Stephanie Schuster
DIE WUNDERFRAUEN
Freiheit im Angebot
Roman
Historischer Roman
FISCHER E-Books
Stephanie Schuster, Jg.1967, lebt mit ihrer Familie und einer kleinen Schafherde auf einem gemütlichen Hof in der Nähe von Starnberg, in Oberbayern. Hier spielt auch die Trilogie »Die Wunderfrauen«. Auch wenn die Figuren frei erfunden sind, könnten die Geschichten so oder so ähnlich passiert sein. Bestseller-Autorin Stephanie Schuster verwebt in ihren Romanen vier bewegende Frauenschicksale zu einem Panorama der 1950er, 1960er und 1970er Jahre.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Anfang der 1970er Jahre leidet Luises Laden unter der Supermarkt-Konkurrenz. Auch Annabel droht ein großer Verlust, als die Vergangenheit sie einholt. Marie nimmt ihr Leben in die Hand und beginnt, für ihre Träume zu kämpfen. Helga gewinnt an Einfluss in der Seeklinik, aber dann gesteht sie ihren Freundinnen ein Geheimnis, das alles verändern wird.
Der dritte Band der Wunderfrauen-Trilogie: Vier Frauen zwischen Wirtschaftswunder und Hippiezeit, zwischen Nylons und Emanzipation, zwischen Liebe und Freundschaft
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Motiven von Getty Images und Ullsteinbild
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491232-5
Inhaltswarnung
Im historischen Kontext der »Wunderfrauen«-Trilogie verwenden die Figuren auch zum Teil antisemitische, rassistische, sexistische und ableistische Wörter und Konzepte, die in den drei Jahrzehnten, über die sich die Handlung der Romane erstreckt, von der Mehrheitsgesellschaft größtenteils unreflektiert genutzt wurden. Daneben enthält der Roman Szenen sexualisierter Gewalt (Vergewaltigung und sexuelle Nötigung).
Nur wer Wurzeln hat, kann fliegen lernen.
Für Else und Hermann, die so einen Laden wie Dahlmanns Gemischtwaren in Münster betrieben, und ihre Enkelin Carla, die mir davon erzählte.
Für meinen allerliebsten Thomas, unsere Kinder, Schwiegersöhne und Enkelinnen, unsere Wunder!
LUISE DAHLMANN, geb. Brandstetter (*1927)
verheiratet mit Hans (*1920)
Kinder: Josephine (*1954), die Zwillinge Christian und Elias (*1964)
MARIE BRANDSTETTER, geb. Wagner (*1928)
verheiratet mit Martin (*1925)
Kinder: Alma (*1956), Konrad (*1957), Linda (*1959), Xaver (*1962)
ANNABEL VON THALER, geb. Tobek (*1920)
verheiratet mit Konstantin (*1909)
Kinder: Friedrich (*1948), Marlene (*1961)
HELGA KNAUP (*1932)
ledig, aber liiert mit Theo (*1927), Otto (*1929)
Kind: David (*1954, Vater: Jack)
August, 1973
Wie weit sie unter der Erde waren, wusste Marie nicht. Zuerst waren sie eine eiserne Wendeltreppe hinabgestiegen, die kein Ende zu nehmen schien, dann ging es weiter, eine lange Galerie entlang und unter gemauerten Bögen hindurch, so massiv, als wollten sie die gesamte Stadt von unten stützen. Sie duckten sich unter einem Türsturz hindurch, über dem sie eine Tafel auf Französisch warnte. HALT, HIER BEGINNT DAS REICH DES TODES! Dahinter taten sich riesige Höhlen auf, deren Wände nur schwach beleuchtet waren. Rechts und links waren Gebeine aufgestapelt, säuberlich sortiert nach Schädeln, Ellen, Speichen, Oberschenkelknochen. Jetzt begriff Marie erst, was der Wärter am Eingang gemeint hatte, als er sie ermahnte: »Mais ne mettez rien dans le sac.« Verständnislos hatte sie ihn angeschaut. Da zeigte er auf ihren Rucksack, in dem sie ihr Skizzenbuch verwahrte.
»Gibt’s tatsächlich Leute, die Knochen klauen?«, fragte sie nun Helga, die mit ihr am Fuß einer weiteren Treppe auf Annabel und Marlene wartete.
»Manche fahren sogar extra deswegen her«, erklärte Helga. »Ein Totenkopf auf dem Schreibtisch oder ein Schulterblatt zum Herumzeigen, das ist doch was. Die Herstellung von Gips- oder Plastikpräparaten kostet mehr als der Eintritt hier. Ich könnte mir glatt etwas dazuverdienen, wenn ich meinen Arztkollegen einen echten Knochen als Anschauungsobjekt für die Praxis mitbrächte.« Als sie Maries ernste Miene bemerkte, erstarb ihr Lächeln. »Tut mir leid, war nur Spaß. Auch mir ist die Totenruhe heilig.« Ein kleiner Junge in einem gelben Regenmantel überholte Marlene und Annabel, flitzte auch an Marie und Helga vorbei und rannte juchzend, den Hall ausprobierend, weiter und verschwand in der Finsternis.
»Jetzt lass mich endlich, Mama«, zischte Marlene. Offenbar war es der Zwölfjährigen peinlich, dass Annabel rückwärts vor ihr die Treppe hinunterstieg, um sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Ans Geländer gestützt, ging Marlene Stufe für Stufe hinunter, festhalten konnte sie sich ohne Arme nur schwer. Als ersten gemeinsamen Ausflug zu viert hätten sie vielleicht besser etwas anderes unternehmen sollen. Von wegen Ablenkung und Vergnügen. Reichlich morbid war es hier unten. Marie hatte sich nichts dabei gedacht, als sie die Katakomben vorschlug. Warum nicht auch das unterirdische Paris erkunden? An einem Ende der Stadt in die verlassenen Steinbrüche eintauchen, für eine Stunde dem Lärm und der Hitze entkommen und an einer ganz anderen Stelle wieder ans Tageslicht steigen, wäre doch lustig. Von wegen! Anscheinend hatte sie das, dem sie eigentlich entkommen wollte, wie ein Magnet angezogen. Nun bereute sie es, die anderen überredet zu haben. Wie herrlich wäre es, oben bei einem Café au Lait in der Sonne zu sitzen oder die Seine entlangzuspazieren, bei den Bouquinisten oder den Künstlern am Montmartre vorbei und gemeinsam den Sommer zu genießen. Stattdessen stiegen sie immer tiefer in die Unterwelt. Von Raum zu Raum wurde Marie unbehaglicher. Sie versuchte, die aufkeimende Beklemmung wegzudrücken. Zum Umkehren war es zu spät, und was vor ihnen lag, konnte schließlich nicht schauriger sein als das, was sie bereits gesehen hatten. Fröstelnd schlüpfte sie in die Strickjacke, die sie um die Hüften gebunden hatte, und knöpfte sie zu. Die vielen Skelettteile ringsum bildeten Ornamente. Vielleicht sollte sie den Anblick festhalten. Zeichnen hatte sie schon immer über alles hinweggerettet. Was sie festhielt, belastete sie nicht mehr. Mit klammen Fingern wollte sie ihren Bleistift aus dem Rucksack holen, da schlossen Annabel und Marlene endlich zu ihr auf. Sie verschob das Skizzieren, lieber gingen sie schnell weiter und brachten diesen Ausflug hinter sich.
»Hört ihr das?« Helga blieb stehen.
Marie lauschte, schüttelte den Kopf. »Was soll sein?« Bis auf das Knistern einer Neonröhre war es still ringsum. Nicht einmal die Schritte und Stimmen der anderen Besucher hörten sie mehr. Kein Husten und Niesen, und auch kein Rufen drang zu ihnen. Vorhin waren sie in einem ganzen Pulk hereingekommen, der sich hier unten schnell aufgelöst hatte. Nicht auszudenken, wenn plötzlich der Strom ausfiele. Womöglich gab es hier Fallgruben oder Schächte.
»Die Musik. Ta-ta. Tatataa-ta. Ta-ta.« Helga tippte mit ihren Plateausandalen auf den Steinboden. »Klingt wie von den Stones.«
»Stones für Steine, das passt.« Marlene kicherte und schaute in einen Nebengang. »Woher kommt das?«
»Bleib hier, Schatz.« Annabel hielt ihre Tochter zurück.
»Das würde ich auch gerne wissen. Hört sich nach einer Fete an.« Helga witschte an den beiden vorbei, knipste ihr Feuerzeug an und verschwand um eine Kurve. Marie wollte sie gerade zurückrufen, da hörte sie es auch. Jetzt lauter.
»Ta-ta. Tatataa-ta. Ta-ta.« Ein hämmernder Sound wie von einer Elektrogitarre. Dann stimmte das mit den Kataphilen, die in dem unterirdischen Labyrinth illegale Treffen abhielten, wie Helga behauptet hatte. Marie folgte ihr, weit konnte sie nicht sein. Der Gang verschmälerte sich, bald war nichts mehr zu hören. Sie zog den Kopf ein und tastete sich mit ausgestreckten Händen vor. »Lass uns zurückgehen, da ist doch nichts. Vielleicht hatte nur einer der Besucher einen Kassettenrekorder dabei.« Helga vor ihr reagierte nicht. Auch der Lichtschein ihres Feuerzeugs war nicht mehr zu sehen. Bisher hatte sie Annabel und Marlene hinter sich geglaubt, doch als Marie sich umwandte, war da niemand mehr. Sie rief nach ihnen. Keiner antwortete. Marie stand in der Dunkelheit, lauschte ihrem eigenen Atem und senkte die Arme, aus Angst, womöglich gleich einen Knochen zu berühren. Was sollte sie tun? Zurück oder vor? Ihre Kehle verengte sich, sie schluckte dagegen an. »Helga? H-E-L-G-A!« Sie kreischte fast. »Annabel, Marlene, wo seid ihr?«, rief sie, bis es in ihren Ohren dröhnte. Ihre Stimme klang dumpf, wurde von den Wänden verschluckt. Etwas flatterte dicht über ihr. Maries Puls raste, sie hielt sich die Hände über den Kopf, damit sich keine Motte und schon gar keine Fledermaus in ihren Haaren verfing. So blieb sie eine Zeitlang, setzte dann langsam einen Fuß zurück.
»Nicht, Marie. Nicht umdrehen.« Martins Stimme hallte in ihr. Sie erstarrte und brauchte eine Weile, ehe sie wieder Luft holen konnte. Warum waren sie nicht einfach bloß durch die Stadt geschlendert, hatten Notre-Dame besichtigt und ein Eis gegessen? Oder waren in den Louvre gegangen, wo sie die Mona Lisa sehen wollte und alle anderen Kunstwerke. Dort waren die meisten ihrer künstlerischen Vorbilder versammelt. Besonders Géricault mit seinen phantastischen Pferdebildern. Immerhin zeichnete sie, seit sie in Paris eingetroffen waren, wie schon lange nicht mehr, skizzierte die Leute in der Metro oder im Park. Auch Helga war schon mehrere Male in ihrem Buch verewigt. Sie war ein dankbares Motiv, man konnte diese Frau nie wirklich erfassen, sie hatte so viele Facetten. Mal ernst, mal fröhlich, meistens umtriebig und rastlos. Dabei barg auch sie Geheimnisse, vielleicht mehr als sie alle zusammen.
Nie hätte sich Marie erhofft, eines Tages solch enge Freundinnen zu haben. Eine von ihnen war sogar ihre Schwägerin. Luise würde nachkommen nach Paris, bestimmt saß sie mit den Kindern schon im Zug. Außer Martin und Theo hatte Marie noch nie Freunde gehabt, schon gar keine Freundinnen. Doch nun hatte sie gleich drei, noch dazu Wunderfrauen. Jede von ihnen war eigen, so dass sie manchmal aneinandergerieten, aber sobald eine von ihnen Sorgen hatte oder gar in Not war, standen sie füreinander ein. Gemeinsam wollten sie die Ferien in Paris verbringen, auch um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Ein kalter Hauch streifte sie. Sie hatte keine Streichhölzer dabei, geschweige denn eine Taschenlampe. So sehr sie auch blinzelte, sie erkannte nichts ringsum. Die Luft war klamm und stickig. Das griechische Liebespaar fiel ihr ein. Orpheus und Eurydike. Auf der Suche nach seiner Liebsten war Orpheus durch die Unterwelt geirrt, hatte sich nicht umdrehen dürfen, sonst …? Hätte sie sich die Sage gemerkt, vor allem wie sie endete, fände sie vielleicht auch aus dieser Knochenkammer heraus.
»Keine Angst, vertrau mir.« Erneut hörte sie Martins Stimme, es war eine der schönsten Erinnerungen an ihn überhaupt. »Komm. Ich will dir was zeigen«, hatte er sie eines Abends nach der Stallarbeit aufgefordert. Und sie spürte es noch, wie er die Hand ausstreckte. Legte ihre in seine, in diese große warme Hand, sie fühlte seine Finger, seine Haut, die sie so vermisste. Ein Hund kläffte. War das der Wachhund der Wittelsbacher, oder geschah das jetzt in diesem Moment? Sie lauschte in die Dunkelheit. Hunde hatten in den Katakomben keinen Zutritt, soviel sie wusste. Und Marie tauchte erneut in ihr Gedächtnis ab, folgte Martin durch Leutstetten, zum Hof hinaus, die Straße vor und am Schloss vorbei. An den Zäunen rankten sich Rosen empor. Die Luft flirrte, und die Sonne leuchtete glutrot in das zarte Himmelsblau. Sie spazierten durchs Dorf, Martin zügig mit den Gummistiefeln, so dass sie sich schwertat, Schritt zu halten.
»Wo geht’s hin?«, fragte sie neugierig. Doch er verriet nichts, schlenkerte ihre verschränkten Hände, grinste sie an und zog eine Augenbraue hoch. Hinter dem Ortsschild, wo die Brandstetterfelder lagen, bogen sie ab.
»Nicht umschauen, Marie. Versprich es mir, ja?« Nun legte er den Arm um sie, schob sie weiter, und sie tat ihm den Gefallen, schmiegte sich an seine Schulter, konzentrierte sich auf den Trampelpfad unter ihren Schuhen, der sich den Berg hinaufschlängelte. Es ging auf den Drumlin, vermutete sie. Martin verdeckte ihr mit seinem Körper die Sicht. Aber selbst wenn sie einen Blick riskiert hätte, was hätte sie schon gesehen? Bäume und Büsche, Wiesen und Äcker! Lieber roch sie Martin, diese Mischung aus Schafwolle, Heu und seinem ganz unverwechselbaren Duft, und ließ sich führen, egal wohin. »Warte, mach bitte kurz die Augen zu«, sagte er, als sie oben standen, nahe am Abhang, das spürte sie. Ihr Fuß ragte fast darüber hinaus. Doch Martin hielt sie, drehte sie nun ein Stück. »Jetzt, schau.« Als sie die Augen öffnete, sah sie unter sich das Roggenfeld. Erst erkannte sie nichts als die hellen Ähren. Sanft bewegten sie sich im Sommerwind. Mitten unter den Halmen wuchsen traumhaft schöne Sonnenblumen, in zwei Kreisen, die sich an einer Stelle zu Ringen verbanden. Da sank Martin schon neben ihr auf die Knie und fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Seit dem Frühjahr hatte er das geplant, mitten im Getreide Sonnenblumenkerne gesät und gehofft, dass sie keimten und sich gegen die Vögel und Schnecken behaupteten. So war er, ihr Liebster, nichts, was Martin getan hatte, geschah überhastet, alles war wohl überlegt. Und immer hatte sie sich in dieser Sicherheit ausruhen können. Etwas stupste Marie ans Bein und holte sie in die finstere Gegenwart zurück. Auf einmal sah sie Funken und hörte Helga fluchen, die sich an ihrem Feuerzeug die Finger verbrannt hatte.
Der erste Urlaub überhaupt. Luise packte um, packte aus. Sie hatte wenig Übung im Verreisen, war bisher kaum über München hinausgekommen. Abgesehen von zweimal Krankenhaus – Schlafanzug, Unterwäsche, Waschzeug, Pantoffeln –, aber das zählte nicht. Was brauchte man in Frankreich? Es könnte regnen, windig sein oder pausenlos heiß? Sollte sie ein Abendkleid mitnehmen, sich überhaupt auch tagsüber elegant anziehen? Oder doch lieber etwas Bequemes, dann reichten die neue Schlaghose, der kurze Jeansrock und die bunten Blusen, die sie mit einem Lackgürtel oder einem Tuch, das sie abwechselnd um die Taille, als Haarband oder als Schal tragen würde, kombinierte? Genügte die leichte Jacke mit Reißverschluss, oder sollte sie noch eine gefütterte einpacken, falls es nachts kühl war? Nimm nur das Notwendigste mit, hatte ihr Helga geraten, den Rest oder, besser gesagt, den ganzen Pariser Chic kaufen wir. Das sagte die Richtige, gerade Helga wirkte immer wie dem neuesten Modemagazin entsprungen. Außerdem musste Luise für ihre Buben mitentscheiden. Dazu noch die Brotzeit, man wusste nie, was es in einem fremden Land zu essen gab und ob das auch schmeckte. Das würde eine Schlepperei werden. Zum Glück mussten sie nur einmal umsteigen und hatten reservierte Plätze in der Bahn. »Auf geht’s. Elias, Christian, fertig anziehen, wir fahren.« Sie sang es fast, wollte Fröhlichkeit vortäuschen. Dabei war ihr ganz und gar nicht danach. Doch für einen Rückzieher war es zu spät. Genug gehadert, die Freundinnen erwarteten sie. Sie wollte doch etwas verändern und neu anfangen. Also los! Außerdem war sie sowieso die Letzte, die dazustoßen würde. Die anderen hatten bestimmt schon viel erlebt, und sie stand hier und grübelte. Luise kniete sich auf den Koffer und hakte ihn zu, dann rief sie die Kinder. Wo steckten sie? Eben waren sie noch hier gewesen, hatten sich in der Sprache, die nur sie verstanden, geeinigt, was sie für Spiele mitnehmen wollten, und schließlich einen Satz Karten und das Malefiz mit in den Koffer gestopft. In sechsundzwanzig Minuten ging der Zug nach München, dann umsteigen nach Paris. Paris! Schon das Wort klang nach Freiheit. Straßencafés und Boutiquen, Musik und Eleganz, gepaart mit Leichtigkeit. Ja, nach der sehnte sich Luise tatsächlich. Elias kam von draußen angerannt, die Knie der frischgebügelten Hose schon wieder voll Dreck. Sie schnappte sich einen Lappen, versuchte, ihn sauber zu machen, und gab auf. Zum Umziehen war es zu spät. »Wo steckt Christian?«, fragte sie.
»Der will nicht mit.« Elias band sich die Schuhe. Auch das noch, Luise seufzte. »Und wo ist er?« Elias zuckte mit den Schultern. Typisch, die Brüder hielten natürlich zusammen. »Jetzt sag schon.« Noch bevor es losging, war sie durchgeschwitzt. Hatte sie überhaupt Deo benutzt? Sie konnte sich nicht erinnern, rannte nach oben, schlüpfte rasch aus den Ärmeln der orange-braun gestreiften Bluse, die sie sich extra genäht hatte, und trocknete sich mit dem Handtuch die Achseln. Dann griff sie zum Bac-Stift, der vor dem Badspiegel stand. Es war der grüne, der gehörte ihrem Mann. Sie zögerte kurz, wollte seinen Geruch nicht auf dieser Reise dabeihaben, aber ihren Deostift hatte sie bereits eingepackt, und bevor sie den Koffer jetzt noch mal aufmachte und alles hervorquoll, benutzte sie ihn. »Christian?« Rasch zog sie sich wieder an, zupfte an dem großen Kragen mit den langen Spitzen, der sich auf einer Seite etwas wellte, aber zum Dämpfen war jetzt wirklich keine Zeit mehr. Erneut rief sie nach ihrem Sohn. Im Kinderzimmer war er nicht. Als sie wieder nach unten laufen wollte, hörte sie ihn. Das Geräusch kam aus dem Zwickel über dem Treppenabsatz. In dem Schlupf hatte kein Erwachsener Platz, nur Elias und Christian, und auch die wuchsen langsam heraus. Sie öffnete die kleine Tür und hörte ihn schluchzen. »Was ist denn, Chrissi?« Auf Zehenspitzen, die Arme ausgestreckt, versuchte sie, ihren Sohn zu erreichen. Vergeblich. Er kauerte sich an die Rückwand. »Bitte, rede mit mir. Freust du dich denn gar nicht auf den Urlaub? Wir wollen doch auf den Eiffelturm und ganz viel U-Bahn fahren.«
»Du meinst Metro«, verbesserte er sie. Wenigstens sprach er wieder mit ihr.
»Genau. Und in das Museum mit den Uniformen und Rüstungen.« Sie hatte in der Stadtbücherei etliche Reiseführer gewälzt und sich einiges rausgeschrieben, damit sie vorbereitet war.
»Gibt’s da auch Schwerter?«, fragte Christian, aber noch immer rührte er sich nicht.
»Bestimmt.«
»Säbel und Pistolen?«
Wie viel Überredungskunst brauchte es noch! »Jetzt raus da.« Sie verlor die Geduld. »Sonst verpassen wir den Zug.«
»Aber was, wenn wir nie mehr heimkommen?« Christian kroch wieder in den hintersten Winkel zurück und schniefte.
»Ach, Schmarrn. Es ist doch bloß eine Reise, wir sind ein paar Tage fort und kehren erholt zurück«, erklärte sie, dabei sprach ihr Sohn aus, was sie sich auch schon gedacht hatte. Das Telefon klingelte. Sie ignorierte es. »Bitte Chrissi, mach’s mir doch nicht noch schwerer.«
»Mama, komm schnell, die Josie ist dran.« Elias rief von unten.
»Die Josie? Aus Amerika?« Luise rannte zum Apparat, hörte noch, wie Christian aus dem Zwickel krabbelte. Anscheinend wollte er sich den Anruf seiner großen Schwester nicht entgehen lassen. Sie nahm Elias den Hörer ab, sprach mit ihrer Ältesten. Josie wirkte völlig aufgelöst. Was sie zu berichten hatte, änderte alles, besonders für Helga. Am besten, sie würden von Paris aus noch einmal telefonieren, schlug Luise vor, die das Gehörte erst begreifen musste. Hastig notierte sie Josies Nummer, sah dabei auf ihre Armbanduhr, die Bellarabi repariert hatte. Sie rieb über das verkratzte Ziffernblatt, damit sie die Zeiger erkennen konnte. Noch elf Minuten, jetzt würden sie rennen müssen.
»Was hat sie gesagt, Mama?«, fragten die Brüder fast einstimmig, als sie auflegte und sich Koffer, Rucksack und Handtasche schnappte.
»Das erzähl ich euch unterwegs.« Der Schlüssel, wo war jetzt der? Als sie endlich voll bepackt zum Bahnhof spurteten, drehte sich Luise noch mal um und schaute zum Laden zurück. Im Schaufenster hing ein Schild: »Zu vermieten«.
Sommer 1972
Rezept für ein gelungenes Leben
3 Esslöffel voll Glück
1 Messerspitze Charme
1 Prise Durchsetzungsvermögen
1 Tasse Begabung
50 Tropfen Selbstvertrauen
¼ Liter Optimismus
Alle Zutaten kräftig verrühren und mit 1000 Kilogramm Fleiß vermischen. Morgens und abends unverdünnt und auf nüchternen Magen einnehmen, evtl. mit einem Klumpen Humor abschmecken.
Aus: Luises Ladenkunde-Album
Das große Ladenfenster zur Maximilianstraße hin gehörte noch geputzt, fiel ihr auf, als sie gerade Feierabend machen wollte. Kinder hatten sich die Nasen an der Scheibe platt gedrückt und es mit klebrigen Eisfingern verschmiert. Der meiste Schmutz stammte jedoch von der Kehrmaschine der Stadtverwaltung, die am Nachmittag den Bürgersteig gereinigt hatte. Bis zum ersten Stock hatte es gestaubt. Dringend bräuchten sie Regen. Die Sommerhitze flirrte, und der Wischer quietschte, als Luise ihn übers Glas zog. Sie freute sich so, dass ihre Dekoration gut ankam. Die ganze Woche waren immer wieder Leute stehen geblieben, und an ihren Gesichtern hatte sie ablesen können, dass ihnen gefiel, was sie sich ausgedacht hatte. Abgesehen von der Planung und zahlreichen Entwürfen hatte Luise den gesamten letzten Sonntag damit verbracht, ein Miniatur-Olympiastadion aufzubauen. In der Mitte, auf einer grünen Teppichfliese, zeigte sie die allerersten Fußballschuhe der Buben in Größe achtzehn. Die hatte Hans ihnen gleich nach der Geburt gekauft. Josie hatte er nie dafür begeistern können, aber Elias und Christian hatten, kaum dass sie laufen konnten, angefangen, seine Leidenschaft zu teilen. Hinter den Stollenschuhen stand Waldi, das Olympiamaskottchen. Luise hatte es in knallig bunten Farben nachgestrickt. Anfangs hatte sie sich gefragt, warum ausgerechnet ein Dackel die internationalen Spiele begleitete, bis sie in der Zeitung las, dass der Dackel nicht nur das beliebteste Haustier Münchens war, wo die Olympiade schließlich stattfand, er verkörperte auch das, was man jedem Sportler wünschte: Zähigkeit, Beweglichkeit und Durchhaltevermögen. Demnach hatte auch sie selbst Dackelqualitäten, dachte Luise. Was sie in den letzten Jahren alles durchgemacht hatte und wie sie sich weiterhin durchbiss, hätte ein Schwanzwedeln verdient. Anders als der Waldi auf den Olympia-Fanartikeln, den Anstecknadeln und Schlüsselanhängern, die sie auf einem Drehständer an der Kasse verkaufte, war ihr gestrickter Dackel etwas zu lang geraten, aber seine vielen bunten Ringel lenkten vielleicht die Aufmerksamkeit ins Schaufenster, hatte sie sich überlegt, und ihn nicht noch mal aufgetrennt. Im Herbst, wenn sie umdekorierte, konnte sie ihn wunderbar als Fensterabdichtung verwenden. Das Fußballfeld war von einer Laufbahn aus rot gefärbtem Zucker umrundet, die durch weißes Baumwollgarn in Bahnen unterteilt war. Dahinter hatte sie Zuschauerränge errichtet, auf denen sie ihre Waren präsentierte. Eine Mischung aus Genussmitteln und Schlankmachern, frei nach dem Motto, erst im Fernsehen die Wettkämpfe mitverfolgen, dann voller Elan selbst trainieren. Salzgebäck aller Art, Erfrischungsgetränke, aber auch Franzbranntwein und Massageöl, um den Muskelkater zu lindern. Beim Polieren der Fensterscheibe fiel ihr auf, dass sich einer der fünf Ringe, die über der Kulisse hingen, gelöst hatte und windschief herunterbaumelte. Das musste sie noch geschwind richten, bevor sie sich ihrer Familie widmete. Luise holte den Schlüssel aus ihrem Kittel und sperrte das Auslagenfenster auf. Seit dem Ladenumbau vor acht Jahren war das Schaufenster nur noch von außen erreichbar. Von innen war der Zugang mit Regalen versperrt. Vorsichtig kletterte sie hinein, stieg geduckt und auf Zehenspitzen über den Turm aus Süßstoffspendern und Bärenmarke-Dosen, die mittlerweile in den meisten Haushalten Milch und Zucker in Kaffee und Tee ersetzten. Als sie sich nach oben streckte, um den Ring neu festzustecken, löste sich die Reißzwecke von der Stange, an der die Dekoration aufgehängt war, und fiel in das Miniaturstadion. Sie bückte sich, suchte eine Weile. Gerade als sie aufgeben wollte und sich hinkniete, pikste es. Autsch, da war die verfluchte Reißzwecke. Jemand klopfte ans Schaufenster. Herta, Irmi und Gretel natürlich. Wer sonst begehrte, kaum dass der Laden geschlossen hatte, ein Tröpferl Öl oder eine Fingerspitze Wurst oder Vogelfutter für den wer weiß wievielten Wellensittich, den die drei Starnberger Urgewächse bereits überlebt hatten.
»Frau Dahlmann, huhu, wir sind’s«, flötete Herta, als wären sie hinter der Scheibe nicht zu sehen.
»Einen Moment, bitte.« Luise rieb sich die Kniescheibe und tupfte den Blutstropfen weg, der sich sofort gebildet hatte. Mist, jetzt hatte sie sich auch noch eine Laufmasche gerissen. Bei der Hitze würde sie zwar lieber auf die Seidenstrumpfhose verzichten, aber ihre Beine kamen ihr viel zu blass vor. Zum Sonnen hatte sie bisher einfach noch keine Gelegenheit gefunden. Sie rappelte sich hoch, drückte den fünften Ring wieder auf der Stange fest und krabbelte rückwärts aus dem Schaufenster. Dabei brachte sie mit dem Hintern das Plastikruder, das sie zu Ehren von Fritz in eine Ecke gelehnt hatte, ordentlich zum Wackeln. Dahlmanns Gemischtwaren drückt unserem Starnberger Athleten Fritz von Thaler fest die Daumen, hatte sie draufgeschrieben. Als seine Tante Dalli, wie der Nachbarsbub sie von klein auf genannt hatte, war Luise sehr stolz auf Annabels Sohn. Mittlerweile war Fritz ein drahtiger Kerl von Mitte zwanzig, der sich mit seiner Rudermannschaft für die Olympiade qualifiziert hatte. Welche Ehre für Starnberg! Die Beerdigung fiel ihr ein. Sie durfte nicht vergessen, sich nachher noch ein Kleid für morgen zurechtzulegen. So ein Schicksalsschlag für die von Thalers, ausgerechnet jetzt, wo in einem Monat die Spiele begannen.
Die Ampel ließ Gnade walten und schaltete genau in dem Moment um, als sie den Schlossberg hinuntersauste. Was war das? An ihrer Handbremse hing ein Stift. Am Bahnhof angekommen, sperrte sie ihren geliebten Flying Dutchman an das verschnörkelte Eisengeländer, löste die Schleife, mit der der Kugelschreiber festgebunden war, und schob ihn in ihre Fransentasche. Die S-Bahn fuhr ein. Helga rannte durch die Unterführung und die Treppe hoch, dabei hielt sie die ganze Zeit Ausschau nach Luise. Wo war sie nur? Sie hatten sich doch für sieben Uhr vierundvierzig verabredet. Falls ihr etwas dazwischengekommen war, hätte sie bestimmt angerufen. Bis vor fünf Minuten war Helga schließlich noch zu Hause gewesen. Sie überlegte kurz, ob sie die Bahn sausen lassen und zu Luise laufen sollte, um nach ihr zu sehen, dann entschied sie, ohne die Freundin einzusteigen. Bestimmt gab es eine harmlose Erklärung, Luise würde nachkommen. Das Abteil war voll besetzt und stickig heiß. Helga ergatterte noch einen freien Sitz und kippte das Fenster.
Sofort beschwerte sich die alte Dame neben ihr. »Sind Sie narrisch, ich will doch nicht im Zug sitzen.«
»Tja, dann sollten sie besser Auto oder Bus fahren«, sagte Helga, suchte sich dann aber lieber weiter vorne einen freien Platz, wo alle Fenster gekippt waren. Dennoch klebte ihr nach ein paar Haltestellen das schwarze Kleid am Leib, sie knöpfte es auf und wedelte mit dem Rocksaum, was den Herrn ihr gegenüber vom Zeitunglesen abbrachte. Dabei war auf der Titelseite unter der Schlagzeile: TERROR BEENDET: RAF-FÜHRUNG VERHAFTET, auch eine Vollbusige abgebildet. Allerdings in einem ovalen Rahmen, wohl damit man sie nicht mit Ulrike Meinhof & Co. verwechselte, die als selbst ernannte Stadtguerilla für grausame Attentate verantwortlich waren. Das Fahndungsplakat mit den gesuchten Terroristen prangte an jedem Fahrkartenschalter. Puh, war das heiß. Helga schwitzte, hätte sich besser die Haare zurückbinden sollen. Rasch flocht sie sich einen Zopf und wühlte in ihrer Tasche nach einem Gummi. Das Band vom Kugelschreiber fiel ihr in die Hand. Ein weißes Schrägband, wie es Schneiderinnen für die Einfassung von Stoffkanten verwendeten. Das kannte sie von Luise. Helga knotete das Schrägband um das Zopfende, zupfte beim Blick in den Klappspiegel ein paar Strähnen aus ihrer Frisur, damit sie nicht allzu brav aussah, zog ihre rosa getönte Brille von der Nase und tupfte sich die zerlaufene Wimperntusche unter den Augen weg. Eigentlich war es viel zu warm für Make-up.
»Noch nie eine echte Frau gesehen?«, sagte sie zu dem Zeitungsleser, der sie mit offenem Mund anstarrte. Raschelnd versteckte er sich wieder hinter seiner Bild und schlug die Beine übereinander. Helga betrachtete den Kugelschreiber. Ein sehr edles Teil, mit eindrehbarer Spitze, sie probierte ihn auf der Rückseite der Streifenkarte. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie in der Eile ganz vergessen hatte zu stempeln. Wenn jetzt ein Kontrolleur kam, war sie dran. Neuerdings patrouillierten auch welche in Zivil durch die S-Bahn, damit man sie nicht an ihrer Uniform erkannte und vorzeitig ausstieg. Was soll’s, wär nicht das erste Mal, dass sie vierzig Mark blechen musste. Der Stift schrieb angenehm weich und würde sich perfekt in der Brusttasche ihres Arztkittels machen. Auf der Klemme waren sogar ihre Initialen eingraviert: H.K. Wie merkwürdig. Hing das Geschenk mit den erlesenen Pralinen von Dahlmanns zusammen, die letzte Woche in ihrem Fahrradkorb gelegen hatten? Da hatte Helga noch vermutet, dass eine Patientin bei ihr zu Hause geklingelt hatte, um sich für ihren Beistand bei der Geburt zu bedanken, und als keiner aufmachte, legte sie die Schachtel in den Korb des weinroten Flying Dutchman, schließlich kannte jeder in der Klinik ihr Fahrrad. Die Pralinen waren geschmolzen in der Hitze, schmeckten dennoch köstlich, als sie sie zu Theo mitnahm und sie sich gegenseitig die Schokolade von den Fingern leckten. Leider stand kein Name dabei, so dass sich Helga nicht bedanken konnte. Luise erinnerte sich nicht, wer zuletzt diese Sorte Pralinen bei ihr gekauft hatte. Confiserie sei zwar noch eines der wenigen Hauptgeschäfte in ihrem Laden, aber nicht jeder Kunde wünschte Beratung. »Woher wusste derjenige dann, dass ich Trüffel und Krokant am liebsten mag?«
»Vielleicht hat eine der Krankenschwestern deiner Patientin den Tipp gegeben? Mich hat in letzter Zeit jedenfalls keine Kundin gefragt, was du gern magst. Falls es vorkommt, sage ich Bescheid«, versprach Luise. Sie konnte recht haben, die Kollegen in der Seeklinik zogen Helga oft mit ihrem Hang zu Schokolade auf und schanzten ihr die Patientenpräsente zu.
Aber nun ein Kugelschreiber. Was sollte das? Hatte ihr Sohn etwas ausgefressen und wollte sie auf diese Weise schon mal besänftigen? Oder hatte sie einen neuen Verehrer? Theo schied aus, er hätte ihr gleich bei den Pralinen gestanden, dass er dahintersteckte. Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Blieb noch ihr Kollege Otto, ein Stift als Aufmerksamkeit nach ihrer gemeinsamen letzten Nacht? Aber warum übergab er ihr das Geschenk nicht persönlich, sondern band es in seiner knapp bemessenen Freizeit heimlich ans Fahrrad? So hübsch und nützlich der Stift auch war, es wurde Zeit, dem Kerl die Meinung zu sagen.
Eines von beiden ist es. Entweder so viel wie Nichtsein oder irgendeine Empfindung von irgendetwas besitzen. Oder das Totsein ist gar keine Empfindung, sondern ein traumloser Schlaf. Dann scheint die Zeit nicht länger als eine Nacht.« Der Redner stand hinter dem offenen Grab und las aus einem kleinen, grauen Buch, stockte, hatte offenbar Mühe, den Text zu entziffern. Immer wieder ruckelte er an seiner Nickelbrille, die viel zu schmal für seinen breiten Kopf war. Wen zitierte er, fragte sich Annabel. Aristoteles oder Platon? Sie beugte sich leicht nach vorn, um den Titel des Büchleins zu erkennen. Der Umschlag war fleckig und ohne Schriftzug, das Büchlein an den Rändern zerfranst.
»Hat das der Opa gedichtet?«, fragte Marlene flüsternd.
»Vermutlich hat er es irgendwo abgeschrieben, sieht wie ein Notizbuch aus.« So wie Annabel ihren Schwiegervater gekannt hatte, hatte er auch seine Beerdigung bis ins Detail geplant. Sie umfasste Marlenes kleine Hand, die ihr ohne Arm aus der Schulter ragte. Ausnahmsweise erlaubte ihre Tochter es, dass sie sie hielt, und drückte sogar ihre Finger. So traurig der Anlass auch war, Hauptsache, sie stand das mit ihren Liebsten durch. Rechts Marlene, links von ihr Konstantin mit Friedrich, der seine Großmutter untergehakt hatte, die jetzt verwitwet war. Bei jedem Atemzug streifte die schwarze Popeline von Annabels kurzärmeligem Kleid Konstantins Sakko. Mehr Nähe ließ ihr Mann im Moment nicht zu, und sie versuchte, es zu akzeptieren. Außerdem wollte sie sich die Peinlichkeit ersparen, dass er vor den Augen aller von ihr abrückte. Er litt, das spürte sie, zu gern hätte sie ihn getröstet. Immerhin hatte er sie zu Hause, bevor sie aufbrachen, kurz umarmt, ja, sie beinahe umklammert. Doch bevor Annabel recht wahrnahm, dass das an ihrem Hals seine Tränen waren, hatte er sich schon von ihr gelöst und war ins Auto gestiegen.
»Wenn also der Tod nichts ist«, las der Trauerredner weiter, »dann nenne ich es einen Gewinn, ist aber der Tod eine Abtrennung von innen an einen anderen Ort und müssen alle Verstorbenen dorthin wandern und sich einem Richter stellen, dann …« Das klang, als ob Richard Angst vor einem göttlichen Urteil gehabt hatte. Merkwürdig, am liebsten hätte ihm die Stadt München doch schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt. Für seine Errungenschaften in der Forschung gegen Kinderlähmung, für die Leitung seiner über Deutschland hinaus berühmten Kinderklinik und für sein wohltätiges Wirken. Als vorhin Richards selbstverfasster Lebenslauf verlesen wurde, schienen seine Leistungen kein Ende zu nehmen. Nur seine Familie blieb unerwähnt. Weder Irmela, seine Frau, noch seinen Sohn nannte er. Schon gar nicht die Enkel. Marlene mit ihrer Behinderung hatte Richard von Geburt an abgelehnt, und dass Friedrich für die Olympiade trainierte, war für ihn nicht mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Wie es mit dem Studium voranging, hatte er bloß wissen wollen, und auf welches Fachgebiet Friedrich sich spezialisieren wollte. Am besten sollte der Junge gleich in die Krebsforschung gehen, das sei die Zukunft und zudem am lukrativsten, hatte er eine Woche vor seinem Herzinfarkt beim letzten Familienessen vorgeschlagen.
Wie lange mussten sie noch in der prallen Sonne ausharren? Das Thaler’sche Familiengrab war eines der wenigen auf dem Waldfriedhof, das nicht im Schatten lag. Annabel zerlief fast in ihren schwarzen Sachen. Sie hörte, wie Irmela in ihr Spitzentaschentuch schniefte. Vielleicht wischte sie sich auch bloß den Schweiß vom Gesicht. Sechzig Jahre waren sie und Richard verheiratet gewesen. Es musste schwer sein, plötzlich ganz allein zurechtzukommen, hoffentlich verkraftete sie das. Vorletztes Jahr hatte sie ein künstliches Knie bekommen, seither benutzte sie einen Stock. Annabel würde ihr beistehen, so gut sie konnte, und ihr Unterstützung zumindest anbieten, auch wenn Irmela sich garantiert nicht helfen lassen würde. Über all den Parfüms und Rasierwassern, die die Trauernden umhüllten, lag eine faulige Süße. Wann ließen sie den Leichnam endlich hinab? Diese konfessionslose Beisetzung war schwer einzuschätzen. Eine katholische Beerdigung hatte Struktur, da konnte man sich den Ablauf ausrechnen. Annabel wunderte sich, welche Gedanken ihr durch den Kopf schwirrten, fast wie die Fliegen, die träge von der Hitze auf Jacketts und Pumps hockten. Richard und Annabel waren oft über Kreuz gewesen. Sie als Katholikin und er als Atheist, der sich ständig über ihren Glauben lustig machte. An ihrem toten Vater, den er als verkappten Pfarrer bezeichnet hatte, ließ er kein gutes Haar, und er betonte zugleich bei jeder Gelegenheit, dass Annabel nichts außer einem Tisch mit in die Ehe gebracht hatte. Den konnte man immerhin an beiden Seiten ausziehen, so dass vierzehn Personen bequem daran Platz hatten. Angesichts dessen, dass seit einiger Zeit die Rechtmäßigkeit des gesamten Thaler’schen Besitzes angezweifelt wurde, war ein Tisch besser als nichts. Die Villa mitsamt dem Inventar hatte Konstantin seinem besten Freund abgekauft, als dieser mit seiner Frau vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Leider kamen die beiden an der Grenze zur Schweiz ums Leben. Vor zehn Jahren etwa hatte Annabel den Sohn der Kleefelds, der als Atomphysiker bei München arbeitete, ausfindig gemacht. Doch anstatt dass sie und Noah Kleefeld Frieden schlossen und sich überhaupt erst mal kennenlernten, hatte er sein Elternhaus zurückverlangt. Konstantin hatte die Angelegenheit seinem Vater übergeben, und der schaltete umgehend seine Anwälte ein. Wie und worauf man sich einigte, erfuhr Annabel nicht. Die Sache sei ausgestanden, hieß es und wurde seither nicht mehr erwähnt. Für Annabel blieb ein seltsamer Beigeschmack, der auch ihre Ehe durchsetzte. Die genauen Umstände und Zusammenhänge verstand sie noch immer nicht, doch zumindest eine Angelegenheit hatte sie dank ihrer eigenen Ermittlungen klären können. Die ermordete Barbara Kleefeld, Noahs Mutter, war die Geliebte von Konstantin gewesen. Selbst nach all den Jahren trauerte er noch um sie, und das war auch der Grund, warum er Annabel nie so lieben konnte wie sie ihn. Barbara Kleefeld war Malerin gewesen, viele Gemälde in der Villa stammten von ihr. Früher hatte Annabel sie für Werke bekannter Künstler gehalten, mit eindrücklichen Motiven aus der Gegend. Aber als sie erfuhr, wer die Bilder gemalt hatte, änderte sich ihr Blick darauf. Sie musste die Bilder neu betrachten lernen und fragte sich ständig, wann und unter welchen Umständen sie gemalt worden waren. Hatte Konstantin sich genau dieses Porträt gewünscht, oder hatte sie es ihm als Zeichen ihrer Liebe geschenkt? Am liebsten hätte Annabel alle abgehängt und gegen etwas Neutrales ausgetauscht, aber das erlaubte ihr Mann ihr nicht. Er zwang sie, sich damit zu arrangieren. Es fühlte sich an, als führten sie eine Ehe zu dritt. Konstantin, sie und eine Tote, die sein Herz auf ewig in Beschlag genommen hatte.
Schade, dass Luise es offenbar nicht zur Beerdigung geschafft hatte, über ihren Beistand hätte sie sich sehr gefreut. Immerhin war Helga hier, stand weiter hinten bei der Belegschaft der Seeklinik, neben Dr. Kettler, der im Gegensatz zu ihrem Mann größer als Annabel war. Wirklich stattlich sah er aus mit seinem feinen rotblonden Haar und dem sorgfältig gestutzten Vollbart. Annabel hatte nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber die wenigen Male unterhielten sie sich aufs Angenehmste. So viel sie wusste, war er Mitte vierzig und noch ledig. Helga bemerkte ihren Blick und nickte ihr kurz zu. Lief zwischen Dr. Kettler und ihr etwas? Sie war doch mit Theo, diesem Anwalt, liiert, der sie damals aus der Untersuchungshaft geboxt hatte. Oder war das vorbei? Beständigkeit war ein Fremdwort für Helga. Sie nahm sich, was ihr gefiel. Obwohl sie dieses Jahr vierzig geworden war, himmelte sie nach wie vor jeder an. Sogar jüngere Männer erröteten, wenn Frau Dr. Knaup ihnen einen Augenaufschlag schenkte. Das hatte Annabel bereits mehrfach beobachtet. Ein Phänomen, diese Frau. Blond und extravagant gekleidet, geizte sie nicht mit ihren Reizen. Allein dieses schwarze Kostüm. Es glich eher dem Glitzerkleid einer Bardame, als dass es auf eine Beerdigung passte. Außerdem war sie blitzgescheit und in ihrem Beruf extrem ehrgeizig. Fast könnte Annabel neidisch werden. Um Helga herum erkannte sie andere Ärzte, die sich extra freigenommen hatten. Dazu der Pulk aus Fremden, der ihnen von der Aussegnungshalle bis zum Grab gefolgt war. Vermutlich hatten die Leute in der Zeitung von der Beisetzung gelesen oder im Radio davon gehört und waren zum Waldfriedhof gepilgert. Der reinste Volksauflauf. Patienten, die Richard einst behandelt hatte und die mittlerweile erwachsen waren. Ganze Familien mit ihren Kindern, manche noch im Rollstuhl oder auf Krücken, außerdem seine Studenten und Kollegen von der Uni. Überall hatten die Fotografen Kameras mit Stativen aufgebaut. Morgen war bestimmt einiges in der Presse. Halb München verteilte sich zwischen den hohen Bäumen und Grabmälern, um ihrem Schwiegervater die letzte Ehre zu erweisen.
Hinter dem Redner türmten sich die Kränze und Blumenspenden. »Gewiss werden sie dich an diesem Ort nicht hinrichten, sonst wäre es dort nicht anders als hier. Dort ist man unsterblich, wenn wahr ist, was gesagt wird.« Endlich schloss er das Buch und streckte zwei Finger in die Luft, als wollte er den Toten segnen, zuckte zurück, als hätte er sich vertan. »Ruhe in Frieden, Richard von Thaler«, ergänzte er bloß und machte einem Musiker Platz. Ein Trompeter blies durchdringend schrill Danny Boy, dazu ließen die Träger feierlich den Sarg in die Erde hinab. Konstantins Schultern bebten, vorsichtig strich Annabel ihrem Mann über den Rücken und lauschte dem schaurig schönen Lied. Die Träger lösten die Gurte, der Sarg war versenkt. Irmela warf als Erste ein Schäufelchen voll Erde hinab, zog eine weiße Rose aus einem Strauß, den die Bestatter in einem Kübel bereitgestellt hatten. Konstantin trat als Nächster ans Grab, zusammen mit Friedrich. Die Fotografen knipsten und knipsten. Der Olympionike und sein Vater, wenn das kein Aufmacher war. Nun musste Annabel doch noch weinen. Gerade als sie mit Marlene vortreten wollte, drängte sich ein Mann an ihnen vorbei. Erst glaubte sie, er wäre einer der Sargträger, der sich auf die falsche Seite gestellt hatte. Der Mann trug allerdings keinen Anzug, sondern eine Kniebundlederne und einen Trachtenhut. Er blieb vor dem Erdloch stehen, nahm den Hut ab und hob den Kopf. Nicht nur Annabel, auch andere folgten seinem Blick gen Himmel.
Er neigte sich weit zurück. Sie glaubte schon, er wollte etwas singen oder vielleicht jodeln, diesen Bayern war alles zuzutrauen, doch er spuckte in hohem Bogen ins Grab. Annabel meinte, ein Geräusch zu hören, als der Rotzklumpen auftraf. »Da hast du’s, du Drecksau, du Elendige, endlich bist du verreckt. Du hast meinen Sohn auf dem Gewissen. Fahr zur Hölle, wo der Hitler und seine Spießgesellen schon auf dich warten. Hoffentlich wirst du da unten ewig geröstet, du Hundsfott, du verfluchter.«
Irmela kreischte. »So tut doch etwas! Warum greift denn niemand ein?« Sie fuchtelte mit dem Stock, dann sackte sie zusammen. Friedrich und Konstantin fingen sie auf. Ein Tumult entstand.
»Ein Arzt, ist denn kein Arzt hier?«, war alles, was Annabel auf die Schnelle einfiel. Schützend stellte sie sich vor Marlene, die mangels Arme so leicht das Gleichgewicht verlor. Sie sah sich nach dem Trachtler um, der den Tumult ausgelöst hatte. Er war fort, vielleicht hatte ihn auch jemand überwältigt und weggezerrt.
»Was ist passiert? Geht’s euch gut?« Helga schlängelte sich zu ihnen durch.
»Uns fehlt nichts«, sagte Annabel. »Aber schau mal nach meiner Schwiegermutter. Ich glaube, sie hat einen Nervenzusammenbruch.« Helga nickte, eilte zu der Bank im Schatten einer Kiefer, zu der sie Irmela geführt hatten. Annabel und Marlene folgten ihr.
»Haben Sie Schmerzen?« Helga hockte sich zu Irmela und fühlte ihr den Puls. Umgeben von Ärzten, allen voran Konstantin, ihr eigener Sohn, war anscheinend nur die Frau Doktor in der Lage, sich um sie zu kümmern. Die Männer umringten sie und glotzten.
Irmela nahm ihren Trauerhut ab, spreizte keuchend die Beine, spannte den Saum des engen Rocks bis aufs Äußerste, was nicht besonders schicklich aussah. »Luft, ich brauche nur Luft.« Sie riss sich den obersten Blusenknopf auf. Ihre Wimperntusche lief ihr über das faltige Gesicht.
»Hat jemand was zu trinken?« Helga wandte sich an die Herren. Irmelas Chauffeur reichte ihr einen Flachmann. »Ich meinte Wasser.«
»Ich fülle eine Flasche an dem Brunnen da vorne«, bot Friedrich an und wollte loslaufen.
»Bleib hier, Jungchen, was mit Geschmack ist mir lieber, danke, Venko.« Beherzt griff Irmela nach dem Flachmann, schraubte ihn auf und nahm einen kräftigen Schluck. Dann atmete sie wie erfrischt durch und klatschte in die Hände. »Auf zum Leichenschmaus.«
»Versuch, den Voltigiergurt zu greifen, Sophie, ja, sehr gut.« Marie hielt den Haflinger an der Longe und sprach ihrer neuen Schülerin, die Paulchen kaum bis an den Bauch reichte, Mut zu. Trotz der Insekten, die den Haflinger in der Sommerhitze umschwirrten, trottete Paulchen brav neben ihnen her. Auf einer einigermaßen waagerechten Koppel, die hoch über dem Hof lag und den Starnberger See überblickte, hatten sie mit Sand und Sägespänen einen Kreis gestreut. »Genau so, halt dich fest und jetzt mit Schwung, spring vom Boden ab und zieh dich hoch.« Sophie hüpfte mehrmals, schaffte es aber nicht, Paulchens Rücken zu erklimmen. »Los, Alma, hilf mal.« Marie rief nach ihrer Ältesten, die bei den anderen am Gatter stand und Dehnübungen machte. Mit fast sechzehn und dreizehn waren Alma und Linda ihre fleißigen Mitarbeiterinnen, aber auch Xaver, der erst zehn war, half, wo er konnte. Die Kinder liebten Reiten und Pferde und alles, was damit zu tun hatte, genau wie sie selbst. Alma hatte sogar die Idee für die Voltigierkurse gehabt, mit denen sie inzwischen gutes Geld verdienten. Begonnen hatten sie vor einigen Jahren mit Freundinnen aus der Schule ihrer Töchter, aber inzwischen nahmen Kinder aus dem gesamten Landkreis teil. Manche reisten am Wochenende extra aus München an. Nur Konrad, Maries Fünfzehnjähriger, ging freitags und samstags, wenn bei den Pferden Hochbetrieb herrschte, lieber Fußball spielen. Angefeuert von Onkel Hans, der seinen Neffen unterstützte. Marie gönnte es ihm.
In ihren Gymnastikschläppchen lief Alma zu Paulchen und drückte das Mädchen in den Sattel.
Sophie strahlte stolz. »Ich kann schon mit ohne Festhalten, schau, Frau Brandstetter.« Mit zusammengepressten Lippen und hoch konzentriert löste sie langsam die Arme von den Griffen und streckte sie zur Seite aus.
»Sehr schön, willst du noch die Fahne probieren?« Sophie nickte, kniete sich vorsichtig auf den Pferderücken und streckte einen Arm und ein Bein aus. »Super. Etwas mehr Körperspannung bitte. Trau dich. Das Bein und den Arm nicht mitschwingen, halte dich ruhig. Ja, genau so, perfekt.« Erschöpft lehnte sich Sophie nach vorne, schmiegte sich um Paulchens Hals und vergrub ihre Hände in seiner langen Mähne. Marie schmunzelte. »Die Übung kenne ich noch gar nicht. Ist das die Schmusenummer?« Nach ein paar weiteren Runden saß das Mädchen ab, und die geübteren Kinder kamen an die Reihe. Die Sonne brannte auf die Wiese herunter. Mit dem Handrücken wischte sich Marie über die Stirn und rückte den Strohhut wieder gerade.