Schriftsteller existieren nicht im luftleeren Raum, und ein Buch setzt sich aus so vielerlei Dingen zusammen – aus Gelesenem, Gehörtem, Erinnertem –, dass eine Autorin gar nicht damit nachkommen kann, all jenen zu danken, die zur Entstehung eines Romans beigetragen haben.
Wo soll ich also anfangen?
Ich danke Darcy Falk, Textilkünstlerin aus Flagstaff, Arizona, deren wunderbare Arbeiten die Collagen inspiriert haben, die ich in meiner Fantasie geschaffen habe, und die so freundlich war, all meine detaillierten Fragen zu beantworten und mir sogar Stoffproben zu schicken.
Mein Dank gilt Rosalie Stevens und Ian Richardson für ihre Freundschaft und Gastlichkeit, und besonders dafür, dass sie mich mit dem Ivy bekanntgemacht haben und mit Barb Jungr, »The Great Conduit«.
Jan Gephardt war so freundlich, mir Einblick in ihre erstaunlichen Tagebücher zu gewähren, wenngleich ich fürchte, ihnen nicht gerecht geworden zu sein.
Kevin Caruth von Urban Gentry – London-Führungen für Besucher mit Köpfchen verdanke ich einen verlockenden Einblick in die Kunstszene des Londoner Ostens – und Blasen an den Füßen.
Steve Ullathorne versorgte mich mit inspirierenden Fotos und stand mir bei allem, was mit London zu tun hat, mit Rat und Tat zur Seite.
Einen herzlichen Dank auch dem Personal des Hoxton, das mich bei einem ausgedehnten Aufenthalt im East End rundum gut versorgte, auch mit wunderbar verschrobenen Karten und Anregungen.
Und wie immer haben Marcia Talley, Kate Charles und die Mitglieder der Every Other Tuesday Night Writers’ Group mir mit Plotideen und Unterstützung zur Seite gestanden; mein besonderer Dank gilt allen tapferen Erstleserinnen und -lesern: Diane Hale, Steve Copling, Tracy Ricketts und vor allem Gigi Norwood, die nur allzu gut weiß, wie gut Autoren (und speziell die Schreiberin dieser Zeilen) jammern können.
Gigi Norwood hat mir auch beigebracht, auf ihrer Nähmaschine zu nähen, und Tracy Ricketts verdanke ich wertvolle Ratschläge zu den Themen Sozialfürsorge und – nicht minder wichtig – Shopping.
Arabella Stein machte mich mit den wundervollen Feiern bekannt, die bei weltlichen Trauungen in Großbritannien angeboten werden.
Kein Buch wäre vollständig ohne Laura Maestros wunderbare Karten, und diesmal hat sie das Londoner East End mit ihrer Kunst zum Leben erweckt.
Meine Agentin Nancy Yost ist schlicht und einfach die Beste.
Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können ohne die Unterstützung und Ermutigung meiner Lektorin Carrie Feron und des ganzen Teams bei HarperCollins, das nach wie vor bei jedem Buch ganz fantastische Arbeit leistet.
Rick und Kayti verdienen ein extra dickes Lob für alles, was sie tun.
Für sämtliche Fehler bin ich ganz allein verantwortlich.
So traurig es ist, ich habe in letzter Zeit akzeptieren gelernt, was ich mir so lange nicht eingestehen wollte: dass das Haus vielleicht nicht für die Ewigkeit ist.
Dennis Severs, 18 Folgate Street: The Tale of a House in Spitalfields
Die Straßen waren schmierig vor Nässe. Die Luft im Bus fühlte sich zäh an, beinahe wie eine feste Masse, und in der feuchten Augusthitze zeigte sich nur zu deutlich, dass einige der Fahrgäste es mit der Körperpflege nicht allzu genau nahmen.
Gemma James stand in der Nähe der mittleren Tür, als der 49er Bus über die Battersea Bridge rumpelte. Sie hielt die Haltestange umklammert und bemühte sich, nicht durch die Nase zu atmen. Der Mann auf dem Sitzplatz direkt neben ihr roch nicht nur ungewaschen – eine Alkoholfahne umwaberte ihn, und als der Bus mit einem Ruck anfuhr, fiel er mit seinem ganzen Gewicht gegen Gemma.
Wie hatte sie nur glauben können, dass es eine gute Idee wäre, den Bus zu nehmen? Und dazu an einem Samstag. Sie hatte ein paar Dinge in Kensington zu erledigen und wollte sich die Parkplatzsuche ersparen – das jedenfalls war ihre Ausrede gewesen. In Wirklichkeit hatte sie nur das Bedürfnis gehabt, vollkommen abzuschalten, einfach dazusitzen und dem geschäftigen Treiben in den Londoner Straßen zuzusehen, ohne selbst einen Finger rühren zu müssen. Dass sie solche Mühe haben würde, ihre Mitbürger auf Abstand zu halten, hatte sie dabei nicht bedacht.
Als der Bus gleich hinter der Brücke ächzend zum Stehen kam, war sie versucht, auszusteigen und den Rest zu Fuß zu gehen. Ein Blick auf den Stadtplan sagte ihr jedoch, dass es noch ein ganzes Ende war, und außerdem klatschten gerade ein paar träge Regentropfen an die ohnehin schon schmutzigen Fenster. Zu ihrer Linken konnte sie den höher gelegenen Battersea Park erkennen, der durch die verschmierte Scheibe zu einem impressionistischen grau-grünen Gemisch verschwamm. Die Türen öffneten und schlossen sich mit pneumatischem Zischen. Der Betrunkene machte keine Anstalten, seinen Platz zu räumen.
Gemma kannte diesen Teil Londons nicht besonders gut, und als der Bus von der relativ gediegenen Battersea Park Road in die Falcon Road einbog, verlor die Umgebung rapide an Glanz.
Hazel konnte doch nicht ernsthaft vorhaben, hier zu wohnen anstatt in Islington? Secondhandläden, Videotheken, Halal-Metzger, schäbige, namenlose Cafés – und jetzt konnte sie schon die Bahngleise sehen, die sich an der Clapham Junction vereinigten. Hatte sie ihre Haltestelle verpasst? Sie drückte fest auf den roten Knopf, und als die Bustüren sich an der nächsten Haltestelle öffneten, sprang sie geradezu hinaus.
Ihre Erleichterung, als sie endlich auf dem Gehsteig stand und sich umsah, war allerdings nur von kurzer Dauer. Sie sah noch einmal in ihren Straßenatlas, um ganz sicherzugehen, aber es gab keinen Zweifel – es war die richtige Straße. An der Ecke der kurzen Sackgasse stand ein klobiger Betonbau, den ein Schild auf Englisch und Bengali als Moschee auswies, und auf der Straße selbst kickten ein paar Jugendliche lustlos einen Fußball hin und her. Alle trugen Scheitelkäppchen und den Salwar Kamiz, die traditionelle Alltagskleidung der Südasiaten.
Gemma setzte sich langsam in Bewegung und hielt Ausschau nach der Hausnummer, die Hazel ihr genannt hatte. Ein Müllcontainer stand auf dem Gehsteig zu ihrer Linken, randvoll mit Abfall, bei dem es sich anscheinend um die komplette Inneneinrichtung des viktorianischen Reihenhauses dahinter handelte. Das war doch wohl ein gutes Zeichen, dachte sie – es ging offenbar aufwärts mit dem Viertel. Aber abgesehen von der kurzen Häuserreihe sah sie nur einen Block mit Mietwohnungen am Ende der Straße und zu ihrer Rechten eine hohe Mauer.
Die Jugendlichen ließen ihren Fußball liegen und sahen in Gemmas Richtung. Sie nickte ihnen unverbindlich zu, um dann mit gestrafften Schultern und entschlossener Miene ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Die langjährige Polizeiarbeit hatte sie gelehrt, dass es nicht ratsam war, umherzuirren wie ein verlorenes Schaf – dadurch gab man sich nur als potenzielles Opfer zu erkennen.
In Anbetracht des schwülen Wetters hatte sie nur ein leichtes Sommerkleid aus pfirsichfarbener Baumwolle angezogen, und obwohl es ihre Beine bis zu den Knien bedeckte, fühlte sie sich plötzlich auf unangenehme Weise entblößt.
Hazel hatte von einem Bungalow gesprochen, mit einem entzückenden Garten und einer Terrasse. Die Vorstellung eines Bungalows mitten in London war Gemma von Anfang an seltsam vorgekommen, aber hier schien so etwas geradezu unvorstellbar. Sie fragte sich schon, ob sie nicht doch irgendetwas durcheinandergebracht hatte.
Sie spielte bereits mit dem Gedanken, die jungen Männer – die ihr Interesse nun kaum noch verhehlen konnten – nach dem Weg zu fragen, als sie die Hausnummer entdeckte, halb versteckt hinter den Ranken einer Kletterpflanze, die über die hohe Mauer wuchs. Unter der Nummer war eine Rundbogentür aus Holz, deren Anstrich zu einem stumpfen Blaugrau verblasst war.
Noch einmal kramte sie den Zettel aus ihrer Handtasche hervor, um die Adresse zu überprüfen, und sah, dass sie definitiv stimmte. Aber wo war der Bungalow? Nun, es hatte jedenfalls keinen Sinn, noch länger untätig in der Gegend herumzustehen, dachte sie. Sie trat auf die Tür zu und drückte auf den Klingelknopf an der Seite. Ihr Magen krampfte sich plötzlich zusammen.
Sie hatte ihre beste Freundin über ein Jahr nicht mehr gesehen, und in dieser Zeit hatte sich bei ihnen beiden so vieles verändert. Per E-Mail und Telefon hatten sie einander auf dem Laufenden gehalten, aber in den letzten Monaten hatte Hazel irgendwie distanziert gewirkt, und sie hatte nur wenig über die Gründe für ihre überraschende Rückkehr nach London gesagt. Gemma hatte schon befürchtet, dass ihr enges Verhältnis sich verändert haben könnte; und dann hatte Hazel Gemma gebeten, sie ohne die Kinder zu besuchen, was höchst ungewöhnlich war.
Toby hatte lautstark verlangt, Holly zu sehen, und einen Wutanfall bekommen, weil er nicht mitkommen durfte; Kit hatte sich in Schweigen gehüllt – ein untrügliches Zeichen, dass er sich Sorgen machte oder unglücklich war.
Als Gemma soeben noch einmal klingeln wollte, ging die kleine Tür auf, und da stand Hazel vor ihr und strahlte übers ganze Gesicht. Sie umarmte Gemma und drückte sie fest an sich.
»Ich freue mich so, dich zu sehen.« Hazel trat zurück, um Gemma genauer anzusehen, ehe sie sie über die Schwelle zog und die Tür hinter ihnen zumachte. »Und du siehst fantastisch aus«, sagte sie. »Die Verlobung bekommt dir offenbar gut.«
»Du auch. Ich meine, du siehst richtig gut aus«, erwiderte Gemma, krampfhaft bemüht, ihren Schock zu überspielen. Hazel sah alles andere als gut aus. Zwar war sie nie mollig gewesen, aber sie hatte sonst etwas Weiches in ihren Zügen gehabt, das sie ganz besonders attraktiv machte. Jetzt waren ihre Wangen eingefallen, und über dem Ausschnitt ihrer ärmellosen Baumwollbluse zeichneten sich deutlich ihre Schlüsselbeine ab. Die hellbraunen Trekkingshorts hingen ihr lose um die Hüften, als ob sie ihr mehrere Nummern zu groß wären, und mit ihren nackten Füßen wirkte sie merkwürdig schutzlos.
»Ich weiß, ich bin blass«, sagte Hazel, als hätte sie Gemmas Reaktion gespürt. »Das liegt an Schottland. Wir hatten dieses Jahr keinen Sommer. Ich sehe bestimmt aus, als hätte ich in einer Höhle gehaust. Aber lassen wir das – komm, ich zeig dir das Haus.«
Gemma sah sich um. Die Tür in der Mauer war tatsächlich ein Gartentor, und sie standen nun auf der mit Ziegeln gepflasterten und von Bäumen beschatteten Terrasse, die Hazel beschrieben hatte. Dahinter stand ein weiß verputzter Bungalow mit rotem Ziegeldach. Gelbe Rosen rankten sich an Spalieren an der Hauswand empor, und zu beiden Seiten der Haustür standen Zitronenbäume in Kübeln.
»Es ist tatsächlich ein Bungalow«, rief Gemma entzückt. »Ein bisschen exotisch für London, oder?«
»Mein verwunschenes Gartenhaus, so nenne ich es.« Hazel nahm Gemmas Arm. »Ich war sofort hin und weg, als ich das Foto im Internet gesehen habe. Ich weiß, es ist nicht Islington, aber mit der Zeit wird man mit der Gegend warm. Und ich konnte mir das Haus gerade so leisten.«
»Diese Jungs –«
»Tariq, Jamil und Ali«, präzisierte Hazel. »Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, ein bisschen auf mich aufzupassen. Tariq meinte, er würde nicht wollen, dass seine alte Mutter ganz allein lebt. Dazu ist mir fast nichts mehr eingefallen, ich sag’s dir. Dabei ist seine alte Mutter wahrscheinlich keinen Tag älter als fünfunddreißig.«
Hazels Munterkeit wirkte ein wenig erzwungen, und Gemma fragte sich, ob es ihrer Freundin wirklich so gut ging, wie sie vorgab. Aber sie spürte, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war nachzuhaken, und so folgte sie Hazel gehorsam in das kleine Haus.
Durch die Haustür gelangte man direkt in ein Wohnzimmer, das die ganze Breite des Hauses einnahm. Die Wände waren weiß, der Boden gefliest, sodass das Zimmer fast wie eine Fortsetzung der Terrasse wirkte. Der gemauerte Kamin an der einen Seitenwand war von tiefen Bücherregalen flankiert, während das andere Ende von einem Essbereich mit einer kleinen, in eine Nische eingepassten Küchenzeile eingenommen wurde.
»Es ist noch ein bisschen spartanisch, aber ich habe mich bei IKEA eingedeckt, und ich habe Bücher in den Regalen – das ist ja immerhin ein Anfang«, sagte Hazel. »Und ich habe Tee da, und im Kühlschrank ist Wein. Für das Allernotwendigste ist also gesorgt.«
Gemma erinnerte sich, das Sofa mit dem pink-roten Blumenmuster und den rot karierten Sessel in einem der letzten IKEA-Kataloge gesehen zu haben. Hazel hatte die Einrichtung mit einem Polsterhocker, einem Beistelltisch mit Lampe und einem Flickenteppich vervollständigt. Als Gemma die vertrauten Körbe mit Zeitschriften und Strickzeug sah, fühlte sie sich gleich ein wenig zu Hause. Die Esszimmermöbel waren aus hellem Holz und angenehm schlicht. Auf dem Tisch stand eine Vase mit roten Tulpen, auch dies ein vertrautes Detail. Hazel hatte immer Blumen im Haus gehabt.
Es lag Gemma auf der Zunge, Hazel zu fragen, warum sie nichts aus Carnmore, ihrem Haus in Schottland, oder aus Islington mitgenommen hatte, als Hazel sagte: »Es ist eigentlich ein Puppenhaus. Erinnert mich an die Garagenwohnung. Weißt du noch?«
Gemma hörte den wehmütigen Ton in der Stimme ihrer Freundin und tätschelte ihren Arm. »Natürlich. Das ist doch gerade mal –« Sie brach ab. War es wirklich schon so lange her?
Gemma hatte die winzige Garagenwohnung hinter dem Haus in Islington gemietet, als Hazel dort mit ihrer Tochter Holly und ihrem Mann Tim Cavendish, von dem sie inzwischen getrennt war, gewohnt hatte. Für Gemma war es ein Zufluchtsort gewesen und zugleich eine Chance, neu anzufangen; hier hatte sie ihr Selbstwertgefühl, das durch ihre gescheiterte Ehe so schwer angeschlagen war, wieder aufbauen und sich persönlich und beruflich weiterentwickeln können. Hazel hatte sich um Gemmas Sohn Toby gekümmert, der in Hollys Alter war, und sie hatte Gemma eine Beständigkeit geboten, die sie selbst zu Hause nie erlebt hatte.
Dann hatte eine unerwartete Schwangerschaft Gemma in ein neues Leben an der Seite von Duncan Kincaid katapultiert, und wenige Monate später war Hazels Ehe zerbrochen, worauf sie in die schottischen Highlands gezogen war, um die Whiskybrennerei ihrer Familie zu übernehmen.
»An Weihnachten werden es zwei Jahre«, stellte Gemma verwundert fest. Zwei Jahre, seit sie und Duncan mit Toby und Duncans Sohn Kit in das Haus in Notting Hill gezogen waren; zwei Jahre, seit sie das Kind verloren hatte.
»Es gibt nur das eine Schlafzimmer«, sagte Hazel. »Aber wenn Holly über Nacht bleibt, kann sie bequem auf dem Sofa schlafen. Und natürlich gelingt es ihr meistens, zu mir unter die Decke zu kriechen.«
»Wenn Holly über Nacht bleibt?«, fragte Gemma. Die Bemerkung hatte sie schlagartig in die Gegenwart zurückgeholt. »Wie meinst du das – ›wenn Holly über Nacht bleibt‹ – wohnt sie denn nicht bei dir?«
Hazel wandte den Blick ab, setzte zu einer Antwort an und deutete dann auf die Küche. »Ich setze nur rasch Teewasser auf, ja? Und dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Es war der Sommer, in dem wir Waisen wurden.
Emanuel Litvinoff, Journey Through a Small Planet
Er mühte sich verzweifelt, den Traum abzuschütteln, kämpfte sich an die Oberfläche des Bewusstseins wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt. Einen Moment schien es, als würde er aus der Tiefe auftauchen, und mit einer gewaltigen Willensanstrengung gelang es ihm, die Lippen zu bewegen.
»Sandra.« Er glaubte seine eigene Stimme zu hören, ein raues Flüstern. Doch dann lichtete sich der Nebel noch etwas mehr, und er begriff, dass er gar nicht gesprochen hatte, dass auch sein Stoßgebet ein Teil des Traums gewesen war. »Wa –«, brachte er hervor, und diesmal war er sich sicher, dass er gesprochen hatte; doch seine trockenen Lippen fühlten sich fremd an, als gehörten sie der Puppe eines Bauchredners.
»Wo –« Es war nur ein Wispern, kaum vernehmlich, doch er fasste neuen Mut und versuchte die Augen aufzuschlagen. Das plötzliche grelle Licht blendete ihn, und der aufflammende Schmerz, den es mit sich brachte, ließ ihn wieder in einen wohligen Dämmerzustand zurücksinken.
Hazel setzte sich in den Sessel, schmiegte sich in die Polster und zog die Beine an, als ob sie in der Bequemlichkeit Trost suchte. Aus der Küche hatte sie ein Tablett mit einer roten Teekanne und Tassen mitgebracht, dazu ein Kännchen Milch und einen Teller mit einer Plätzchenmischung aus dem Supermarkt. Gemma konnte sich nicht erinnern, dass Hazel ihr je irgendetwas angeboten hätte, was sie nicht selbst gebacken hatte. Allerdings wusste Hazel noch genau, wie viel Milch Gemma im Tee nahm, und schenkte ihr ein, bevor sie ihre eigene Tasse füllte und sie mit beiden Händen umschlang.
Gemma spürte den Hauch einer Brise von den Terrassenfenstern und glaubte den Duft von Zitronen zu riechen. Von jenseits der Mauer drangen schwach die Stimmen der Jungen auf der Straße an ihr Ohr.
Da Hazel schwieg, begann Gemma zögernd: »Als du sagtest, du kommst wieder nach Hause, dachte ich, dass du und Tim euch vielleicht wieder versöhnt hättet.«
»Nein.« Stockend fuhr Hazel fort: »Ich hatte geglaubt … Aber ich fürchte, es ist einfach zu kompliziert. Selbst wenn Tim mir verzeihen könnte, bin ich mir nicht sicher, ob ich mir selbst verzeihen kann.« Der Blick, den sie Gemma zuwarf, war eindringlich. »Ich hatte alles, Gem. Ehe, Familie, ein Zuhause, einen Beruf – und ich habe alles weggeworfen.«
»Aber du hast Donald Brodie doch geliebt. Wenn es nicht mit einer solchen Katastrophe geendet hätte –«
»Habe ich das?« Hazel rückte in ihrem Sessel vor und verschüttete etwas von ihrem Tee. Sie rieb mit dem Daumen über den nassen Rand ihrer Tasse. »Habe ich ihn wirklich geliebt? Oder war ich nur gelangweilt und habe nach Aufmerksamkeit gegiert? Es war eine Illusion. Es hätte nie funktioniert, selbst wenn –« Sie schluckte und schüttelte den Kopf. »Aber das spielt alles keine Rolle. Was zählt, ist, dass ich Holly und Tim bewusst wehgetan habe, und das kann ich nicht ungeschehen machen.«
»Und Tim – sieht er das genauso?«
»Ich weiß es nicht. Er sagt, er würde es gerne versuchen, aber ich fürchte, wenn der Alltag erst wieder eingekehrt wäre, würde es immer an ihm nagen. Wie könnte es anders sein? Wie kann er mir je wieder vertrauen?«
Gemma wollte ihre Freundin schon ermahnen, nicht so streng mit sich selbst zu sein, doch als sie Hazels verbissene Miene sah, wählte sie einen anderen Ansatz. »Wieso bist du dann zurückgekommen? Ich dachte, du liebst Carnmore.« Die Brennerei, versteckt in einem der entlegensten Winkel der schottischen Highlands, war Gemma furchtbar einsam und isoliert vorgekommen, doch sie hatte Hazel ihren Plan, sich dort niederzulassen, nicht ausreden können.
»Ich habe es geliebt, und ich liebe es noch. Und ich hatte eine Verpflichtung. Aber jetzt läuft die Brennerei wieder, und es gibt andere, die besser qualifiziert sind als ich, sie zu betreiben.« Hazel stellte ihre Tasse ab und beugte sich vor. Das Licht von den Terrassenfenstern fiel auf ihr Gesicht und ließ die dunklen Ringe unter ihren Augen erkennen. »Und ich musste feststellen, dass ich doch nicht aus so hartem Holz geschnitzt bin, wie ich dachte – den Gedanken an einen weiteren Winter dort oben fand ich einfach unerträglich. Es war nicht fair gegenüber Holly, ihr dieses Leben aufzuzwingen. Wir beide waren ja oft wochenlang allein. Sie braucht ihren Vater, eine vertraute Umgebung und eine gute Schule …«
Hazel schien zu zögern; dann sagte sie: »Holly wird während der Woche bei Tim in Islington wohnen, Gemma. Wir haben alles besprochen. Dort hat sie die Schule gleich um die Ecke, und Tim wird zu Hause arbeiten, sodass er leicht eine Nachmittagsbetreuung für sie organisieren kann.«
»Aber Hazel, du bist ihre Mutter –« Gemmas Einspruch erstarb ihr auf den Lippen. Sie wusste, dass die Entscheidung Hazel schwergefallen sein musste, und sie kannte Hazels Hartnäckigkeit, wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte. So setzte sie neu an und versuchte etwas Positives an der Sache zu finden. »Holly wird also die Wochenenden bei dir verbringen?«
»Ja, und wir können immer kurzfristig umplanen, wenn es nötig ist. Ich habe Tim gebeten, sie heute zu behalten, damit wir zwei ein bisschen Zeit miteinander verbringen können.«
»Aber was hast du vor?«, fragte Gemma. Hazel hatte wie Tim als Familientherapeutin gearbeitet, doch nachdem ihre eigene Ehe in die Brüche gegangen war, hatte sie sich nicht mehr in der Lage gesehen, andere zu beraten. »Wirst du wieder praktizieren?«
»Nein. Ich werde in einem Café arbeiten.« Zum ersten Mal seit ihrer Begrüßung schien Hazels Lächeln auch ihre Augen zu erreichen. »Es ist ein neu eröffnetes Lokal in Kensington. Ich kenne die Küchenchefin, und sie braucht ein Mädchen für alles. Ich kann kochen, bedienen oder die Kasse machen. Im Moment mache ich nur die Schicht vom Frühstück bis zum Nachmittagstee, aber wenn wir auch Abendessen servieren, werde ich unter der Woche Abendschichten übernehmen können. Du musst mal zum Lunch vorbeikommen. Es ist gleich hinter der Kensington High Street. Und jetzt« – sie schenkte Gemma und sich selbst nach und erinnerte dabei in ihrer forschen Art schon wieder ein wenig an die alte Hazel – »erzähl mal von dir. Wie geht es deiner Mutter?«
Gemma blinzelte ärgerlich, als ihr urplötzlich Tränen in den Augen brannten. Bei ihrer scheinbar so unbezwingbaren Mutter war im Mai Leukämie diagnostiziert worden. Die Chemotherapie, die sie weiterhin bekam, schien eine gewisse Remission bewirkt zu haben; dennoch hatten sie alle das Gefühl, dass ein Damoklesschwert über ihnen schwebte. »Sie hält sich tapfer. Dad musste für die Bäckerei Aushilfen einstellen, aber am meisten Arbeit hat er damit, sie daran zu hindern, alles selbst zu machen.«
»Kann ich mir vorstellen.« Hazel lächelte. »Ich werde sie mal besuchen, okay? Irgendwann nächste Woche.« Sie musterte Gemma kritisch. »Und was ist mit dir? Du hast kein Wort über die Hochzeitspläne gesagt, und inzwischen ist der Sommer fast um.«
»Oh.« Gemmas Denkvermögen schien für einen Augenblick wie eingefroren, und dann spürte sie, wie die Panik, die sie in letzter Zeit immer öfter überfiel, ihr die Brust zusammenschnürte. Sie atmete bewusst durch und rang sich ein Lächeln ab. »Damals schien es eine gute Idee zu sein.«
»Gemma! Sag bloß, du bekommst plötzlich kalte Füße!« Hazel sah so alarmiert aus, dass Gemma unwillkürlich auflachte, doch es schien, als ob ihr das Lachen im Halse steckenblieb.
»Nein. Jedenfalls nicht, was Duncan betrifft.« Schließlich war der Heiratsantrag von ihr gekommen. Sie und Duncan waren Kollegen gewesen, dann ein Paar, sie waren Freunde und seit einiger Zeit auch Eltern in ihrer kleinen Patchworkfamilie, und die Entscheidung, sich fester an ihn zu binden, hatte sie noch keine Sekunde bereut. Sie beeilte sich, eine Erklärung nachzuschieben. »Es ist nur dieses verdammte Theater um die Hochzeit. Das raubt mir noch den Verstand. Ich dachte, wir könnten einfach so heiraten – das war natürlich ziemlich dämlich von mir, ich weiß«, sagte sie, um der Bemerkung zuvorzukommen, die Hazels hochgezogenen Augenbrauen mit Sicherheit auf dem Fuß gefolgt wäre. »Aber alle wollen sie uns reinreden – obwohl ich sagen muss, dass Duncans Eltern sich ganz toll verhalten haben. Meine dagegen …« Sie verdrehte die Augen. »Und es sind nicht nur Dad und Cynthia, die ständig dies und jenes fordern, alles angeblich Mum zuliebe. Sogar die Jungs mischen sich ein. Sie wollen einen Empfang im Museum für Naturgeschichte. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja«, erwiderte Hazel lachend. »Aber ich dachte, du wolltest, dass Winnie euch traut?«
Winnie – das war Reverend Winifred Montfort, anglikanische Pfarrerin und verheiratet mit Duncans Cousin Jack. Beide standen Duncan und Gemma sehr nahe, aber sie lebten in Glastonbury, und Winnie, die auf die vierzig zuging, erwartete ihr erstes Kind. »Ihr Arzt will nicht, dass sie reist, und Jack ist natürlich schon außer sich vor Sorge.« Jack Montforts erste Frau und ihr Baby waren bei der Geburt gestorben, und er hatte die Nachricht von Winnies Schwangerschaft mit gemischten Gefühlen aufgenommen. »Aber selbst wenn sie kommen könnte, kann sie uns ja schlecht in der Kirche einer anderen Pfarrei trauen.«
»Warum bittet ihr dann nicht den Pfarrer von St. John’s?« St. John’s war die anglikanische Kirche in der Nähe ihres Hauses in Notting Hill. »Das dürfte doch kein Problem sein.«
»Weil St. John’s Hochkirche ist. Meine Eltern stammen beide aus Dissenter-Familien, und in ihren Augen könnte St. John’s ebenso gut katholisch sein. Mein Vater sagt, es würde meine Mutter umbringen, was natürlich nicht stimmt, aber meine Mutter sagt, wir sollen ihm seinen Willen lassen –«
»Dann vielleicht an einem neutralen Ort –«
»Ist genauso kompliziert. Die Jungs wollen ein Wort mitreden, und wenn wir einen richtigen Empfang ausrichten, wird die Gästeliste der reinste Alptraum. Wir würden alle Leute einladen müssen, mit denen wir beide seit der Grundschule zu tun hatten.«
»Und eine standesamtliche Trauung –«
»Damit würden wir alle enttäuschen.« Gemma schüttelte den Kopf und blickte aus dem Fenster, um Hazel nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich weiß nicht. Ich habe das schon einmal gemacht – und heute kommt es mir so vor, als wäre die Hochzeit für Rob und mich der Anfang vom Ende gewesen. Das will ich nicht ein zweites Mal durchmachen müssen. Ich bin drauf und dran, die ganze Sache abzublasen.«
Das Haus hatte seine Seele verloren. Tim wusste es, und Holly spürte es, doch was er auch tat, er konnte den Verlust nicht wettmachen.
An den trübsten und dunkelsten Tagen des vergangenen Winters hatte er die Küche gestrichen. Er hatte zwar kein besonderes Talent fürs Streichen und Tapezieren, aber so hatte er wenigstens eine Beschäftigung, mit der er die scheinbar endlosen Abende und Wochenenden ausfüllen konnte, und am Ende war er sogar ziemlich stolz gewesen auf sein Werk.
Hazels zarte Grün- und Pfirsichtöne waren verschwunden. Die Schränke glänzten jetzt in strahlendem Weiß, die Wände in sattem Maisgelb. Ein Neuanfang, hatte er gedacht. Dann war Holly zu einem langerwarteten Besuch gekommen und bei dem Anblick in Tränen ausgebrochen. »Wo ist Mamis Küche?«, hatte sie gejammert, und er hatte nicht gewusst, wie er sie trösten sollte.
Irgendwann hatte sie sich natürlich daran gewöhnt, so wie sie sich an die neue Alltagsroutine gewöhnt hatte, aber er hatte immer noch das Gefühl, dass er sich sehr viel Mühe geben musste. Holly wurde in ein paar Wochen sechs, und er hatte mit seiner ganzen Überredungskunst dafür plädiert, sie hier bei sich in die Grundschule gehen zu lassen. Doch Hazel hatte schneller kapituliert, als er gedacht hatte, und nun begann er sich zu fragen, ob er überhaupt mit der Situation klarkommen würde.
»Wo ist Mami?«, fragte Holly wohl zum hundertsten Mal an diesem Nachmittag. Sie saß am Küchentisch und schlug mit den Fersen gegen die Sprossen ihres Stuhls. Er hatte ihr eine Limo gegeben, die sie bei Hazel nicht bekam, aber ihre Laune hatte sich damit nur weiter verschlechtert.
»Das hab ich dir doch gesagt, Mäuschen. Sie macht sich einen schönen Tag mit Tante Gemma. Mädchen unter sich.«
»Ich will mitgehen. Ich bin auch ein Mädchen«, erwiderte Holly mit unangreifbarer Logik.
»Diesmal geht das nicht. Das ist nur was für große Mädchen.«
»Das ist ungerecht!«
»Ja, da hast du wohl recht.« Tim seufzte. »Wir könnten uns Käsetoast machen«, schlug er vor.
»Ich will keinen Käsetoast. Ich will mit Toby spielen.« Hollys hübscher Mund, der so sehr dem ihrer Mutter glich, verzog sich zu einer finsteren Miene, die einem Kobold gut angestanden hätte.
»Da können wir sicher etwas machen.«
Gemma und Duncan hatten sich sehr bemüht, die Verbindung nicht abreißen zu lassen, und sie hatten Tim oft zu privaten Anlässen eingeladen. Das war sehr anständig von ihnen, aber ihm war sehr wohl bewusst, dass sie es auch aus Mitleid taten, und das war ihm unangenehm. Es gab nur noch wenige Gemeinsamkeiten in ihrem Leben, und es kostete ihn große Anstrengung, sich zusammenzunehmen und zwanglos über Hazel zu plaudern. Dennoch, es war einer der wenigen Fixpunkte in seinem Leben, die ihm geblieben waren, und er wollte ungern darauf verzichten.
»Na«, sagte er zu Holly, »jetzt haben wir aber lange genug den armen Stuhl getreten.« Warum, fragte sich Tim, als er sich selbst reden hörte, sprechen Erwachsene eigentlich mit Kindern immer im Plural? Schließlich war nicht er es, der gegen den blöden Stuhl trat.Vielleicht stand ja dahinter die Hoffnung, dass die Wir-Form überzeugender wirkte, aber das funktionierte offensichtlich nicht.
Holly trat weiter gegen die Stuhlsprossen. Er ignorierte es. »Wir könnten in den Park gehen, wenn Charlotte kommt.«
»Ich will nich’ mit Charlotte spielen«, sagte Holly, und Tim hörte den schottischen Akzent heraus, der immer wieder mal durchbrach, seit Holly wieder in London war. Er fand es zugleich rührend und ärgerlich, aber eigentlich wollte er nur, dass seine Tochter sich wieder wie sie selbst anhörte. »Charlotte ist ein Baby«, setzte sie verächtlich hinzu.
»Und du bist ein großes Mädchen, und deshalb kannst du ganz toll auf sie aufpassen, während ich mit ihrem Papa rede.«
Der Appell an die kleine Tyrannin in ihr schien Holly zu besänftigen, und ihre Züge entspannten sich. »Können wir trotzdem noch in den Park gehen?«
Tim sah auf die Küchenuhr. Naz und Charlotte hätten schon vor einer Stunde hier sein sollen, und eine solche Verspätung sah Naz gar nicht ähnlich. »Müssen wir sehen, Mäuschen«, sagte er zu Holly. Er versuchte es auf Naz’ Handy, doch der Anruf ging direkt auf die Mailbox.
Normalerweise empfing er samstags keine Klienten, und schon gar nicht, wenn Holly bei ihm war. Aber Naz, eigentlich Nasir Malik, war ein alter Freund – sie kannten sich noch von der Uni –, und angesichts seiner besonderen Situation hatte Tim sich bereiterklärt, seinen Terminplan an den seines Freundes anzupassen. Er hatte sich vorgestellt, dass sie sich im Garten unterhalten könnten, während die Mädchen spielten.
Und es hatte sich sehr dringend angehört, als Naz am Morgen angerufen hatte; er hatte fast verzweifelt geklungen. Wieso sollte sein Freund, der sonst geradezu zwanghaft pünktlich war, erst behaupten, er müsse unbedingt mit Tim sprechen, und dann zur vereinbarten Zeit nicht auftauchen?
»Komm, wir machen schon mal den Käsetoast«, schlug Tim vor. »Charlotte will bestimmt einen, wenn sie kommt.« Nervös fügte er hinzu: »Oder weißt du was? – Wir machen richtige Welsh Rarebits, wie Mami sie immer macht.« Er öffnete den Kühlschrank und nahm Cheddarkäse, Senf und Milch heraus. Dann kramte er im Schrank nach der Worcesterhire-Sauce und schnitt dicke Scheiben von einem etwas altbackenen Brotlaib ab.
»Die werden bestimmt nicht so gut«, erklärte Holly mit großer Gewissheit.
»Ich weiß.« Tim unterdrückte einen weiteren Seufzer, während er die Milch in einen Topf goss. »Aber wir machen sie trotzdem.«
Nachdem er die Käsesauce über das Brot gegossen, das Ganze in den Ofen gesteckt und gewartet hatte, bis der Käse Blasen schlug, begann er sich allmählich ernsthafte Sorgen um Naz zu machen. Wieder versuchte er es auf dem Handy seines Freundes, wieder ohne Erfolg. Er biss in seinen Toast und beobachtete erfreut, dass Holly sich mit Appetit über ihre Scheibe hermachte, doch er musste immer wieder nach der Uhr schielen. Es war eine altmodische Uhr mit großem Zifferblatt, und der Sekundenzeiger schien im Schneckentempo vorzurücken, während das Licht im Garten schon trüber wurde.
»Können wir jetzt in den Park gehen?« Holly rieb ihre fettigen Hände an ihrer Jeans, worauf Tim geistesabwesend aufstand und einen Lappen anfeuchtete, damit sie sich die Finger abwischen konnte.
»Noch nicht, Mäuschen.« Noch einmal probierte er es auf Naz’ Handy, dann suchte er die Nummer seines Festnetzanschlusses heraus und wählte erneut.
Schon beim ersten Läuten wurde am anderen Ende abgehoben. »Mr. Naz?« Die Stimme war jung und weiblich und zitterte vor Aufregung.
»Nein. Alia? Hier ist Dr. Cavendish.«
Alia war Naz’ Teilzeit-Kindermädchen, eine junge Bangladeschi, die tagsüber auf Charlotte aufpasste und abends Kurse am College besuchte. Naz hatte Tim erzählt, dass sie Rechtsanwältin werden wollte.
»Ist Mr. Naz denn bei Ihnen?«, fragte Alia. »Er wollte schon vor zwei Stunden zu Hause sein, und er geht nicht an sein Telefon. Meine Eltern erwarten mich, und ich kann Charlotte nicht allein lassen. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Hat er nicht gesagt, wo er hinwollte?«
»Nein. Und er kommt sonst nie zu spät. Sie kennen ihn ja. Wenn ich mit Char ein Eis essen gehe oder so, und wir kommen vielleicht fünf Minuten später zurück, dann flippt er echt aus.«
Mit gutem Grund, dachte Tim. »Gibt es sonst niemanden, den Sie anrufen könnten?«
»Ich hab’s in der Kanzlei versucht, aber da geht niemand ran. Von der Familie von Chars Mutter habe ich keine Telefonnummer. Mr. Naz will mit denen nichts am Hut haben.« Alia hatte sich schon die Ausdrucksweise und den Akzent der südenglischen Jugendlichen angewöhnt, wie viele der jungen Leute aus der zweiten Einwanderergeneration im Londoner East End.
»Er geht immer ans Telefon, wenn er sieht, dass ich es bin«, fuhr Alia fort. »Außer wenn er eine Verhandlung hat, und dann sagt er mir vorher rechtzeitig Bescheid. Er weiß, dass ich nur anrufe, wenn es wirklich wichtig ist. Und ich weiß nicht, wie ich Ms. Phillips zu Hause erreichen kann.«
Louise Phillips war Naz’ Partnerin in seiner Anwaltskanzlei. Ihre Privatnummer hatte Tim auch nicht.
»Ich könnte Char mit nach Hause nehmen«, sagte Alia, »aber ohne seine Erlaubnis möchte ich das nicht machen. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso er mich nicht anruft, wenn er weiß, dass es später wird.« Sie klang, als sei sie den Tränen nahe.
Auch Tim konnte sich nicht vorstellen, was Naz Malik dazu bringen könnte, einen Termin verstreichen zu lassen, ohne vorher Bescheid zu geben, und die Anrufe seines Kindermädchens zu ignorieren. Aus seiner Beunruhigung wurde allmählich Angst. »Okay, Alia, lassen Sie mich nachdenken.«
Er könnte Holly bei den Nachbarn lassen und in einer halben Stunde in der Fournier Street sein. »Sie bleiben dort«, wies er sie an, »und ich mache mich sofort auf den Weg zu Ihnen.«
Aber wenn er einmal dort wäre, dachte er, nachdem er aufgelegt hatte – was könnte er schon tun, außer Alia nach Hause zu schicken?
Er musste Naz Malik finden, und dazu brauchte er Hilfe.
Wir gingen weiter die Fournier Street hinunter. Die Rückseite von Hawksmoors Kirche ragte mächtig über den georgianischen Stadthäusern auf, erbaut von den Hugenotten zu einer Zeit, als Spitalfields als »Weberstadt« bekannt war.
Tarquin Hall, Salaam Brick Lane
Hazel saß am Steuer des gebrauchten VW Golf, den sie aus Schottland mitgebracht hatte.
»Wie ich sehe, hast du dich den Sloane Rangers angeschlossen«, frotzelte Gemma. Der Golf war neuerdings das Lieblingsgefährt der jungen Trendsetter aus dem Nobelviertel Chelsea. Gemma hatte sich erboten, Hazel zu dirigieren, und zog ihren Mini-Straßenatlas aus der Handtasche.
»Ein Golf gilt nur dann als Sloanie-Auto, wenn er neu ist und ein Geschenk von spendablen Eltern, die nicht wollen, dass ihr Nachwuchs zu elitär wirkt«, sagte Hazel. »Und der hier hat mit Sicherheit schon bessere Zeiten gesehen.« Sie tätschelte das Armaturenbrett, als wollte sie das Auto trösten. »Ich hatte eigentlich nicht vor, ihn mitzunehmen, aber dann habe ich gemerkt, wie umständlich es wäre, Holly von Battersea nach Islington und zurück zu bringen, zumal wir es in Battersea ziemlich weit zur nächsten U-Bahn-Station haben.«
Sie hatten die Battersea Bridge überquert und fuhren nun am Ufer der Themse in östlicher Richtung weiter. Gemma warf einen flüchtigen Blick in Richtung Cheyne Walk und schaute dann weg. Ihr London schien mehr und mehr von Geistern bevölkert, und manchen von ihnen mochte sie nicht zu viel Raum gewähren.
»Erzähl mir, was du von diesem Freund von Tim weißt«, forderte sie Hazel auf. Tim hatte angerufen, als Hazel gerade erklärt hatte, es sei jetzt an der Zeit, eine Flasche Wein aufzumachen – offenbar ein Fall von gelungenem Timing.
Hazel hatte ihn angehört, und nachdem sie aufgelegt hatte, stellte sie die Flasche in den Kühlschrank zurück und runzelte die Stirn. »Tim will, dass wir uns in einem Haus in der Nähe der Brick Lane mit ihm treffen«, erläuterte sie. »Das heißt, wenn du es einrichten kannst. Ein Freund von ihm, ein alleinerziehender Vater, ist nicht nach Hause gekommen, und Tim macht sich Sorgen um ihn und das Kind.«
Gemma hatte bereitwillig zugestimmt, aber jetzt fügte sie hinzu: »Meinst du nicht, dass Tim überreagiert? Da liegt doch sicher nur irgendein Missverständnis vor.«
»Ich habe immer gesagt, Tims Puls würde nicht mal bei einem Erdbeben schneller gehen. Ich habe mir gewünscht, er wäre ein bisschen emotionaler.« Die Art, wie Hazel das Wort betonte, machte deutlich, was sie davon hielt. »Was ich sagen will, ist: Wenn Tim sich Sorgen macht, dann hat er einen guten Grund.« Sie manövrierte das schwerfällige Getriebe des Golf mit einiger Mühe in einen tieferen Gang und trommelte dann mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während sie an einer roten Ampel hielten. »Über seinen Freund weiß ich nur, dass sie sich von der Uni kennen und vor kurzem den Kontakt wieder aufgenommen haben. Er ist Rechtsanwalt und heißt Naz Malik. Ein Pakistani. Ich bin ihm nie begegnet. Maliks Frau war in irgendeinen Skandal verwickelt, und ich nehme an, dass Tim in ihm einen Leidensgenossen sah.«
Gemma warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, aufgeschreckt durch den bitteren Ton, doch Hazel fuhr fort: »Ich weiß nicht genau, warum er mich angerufen hat – ich kann mir höchstens vorstellen, dass er deinen Rat einholen wollte, weil er ja von deinem Besuch bei mir wusste.«
Gemma fürchtete, dass jede weitere Bemerkung das Gespräch auf vermintes Gelände führen würde, und wandte sich deshalb wieder ihrem Straßenatlas zu. »In Whitechapel solltest du besser die Commercial Street nehmen. Soviel ich weiß, ist die Brick Lane in die andere Richtung eine Einbahnstraße.«
Der Samstagsverkehr war nicht allzu dicht, und sie kamen gut voran. Am Tower Hill bogen sie von der Uferstraße ab, und bald schon ragte der schmucklose Turm von Christ Church Spitalfields vor ihnen auf. Gegenüber erhob sich die dunkle Backsteinfassade des alten Spitalfield Market, gekrönt von der neuen glasüberdachten Einkaufspassage.
Als Kind war Gemma einige Male mit ihren Eltern in Spitalfields und in der Petticoat Lane auf dem Markt gewesen, und einmal hatte sie mit ihrem Exmann Rob die Brick Lane besucht. Damals war sie noch ganz frisch bei der Kriminalpolizei, und sie war sich sicher, dass die billigen Zigaretten und Spirituosen, die Rob auf dem Markt gekauft hatte, geschmuggelt oder gestohlen waren. Die Straße hatte nach verrottenden Abfällen gerochen, die Gebäude waren ihr schmutzig und verwahrlost vorgekommen, und selbst im Vergleich mit Leyton, wo sie aufgewachsen war, hatte sie die Atmosphäre als rau und unfreundlich empfunden. Dann hatten sie und Rob auch noch einen Streit angefangen; er hatte sie – nicht zum ersten Mal – eine selbstgerechte Zicke genannt, und sie hatte ihn – nun ja, daran wollte sie sich gar nicht so genau erinnern. Alles in allem war es eine Erfahrung gewesen, die sie lieber nicht hatte wiederholen wollen.
»Gleich nach der Kirche musst du rechts abbiegen«, wies sie Hazel an.
»Von Hawksmoor erbaut, nicht wahr?« Hazel spähte durch die Windschutzscheibe nach oben. »Eindrucksvoll – aber nicht gerade das einladende Kirchlein um die Ecke, in dem man gerne Zuflucht sucht.«
Gemma musste zugeben, dass die kantige Silhouette der Kirche ein wenig abweisend wirkte, und die Proportionen waren auch irgendwie merkwürdig, als müsse der Turm zu viel Gewicht tragen.
Als sie rechts abbogen, sah sie vor sich die kurze Fournier Street mit ihren düsteren, strengen Häusern. Das obere Ende der Straße wurde von der Kirche und der schäbigen Fassade eines Pubs dominiert, während das untere Ende den Blick auf den Bangla-City-Supermarkt auf der anderen Seite der Brick Lane freigab.
»Da ist Tims Auto«, sagte Hazel knapp, als ob ihre negativen Gefühle sich auch auf den verbeulten Volvo erstreckten. Sie fand eine kleine Parklücke in der Nähe, und nachdem sie ihren Golf hineinmanövriert hatte, stiegen sie und Gemma aus und suchten die Hausnummer, die Hazel sich auf einem Zettel notiert hatte.
»Das hier ist es.« Gemma blickte zu dem Haus auf, das zu der Reihe auf der Nordseite der Straße gehörte. Obwohl die Häuser aneinandergrenzten, setzten sie sich durch kleine architektonische Details und auch durch ihren Erhaltungszustand voneinander ab. Dieses Haus sah gepflegt aus; das Zartgrün der Fensterläden und des schmiedeeisernen Geländers kontrastierte mit dem braunen Backstein der Fassade.
Die Haustür war seitlich versetzt, sodass das Erdgeschoss nur zwei Fenster zur Straßenseite hatte, während es im ersten und zweiten Stock je drei waren. Das oberste Stockwerk war zurückgesetzt, sodass Gemma nur Lichtreflexe erkennen konnte, die von Loft- oder Atelierfenstern zu kommen schienen. Die Haustür war mit einem gewölbten Vordach versehen, das von reich verzierten, ebenfalls blassgrün gestrichenen Konsolen getragen wurde. Der Bogen des Vordachs fand sich in dem leicht geschwungenen Mauerwerk über den Fenstern wieder.
Bevor sie klingeln konnten, wurde die Tür geöffnet, und Tim sprang die Stufen herunter, um Gemmas Hand zu nehmen und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu drücken. »Danke fürs Kommen.« Er war groß gewachsen, und mit seiner linkischen Art hatte er Gemma immer irgendwie an einen jungen Hund erinnert, ein Eindruck, der durch seinen wuscheligen Haarschopf und den Bart noch verstärkt wurde.Aber er strahlte auch eine sympathische Ernsthaftigkeit aus, und Gemma fragte sich, ob es diese Eigenschaft war, die seinen Klienten half, sich ihm anzuvertrauen.
»Hazel –« Etwas verspätet wandte er sich seiner Frau zu; sie hatte die Stufen bereits erklommen. »Danke. Ich –«
»Schon was von deinem Freund gehört?«, fragte Hazel.
»Nein. Ich habe Alia gesagt, sie soll bleiben, bis ihr da seid. Ich dachte, Gemma würde vielleicht gerne mit ihr reden. Alia ist Charlottes Kindermädchen«, beeilte er sich zu erklären, während er sie ins Haus führte.
Der Eingangsbereich wurde von einer Treppe aus poliertem Eichenholz dominiert, einer schwindelerregenden Konstruktion aus rechtwinklig angeordneten Absätzen. Einen deutlichen Kontrast zur Pracht des Treppenhauses bildete dagegen das eiserne Schuhregal hinter der Tür, vollgestellt mit gepunkteten Gummistiefeln in verschiedenen Größen und behängt mit einem Sammelsurium von Hüten und Mützen. Daneben stand ein Fahrrad, an dessen Lenkstange ein Helm am Kinnriemen aufgehängt war.
Die Wände waren im gleichen warmen Grünton gestrichen wie die Fensterrahmen und das Geländer. Durch eine offene Tür erhaschte Gemma einen Blick auf ein gemütlich wirkendes Wohnzimmer.
»Charlotte ist die kleine Tochter deines Freundes?«, fragte Gemma.
»Ja. Sie ist noch nicht ganz drei Jahre alt. Naz hatte gesagt, er würde vorbeikommen, und wir wollten die Mädchen miteinander spielen lassen. Aber das ist schon Stunden her – er ist weder bei mir noch bei sich zu Hause aufgetaucht, und er geht auch nicht an sein Handy. Aber gehen wir doch erst mal runter in die Küche. Du solltest mit Alia sprechen.«
Er führte sie zur Rückseite des Treppenhauses, von wo eine wesentlich schlichtere Treppe zu einem durchgehenden Koch-Essbereich hinunterführte, der die ganze Breite des Hauses einnahm.
Das Licht aus dem Treppenhaus fiel auf ein Sofa mit fröhlichem Dahlienmuster, und auf der anderen Seite führte eine Verandatür in einen kleinen Garten. An den Wänden standen Schränke und eine große Anrichte, und vor einem riesigen offenen Kamin ein langer Esstisch.
Der Duft von indischen Gewürzen hing in der Luft, und am Tisch saß eine junge Asiatin, die gerade ein kleines Kind dazu zu überreden versuchte, etwas zu essen. Die junge Frau war ein wenig mollig, mit glatten schwarzen Haaren, die sie lose zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Als sie zu ihnen aufblickte, sah Gemma, dass ihre Augen hinter den dunkel gerahmten Brillengläsern rot unterlaufen waren.
Aber das Kind … Gemma starrte das kleine Mädchen fasziniert an. Ihr hellbraunes Haar war eine üppige Masse von Korkenzieherlöckchen, fast so dicht wie Dreadlocks. Ihre Haut hatte einen hellen Milchkaffee-Teint, und als sie aufblickte, stellte Gemma überrascht fest, dass ihre Augen blaugrün waren. Die Kleine trug Turnschuhe mit Klettverschluss und eine dreckverschmierte Latzhose über einem rosa T-Shirt. Die gewöhnlichen Kleider schienen ihre auffallende Schönheit noch mehr zu betonen.
In diesem Moment jedoch drehte sie ihr Köpfchen von der Gabel weg, die ihr die junge Frau hinhielt. Das Kindermädchen sah hilfesuchend zu Tim auf. »Ich habe Samosas gemacht«, sagte sie. »Extra für Mr. Naz und Charlotte. Meine Mutter schärft mir immer ein, dass ich kochen lernen muss, damit ich einen Mann abbekomme, aber das ist ja alles Quatsch.« Sie zuckte mit den Achseln. »Bangladeschis ticken nun mal so. Aber es macht mir nichts aus, für die zwei hier zu kochen.« Ihr Kopfnicken schloss offenbar den abwesenden Naz Malik ein. »Na komm schon, Char«, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme und zog das Kind auf ihren Schoß. »Nur ein kleines Häppchen.«
Charlotte schüttelte den Kopf, die Lippen fest zusammengepresst, ließ sich aber an die Brust der jungen Frau sinken.
»Dein Papa wird bald heimkommen, und er ist bestimmt böse, wenn er hört, dass du dein Abendessen nicht gegessen hast.« Der Versuch der jungen Frau, streng zu wirken, endete mit einem unsicheren Zittern in der Stimme, und Tim schaltete sich ein.
Charlotte starrte sie nur mit ausdrucksloser Miene an.
Sie frage sich schon, ob das Kind vielleicht in seiner Entwicklung zurückgeblieben war, und fragte Alia leise: »Ist sie sehr schüchtern?«
»Schüchtern?« Alia wirkte aufgeschreckt. »Oh nein, das würde ich nicht sagen. Es ist nur so – seit ihre Mutter … Sie redet nicht viel, besonders, wenn Fremde dabei sind.«
»Hat sie keinen Kontakt mit ihrer Mutter?«
Alia starrte sie an, und ihre Finger, mit denen sie in Charlottes Locken gespielt hatte, erstarrten plötzlich. »Sie wissen das mit Sandra gar nicht?«, flüsterte sie.
Gemma warf Tim einen vorwurfsvollen Blick zu, worauf dieser mit den Schultern zuckte und mit den Lippen die Worte »keine Zeit« formte.
»Nein, leider nicht.«
Tim rückte auf dem Sofa vor und stützte die Hände auf die Knie, als müsse er sich daran hindern aufzuspringen. »Es ist im Mai passiert«, sagte er. »Ich habe den Aufruf gelesen, den Naz danach in die Zeitung gesetzt hatte. Deshalb habe ich mich bei ihm gemeldet.« Sein Blick streifte Charlotte, und er schien seine Worte noch sorgfältiger abzuwägen. »Sie – Sandra – hatte die Kleine bei einem Freund in der Columbia Road gelassen. Es war Sonntag, kurz bevor der Markt schloss. Sie sagte, sie hätte etwas zu erledigen und wäre in ein paar Minuten wieder zurück. Aber sie ist nie wieder aufgetaucht.«