»Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht. Die letzten Monate waren hart, mehr für sie als für mich. Sie hat gekämpft um ihr selbstständiges Leben, mit allen Mitteln, sie hat getobt, sie hat geschmeichelt, sie hat mit den besten Anwälten gedroht, sie kannte die Namen, obwohl sie gar nicht mehr telefonieren konnte. Sie vergaß fast alles, nur nicht ihren Freiheitswillen. Sie ist eine große Kämpferin, die man vor der letzten Kraft schützen musste, die sie noch besaß. Jetzt hat sie endlich aufgegeben. Meinen Vater habe ich geliebt, vor meiner Mutter hatte ich Angst. Wir haben jahrelang nicht miteinander gesprochen. Zeitweise habe ich sie gehasst. Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe. Erst als sie schwächer wurde, konnte ich das plötzlich. Es ist leichter, zu verzeihen, wenn man der Stärkere ist.«
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2460-9
© 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
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Autorenfoto: Hans Scherhaufer, Berlin
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Gerechtigkeit ist nur in der Hölle, im Himmel ist Gnade,
und auf Erden ist das Kreuz.
Gertrud von le Fort
Ich bin in der Wohnung meiner Mutter, morgen kommen Möbelpacker. Sie ist jetzt im Heim und versteht nicht mehr, was um sie herum geschieht. Die letzten Monate waren hart, mehr für sie als für mich. Sie hat gekämpft um ihr selbstständiges Leben, mit allen Mitteln, sie hat getobt, sie hat geschmeichelt, hat mit den besten Anwälten gedroht, sie kannte die Namen, obwohl sie gar nicht mehr telefonieren konnte. Sie vergaß fast alles, nur nicht ihren Freiheitswillen. Sie ist eine große Kämpferin, die man vor der letzten Kraft schützen musste, die sie noch besaß. Jetzt hat sie endlich aufgegeben.
Meinen Vater habe ich geliebt, vor meiner Mutter hatte ich Angst. Wir haben jahrelang nicht miteinander gesprochen. Zeitweise habe ich sie gehasst. Als sie sehr jung Mutter wurde, war ich wohl so etwas Ähnliches wie jetzt die Krankheit, etwas, das sie daran hinderte, frei zu sein. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht verzeihen kann, obwohl ich sie verstehe. Erst als sie schwächer wurde, konnte ich das plötzlich. Es ist leichter, zu verzeihen, wenn man der Stärkere ist. Wenn man sich ohnmächtig fühlt, gibt einem der Hass wahrscheinlich die Kraft, die man braucht. Und irgendwann muss man sowieso damit aufhören, den Eltern die Schuld an dem fehlerhaften Menschen zu geben, der man ist.
Sie war klug und stark, aber für Frauen wie sie war die Zeit noch nicht reif. Kurz vor dem Abitur hat sie die Schule geschmissen, weil sie dachte, ein toller Mann, mein charismatischer Vater, der Jagdflieger und Jazzmusiker, sei die Lösung für sie. Danach probierte sie es mit anderen Männern, aber das Problem, das sie hatte, lässt sich nicht mit der richtigen Partnerwahl lösen. Sie durfte nie zeigen, was sie kann, und wurde sehr wütend. Das hat sie mir, ihrem Kind, zu spüren gegeben. Das Kind in mir wird ihr nicht verzeihen, der Erwachsene kann es.
Ich habe die Möbel und sonstigen Sachen zusammengesucht, die in ihrem neuen, kleinen Zimmer um sie sein sollen und die sie vielleicht mag, sie selbst kann das nur noch ganz vage sagen. Der Plattenspieler, eine schöne Vase. Ein Foto des Geliebten, an dem die Ehe mit meinem Vater zerbrach. Das immerhin weiß ich von ihr. Darf ich ihre Mails lesen? Besser, man lässt es. Ich hatte eine Fantasie, all die Söhne und Töchter, die in genau diesem Moment genau das Gleiche tun und die gleichen Fragen wälzen wie ich, ein riesiger Split-Screen. Und dann dachte ich, dass in einigen Jahren, gar nicht so vielen, meine Söhne oder meine Witwe das Gleiche tun werden wie ich heute. Man muss rechtzeitig aufräumen.
Sie hat jede Karte aufgehoben, die ich ihr geschickt habe, jedes Foto, Zeitungsartikel, kleine Geschenke, alles, auch in den Jahren, in denen wir nicht miteinander sprachen. Sie hat mich nie aufgegeben, ich sie dagegen schon. Ich schämte mich, weil ich gnadenlos war. Ich dachte, es ist gut, dass sie nicht einfach so stirbt, sondern noch eine Weile in diesem Zwischenreich lebt. Sie wird nicht verstehen, was ich ihr sage, aber sie wird spüren, wenn ich sie streichle.
Dies ist eine Geschichte, die ich erst heute schreiben kann, nach so langer Zeit, noch vor 20 Jahren hätte ich es nicht gekonnt. Sie würde diese Geschichte nicht mögen. Ich mag sie auch nicht. Wir sehen beide nicht gut aus darin.
Und dies ist ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. Ein Anderer als ich könnte ihn nicht schreiben, denn ich arbeite, wie jeder Romanautor, im Steinbruch meiner Erinnerungen, eigne mir dieses an, verwerfe jenes, erfinde dazu und vergesse. Ich habe mir alle Freiheiten genommen, die das Genre Roman gestattet. Für manche Personen gibt es Vorbilder, aber in diesem Roman leben sie alle ihr eigenes Leben, keine reale Person ist gemeint. Wer glaubt, sich zu erkennen, irrt sich. Ich beschreibe nur Zustände. Wenn aber die vielen etwas wiedererkennen, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, habe ich mein Ziel erreicht.
Der Erzähler heißt Frank.
An einem bestimmten Punkt der Geschichte habe ich mich gefragt: Was hätte ich getan, wenn ich ein anderer wäre? Was hätte geschehen können, wenn ich einen anderen Ausweg gesucht hätte als den, den ich schließlich gefunden habe? Als ich mit dem Schreiben anfing, ein paar Tage vor jenem Tag in der Wohnung meiner Mutter, dachte ich, dass es eine Erleichterung wäre zu erzählen. Das war ein Irrtum.