Foto: © Julien Faugere
Martin Michaud hat als Musiker und Anwalt gearbeitet, bevor er zu schreiben begann. Heute ist er einer der erfolgreichsten Krimiautoren Kanadas. Seine Reihe um Victor Lessard wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Arthur Ellis Award und der Prix Saint-Pacôme für Kriminalliteratur. Martin Michaud lebt in Montreal.
Die Übersetzer
Anabelle Assaf, geb. 1986, hat Literaturwissenschaft in Berlin und Montreal studiert. Sie ist als Literaturagentin tätig und übersetzt Literatur aus dem Englischen und Französischen.
Reiner Pfleiderer, geb. 1954, hat Germanistik und Romanistik studiert. Er übersetzt Belletristik und Sachbücher mit Schwerpunkt Politik und Zeitgeschichte aus dem Englischen und Französischen.
Für Guy,
schon seit über zwanzig Jahren
erinnere ich mich
an die Meinen.
Dem Schicksal Gewalt anzutun ist das Wesen der Helden.
VICTOR HUGO
Die wohl überlegtesten Pläne von Mäusen und Menschen schlagen oft fehl.
ROBERT BURNS
Ich habe gerade René im Fernsehen seine Rede halten hören, wie immer eine Zigarette im Mundwinkel.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie sagen: ›Bis zum nächsten Mal.‹«
Es hat mich zum Schmunzeln gebracht, dass er meine Worte benutzt hat. Ich werde ihn nicht wiedersehen. In Anbetracht der Situation oder des Abstimmungsergebnisses sollte ich wohl eine gewisse Erregung verspüren, doch ich empfinde nichts. Was ist wirklich wichtig?
Was ich bin oder das Bild, das ich von mir habe?
Was in meinem Leben geschieht oder die Vorstellung, die ich mir davon mache?
Ich bin nur ein Nichts, eine Abstraktion. Ich bin nichts von dem, was ich geglaubt habe zu sein.
Ich bin ohne Identität. Ein wenig wie das Québec von heute.
Eines Tages wird vielleicht jemand kommen, der zwischen diesen Zeilen lesen und mir sagen kann, wer ich bin.
Montreal
Donnerstag, 15. Dezember, 23.57 Uhr.
Gebrochen, geleert, neu programmiert, wiederhergestellt.
Die Frau mit dem grauen Kraushaar wusste alles über die Mechanik des Gehirns, aber nie hatte sie mit einem verdrehteren zu tun gehabt als ihrem eigenen.
Die Zeit des Schreckens, der Schreie und der Schluchzer war vorüber, die Schmerzen putschten sie auf …
Das Halseisen, das man ihr angelegt hatte, drang in ihr Fleisch ein, bohrte sich in die Knochen von Brustbein und Kinn und zwang sie, den Kopf ganz hinten zu halten.
Man hatte ihr die Kleider ausgezogen, um sie zu demütigen. Ihre Füße waren nackt, ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt, ihre Beine fixiert, damit sie sie nicht beugen konnte.
Das Mondlicht, das durchs Fenster schien, warf ein Rechteck auf den Beton.
Die Frau wusste, dass man sie beobachtete. Ein letztes Mal entspannte sie ihre Schließmuskeln, spürte mit Genugtuung, wie der Urin an ihren Schenkeln hinunterlief.
»Fu… fuck you!«, stieß sie abgehackt hervor und versuchte zu schlucken.
Ein Gedanke trieb ihr ein Grinsen ins Gesicht: die bunten Magnetziffern …
Die Frau überschritt die rote Linie und griff, aus vollem Hals lachend, nach dem Schlüssel.
Montreal
Donnerstag, 15. Dezember. Früher am Tag.
Die Wetterfee neigte den Kopf zur Seite und legte mit mürrischer Miene zwei Finger ans Ohr. Dann, als die Stimme in ihrem Ohrknopf zischelte, dass sie auf Sendung gehe, hellte sich ihr Blick auf, und sie gab selbstsicher ihre Prognose zum Besten.
»Schneesturm. Dreißig Zentimeter Niederschlag. Pulverschnee. Orkanartige Winde.«
Die Frau stand auf und schaltete den Fernseher aus.
Ein übermütiges, fast wildes Lächeln ging über ihr zerfurchtes Gesicht. Sie spülte die Schale, die ihre Frühstücksflocken enthalten hatte, im Ausguss ab und stellte sie anschließend auf die Ablage.
Die Leuchtziffern am Herd zeigten sechs Uhr.
Es gab keine bessere Gelegenheit für einen Spaziergang als ein Schneesturm am Morgen. Die Zeit stand still, und die Stadt kam unter der milchigen Kuppel, die sie von ihrem Schmutz reinigte, wieder zu Atem.
Die Frau nahm immer denselben Weg.
Eingemummelt in einen Daunenmantel, verließ sie das Haus in der Rue Sherbrooke, in dem sie, unweit des Musée des beaux-arts, wohnte und ging die Rue Crescent hinunter. Dort, wo sich an Sommerabenden eine Schar neureicher Angeber vor den Bars drängte, begegnete sie nur ihrem Spiegelbild in den Schaufensterscheiben. Dann führte sie ihr Weg den Boulevard de Maisonneuve hinauf, vorbei an dem Stripteaseclub Wanda’s.
An der Ampel Ecke Rue Peel überquerte sie die Straße und beobachtete amüsiert, wie ein Auto bei dem Versuch, die Kurve zu nehmen, wegrutschte und ins Schleudern geriet.
Der Schnee häufte sich bereits auf den Gehwegen, der Wind heulte in ihren Ohren, die Flocken wirbelten durch die Luft.
Auf der Esplanade du 1981 an der Avenue McGill College blieb sie stehen. Die mit Lichtern geschmückten Bäume an der breiten Straße kämpften mit den Böen.
Sie bewunderte gerade die Skulptur La foule illuminée, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie zusammenzucken ließ. Trainingsjacke aus Wolle, Armeehosen, die in Doc Martens mit vierzehn Ösen steckten, diverse Piercings, schwarz geschminkte Augen und Dreadlocks, die unter einer Mütze mit aufgesetztem Totenkopf hervorquollen – die junge Punkerin schien direkt aus einem Sex-Pistols-Konzert zu kommen.
Erschrocken wich die Frau zurück, als der Engel der Finsternis die Hände trichterförmig an die schwarzen Lippen legte, näher trat und ihr ins Ohr raunte:
»I didn’t shoot anybody, no sir!«
Die Frau fragte sich, ob sie richtig verstanden hatte, wollte um Wiederholung bitten, doch bevor sie dazu kam, machte die Vampirin auf dem Absatz kehrt, schwang sich auf ihr Fahrrad und wurde vom Schneesturm verschluckt. Die Frau riss die Augen auf, stand einen Augenblick lang reglos da und suchte, von den Schneeböen geschüttelt, die Straße ab.
Um 11.22 Uhr kehrte die Frau in ihre Wohnung zurück.
In aller Eile zog sie auf der Fußmatte ihre Stiefel aus, warf Mütze und Fausthandschuhe aufs Sofa und stürzte ins Badezimmer, wo sie ihren Mantel auf die Fliesen fallen ließ.
Mit einem tiefen Seufzer erleichterte sie sich im Dunkeln.
Dann knipste sie das Licht an und betrachtete im Spiegel ihr Gesicht, wie zweigeteilt von einem breiten Lächeln, die Lippen blau angelaufen von der Kälte.
Sie war von der Innenstadt bis zum Mont-Royal marschiert, wo sie Stunden damit zugebracht hatte, die Fußwege abzulaufen, die Nadelbäume zu bewundern, die sich unter der Schneelast bogen, und die von weiter unten heraufschimmernde Stadt zu beobachten.
Summend ging sie in die Küche, um sich einen Tee zu machen.
Der Wasserkessel pfiff, als sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte das Gefühl, dass ein Gegenstand nicht an seinem Platz war. Ihr Blick suchte zunächst die vollgestellte Arbeitsplatte ab, schwenkte dann zur Spüle hinüber und strich an den Schränken entlang.
Sie erschrak, als sie das Datum auf dem Kühlschrank sah.
Als sie vor fünf Minuten die Milch herausgeholt hatte, hatten die bunten magnetischen Ziffern aus Kunststoff noch nicht an der Tür des Gefrierfachs geklebt.
An die Begegnung von heute Morgen hatte sie nicht noch einmal gedacht. Doch jetzt schlug ihr ganzer Körper, von einem Zittern durchfahren, Alarm.
Eine Stimme hinter ihr ließ sie erstarren, ihr die Haare zu Berge stehen.
»I didn’t shoot anybody, no sir!!«
Sie fuhr herum und stieß einen schrillen Schrei aus, als sie in die drohende Mündung einer Pistole blickte.
Die Projektile schnitten durch die Luft und bohrten sich in ihre Haut. Der Stromstoß der Elektroschockpistole streckte sie nieder.
Während sie zu Boden sank und Krämpfe ihren Körper schüttelten, wurde sie wieder von dieser Stimme bedrängt, die sie ohne Mühe wiedererkannt hatte.
Die zarte Stimme des Mörders von Präsident Kennedy.
Die Stimme Lee Harvey Oswalds.
Freitag, 16. Dezember
Erstaunlich flink für einen über Siebzigjährigen erklomm der Mann die Treppe, die zum Tour de la Bourse führte. Ohne den mit einem roten Band geschmückten Kranz, der über dem Eingang hing, eines Blickes zu würdigen, zog er die Glastür auf und schlüpfte hinter dem heulenden Wind hinein.
Der Winter hatte Montreal nun doch noch am Wickel gekriegt.
Während Jesus an seinem Kreuz fröstelte, drängten sich Weihnachten und die Tempelhändler vor der Tür.
Schnee löste sich von seinen Überschuhen und schmolz auf dem spiegelglatten Marmor.
Im leeren Aufzug hörte der Mann mit halbem Ohr die samtige Stimme Bing Crosbys, der mit viel Schmalz eine Marshmallow-Welt besang. Im achtundvierzigsten Stock bedachte er die Empfangsdame mit einem verführerischen Halblächeln ähnlich dem, das Bernard Derome vom Téléjournal berühmt gemacht hatte.
»Guten Morgen, Maître Lawson.«
Im U-Boot begegnete er niemandem.
Tatsächlich weckten die Büros der Sekretärinnen und die Kartonstapel, die den Flur versperrten, in ihm jeden Morgen das beklemmende Gefühl, in das beengte Innere eines U-Boots zu marschieren.
Die Anwaltskanzlei Baker, Lawson, Watkins, zu deren Seniorpartnern er heute gehörte, hatte zahlreiche Wandlungen erfahren, seit er ihr Anfang der sechziger Jahre beigetreten war. Damals noch keine zwanzig Anwälte zählend, hatte die Firma ein exponentielles Wachstum hingelegt und sich dank einer Reihe kluger Fusionen bis zur Jahrtausendwende zu einer landesweit tätigen Gesellschaft gemausert. Heute beschäftigte sie über sechshundert Juristen, davon allein vierundsechzig in Montreal.
Im Lauf der Jahre waren die feudalen Büros schlichteren Räumlichkeiten gewichen. Die winzigen, durch vergilbte Trennwände abgeteilten Kabuffs, in denen die Teilhaber heute rackerten, standen im krassen Gegensatz zum Image der Kanzlei. Doch die Klienten, die ja auf Rosen gebettet werden wollten, hatten zum Bauch des U-Boots keinen Zutritt. Sie wurden in die luxuriösen Konferenzräume im neunundvierzigsten Stock ausgesperrt, wo sie den Panoramablick genießen und die Kunstsammlung bewundern konnten.
Schnaubend schälte sich Nathan Lawson vor dem Schreibtisch seiner Assistentin aus dem Mantel. Kopfhörer auf den Ohren, tippte sie gerade die Memos ab, die er am Vorabend diktiert hatte. Es gab viele Sekretärinnen, die bereit waren, auch abends und nachts zu arbeiten, doch er vertraute niemandem außer ihr.
»Gut geschlafen, Adèle?«
»Ganz leidlich.«
Seit sechsundzwanzig Jahren wiederholte sich dieses Spiel, beteiligten sie sich Tag für Tag freiwillig an dieser Farce. Seit sechsundzwanzig Jahren belogen sie sich jeden Morgen gegenseitig. Lawson war es völlig schnuppe, ob seine Assistentin gut geschlafen hatte, und Adèle hatte einmal mehr die Nacht damit zugebracht, die Risse in der Zimmerdecke zu zählen.
Getreu ihrer Gewohnheit tauschten sie den restlichen Tag über keine weiteren Höflichkeiten aus und beschränkten ihre Interaktion auf wenige einsilbige Bemerkungen, die der Arbeit galten.
In ein paar Sekunden würde er sich in sein Büro begeben, um seine Post durchzusehen, und in einer halben Stunde würde ihm Adèle eine Tasse dampfenden Kaffee mit zwei Stückchen Zucker bringen.
Von den Anwälten war Nathan Lawson häufig der Erste, der morgens den Fuß in die Etage setzte, aber er kam niemals vor Adèle. Von dieser Regel hatte es nur eine einzige Ausnahme gegeben: an jenem Tag vor acht Jahren, als sie ihre Mutter begraben hatte.
Im Lauf der Jahre hatte eine Art unfreiwillige Osmose dazu geführt, dass sie alles vom Leben des anderen wussten, ohne jemals darüber zu sprechen.
»Haben Sie das zu meiner Post gelegt?«
Sich am Türrahmen festhaltend, wedelte Lawson mit einem Blatt Papier.
Er hatte es zwischen dem Journal du Barreau und der Aufstellung der abrechenbaren Stunden für November gefunden. Während er auf Adèles Antwort wartete, schnipste er ein Staubkorn vom Revers seines Sakkos. In ihre Arbeit vertieft, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, klapperte sie weiter auf ihrer Tastatur.
»Lucian kümmert sich um die Post, nicht ich.«
Verwirrt kehrte Lawson in sein Büro zurück. Er sank wieder in seinen Sessel, betrachtete einen Moment lang die Weihnachtskarten, die in der Schreibtischecke aufgereiht waren, und hing seinen Gedanken nach.
Plötzlich kam ihm eine Idee und fegte die Fragezeichen aus seinen Augen.
In der gesamten Firma gab es nur einen, der sich so einen Scherz ausdenken konnte.
Schmunzelnd rief er sich in Erinnerung, dass Louis-Charles Rivard erst vorige Woche wieder zugeschlagen hatte. Da hatte er sich den Jux erlaubt, die Familienfotos in den Büros zweier Prozessanwälte zu vertauschen.
Obwohl Rivard in fachlicher Hinsicht gewisse Defizite aufwies, hatte Lawson schon mehrfach eine Entlassung seines Schützlings abgebogen.
Amüsant und sexy wie er war, machte Rivard seine Unzulänglichkeiten durch soziale Kompetenz wett.
Das Telefon klingelte und riss Lawson aus seinen Gedanken.
»Ihre Klienten sind da«, meldete die Empfangsdame aus dem neunundvierzigsten Stock.
»Sehr gut.«
Er stand auf und blickte auf seine Uhr: zwei Minuten nach sieben. Als er seine Unterlagen ergriff, blieb sein Blick noch einmal an dem Blatt Papier auf dem Tisch hängen:
Guten Morgen, Nathan.
Lassen Sie uns Galgenmännchen spielen: _ V _ _ G _ _ _ N
Tipp: Firma voller Leichen.
Macht das nicht Spaß, Nathan?
Er steckte das Blatt ein.
Die Besprechung zog sich endlos hin, und der Mann auf dem Gemälde von Jean-Paul Lemieux, das an der Wand hing, schien sich entsetzlich zu langweilen. Lawson standen zwei weitere Teilhaber der Kanzlei zur Seite, beide in Armani gewandet und wie Lords parfümiert.
»Wir sollten vor dem Abschluss den Rückkaufswert der Vorzugsaktien festlegen«, schlug Lawson vor und blickte zu den Klienten.
»Wenn wir wiederkommen, nennen wir Ihnen einen Betrag«, erwiderte der Finanzchef eines großen Pharmaunternehmens verbindlich. »Wobei mir einfällt: Wir haben noch gar keinen Termin für den Abschluss erhalten.«
Lawson wandte sich an einen Mitarbeiter. Zuständig für den Zeitplan und die Dokumentation des Abschlusses war sein Protegé.
»Carlos, bitten Sie Rivard, zu uns zu kommen.«
»Er ist nicht im Haus, Maître Lawson. Tania vertritt ihn. Ich rufe sie an.«
Lawson schüttelte den Kopf: Er hatte ganz vergessen, dass Louis-Charles Rivard eine ganztägige Besprechung bei einem anderen Klienten hatte.
Das Gespräch wurde wieder aufgenommen, doch Lawson hing seinen Gedanken nach: Er dachte an die Zeichnung.
In einer Pause, in der sich die anderen Kaffee einschenkten, zog er heimlich das Papier aus der Tasche und betrachtete das Galgenmännchen genauer.
Gruselig, wie ihm die Zunge heraushing. Oder handelte es sich vielleicht um einen Schnurrbart?
Nathan R. Lawson hatte seit seiner Kindheit nicht mehr Galgenmännchen gespielt – selbst als junger Mensch hatte er nie viel Zeit zum Spielen gehabt –, aber er wusste noch, dass die Zeichnung jedes Mal um einen Strich erweitert wurde, wenn der andere Spieler einen falschen Buchstaben nannte.
In diesem Fall hier war sie offenbar schon vollständig. Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich kam ihm ein Geistesblitz, und die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Mit seinem Kugelschreiber setzte er Buchstaben auf die vakanten Striche.
Das gesuchte Wort war wie ein Schlag ins Gesicht.
»Maître Lawson?«
»Nathan?«
Vier Augenpaare waren auf ihn gerichtet.
Hatte er einen Schrei ausgestoßen?
Verwirrt stammelte er irgendwelche Entschuldigungen und stürzte aus dem Konferenzraum.
Mit verschwommenem Blick und zitternden Fingern tippte er in sein Handy.
»Adèle«, sagte er mit tonloser Stimme, »Sie müssen mir Unterlagen aus dem Archiv besorgen!«
Eine vierzig Jahre alte Akte zu finden sei kein Honigschlecken, hatte sie sich ihm gegenüber beklagt. Aber Lawson hatte kaum hingehört.
Denn er hatte zwar eine gewisse Zeit gebraucht, ehe er es bemerkte, doch jetzt schien das Gesicht der Angst in jeder Ecke zu lauern.
Als er den Deckel von einem der Kartons hob, stellte er mit Erleichterung fest, dass die Siegel mit dem aufgedruckten Vermerk »Niemals vernichten« noch unversehrt waren.
Er griff zum Telefon und rief Wu an. Er teilte ihm mit, dass er für ein paar Tage verreisen werde, und bat ihn, eine Tasche für ihn zu packen und seinen Pass mit hineinzulegen.
Dann verließ er das Büro und sprach kurz mit seiner Assistentin. Adèle konnte ihre Überraschung nur schlecht verbergen. Er gönnte sich nur selten Urlaub.
»Und die laufenden Fälle?«, hielt sie ihm entgegen.
»Rivard und die anderen werden sie übernehmen, dafür zahlen wir ihnen ja viel Geld.«
Stockwerk um Stockwerk entschwebte über ihnen, bis im zweiten Untergeschoss die Aufzugtür aufging. Lawson wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab, und der Bürobote wuchtete die Kartons auf die Sackkarre, wobei er die keltischen Armbandtattoos auf seinem rechten Bizeps entblößte.
»Mein Wagen steht dort, neben dem schwarzen Laster«, erklärte Lawson nervös.
Eine Reihe von Neonröhren warf ein fahles Licht auf die Betonwände der Tiefgarage. Er schritt eilig aus und warf besorgte Blicke über die Schulter, ohne aber die beiden Kartons auf der Sackkarrenschaufel aus den Augen zu lassen.
»Beeilen Sie sich, Mann.«
Auf den letzten Metern, die ihn noch von seinem Mercedes trennten, entriegelte er den Wagen per Fernbedienung.
»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht erinnern, Lucian?«, versuchte er es noch einmal, während der Bürobote die Kartons in den Kofferraum lud.
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, Maître Lawson, durch meine Hände gehen jeden Tag hunderte Unterlagen. Ich habe keine Ahnung, wie diese Nachricht auf Ihrem Schreibtisch gelandet ist.«
Enttäuscht ließ der Anwalt einen Zehndollarschein in die Hand des jungen Mannes gleiten und schlüpfte in den Wagen.
»Dämlicher Rumäne«, knurrte er, während er im Rückspiegel sah, wie der andere wieder dem Aufzug zustrebte.
Gegen die lähmende Angst ankämpfend, fuhr Nathan Lawson zügig aus der Tiefgarage. Minutenlang kutschte er einfach nur durch die Gegend, den Rückspiegel ständig im Blick, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte.
Seine grauen Zellen arbeiteten an der Lösung eines Problems: Was, außer die Polizei zu rufen, was in diesem Fall keine Option war, konnte ein gewöhnlicher Sterblicher tun angesichts der Gefahr, in der er schwebte?
Ein Gedanke stach aus allen anderen heraus und drängte sich ihm auf: Ein Durchschnittsmensch würde einen möglichst großen Abstand zwischen sich und die drohende Gefahr bringen.
Folglich würde er das Gegenteil tun: Er würde sich ganz in der Nähe verstecken, dort, wo ihn niemand suchen würde.
Seine Gegner verfügten über beträchtliche Mittel. Sie würden wohlüberlegt und eiskalt zu Werke gehen. Und wenn er mit seiner Vermutung richtiglag, wurden die Bahnhöfe und Flughäfen bereits überwacht.
Was hier vorging, überraschte ihn nicht übermäßig.
Aber warum jetzt, nach so vielen Jahren?
Gemäß seinen Anweisungen brachte ihm der Pförtner die Tasche, die Wu gepackt hatte, in eine Seitenstraße. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie seinen Pass enthielt, fuhr er weiter, wobei er sich fragte, warum man ihm diese Warnung hatte zukommen lassen, statt ihn einfach kurzerhand hinzurichten. Doch wie er es auch drehte und wendete, es lief immer auf dieselbe Antwort hinaus: Man wollte ihn einschüchtern und dazu bringen, einen Fehler zu machen.
Lawson schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: die Akten, die er im Kofferraum durch die Gegend karrte …
War es nicht ein Fehler gewesen, sie aus dem Versteck zu holen?
Er hatte sich verraten.
Lawson hielt an einem Kiosk und kaufte Müllsäcke. Er packte die Akten in die Säcke, damit sie vor Wasser und Feuchtigkeit geschützt waren, und legte sie wieder in den Kofferraum. Anschließend fuhr er in ein Geschäftszentrum, von wo er ein Fax verschickte. Schließlich nahm er auf dem Gehweg SIM-Karte und Akku aus seinem Handy und warf beide mitsamt dem Gerät in eine Mülltonne.
Als er überzeugt war, dass ihm niemand folgte, fuhr er auf den Friedhof Mont-Royal und hielt vor einem verwitterten Grabmal. Unauffällig trug er die Müllsäcke ins Innere des Grabmals, verschloss die rostige Eisentür wieder und legte den Schlüssel hundert Meter entfernt auf einen Grabstein.
Dann stieg er in den Mercedes und fuhr davon. Kurz vor seinem Ziel glaubte er verfolgt zu werden, bis ihn schließlich eine Frau in irgendeinem Wagen überholte, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
Als er in den Summit Circle einbog, beruhigte er sich langsam. Die erste Runde ging an ihn, er war ihnen erfolgreich entwischt.
Jetzt war Tschaikowski angesagt: Sein Zeigefinger tippte auf den Startknopf des CD-Players.
Aus dem Rauschen der Aufnahme drang in einer Endlosschleife eine vertraute Stimme, die von Oswald, und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren:
»I emphatically deny these charges … I emphatically deny these charges … I emphatic…«
Samstag, 17. Dezember
Die Lichtkegel mehrerer Scheinwerfer kreuzten sich auf der Backsteinfassade des Édifice New York Life und brachten die herrliche Uhr und die Patina des Türmchens noch besser zur Geltung. Vom Dach aus ließ der Mann den Blick über die anderen denkmalgeschützten Gebäude an der Place d’Armes schweifen, die für die Touristen illuminiert wurden.
Nach einer Weile setzte er sich wieder in Bewegung und torkelte durch die Dunkelheit.
»Ist doch immer dasselbe! Verfluchtes Hundeleben!«
Eine Spuckepfütze färbte den Schnee zu seinen Füßen dunkel.
Für jeden anderen Obdachlosen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sich hier heraufzuschleichen, ohne bemerkt zu werden. Nicht aber für André Lortie. Schlösser knacken, sich im Schatten verstecken und einen günstigen Moment abpassen, um in Aktion zu treten, das hatte er über weite Strecken seines Lebens getan.
»Diese kranke Bande, mit ihren Maschinen überall«, murrte er, als er über eine Klimaanlage hinwegstieg. »Nix ist hier mehr wie früher, meine Sylvie. Aber ich finde dich trotzdem. Dein Dédé hat dich nicht vergessen.«
Lortie zog eine Flasche Gros Gin aus der Tasche seines speckigen Mantels und nahm einen kräftigen Schluck.
»Ahhh. Mann, wie mir das fehlen wird!«
Der Obdachlose tastete sich an die Backsteinmauer heran.
»Meinem Gefühl nach müsste es in der Ecke hier sein, meine Sylvie …«
Lortie leuchtete mit seinem Feuerzeug die Wand ab, als suche er zwischen den Mörtelfugen den Sinn des Lebens.
»Ich erinnere mich an den Tag, es war heiß. Ich glaub, es war ein paar Tage vor der Ermordung von Laport. Ich bring die Daten nicht mehr auf die Reihe. Aber ich weiß noch, dass du verdammt schön warst. Du hattest dein Kleid ausgezogen, genau hier, meine Sylvie.«
Der Betrunkene betrachtete zärtlich den zertrampelten Schnee vor sich. Im Schein der flackernden Flamme, die er mit seinen schmutzigen Fingern schützte, suchte er die Mauer noch einmal gründlich ab.
Nach ein paar Minuten gab er auf, steuerte auf den Rand des Daches zu, setzte sich auf die Brüstung und ließ die Beine ins Leere baumeln.
»Sie haben die Backsteinmauer neu gemacht«, sagte er mit unendlicher Traurigkeit in der Stimme. »Erinnerst du dich? Dein Name und meiner, drumherum ein großes Herz, meine Sylvie. Ich hab mein Messer geschrottet. Dann hast du mich geküsst wie eine Wahnsinnige und wieder dein Kleid angezogen …«
Er trank die Flasche in einem Zug aus und ließ sie in die Tiefe fallen. Dann begann er, wie ein Kind zu schluchzen.
Die Flasche zerschellte auf dem Bürgersteig.
Glassplitter trafen einen Passanten. Dieser rief um 21.47 Uhr die 911 an. Zwölf Minuten später trafen die Streifenpolizisten Gonthier und Durocher vor Ort ein.
»Ist alles in Ordnung, Monsieur?«, fragte Polizistin Gonthier mit mühsam beherrschter Stimme.
Der alte Mann mit den zerzausten Haaren drehte sich zu ihnen herum, schien sie aber nicht zu sehen, er war wie gefangen in seiner Parallelwelt. Doch als die Polizistin Anstalten machte, auf ihn zuzugehen, rutschte er auf der Balustrade weiter nach oben.
Sie blieb abrupt stehen.
»Was machen Sie hier, Monsieur?«
Ein bitteres Grinsen legte sich auf das zerfurchte Gesicht.
»Ich hätte auch gern welche, ich hätte auch gern Erinnerungen.«
»Ich verstehe Sie«, sagte die Polizistin und suchte den Blick ihres Kollegen.
»Ich versuche, mich an Sylvie zu erinnern. Aber ich kann ihr Gesicht nicht mehr sehen.«
»Wollen Sie, dass wir sie anrufen?«
Der Obdachlose brach in lautes Lachen aus.
»Ich glaub nicht, dass sie im Himmel Telefone haben.« Er sah die Polizistin verzweifelt an. »Und das Herz, dass ich da reingeritzt hab, ist auch nicht mehr da.«
Lorties Zeigefinger deutete auf die Mauer, die er abgesucht hatte.
»Sie haben ein Herz in den Backstein geritzt?«
Ein Strahlen ging über sein Gesicht.
»Siebzig war das, Madame. Meinen Namen und dann den von Sylvie.«
»Ich verstehe. Kommen Sie da runter. Dann suchen wir es gemeinsam, okay?«
»Ich hätte auch gern welche, ich hätte auch gern Erinnerungen.«
»Aber Sie haben doch welche, Monsieur. Der Beweis ist, dass Sie sich an Sylvie erinnern.«
Lorties Gesicht glich jetzt einer Totenmaske.
»Nein, ich hab alles genau abgesucht. Da ist nichts an der Mauer. Die haben mir zu viel am Gehirn rumgemacht. Ich bin nicht mehr richtig im Kopf. Dann fängt es wieder an. Ich hab genug davon …«
Er senkte den Blick und schaute auf die Straße hinunter. Die Polizistin erkannte die Brisanz der Situation.
»Nicht bewegen, okay? Ich komme.«
Bevor Lortie sprang, zog er etwas aus der Tasche und legte es auf die Balustrade. Die Finger der Polizistin Gonthier verfehlten den Stoff seines Mantels nur um wenige Zentimeter.
Als der Boden näher kam, sah Lortie im Widerschein der Straßenlampen, wie Sylvies himmlisches Lächeln immer größer wurde. Sein Kopf zerplatzte zehn Stockwerke tiefer auf dem Bürgersteig unter den entsetzten Blicken von hundert Menschen, die gerade aus einem Weihnachtskonzert des Montrealer Sinfonieorchesters in der Basilika Notre-Dame kamen.
Die Hand ihres Kollegen auf der Schulter, verharrte Polizistin Gonthier einen Moment lang wie unter Schock und starrte auf die rote Qualle, die unten über den Schnee kroch.
Dann bemerkte sie die beiden Brieftaschen, die das Opfer auf der Balustrade zurückgelassen hatte.
Sonntag, 18. Dezember
Die Hände auf den Oberschenkeln, den Kopf weit vornübergebeugt, rang Victor Lessard um Atem. Aus dem hintersten Winkel der Lagerhalle hatte er zwanzig Meter bis zur Tür rennen müssen, bevor er endlich ins Freie stürzen konnte.
Noch heftig keuchend wandte er den Blick von der gelblichen Lache ab und richtete sich auf.
Der Sergent-Détective wischte sich die Lippen ab und zückte eine Packung Zigaretten. Der erste Zug kratzte im Hals, der zweite brannte in der Lunge, der dritte beruhigte ihn.
Sein Gesicht nahm langsam wieder seine normale Farbe an. Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu und ging, die Hände in den Taschen seiner Jeans, ein paar Schritte zwischen dem Gerümpel auf dem verschneiten Hof: einem alten, auf Holzkisten aufgebockten Boot, ausgeschlachteten Autowracks, verrosteten Schrottteilen.
Mit ein wenig Phantasie hätte man in dieser atomisierten, postapokalyptischen Welt die Kulisse einer Fotografie von Edward Burtynsky sehen können …
Um sich zu vergewissern, dass sich niemand auf die Suche nach ihm gemacht hatte, warf Victor einen Blick in Richtung Lagerhaus. Von dort, wo er stand, konnte er den Namen auf dem Schild über dem Eingang lesen: MetalCorp.
Ein Stück weiter zu seiner Linken zeichnete sich die schmale Silhouette der Auffahrt zur Autoroute Décarie ab, die zur Pont Champlain führte.
Wie gebannt stand er eine Weile da und beobachtete den unablässigen Strom von Fahrzeugen, dann ging er weiter zum Lachine-Kanal. Obwohl seine Chucks aus schwarzem Leder bis zu den Knöcheln reichten, setzte er vorsichtig einen Fuß vor den anderen, damit kein Schnee in die Sneakers geriet.
Sein Blick verweilte eine Zeit lang am gegenüberliegenden Ufer.
Die Gegend hier war zwar noch industriell geprägt, aber Wohnhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden. Allerdings war das nichts im Vergleich zum Osten, wo man stillgelegte Fabriken in Luxuseigentumswohnungen umwandelte, von denen er sich zusammen mit Nadja einige angesehen hatte.
Er schnippte die Kippe in das Wrack eines Plymouth Duster, strich sich mit den Fingern über die Wangen, die ein Dreitagebart bedeckte, schüttelte den Kopf und kehrte leicht humpelnd zur Halle zurück. Dieses Humpeln war die einzige sichtbare Folge eines tätlichen Angriffs, der ihn beinahe das Leben gekostet hatte, doch weder die Zeit noch eine Psychotherapie hatten die Wunden ganz heilen können, die der König der Fliegen seiner Seele geschlagen hatte.
»Mann, hast du einen empfindlichen Magen, Lessard. Du kotzt jedes Mal …«
Victor schob das Kinn vor und mit dem Blick seiner grünen Augen durchbohrte er seine Kollegin.
»Ich war eine rauchen.«
Jacinthe Taillon bedachte ihn mit einem leicht spöttischen Lächeln, tauchte ihre Wurstfinger in eine Tüte Cheetos und stopfte sich eine Handvoll in den Mund.
»Der Trick ist, dass man immer was im Magen hat. Frühstückst du morgens?«
»Du hast da was Rotes am Mund, Jacinthe.«
Die Vierzigjährige mit den weichen Gesichtszügen, kurz geschnittenen Haaren und noch durch den Schutzanzug sichtbaren Fettpolstern, die gegen Make-up allergisch war und von ihren Kollegen liebevoll »die dicke Taillon« genannt wurde, wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. Sie war geradeheraus, ungehobelt und fest geerdet, bekannt für ihre spitze Zunge und ihre Neigung, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Okay. Gehen wir, Schätzchen. Wir wollen hier nicht den ganzen Tag vertrödeln.«
Damit setzte sie ihre kompakte Masse in Bewegung und kehrte, die Chipstüte zerknüllend, in den hinteren Teil des Lagerhauses zurück.
Victor massierte sich kurz die Schläfen, holte tief Luft und folgte ihr.
Drinnen herrschte ein ähnliches Chaos wie auf dem Hof, doch es war ein geordnetes Chaos aus Dreck, Gerümpel und Altmetall, das übereinandergestapelt oder in Holzkisten verstaut war.
Zwei Techniker der Spurensicherung waren gerade damit beschäftigt, auf einem Teil des Fußbodens Luminol zu versprühen, um nach Blutspritzern zu suchen.
Victor versuchte, sich an ihre Namen zu erinnern, gab es dann aber auf. Seit seiner Rückkehr ins Dezernat Kapitalverbrechen hatte er sich so viele Dinge merken müssen, dass sein Hirn mitunter überfordert war.
»Was Neues von Monsieur Horowitz?«
Jacinthe seufzte ärgerlich.
»Herzinfarkt. Er liegt auf der Intensivstation im Saint-Luc.«
»Versetz dich doch mal in seine Lage«, gab Victor zu bedenken. »Wer rechnet schon damit, am Sonntagmorgen in seinem Lagerhaus eine Leiche vorzufinden …«
»Mag ja sein … aber jetzt müssen wir warten, bis wir ihn vernehmen können. Wir verlieren Zeit!«
»So oder so müssen wir uns mit der Unbekannten beschäftigen. Das wird so lange dauern, wie es dauert.«
»Sag mal, willst du mich heute Morgen absichtlich nerven?«
Das saubere und gediegene Büro von Monsieur Horowitz bildete einen starken Kontrast zum Rest: lackierter Betonboden, Glastisch und Ledersessel unter Industriefenstern, Computer, Papiere und Stifte fein säuberlich in Reih und Glied, Aktenschränke aus Metall, Toilette gleich nebenan, Drucke von Toulouse-Lautrec an den Wänden, Kochnische mit Spüle, Mikrowelle und Espressomaschine, Tisch mit Laminatplatte und mehrere Stühle, um die Mahlzeiten einzunehmen.
Nur die gelben Kunststoffbänder, die um Tatort und Leiche gespannt waren, störten die Harmonie des Ganzen.
Einen kurzen Augenblick lang hoffte Victor, er könnte die Tote verschwinden lassen, wenn er die Augen schloss.
Doch als er sie wieder öffnete, lag sie immer noch da, blutleer und nackt auf dem Rücken, genau an der Stelle vor dem Tisch, wo er sie bereits gesehen hatte, bevor ihm schlecht geworden war.
Ein Sonnenstrahl, der durch ein Fenster fiel, zeichnete eigenartige Muster auf die Haut der Toten, deren Haltung an die gekrümmten Leiber auf Gemälden von Delacroix erinnerte.
Die Schließmuskeln waren im Augenblick des Todes erschlafft, und die seitlich angewinkelten Beine lagen im Urin und den Exkrementen. Victor zog sich das T-Shirt über die Nase, um den Gestank auszusperren, der ihm in die Nasenlöcher stieg.
Jacob Berger – fein geschnittenes Gesicht, fliehendes Kinn, geschniegeltes Haar – wandte sich ihm lächelnd zu.
»Geht’s wieder besser, Lessard?«
Beide Männer waren annähernd einsneunzig groß, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen. Während die strengen Gesichtszüge und die athletische Statur dem Sergent-Détective etwas Bedrohliches verliehen, entsprach der Gerichtsmediziner mit seiner schlaksigen Gestalt eher dem Prototyp eines Intellektuellen.
»Wie hältst du das nur aus, Jacob?«
Victor hielt Abstand und vermied es, sich der Leiche zu nähern.
Die verdrehten Augäpfel der Leiche machten ihm Angst, doch er konnte den Blick nicht von den runzligen Armen wenden, dem weichen, wabbeligen Fleisch, das kleine Blutstropfen sprenkelten.
»Man gewöhnt sich dran«, antwortete Berger, der neben dem Opfer kniete.
»Ich anscheinend nicht.«
Jacinthe verdrehte die Augen, bevor sie den Blick auf die Kleider richtete, die in einer Ecke auf einem Haufen lagen.
»Unterhaltet euch später über eure Befindlichkeiten, ihr Weicheier. Ist sie hier umgebracht worden?«
»Ja.«
»Wie lang ist sie schon tot?«
»Dem ersten Augenschein nach würde ich sagen, dass der Tod vor mehr als achtundvierzig Stunden eingetreten ist. Wahrscheinlich in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.«
Victor nahm es zur Kenntnis und zögerte dann kurz, weil er nach einer passenden Formulierung für die Frage suchte, die er dem Mediziner stellen wollte. Berger konnte sehr aufbrausend werden, deshalb wollte er ihm keinen Grund liefern, sich gegängelt zu fühlten.
»Wir haben weder eine Tasche noch Papiere gefunden, deshalb möchte ich, dass du dein Augenmerk auf alles richtest, was bei ihrer Identifizierung helfen könnte: Zahnersatz, besondere Kennzeichen, Etiketten, Designerklamotten usw.«
»Kein Problem.«
Vielleicht wurde Berger, wie er selbst, mit zunehmendem Alter doch noch milder.
»Auf wie alt schätzt du sie?«, fragte Victor weiter.
»Auf über sechzig, aber ich kann mich auch täuschen.«
»Jedenfalls wird sie nicht mehr älter«, witzelte Jacinthe und quittierte ihren eigenen Scherz mit einem lauten Lachen. »Ähm … und die Todesursache?«, fuhr sie, nun wieder ernst, fort und rückte mit einem Fingernagel dem roten Zeug zu Leibe, das zwischen ihren Zähnen klebte.
»Sie ist verblutet. Ich glaube, irgendwas hat ihren Hals durchbohrt, und zwar komplett von hinten nach vorn.«
»Daher das Loch da?«
Jacinthe deutete mit dem Finger auf die kreisförmige Wunde direkt über der Luftröhre. Behutsam drehte Berger den Kopf der Toten und steckte den Zeigefinger in die Öffnung.
Von dem schmatzenden Geräusch wurde Victor übel. Er sah weg, wieder kurz davor, sich zu übergeben. Dagegen beobachtete Jacinthe fasziniert, wie die geschickten Hände des Gerichtsmediziners über den Hals der Leiche spazierten.
»Das ist das Austrittsloch. Der Gegenstand, den der Mörder benutzt hat, ist im Nacken eingedrungen und an der Luftröhre wieder ausgetreten und hat unterwegs die Halsschlagader zerfetzt. Die Wirbelarterien, die das Gehirn versorgen, verlaufen durch die Halswirbel. Die Blutung war sehr stark. Sie hat mehrere Minuten gelitten, bevor sie starb.«
»Der Mörder hat einen Gegenstand benutzt …« Victor machte eine kurze Pause. »Es handelt sich also nicht um eine Schussverletzung?«
»Ich könnte ins Detail gehen, aber …«
»Nur zu«, stieß Jacinthe hervor.
»Kurze Antwort: Es ist keine Schussverletzung.«
»Okay. Was war dann die Tatwaffe?«, fragte sie weiter.
»Nach der Autopsie werde ich mehr darüber wissen, aber ich würde sagen, eine Blankwaffe, die durch irgendeinen Mechanismus betätigt wurde.«
»Einen Mechanismus?«, wiederholte Victor erstaunt.
Berger sah ihn über seine Brille hinweg an, die wackelig auf dem Nasenrücken balancierte.
»Um eine solche Verletzung herbeizuführen, ist Geschwindigkeit erforderlich. Eine höhere, als die Kraft eines Menschen erzeugen kann.«
Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment.
»Da wäre noch etwas anderes«, fuhr Berger fort.
»Ah ja?«, brummte Jacinthe.
Der Gerichtsmediziner strich mit dem Finger über zwei Schrammen, eine am Brustbein, die andere am Kinn, dicht über dem Hals. Beide wiesen zwei deutliche Einstiche auf.
»Ich weiß nicht, was die verursacht hat, aber sie sind tief.«
Überall dasselbe Bild, wo Victor auch hinschaute: Der Kopf und das graue Kraushaar der Toten schwammen in einer roten Lache, während das Mona-Lisa-artige Halblächeln auf ihren Lippen unverändert blieb, als wäre sie friedlich eingeschlafen.
»Und wir haben Reibemale an den Handgelenken und am Hals …«
»Und das bedeutet?«, krächzte Jacinthe.
»An den Handgelenken könnten es Handschellen gewesen sein.«
»Und am Hals?«
»Sieht so aus, als hätte der Mörder sie gezwungen, einen sehr schweren, sehr eng sitzenden Gegenstand zu tragen.«
»Ein Hundehalsband?«, vermutete Victor.
»Dann müsste es ein sehr großes Halsband gewesen sein«, erwiderte Berger.
Chronik einer angekündigten Katastrophe:
Der Ermittler Chris Pearson betrachtete seufzend das Foto seiner Frau und seiner beiden Töchter, das auf der Ecke des Schreibtischs stand. Heute war Sonntag. Die Woche hatte noch nicht begonnen, und schon würde Corinne alleine das Abendessen zubereiten und die Kinder baden müssen.
Wenigstens würde er versuchen, wieder zu Hause zu sein, bevor die Kleinen zu Bett gingen.
Während er einen Schluck Kaffee trank, musste er an die Gründe denken, die ihn bewogen hatten, um seine Versetzung ans 21. Polizeirevier zu ersuchen.
Der Mythos Innenstadt.
Viele junge Ermittler träumten davon, sich dort zu beweisen, dort zu sein, wo die Action war, aber nur die Besten schafften es. Pearson gehörte dazu, wie das Empfehlungsschreiben bestätigte, das sein alter Mentor, Victor Lessard, seinerzeit unterzeichnet hatte.
Dessen Wechsel ins Dezernat Kapitalverbrechen hatte im Übrigen schwerwiegende Folgen gehabt. Lessard war ein Neurotiker, brummig und eigensinnig, aber Pearson hatte sehr gerne mit ihm zusammengearbeitet. Er war ein loyaler Chef, gab nie auf und verstand es, sein Team vor Übergriffen von oben zu schützen.
Nach seinem Weggang hatte Commandant Tanguay angefangen, sich nach Belieben in laufende Ermittlungen einzumischen, bis das Klima im 11. Revier irgendwann so vergiftet war, dass Pearson Lust auf Veränderung bekam.
Dann war das 21. Revier in sein Blickfeld geraten.
Doch das Adrenalin und die Spannung, auf die er in der Innenstadt gehofft hatte, ließen auf sich warten. Stattdessen erstickte er in einem rasant wachsenden Berg von Akten über Bagatellfälle.
Lessard hatte ihn wiederholt davor gewarnt, seine Ehe und sein Familienleben zu vernachlässigen und dieselben Fehler zu begehen, die er selbst gemacht zu haben glaubte.
Doch Pearson, damals noch ein junger Mann, hatte nur mit halbem Ohr zugehört, überzeugt, dass er es besser wusste und dass ihm solche Fehler nicht passieren würden.
Und jetzt gingen Corinne und er zu einer Paartherapeutin.
Ein Anruf zu später Stunde hatte Pearson aus dem Reich der Träume gerissen.
Corinne war nicht aufgewacht. Bevor er ging, hatte er noch einen Moment in der Tür des anderen Zimmers gestanden, gerührt über die beiden Blondschöpfe, die unter den Decken hervorschauten.
Er fuhr direkt zum Édifice New York Life.
André Lorties Leichnam war mit einer Plane zugedeckt, der Bereich weiträumig abgesperrt.
Etwas abseits warteten zwei Bedienstete, die Gesichter in flackerndes Warnlicht getaucht, auf das Zeichen, ihn ins Leichenschauhaus zu bringen.
Vor Ort stellte Pearson die üblichen Nachforschungen an.
Lortie war es gelungen, den Wachmann auszutricksen, sich ins Treppenhaus zu schleichen, ein paar Schlösser zu knacken und so aufs Dach zu gelangen. Die Streifenpolizisten, die auf den Notruf reagiert hatten, wirkten mitgenommen, aber ihr Bericht war klar und prägnant.
Ausweise hatte der Selbstmörder nicht bei sich gehabt, aber seine Fingerabdrücke waren registriert. Tatsächlich war André Lortie wegen einiger kleinerer Delikte polizeibekannt.
Seit einiger Zeit hatte er mit anderen Obdachlosen in einem Wohnheim geschlafen. Da seine Akte keine Kontaktdaten einer im Notfall zu benachrichtigenden Person enthielt, fuhr Pearson in der Hoffnung, Informationen über etwaige Angehörige zu erhalten, gleich um acht Uhr dorthin.
Weder die anderen Heimbewohner noch die zahnlose Concierge konnten ihm Hinweise auf Verwandte geben. Pearson ließ sich von der Concierge die Tür öffnen und durchsuchte das verwahrloste Zimmer oberflächlich, fand aber nichts, was Lortie mit der Außenwelt in Verbindung brachte. Er besuchte sogar zwei weitere Obdachlosenasyle namens Accueil Bonneau und Maison de Père, in denen Lortie gelegentlich aufgetaucht war.
Auch dort wusste niemand, mit wem er Umgang gehabt hatte. Diejenigen, die ihm öfter begegnet waren, beschrieben ihn als wortkargen Einzelgänger. »Er war nicht sehr kontaktfreudig, eher verschlossen«, versicherte ihm eine Mitarbeiterin im Maison de Père. »Abgesehen von der Übernachtungsmöglichkeit hat er keine von uns angebotenen Dienste in Anspruch genommen. Er hat keine Hilfe gesucht.«
Lortie hatte auch in der Mission Old Brewery verkehrt, bis er dort nach einem Zwischenfall Hausverbot bekommen hatte. »Er hat eine ehrenamtliche Helferin geschlagen«, berichtete ein Teamleiter lakonisch, konnte ihm aber nichts Näheres über die Art der Tätlichkeit sagen.
Pearson fand den Bericht über den Vorfall in der Datenbank des Centre de renseignements policiers du Québec (CRPQ), doch er enthielt nicht die Informationen, die er suchte.
Nach einem Abstecher ins Schnellrestaurant Tim Hortons kehrte er ins 21. Revier zurück.
An seinem Schreibtisch sitzend, riss Pearson den Umschlag auf, den ihm die Streifenpolizisten ausgehändigt hatten. Er entnahm ihm zwei Brieftaschen.
Wahrscheinlich waren sie gestohlen, doch der Selbstmörder konnte sie ebenso gut auch gefunden haben. Eine erste Suche in den Datenbanken förderte nichts zutage: Die beiden betroffenen Personen, ein Mann und eine Frau, waren weder als vermisst gemeldet worden, noch hatten sie Anzeige wegen Diebstahls erstattet.
Pearson wunderte das nicht. Der Selbstmord hatte in der Nacht stattgefunden, und manchmal dauerte es Stunden, bis die Leute merkten, dass ihnen etwas gestohlen worden war.
Die Telefonnummer der Frau stand auf einem Krankenhausausweis. Die des Mannes ermittelte er anhand seines Führerscheins.
Er hinterließ beiden dieselbe Nachricht: Hatten sie Ihre Brieftasche verloren oder waren sie Opfer eines Diebstahls geworden? Wenn ja, sollten sie sich bei ihm melden, damit sie ihnen zurückgegeben werden konnten.
Den Umschlag mit den beiden Brieftaschen unterm Arm stand er auf und begab sich in Zimmer 50, jener Dienststelle, in der man sie vorschriftsgemäß mit einem Strichcode versah oder aufbewahrte, bis die Eigentümer sie abholten.
In das Formular, das er auszufüllen hatte, trug er die Namen der beiden Brieftaschenbesitzer ein: Judith Harper und Nathan R. Lawson.
Nur wenige Autos fuhren durch die Rue Saint-Denis in Richtung Autoroute Ville-Marie.
Victor nahm einen Zug von seiner Zigarette und schlug fröstelnd den Kragen seines Jacketts hoch. Den Mantel weit offen, mampfte Jacinthe Schokolade.
Putzhilfen, Krankenschwestern und Patienten im Morgenmantel, die Infusionsständer mit sich herumschleppten: Das übliche Rauchervolk drängte sich an der Wand neben dem Haupteingang des Krankenhauses Saint-Luc.
Victor fühlte mit den Leuten, die hier ausgesperrt waren, trotzdem hätte er sich am liebsten verdrückt, um ihrem Unglück zu entfliehen, aus Angst, es könnte ansteckend sein.
Die Wolken jagten über den von Schneeflocken schraffierten Himmel, Wind, Kälte und Feuchtigkeit schnitten in die Haut.
Victor warf seine Kippe weg, die eine schwarze Furche in den Schnee zog. Jacinthe folgte ihm auf dem Fuß. Es war 10.37 Uhr.
»Mit wem wichtelst du? Wen hast du gezogen?«, gluckste sie.
»Sag ich dir nicht.«
Victor versuchte, dem neben den Aufzügen hängenden Plan zu entnehmen, wo sie hinmussten. Pragmatisch schob Jacinthe zwei Finger in den Mund und pfiff, um die Aufmerksamkeit des Wachmanns zu erregen, der hinter seinem Schalter mit offenen Augen träumte.
Der Mann zuckte zusammen und erklärte ihnen dann, in welches Stockwerk sie zu gehen hatten.
»Raus mit der Sprache, Lessard. Wer ist es?«, bohrte Jacinthe weiter, als die Stahltüren zuglitten.
»Gilles.«
Gilles Lemaire war bis zu Victors Rückkehr ins Dezernat Kapitalverbrechen Jacinthes Partner gewesen. Neben seinen Aufgaben im Außendienst war er jetzt auch für den EDV-Teil der vom Dezernat durchgeführten Ermittlungen zuständig. Im Übrigen machten ihn seine geringe Körpergröße und seine sieben Kinder zur bevorzugten Zielscheibe des Spotts.
»Haha, du hast Gilles gezogen! Hast du schon eine Idee?«
»Das geht dich nichts an.«
»Also, ich hab dich gezogen.«
»Echt jetzt?«
»Ja! Und ich hab mir überlegt, dir Hautcremes zu kaufen, Mister Retrosexuell. Du weißt ja, ab vierzig muss man auf sich achten.«
Jacinthe lachte schallend, und alle Blicke richteten sich auf sie, als sie durch den Korridor gingen.
»Es heißt ›metrosexuell‹, Jacinthe, nicht ›retrosexuell‹«, konterte Victor, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ist doch dasselbe.«
Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
»Nur weil ich ins Fitnessstudio gehe und auf meine Ernährung achte, bin ich nicht gleich ein Metrosexueller.« Er seufzte. »Und was das Wichteln angeht, es gibt da eine neue Muhammad-Ali-Biografie, die mich interessieren würde. Ich kann dir den Titel sagen …«
Das längliche Gesicht von Robin Horowitz, dem Mann, der die unbekannte Tote in seinem Lagerhaus gefunden hatte, war so weiß wie die Laken des Betts, in dem er lag. Obwohl er keine Schmerzen hatte und mit dem Schrecken davongekommen war, hatte eine Schwester die Polizisten gebeten, sich kurz zu fassen.
Victor hatte sich ans Bett gesetzt, ein Notizbuch aufgeschlagen auf den Knien. Schon nach kurzer Zeit wurde klar, dass Horowitz als Täter nicht infrage kam.
Das Lagerhaus war freitags und an den Wochenenden für Kunden geschlossen, doch der Inhaber war am fraglichen Morgen hingegangen, weil er mit der Buchhaltung im Rückstand war.
»Sie haben also die Gewohnheit, den Schlüssel auf den Rahmen der Hintertür zu legen?«, fasste Victor zusammen.
»Ja«, antwortete Horowitz mit brüchiger Stimme.
»Ich habe keine Alarmanlage gesehen.«
Ein Hustenanfall schüttelte den bettlägerigen Mann.
»Bis auf den Computer gibt es dort nichts von Wert. Wer würde schon Altmetall stehlen?«
»Wer hat von dem Schlüssel gewusst?«, fragte Victor weiter.
»Wir sind ein Familienbetrieb. Meine beiden Brüder handeln gerade in China einen Vertrag aus. Meine Schwägerin kommt dreimal im Monat, um die Buchführung zu machen. Die Kinder schauen hin und wieder vorbei. Das sind schon einige.«
»Gut, wir werden eine Liste der Namen brauchen, Monsieur!«, erklärte Jacinthe, die am Fenster stand, die Arme auf dem Rücken verschränkt.