Filmen kennen, sondern die echte SS, und Hakenkreuzfahnen wehten nicht von Gebäuden, weil ein Regisseur es wollte, sondern weil Hitler es befohlen hatte und sie den nationalsozialistischen Machtapparat verkörperten, der jeden vernichten konnte, der ihm zu nahe kam. So unmittelbar war mir die nationalsozialistische Wirklichkeit noch nicht vor Augen geführt worden.
Wer war Hans Fallada? Ich wollte mehr über ihn wissen. Er hatte die gesamte NS-Zeit in Deutschland verbracht, hatte im Dörfchen Carwitz in Mecklenburg Landwirtschaft betrieben und in rasendem Tempo Bücher geschrieben. Im Carwitzer Archiv entdeckte ich seinen Kalender. Tag für Tag hatte er eingetragen, woher der Wind wehte, wie viel Regen fiel, was gesät und geerntet wurde und die Tiere zu fressen bekamen. Von der Politik kein Wort. Für mich war dieser Kalender eine Offenbarung. Hier hatte jemand konsequent weggeschaut und sich ganz aufs Private und die Natur zurückzuziehen versucht – ohne Erfolg, natürlich. Man konnte im Dritten Reich nicht unpolitisch sein, auch auf Falladas Carwitzer Anwesen nicht, wo die Straße aufhört und man nur noch auf Feldwegen weiterkommt.
Was war mit den anderen hiergebliebenen Autorinnen und Autoren? Ihr Ruf ist nicht gut. Sie hatten «mitgemacht», Bücher veröffentlicht, Lesereisen unternommen, Preise erhalten, vielleicht sogar dem «Führer» die Hand gedrückt. Bekannte Namen sind darunter, Gottfried Benn oder Erich Kästner, aber auch solche, die man kaum noch kennt, Ina Seidel, Börries von Münchhausen, Agnes Miegel, Hans Grimm, Rudolf G. Binding, Wilhelm Schäfer, Emil Strauß und viele andere. Die Geschichte, so schien es, hatte ihr Urteil gefällt, mochten sie in Frieden ruhen und nicht mehr genannt werden. Ich mochte mich diesem Verdikt nicht anschließen. Ganz so einfach konnte es nicht sein. Würden sie, sähe man genauer hin und ließe es nicht beim Vorwurf des «Mitmachens» bewenden, nicht ein ähnlich komplexes Bild menschlichen Verhaltens offenbaren wie die Figuren in Falladas Roman? Würde eine Beschäftigung mit ihnen nicht Einblicke in die Mechanismen des Nationalsozialismus gewähren und Fragen nach der Lebenswirklichkeit meiner Eltern und ihrer Generation beantworten, die mich seit meiner Jugend umtreiben? Vielleicht ließe sich sogar etwas über die Jetztzeit lernen. Ich wollte eine Untersuchung wagen.
Ich entdeckte die unerschöpfliche Quelle des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, verbrachte viele Wochen im dortigen Lesesaal und in anderen Archiven. Ich fand Vieles bestätigt, was ich aus Büchern wusste, aber auch viel Niegesehenes, Persönliches, das mir den damaligen Alltag näherbrachte und politische Entwicklungen in neuem Licht erscheinen ließ. Es bildete sich ein Kreis von Persönlichkeiten, deren Lebensweg ich begleiten wollte und die mir repräsentativ für die Gesamtheit erschienen. Die Auswahl ist subjektiv, aus Platz- und Konzeptionsgründen, wichtige Figuren fehlen. Die Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger, zum Beispiel, sind für sich ein so großes Thema, dass sie ein eigenes Buch rechtfertigen würden, und anstatt sie kursorisch im Stil eine Enzyklopädie abzuhandeln, habe ich ganz auf sie verzichtet. Auch die Verfasser der typischen «Blut und Boden»-Literatur interessierten mich weniger. Ausgangspunkt war für mich die Abteilung für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, in der die damaligen Größen der Zunft versammelt waren, sowohl vor als auch nach 1933. Wie waren die Beziehungen untereinander? Was waren ihre Ansichten, privat und öffentlich? Was haben sie einander geschrieben? Hier wollte ich Atmosphärisches berichten, auf Zwischentöne hören, Grauzonen erspüren, als Ergänzung zu hervorragenden wissenschaftlichen Arbeiten von Autoren wie Jan-Pieter Barbian, Götz Aly, Ernst Loewy, Léon Poliakov, Joseph Wulf, Ralf Schnell, Werner Mittenzwei und vielen anderen, auch zu Victor Klemperers Tagebüchern und seinen Untersuchungen zur «LTI», der «Lingua Tertii Imperii».
Wer über hiergebliebene Autorinnen und Autoren schreibt, darf die literarische Emigration nicht außer Acht lassen. Man glaube nicht, dass alle Verbindungen abgerissen waren. Beide Seiten kannten sich von früher, aus der gemeinsamen Arbeit in Ausschüssen und von vielfältigen anderen Gelegenheiten und beobachteten einander über die Grenzen des Exils genau. Und natürlich ist über das Nachher zu berichten, als der Nationalsozialismus vorbei und die Schande offenbar war, als emigrierte Kolleginnen und Kollegen zurückkehrten und die Hiergebliebenen sich bittere Fragen zu stellen hatten. Was lehrt uns der Blick auf diese Zeit?
Das Terrain ohne Angst zu betreten, war nicht einfach. Der Nationalsozialismus ist ein riesiges Thema, an dem sich noch viele Generationen abarbeiten werden – wer ihn als Petitesse bezeichnet, wie das heute manche tun, hat seine Dimensionen nicht einmal im Ansatz begriffen. Dennoch scheint mir ein gewisses Maß an Unvoreingenommenheit auch beim Umgang mit dieser schwierigen Materie unerlässlich. Wer sich ihr mit Scheuklappen nähert, wird nicht viel Neues zutage fördern. Des Lernens ist kein Ende und das Verstehen ein langer Prozess. Welche Chimäre ist doch der Mensch! Welch Unerhörtes, welch Ungeheuer, welch Chaos, welch widersprüchliches Wesen, welch Wunder! Dieser Gedanke von Blaise Pascal hat mir Mut gemacht. Und wenn mich die Angst überkam, erinnerte ich mich an ihn.
— 1 —
Am 15. Februar 1933, einem Mittwoch, fand um 8 Uhr abends eine Außerordentliche Sitzung der Preußischen Akademie der Künste in Berlin statt. Einberufen hatte sie Max von Schillings, Nachfolger Max Liebermanns, der nach zwölfjähriger Tätigkeit sein Amt als Akademiepräsident niedergelegt hatte. Erst am Nachmittag hatte von Schillings die Einladung per Rohrpost hinausgeschickt, wohl wissend, dass viele Mitglieder so kurzfristig nicht verfügbar sein und sogenannte Auswärtige kaum extra anreisen würden. Sie enthielt nur einen Tagesordnungspunkt: «Lebenswichtige Fragen der Akademie». Am Mittag desselben Tages hatte ihn der Kommissarische Preußische Kultusminister Bernhard Rust zu sich beordert und ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder trete Heinrich Mann als Vorsitzender der Abteilung für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste mit sofortiger Wirkung zurück oder die Akademie als Ganzes werde aufgelöst. Warum diese Drohung? Was war geschehen?
Seit dem 30. Januar war Adolf Hitler Reichskanzler, ernannt durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Jahrelang hatte man es befürchtet, davor gewarnt, die Wahrscheinlichkeit taxiert und kleingeredet, Symposien zur Lage der Nation abgehalten, die Republik gegen Kritiker verteidigt, Hoffnung geschöpft, als die NSDAP bei den Reichstagswahlen im November 1932 Einbußen erlitt, bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es wirklich geschehen könnte, noch am 29. Januar hatte die «Frankfurter Zeitung» getitelt «Hitler oder Papen?», dann war es doch geschehen, und alle Warner und Mahner mussten einsehen, dass Hitler, der Kleinbürger, der Mann aus dem Nichts, es geschafft hatte und an der Spitze der Regierung stand. Der Fackelzug am Abend seiner Ernennung, die spontanen Freudenkundgebungen an vielen Orten zeigten, welchen Rückhalt er in der Bevölkerung bereits besaß.
Für den 5. März hat er Wahlen angekündigt, die ihn im Amt bestätigen sollen, eine letzte Chance, die Uhr zurückzudrehen und eine in den Augen Vieler unheilvolle Entwicklung abzuwenden. Hierzu war am 11. und 12. Februar folgender Dringender Appell! an Berliner Litfaßsäulen zu lesen: Die Vernichtung aller persönlicher und politischer Freiheit in Deutschland steht unmittelbar bevor, wenn es nicht in letzter Minute gelingt, unbeschadet von Prinzipiengegensätzen alle Kräfte zusammenzufassen, die in der Ablehnung des Faschismus einig sind. Die nächste Gelegenheit dazu ist der 5. März. Es gilt, diese Gelegenheit zu nutzen und endlich den Schritt zu tun zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront, die nicht nur für die parlamentarische, sondern auch für die weitere Abwehr notwendig sein wird. Wir richten an jeden, der diese Überzeugung mit uns teilt, den dringenden Appell, zu helfen, daß ein Zusammengehen der SPD und KPD für diesen Wahlkampf zustande kommt, am besten in Form gemeinsamer Kandidatenlisten, mindestens jedoch in der Form von Listenbindung. Insbesondere in den großen Arbeiterorganisationen, nicht nur in den Parteien, kommt es darauf an, hierzu allen erdenklichen Einfluß aufzubieten. Sorgen wir dafür, daß nicht Trägheit der Natur und Feigheit des Herzens uns in die Barbarei versinken lassen![1] Sechzehn Personen haben unterschrieben, unter ihnen die Akademiemitglieder Käthe Kollwitz und Heinrich Mann. Darunter stand der Satz: Setzt die Verantwortlichen unter Druck! Als Initiator firmierte der Internationale Sozialistische Kampfbund. Der Aufruf ist nicht neu, hing gleichlautend schon vor den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 aus, bei denen die NSDAP mit 37,3 Prozent stärkste Kraft geworden war. Er ist damals kaum beachtet worden, jetzt haben sich die Verhältnisse geändert.
Der Kommissarische Kultusminister Bernhard Rust ist fünfzig Jahre alt und von Beruf Studienrat. Seit 1930 ist er direktgewählter Reichstagsabgeordneter der NSDAP für den Wahlkreis Hannover-Süd. Bis vorige Woche war er niedersächsischer Gauleiter seiner Partei, im Staatsapparat ohne Bedeutung, jetzt ist er Chef einer mächtigen Behörde, die Bildung, Erziehung und öffentliches geistiges Leben des größten deutschen Einzelstaats lenkt. Neue Besen kehren gut, mag er gedacht haben, und wer hart durchgreift, empfiehlt sich für Höheres. Der Aufruf zur Bildung einer einheitlichen Arbeiterfront ist eine willkommene Gelegenheit, Autorität zu demonstrieren. Zwei herausragende Mitglieder der staatlich finanzierten Preußischen Akademie der Künste, Heinrich Mann als Vorsitzender der Abteilung für Dichtkunst und Käthe Kollwitz als Professorin der Kunstabteilung, haben die Regierung, der sie dienen sollten, öffentlich mit dem Wort «Barbarei» in Verbindung gebracht. Das ist für den Nationalsozialisten Bernhard Rust ein Skandal, damit muss jetzt Schluss sein.
Vor Studenten des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds in der Berliner Universität erklärt Rust seine Position: Das Schlagwort von der Freiheit sei Unsinn, nicht das Individuum, sondern das Volk sei das Maß aller Dinge. Er werde ganz entschieden alle Versuche bekämpfen, die deutschen Werte in ihrer Eigenart zu zerstören. Dann wird er konkret: Lassen Sie mich ein Beispiel auswählen, an dem ich zeigen kann, was ich zu tun gedenke. Es gibt da z.B. eine Dichterakademie. Die hat auch einen Leiter. In den letzten Tagen hat man den Namen dieses Mannes von den Litfaßsäulen prangen sehen, der die Sozialdemokraten und Kommunisten aufforderte, die «gemeinsame Abwehrfront» zu formieren. Mir scheint, es sei nicht nur jener Leiter schuldig, sondern ebenso schuldig alle jene, die diesen Mann, Herrn Heinrich Mann, zum Leiter ihrer Akademie erkoren. Seien Sie unbesorgt! Ich werde dem Skandal an der Akademie ein Ende bereiten![2]
*
Braucht man eine Dichterakademie? Die Preußische Akademie der Künste, 1694 vom Großvater Friedrichs des Großen gegründet, war mehr als 200 Jahre lang nicht dieser Meinung. Erst 1926 beschloss man, Dichter dazuzuholen und eine Abteilung für Dichtkunst einzurichten. Eine Errungenschaft der Republik sollte es sein, gefördert vom damaligen Preußischen Kultusminister Carl-Heinrich Becker und dem Maler Max Liebermann, der seit 1920 der Gesamtakademie als Präsident vorstand. Aber schon der Start war holprig. Mehrere klangvolle Namen lehnten dankend ab, und was sich schließlich zusammenfand, war ein mehr oder minder getreues Abbild der fragmentierten, zerstrittenen Gesellschaft der Weimarer Republik. National-konservative bis nationalistische Autoren saßen neben Bürgerlich-Liberalen, Linken, Expressionisten, Sozialisten, Pazifisten, das konnte nicht gut gehen und ging nicht gut. Während die Weltwirtschaftskrise zahllose Existenzen vernichtete und die Arbeitslosigkeit in ungeahnte Höhe trieb, diskutierte die Abteilung für Dichtkunst Satzungsfragen und focht Richtungskämpfe aus. Thomas Mann verwendete viel Zeit und Briefpapier darauf, sie zusammenzuhalten, aber selbst die Autorität eines Nobelpreisträgers vermochte es nicht, die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken.
1931 kam es zum großen Krach. Weil sie ihre Forderung nach «deutschen Inhalten» unerfüllt und sich von linken Autoren wie dem 1927 zugewählten Alfred Döblin unterdrückt sahen, verließen die national-konservativen Autoren Wilhelm Schäfer, Erwin Guido Kolbenheyer und Emil Strauß die Abteilung im Zorn. Der Zwischenfall schlug hohe Wellen, die Presse höhnte, Hermann Hesse nahm die Gelegenheit wahr, ebenfalls auszutreten, und ärgerte sich, als man bei ihm ähnliche Motive wie bei den drei anderen vermutete, während er doch mit ihnen nichts zu tun haben wollte. Thomas Mann versuchte, ihn zur Rückkehr zu bewegen – Wie heute die Dinge in Deutschland geistig liegen, gehören Sie, lieber Herr Hesse, zur Akademie[3] –, aber vergeblich. Im Januar 1932 wählte die Abteilung Heinrich Mann, den Großschriftsteller der bürgerlichen Linken, zum Vorsitzenden und die geschätzte Dichterin, Historikerin und Philosophin Ricarda Huch zu seiner Stellvertreterin, obgleich sie mit ihm inhaltlich und persönlich wenig gemein hatte. Im Zuge der Neuordnung wurde Anfang 1932 auch der Arzt, Lyriker und Essayist Gottfried Benn hinzugewählt und, als zweite Frau neben Ricarda Huch, die 47-jährige Lyrikerin und Prosaautorin Ina Seidel, die 1930 mit ihrem historischen Roman «Das Wunschkind» einen großen Erfolg errungen hatte.
*
Am Abend des 15. Februar 1933 versammeln sich etwa fünfzig Personen im Großen Sitzungssaal der Akademie im ehemaligen von Arnim’schen Palais am Pariser Platz 4 in der Nähe des Brandenburger Tors. Anwesend sind vor allem bildende Künstler und Architekten, von den Dichterinnen und Dichtern, um die es in erster Linie geht, sind nur sechs erschienen. Das Protokoll schildert den Lauf der Ereignisse. Präsident Max von Schillings, Komponist und Dirigent, 65 Jahre alt, ein Mann mit langer Erfahrung als Generalmusikdirektor in Stuttgart und Generalintendant der Preußischen Staatsoper, bittet um Vertraulichkeit und verliest den strittigen Aufruf. Zwar habe er dem Minister gesagt, dass für das Verhalten zweier Mitglieder nicht die ganze Akademie verantwortlich gemacht werden könne, aber eingeräumt, dass deren Verhalten nicht mit ihrer Stellung in der Akademie vereinbar sei, weshalb sie aus dem Kreis der Akademie ausscheiden müssten. Warum er das demokratische Recht der Redefreiheit nicht verteidigt und den Minister nicht darauf hingewiesen hat, dass dieser gar nicht befugt ist, eine mehr als 200 Jahre alte Institution einfach aufzulösen, sagt er nicht. Käthe Kollwitz, Pazifistin, seit 1919 Professorin der Preußischen Akademie, Trägerin des höchsten preußischen Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und Kunst und erstes weibliches Akademiemitglied überhaupt, hat schon am Mittag freiwillig auf ihre Mitgliedschaft verzichtet, um «Schaden von der Akademie» zu wenden, so die offizielle Begründung. Wer wollte, konnte darin eine Art Schuldbekenntnis erblicken. Es geht also nur noch um Heinrich Mann.
Warum ist er nicht hier, will Gottfried Benn wissen. Hat man ihn informiert? Der Präsident weicht aus, Ludwig Fulda, 71 Jahre alt, jüdischer Bankierssohn aus Frankfurt, einer der meistgespielten Bühnenautoren seiner Epoche, wiederholt die Frage. Nein, konzediert der Präsident, Heinrich Mann wurde nicht informiert. Die Sitzung wird unterbrochen und der Lyriker und Abteilungssekretär Oskar Loerke losgeschickt, ihn telefonisch herbeizurufen. Heinrich Mann trifft gegen dreiviertel zehn im Akademiegebäude ein und spricht im Beisein Loerkes mit dem Präsidenten in dessen Dienstzimmer. Beide kehren ohne ihn in den Sitzungssaal zurück. Der Präsident verkündet: Heinrich Mann hat den Vorsitz der Dichter-Abteilung niedergelegt und auf seine Mitgliedschaft in der Akademie verzichtet – er habe anerkannt, dass der Präsident nicht anders handeln konnte, da er an das Wohl und Bestehen des Ganzen denken müsse und habe der Akademie aus einer schweren Lage heraushelfen wollen. Alfred Döblin, Autor des Romans «Berlin Alexanderplatz» und im Akademiegeschehen stets auf der Seite Heinrich Manns, protestiert: Heinrich Mann hätte Gelegenheit haben müssen, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, es sei zu bedauern, dass niemand daran gedacht habe, dies zu fordern. Der Präsident kontert: Er habe Heinrich Mann nicht in den Sitzungsaal gebeten, um ihm eine unangenehme Situation zu ersparen. Im Übrigen sei er noch im Haus – werde sein Erscheinen gewünscht? Die Mehrheit lehnt dies ab. Gut, sagt der Präsident, dann müsse es damit sein Bewenden haben.
Hier schaltet sich Stadtbaurat Martin Wagner ein, Ostpreuße, 48 Jahre alt, SPD-Mitglied, Gewerkschafter und gemeinsam mit Mies van der Rohe und Walter Gropius Förderer des sozialen Wohnungsbaus: Zwei Mitgliedern, die lediglich ihr verfassungsmäßiges Recht der freien Meinungsäußerung genutzt hätten, sei Unrecht geschehen – der Präsident hätte dem Minister ihren Kopf nicht anbieten dürfen. Der Präsident rechtfertigt sich: Hätte er die ganze Akademie um zweier Mitglieder willen opfern sollen? Immerhin hätten sie durch ihre Unterschrift gegen das Taktgefühl verstoßen. Dann möge darüber abgestimmt werden, fordert Stadtbaurat Wagner, dass der Präsident ihnen wegen eines Verstoßes gegen das Taktgefühl den Austritt nahegelegt habe. Der Antrag wird abgelehnt. In diesem Fall sei festzuhalten, beharrt Wagner, dass die Akademie damit einverstanden ist, dass zwei Mitglieder wegen eines Verstoßes gegen das Taktgefühl ausscheiden mussten. Gottfried Benn unterbricht: Wagner verschiebe die Sachlage, es handle sich lediglich darum, ob der Präsident richtig gehandelt habe, und dies sei der Fall. Stadtbaurat Wagner erklärt seinen Austritt und verlässt den Saal. Einen Monat später ist er sein Amt los, von der neuen Regierung «beurlaubt». Architekt Hans Poelzig, Erbauer des «Hauses des Rundfunks» an der Berliner Masurenallee und des «Kinos Babylon» am Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz), dankt dem Präsidenten dafür, daß er die Versammlung vor einer Abstimmung bewahrt hat, die im Grunde genommen völlig unmöglich gewesen wäre, denn in diesem Hause gehe es um Kunst, nicht um Politik. Laut Protokoll schließt die Sitzung gegen 11 Uhr.[4]
Heinrich Mann hat zu dieser Zeit das Akademiegebäude bereits verlassen, ohne Abschied von den Kollegen, auf Nimmerwiedersehen. Warum er derart kampflos aufgibt, sich nicht wehrt, sein Amt nicht verteidigt, seine in zahllosen Äußerungen formulierte politische Überzeugung im entscheidenden Moment preisgibt, bleibt sein Geheimnis. Er habe, sagt er später, seine Unterschrift unter den «Dringenden Appell» damals bereits vergessen gehabt und sei überrascht gewesen, als man ihn zu später Stunde in die Akademie rief. In seinen Memoiren «Ein Zeitalter wird besichtigt», geschrieben zwischen 1941 und 1944 in Los Angeles, schildert er die Episode, aber schweigt über seine Beweggründe.
Theoretisch wäre jetzt die Gelegenheit da, ein Zeichen zu setzen. Die Dichter-Abteilung könnte geschlossen zurücktreten, aus Protest gegen das selbstherrliche und unrechtmäßige Vorgehen eines in seinem Amt noch unbestätigten Ministers. Praktisch ist es eine Unmöglichkeit, zu disparat sind die Meinungen der Mitglieder. Ein Blick in die Zeitungen am nächsten Morgen lässt manche von ihnen vielleicht die eigene Zurückhaltung preisen. Denn ein etwa erhoffter öffentlicher Aufschrei bleibt aus, die Presse ist mehrheitlich auf der Seite des Ministers. Endlich sind Heinrich Mann und Stadtbaurat Wagner aus der preußischen Akademie der Künste ausgeschieden, in der sie beide ihrer inneren Haltung nach zur deutschen Kunst und Kultur nichts zu suchen hatten, jubelt die «Berliner Börsenzeitung».[5] «Der Tag» titelt: Kunst – nicht Rotfront! Diese Akademie kann kein Schlupfwinkel für Kräfte der Verneinung sein, die unfähig sind, die Nation als ein Ganzes zu sehen und sich zum Klassenkampf bekennen. […] Das junge Deutschland will mit solchen Exponenten eines traurigen Gestern nichts mehr zu tun haben. […] Mit einer Beschränkung der Meinungsfreiheit hat dieser selbstverständliche Akt der Selbsthilfe nicht das mindeste zu tun.[6] Aber auch die 1891 gegründete «Berliner Illustrierte Zeitung» des immer noch in jüdischem Familienbesitz befindlichen Ullstein Verlags weint den Ausgeschiedenen nicht nach: Die größten Rufer, die eben noch die höchste Literatur-Instanz mißbrauchen wollten, um für die sozialdemokratisch-kommunistische Einheitsfront zu werben, mußten einsehen, daß in der neuen Zeit kein Platz mehr für sie auf den Akademiesesseln war. […] Das ist gut so. Denn nun kann die Abteilung der Dichter in der Preußischen Akademie vielleicht wieder den Zwecken dienen, zu denen sie gegründet wurde – nicht mehr der Asphalt, sondern die Scholle sollten ihr künftiges Wahrzeichen sein.[7] Der «Völkische Beobachter» nimmt gleich die ganze Dichterakademie aufs Korn, mit höhnischen Zitaten und dem Hinweis, dass selbstverständlich auch das Judentum in der Dichterakademie außerordentlich stark vertreten gewesen sei.[8] Einzig die «Vossische Zeitung» (sie stellt 1934 auf Druck des Regimes ihr Erscheinen ein), die kommunistische «Welt am Abend» und der sozialdemokratische «Vorwärts» (beide werden noch im Februar 1933 von der Gestapo verboten) ergreifen Partei für die Ausgestoßenen. Das «Berliner Tageblatt» (von den Nazis kritisch beäugt) berichtet neutral.
Die verbliebenen Akademieautoren verfassen Stellungnahmen – was bleibt ihnen anderes übrig? Die meisten plädieren für Zurückhaltung und Diplomatie. Heinrich Mann sei ausgetreten, meint Walter von Molo, Bestsellerautor und zeitweise glückloser Vorsitzender der Abteilung für Dichtkunst, um die drohende Auflösung der Akademie zu verhüten – diese Gefahr sei vorerst gebannt, warum solle man sie erneut heraufbeschwören?[9] Der jüdische Lyriker Alfred Mombert meint, Heinrich Mann hätte wissen müssen, dass eine Regierung, die den Kommunismus für ihren Todfeind erklärt, sich einen Aufruf wie den von ihm unterzeichneten nicht gefallen lassen KONNTE, weshalb er auch das Vorgehen des derzeitigen verantwortlichen Reichskommissars nicht mißbilligen könne. Im Übrigen sei es unverständlich, wie ein einsichtiger Geist sich heute vom Kommunismus die Rettung der deutschen Kultur erhoffen könne.[10] Josef Ponten, Schriftsteller, Hobby-Geograph und gefürchteter Briefschreiber stellt eine Stimmung von Verdrossenheit und Akademiemüdigkeit fest, die von Anfang an bestanden habe und bis heute nicht beseitigt sei. Heinrich Mann habe mit seinem Austritt das Richtige getan, andere, welche die Lage von heute belasten, sollten seinem Beispiel folgen.[11]
Empfänger der Stellungnahmen ist in den meisten Fällen Oskar Loerke, 49 Jahre alt, Lyriker, Sekretär der Abteilung für Dichtkunst und seit 1917 Lektor des S. Fischer Verlags, ein unglücklicher, überforderter Mann. Akademiequerelen sind ihm ein Graus, sein Beruf ist ihm eine Last, aber er braucht das Geld zur Abzahlung seines Hauses in der Gartenstadt Frohnau im Norden Berlins. Tag für Tag landen Manuskripte auf seinem Bürotisch, gute und schlechte, er muss sie alle lesen, das schnürt ihm den Atem ab für das eigene Schaffen. Im Verlag gehen Literaturstars ein und aus, sie werden hofiert, er steht dabei und leidet, denn er ist doch selbst ein Dichter, wenn es nur jemand bemerkte. Dass er für seine Lyrik 1913 den Kleist-Preis erhalten hat, scheint man vergessen zu haben. Dabei hat er viele Freunde, teils aus der Verlagsarbeit, teils aus persönlichem Umgang. Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Martin Buber, Lovis Corinth, Yvan und Claire Goll, Max Slevogt – sie alle kennen und schätzen Oskar Loerke. Der Zeichner Emil Orlik ist ein enger Freund, Gerhart Hauptmann ihm fast väterlich zugetan. Aber seine verwundete Seele will es nicht wahrhaben. Sein Trost ist die Musik. Als ambitionierter Pianist vertieft er sich in die Werke Buxtehudes, Pachelbels, Pergolesis, Frescobaldis, schwelgt in der Chromatik Max Regers und in den Weiten des Wohltemperierten Klaviers, die Harmonik eines Bach-Chorals kann ihn tagelang begeistern, wenn nur alles andere nicht wäre. Möglicherweise muß ich zu Grunde gehen, schreibt er am 19. Februar 1933 in sein Tagebuch. Die Nerven halten nicht mehr. Trauer, vor furchtbare Konsequenzen gestellt zu sein, ohne das mindeste begangen oder auch nur gewußt zu haben.[12]
Jetzt hat er die unangenehme Aufgabe, Thomas Mann, der sich gerade in Paris aufhält, den erschütternden Vorgang des Ausscheidens seines Bruders Heinrich zu erläutern, wobei er zugeben muss, dass dessen Rückhalt auch innerhalb der Akademie schwach war. Selbst politisch linksstehende Mitglieder hätten sich mit dem fraglichen Aufruf in keiner Weise identifizieren können, ja ihn als Angriff auf das verstanden, was er zu verfechten vorgab: das Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie hätten sich vom Internationalen Sozialistischen Kampfbund, dem Herausgeber des Plakats, nicht terrorisieren lassen wollen, und Terror sei es in der Tat gewesen, denn wer sich dem Aufruf nicht angeschlossen habe, sei der Trägheit der Natur und Feigheit des Herzens beschuldigt worden. In der Anlage sende ich Ihnen eine Abschrift des Appells sowie meine Notizen. In alter herzlicher Verehrung grüßt Sie Ihr Loerke.[13]
Bei der ersten Akademiesitzung nach Heinrich Manns Weggang am 20. Februar 1933 meint Oskar Loerke, noch nie eine so gewittrige Stimmung verspürt zu haben.[14] Die Unfähigkeit, Heinrich Manns Verhalten einzuordnen, macht jede Übereinkunft unmöglich. Behauptet Leonhard Frank, er sei unter Druck ausgeschieden, rufen andere ihm zu: Unter einem Druck, den er sich selbst geschaffen hat. Die Ärzte Gottfried Benn und Alfred Döblin sind stets geteilter Meinung, Präsident von Schillings rechtfertigt sich mit immer den gleichen Argumenten. Zum Versammlungsleiter wählt man den Lyriker und Prosaautor Rudolf G. Binding, Akademiemitglied seit 1932, Dichter mit großer Leserschaft und eigenwilliger Interpunktion (Kommata liebt er nicht und lässt sie meistens weg). Eine Presseerklärung wird formuliert: Man empfinde tiefes Bedauern über das Ausscheiden des großen Künstlers Heinrich Mann und sei entschlossen, keinen Schritt von der Pflicht abzuweichen, die Freiheit des künstlerischen Schaffens zu schützen. Gleichzeitig stellt man heraus, dass der Reichtum der deutschen Kunst zu allen Zeiten aus der Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen erwachsen sei, wodurch man zugibt, dass auch die faschistische dazugehört.[15] Die Erklärung wird noch vor der Unterschrift des Präsidenten an die Presse durchgestochen, der Präsident verweigert seine Zustimmung, Alfred Döblin, der Indiskretion verdächtigt, beteuert seine Unschuld, das Ergebnis der Sitzung geht als «verhinderte Presseerklärung» in die Geschichte ein.
Am 28. Februar brennt der Reichstag. Die nationalsozialistische Regierung macht Kommunisten für den Brand verantwortlich und erlässt die «Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat». Die Weimarer Verfassung gilt faktisch nicht mehr, Presse- und Versammlungsfreiheit, Post-, Telegraph- und Fernsprechgeheimnis werden außer Kraft gesetzt, willkürliche Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen gestattet. KPD-Funktionäre werden festgenommen, darunter viele Reichstagsabgeordnete, das Wort von der «Schutzhaft» macht die Runde. Heinrich Mann überquert zu Fuß die französische Grenze, Thomas Mann, Fritz Kortner, Ernst Lubitsch und Oskar Maria Graf kehren nicht nach Deutschland zurück, Alfred Kerr, Bertolt Brecht und Dutzende Andere fliehen nach Wien, Prag oder Paris. Ein substantieller Teil des kulturellen Lebens Deutschlands ist auf einmal nicht mehr da. Die Hiergebliebenen sind unschlüssig. Mussten Kolleginnen und Kollegen gar so überstürzt abreisen? Sollte man nicht erst einmal in Ruhe abwarten?