Die Wunderfrauen

Stephanie Schuster

DIE WUNDERFRAUEN

Freiheit im Angebot

Roman

Historischer Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Stephanie Schuster

Stephanie Schuster, Jg.1967, lebt mit ihrer Familie und einer kleinen Schafherde auf einem gemütlichen Hof in der Nähe von Starnberg, in Oberbayern. Hier spielt auch die Trilogie »Die Wunderfrauen«. Auch wenn die Figuren frei erfunden sind, könnten die Geschichten so oder so ähnlich passiert sein. Bestseller-Autorin Stephanie Schuster verwebt in ihren Romanen vier bewegende Frauenschicksale zu einem Panorama der 1950er, 1960er und 1970er Jahre.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Anfang der 1970er Jahre leidet Luises Laden unter der Supermarkt-Konkurrenz. Auch Annabel droht ein großer Verlust, als die Vergangenheit sie einholt. Marie nimmt ihr Leben in die Hand und beginnt, für ihre Träume zu kämpfen. Helga gewinnt an Einfluss in der Seeklinik, aber dann gesteht sie ihren Freundinnen ein Geheimnis, das alles verändern wird.

 

Der dritte Band der Wunderfrauen-Trilogie: Vier Frauen zwischen Wirtschaftswunder und Hippiezeit, zwischen Nylons und Emanzipation, zwischen Liebe und Freundschaft

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Motiven von Getty Images und Ullsteinbild

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491232-5

Inhaltswarnung

Im historischen Kontext der »Wunderfrauen«-Trilogie verwenden die Figuren auch zum Teil antisemitische, rassistische, sexistische und ableistische Wörter und Konzepte, die in den drei Jahrzehnten, über die sich die Handlung der Romane erstreckt, von der Mehrheitsgesellschaft größtenteils unreflektiert genutzt wurden. Daneben enthält der Roman Szenen sexualisierter Gewalt (Vergewaltigung und sexuelle Nötigung).

 

Für meinen allerliebsten Thomas, unsere Kinder, Schwiegersöhne und Enkelinnen, unsere Wunder!

LUISE DAHLMANN, geb. Brandstetter (*1927)

verheiratet mit Hans (*1920)

Kinder: Josephine (*1954), die Zwillinge Christian und Elias (*1964)

 

MARIE BRANDSTETTER, geb. Wagner (*1928)

verheiratet mit Martin (*1925)

Kinder: Alma (*1956), Konrad (*1957), Linda (*1959), Xaver (*1962)

 

ANNABEL VON THALER, geb. Tobek (*1920)

verheiratet mit Konstantin (*1909)

Kinder: Friedrich (*1948), Marlene (*1961)

 

HELGA KNAUP (*1932)

ledig, aber liiert mit Theo (*1927), Otto (*1929)

Kind: David (*1954, Vater: Jack)

August, 1973

Wie weit sie unter der Erde waren, wusste Marie nicht. Zuerst waren sie eine eiserne Wendeltreppe hinabgestiegen, die kein Ende zu nehmen schien, dann ging es weiter, eine lange Galerie entlang und unter gemauerten Bögen hindurch, so massiv, als wollten sie die gesamte Stadt von unten stützen. Sie duckten sich unter einem Türsturz hindurch, über dem sie eine Tafel auf Französisch warnte. HALT, HIER BEGINNT DAS REICH DES TODES! Dahinter taten sich riesige Höhlen auf, deren Wände nur schwach beleuchtet waren. Rechts und links waren Gebeine aufgestapelt, säuberlich sortiert nach Schädeln, Ellen, Speichen, Oberschenkelknochen. Jetzt begriff Marie erst, was der Wärter am Eingang gemeint hatte, als er sie ermahnte: »Mais ne mettez rien dans le sac.« Verständnislos hatte sie ihn angeschaut. Da zeigte er auf ihren Rucksack, in dem sie ihr Skizzenbuch verwahrte.

»Gibt’s tatsächlich Leute, die Knochen klauen?«, fragte sie nun Helga, die mit ihr am Fuß einer weiteren Treppe auf Annabel und Marlene wartete.

»Manche fahren sogar extra deswegen her«, erklärte Helga. »Ein Totenkopf auf dem Schreibtisch oder ein Schulterblatt zum Herumzeigen, das ist doch was. Die Herstellung von Gips- oder Plastikpräparaten kostet mehr als der Eintritt hier. Ich könnte mir glatt etwas dazuverdienen, wenn ich meinen Arztkollegen einen echten Knochen als Anschauungsobjekt für die Praxis mitbrächte.« Als sie Maries ernste Miene

»Jetzt lass mich endlich, Mama«, zischte Marlene. Offenbar war es der Zwölfjährigen peinlich, dass Annabel rückwärts vor ihr die Treppe hinunterstieg, um sie aufzufangen, falls sie stürzen sollte. Ans Geländer gestützt, ging Marlene Stufe für Stufe hinunter, festhalten konnte sie sich ohne Arme nur schwer. Als ersten gemeinsamen Ausflug zu viert hätten sie vielleicht besser etwas anderes unternehmen sollen. Von wegen Ablenkung und Vergnügen. Reichlich morbid war es hier unten. Marie hatte sich nichts dabei gedacht, als sie die Katakomben vorschlug. Warum nicht auch das unterirdische Paris erkunden? An einem Ende der Stadt in die verlassenen Steinbrüche eintauchen, für eine Stunde dem Lärm und der Hitze entkommen und an einer ganz anderen Stelle wieder ans Tageslicht steigen, wäre doch lustig. Von wegen! Anscheinend hatte sie das, dem sie eigentlich entkommen wollte, wie ein Magnet angezogen. Nun bereute sie es, die anderen überredet zu haben. Wie herrlich wäre es, oben bei einem Café au Lait in der Sonne zu sitzen oder die Seine entlangzuspazieren, bei den Bouquinisten oder den Künstlern am Montmartre vorbei und gemeinsam den Sommer zu genießen. Stattdessen stiegen sie immer tiefer in die Unterwelt. Von Raum zu Raum wurde Marie unbehaglicher. Sie versuchte, die aufkeimende Beklemmung wegzudrücken. Zum Umkehren war es zu spät, und was vor ihnen lag, konnte schließlich nicht schauriger sein als das, was sie bereits gesehen hatten. Fröstelnd schlüpfte sie in die Strickjacke, die sie um die Hüften gebunden hatte, und knöpfte sie

»Hört ihr das?« Helga blieb stehen.

Marie lauschte, schüttelte den Kopf. »Was soll sein?« Bis auf das Knistern einer Neonröhre war es still ringsum. Nicht einmal die Schritte und Stimmen der anderen Besucher hörten sie mehr. Kein Husten und Niesen, und auch kein Rufen drang zu ihnen. Vorhin waren sie in einem ganzen Pulk hereingekommen, der sich hier unten schnell aufgelöst hatte. Nicht auszudenken, wenn plötzlich der Strom ausfiele. Womöglich gab es hier Fallgruben oder Schächte.

»Die Musik. Ta-ta. Tatataa-ta. Ta-ta.« Helga tippte mit ihren Plateausandalen auf den Steinboden. »Klingt wie von den Stones.«

»Stones für Steine, das passt.« Marlene kicherte und schaute in einen Nebengang. »Woher kommt das?«

»Bleib hier, Schatz.« Annabel hielt ihre Tochter zurück.

»Das würde ich auch gerne wissen. Hört sich nach einer Fete an.« Helga witschte an den beiden vorbei, knipste ihr Feuerzeug an und verschwand um eine Kurve. Marie wollte sie gerade zurückrufen, da hörte sie es auch. Jetzt lauter.

»Ta-ta. Tatataa-ta. Ta-ta.« Ein hämmernder Sound wie von einer Elektrogitarre. Dann stimmte das mit den Kataphilen, die in dem unterirdischen Labyrinth illegale Treffen abhielten, wie Helga behauptet hatte. Marie folgte ihr, weit konnte sie

»Nicht, Marie. Nicht umdrehen.« Martins Stimme hallte in ihr. Sie erstarrte und brauchte eine Weile, ehe sie wieder Luft holen konnte. Warum waren sie nicht einfach bloß durch die Stadt geschlendert, hatten Notre-Dame besichtigt und ein Eis gegessen? Oder waren in den Louvre gegangen, wo sie die Mona Lisa sehen wollte und alle anderen Kunstwerke. Dort waren die meisten ihrer künstlerischen Vorbilder versammelt. Besonders Géricault mit seinen phantastischen Pferdebildern. Immerhin zeichnete sie, seit sie in Paris eingetroffen waren, wie schon lange nicht mehr, skizzierte die Leute in der Metro oder im Park. Auch Helga war schon mehrere Male in ihrem Buch verewigt. Sie war ein dankbares Motiv, man konnte diese

Nie hätte sich Marie erhofft, eines Tages solch enge Freundinnen zu haben. Eine von ihnen war sogar ihre Schwägerin. Luise würde nachkommen nach Paris, bestimmt saß sie mit den Kindern schon im Zug. Außer Martin und Theo hatte Marie noch nie Freunde gehabt, schon gar keine Freundinnen. Doch nun hatte sie gleich drei, noch dazu Wunderfrauen. Jede von ihnen war eigen, so dass sie manchmal aneinandergerieten, aber sobald eine von ihnen Sorgen hatte oder gar in Not war, standen sie füreinander ein. Gemeinsam wollten sie die Ferien in Paris verbringen, auch um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken. Ein kalter Hauch streifte sie. Sie hatte keine Streichhölzer dabei, geschweige denn eine Taschenlampe. So sehr sie auch blinzelte, sie erkannte nichts ringsum. Die Luft war klamm und stickig. Das griechische Liebespaar fiel ihr ein. Orpheus und Eurydike. Auf der Suche nach seiner Liebsten war Orpheus durch die Unterwelt geirrt, hatte sich nicht umdrehen dürfen, sonst …? Hätte sie sich die Sage gemerkt, vor allem wie sie endete, fände sie vielleicht auch aus dieser Knochenkammer heraus.

»Keine Angst, vertrau mir.« Erneut hörte sie Martins Stimme, es war eine der schönsten Erinnerungen an ihn überhaupt. »Komm. Ich will dir was zeigen«, hatte er sie eines Abends nach der Stallarbeit aufgefordert. Und sie spürte es noch, wie er die Hand ausstreckte. Legte ihre in seine, in diese große warme Hand, sie fühlte seine Finger, seine Haut, die sie so vermisste. Ein Hund kläffte. War das der Wachhund der Wittelsbacher, oder geschah das jetzt in diesem Moment? Sie lauschte

»Wo geht’s hin?«, fragte sie neugierig. Doch er verriet nichts, schlenkerte ihre verschränkten Hände, grinste sie an und zog eine Augenbraue hoch. Hinter dem Ortsschild, wo die Brandstetterfelder lagen, bogen sie ab.

»Nicht umschauen, Marie. Versprich es mir, ja?« Nun legte er den Arm um sie, schob sie weiter, und sie tat ihm den Gefallen, schmiegte sich an seine Schulter, konzentrierte sich auf den Trampelpfad unter ihren Schuhen, der sich den Berg hinaufschlängelte. Es ging auf den Drumlin, vermutete sie. Martin verdeckte ihr mit seinem Körper die Sicht. Aber selbst wenn sie einen Blick riskiert hätte, was hätte sie schon gesehen? Bäume und Büsche, Wiesen und Äcker! Lieber roch sie Martin, diese Mischung aus Schafwolle, Heu und seinem ganz unverwechselbaren Duft, und ließ sich führen, egal wohin. »Warte, mach bitte kurz die Augen zu«, sagte er, als sie oben standen, nahe am Abhang, das spürte sie. Ihr Fuß ragte fast darüber hinaus. Doch Martin hielt sie, drehte sie nun ein Stück. »Jetzt, schau.« Als sie die Augen öffnete, sah sie unter sich das Roggenfeld. Erst erkannte sie nichts als die hellen Ähren. Sanft bewegten sie sich im Sommerwind. Mitten unter den Halmen wuchsen traumhaft schöne Sonnenblumen, in zwei Kreisen, die sich an einer Stelle zu Ringen verbanden. Da sank Martin schon neben ihr auf die Knie und fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Seit

 

Der erste Urlaub überhaupt. Luise packte um, packte aus. Sie hatte wenig Übung im Verreisen, war bisher kaum über München hinausgekommen. Abgesehen von zweimal Krankenhaus – Schlafanzug, Unterwäsche, Waschzeug, Pantoffeln –, aber das zählte nicht. Was brauchte man in Frankreich? Es könnte regnen, windig sein oder pausenlos heiß? Sollte sie ein Abendkleid mitnehmen, sich überhaupt auch tagsüber elegant anziehen? Oder doch lieber etwas Bequemes, dann reichten die neue Schlaghose, der kurze Jeansrock und die bunten Blusen, die sie mit einem Lackgürtel oder einem Tuch, das sie abwechselnd um die Taille, als Haarband oder als Schal tragen würde, kombinierte? Genügte die leichte Jacke mit Reißverschluss, oder sollte sie noch eine gefütterte einpacken, falls es nachts kühl war? Nimm nur das Notwendigste mit, hatte ihr Helga geraten, den Rest oder, besser gesagt, den ganzen Pariser Chic kaufen wir. Das sagte die Richtige, gerade Helga wirkte immer wie dem neuesten Modemagazin entsprungen. Außerdem musste Luise für ihre Buben mitentscheiden. Dazu noch die Brotzeit, man wusste nie, was es in einem fremden Land zu essen gab und ob das auch schmeckte. Das würde eine Schlepperei werden. Zum Glück mussten sie nur einmal umsteigen

»Der will nicht mit.« Elias band sich die Schuhe. Auch das noch, Luise seufzte. »Und wo ist er?« Elias zuckte mit den Schultern. Typisch, die Brüder hielten natürlich zusammen. »Jetzt sag schon.« Noch bevor es losging, war sie durchgeschwitzt. Hatte sie überhaupt Deo benutzt? Sie konnte sich nicht erinnern, rannte nach oben, schlüpfte rasch aus den Ärmeln der orange-braun gestreiften Bluse, die sie sich extra genäht hatte, und trocknete sich mit dem Handtuch die Achseln. Dann griff sie zum Bac-Stift, der vor dem Badspiegel stand. Es war der grüne, der gehörte ihrem Mann. Sie zögerte kurz,

»Du meinst Metro«, verbesserte er sie. Wenigstens sprach er wieder mit ihr.

»Genau. Und in das Museum mit den Uniformen und Rüstungen.« Sie hatte in der Stadtbücherei etliche Reiseführer gewälzt und sich einiges rausgeschrieben, damit sie vorbereitet war.

»Gibt’s da auch Schwerter?«, fragte Christian, aber noch immer rührte er sich nicht.

»Bestimmt.«

»Säbel und Pistolen?«

Wie viel Überredungskunst brauchte es noch! »Jetzt raus da.« Sie verlor die Geduld. »Sonst verpassen wir den Zug.«

»Aber was, wenn wir nie mehr heimkommen?« Christian kroch wieder in den hintersten Winkel zurück und schniefte.

»Mama, komm schnell, die Josie ist dran.« Elias rief von unten.

»Die Josie? Aus Amerika?« Luise rannte zum Apparat, hörte noch, wie Christian aus dem Zwickel krabbelte. Anscheinend wollte er sich den Anruf seiner großen Schwester nicht entgehen lassen. Sie nahm Elias den Hörer ab, sprach mit ihrer Ältesten. Josie wirkte völlig aufgelöst. Was sie zu berichten hatte, änderte alles, besonders für Helga. Am besten, sie würden von Paris aus noch einmal telefonieren, schlug Luise vor, die das Gehörte erst begreifen musste. Hastig notierte sie Josies Nummer, sah dabei auf ihre Armbanduhr, die Bellarabi repariert hatte. Sie rieb über das verkratzte Ziffernblatt, damit sie die Zeiger erkennen konnte. Noch elf Minuten, jetzt würden sie rennen müssen.

»Was hat sie gesagt, Mama?«, fragten die Brüder fast einstimmig, als sie auflegte und sich Koffer, Rucksack und Handtasche schnappte.

»Das erzähl ich euch unterwegs.« Der Schlüssel, wo war jetzt der? Als sie endlich voll bepackt zum Bahnhof spurteten, drehte sich Luise noch mal um und schaute zum Laden zurück. Im Schaufenster hing ein Schild: »Zu vermieten«.

Sommer 1972

3 Esslöffel voll Glück

1 Messerspitze Charme

1 Prise Durchsetzungsvermögen

1 Tasse Begabung

50 Tropfen Selbstvertrauen

¼ Liter Optimismus

 

Alle Zutaten kräftig verrühren und mit 1000 Kilogramm Fleiß vermischen. Morgens und abends unverdünnt und auf nüchternen Magen einnehmen, evtl. mit einem Klumpen Humor abschmecken.

 

Aus: Luises Ladenkunde-Album

Das große Ladenfenster zur Maximilianstraße hin gehörte noch geputzt, fiel ihr auf, als sie gerade Feierabend machen wollte. Kinder hatten sich die Nasen an der Scheibe platt gedrückt und es mit klebrigen Eisfingern verschmiert. Der meiste Schmutz stammte jedoch von der Kehrmaschine der Stadtverwaltung, die am Nachmittag den Bürgersteig gereinigt hatte. Bis zum ersten Stock hatte es gestaubt. Dringend bräuchten sie Regen. Die Sommerhitze flirrte, und der Wischer quietschte, als Luise ihn übers Glas zog. Sie freute sich so, dass ihre Dekoration gut ankam. Die ganze Woche waren immer wieder Leute stehen geblieben, und an ihren Gesichtern hatte sie ablesen können, dass ihnen gefiel, was sie sich ausgedacht hatte. Abgesehen von der Planung und zahlreichen Entwürfen hatte Luise den gesamten letzten Sonntag damit verbracht, ein Miniatur-Olympiastadion aufzubauen. In der Mitte, auf einer grünen Teppichfliese, zeigte sie die allerersten Fußballschuhe der Buben in Größe achtzehn. Die hatte Hans ihnen gleich nach der Geburt gekauft. Josie hatte er nie dafür begeistern können, aber Elias und Christian hatten, kaum dass sie laufen konnten, angefangen, seine Leidenschaft zu teilen. Hinter den Stollenschuhen stand Waldi, das Olympiamaskottchen. Luise hatte es in knallig bunten Farben nachgestrickt. Anfangs hatte sie sich gefragt, warum ausgerechnet ein Dackel die internationalen Spiele begleitete, bis sie in der Zeitung las, dass der Dackel nicht nur das beliebteste Haustier Münchens war, wo

»Frau Dahlmann, huhu, wir sind’s«, flötete Herta, als wären sie hinter der Scheibe nicht zu sehen.

»Einen Moment, bitte.« Luise rieb sich die Kniescheibe und tupfte den Blutstropfen weg, der sich sofort gebildet hatte. Mist, jetzt hatte sie sich auch noch eine Laufmasche gerissen. Bei der Hitze würde sie zwar lieber auf die Seidenstrumpfhose verzichten, aber ihre Beine kamen ihr viel zu blass vor. Zum Sonnen hatte sie bisher einfach noch keine Gelegenheit gefunden. Sie rappelte sich hoch, drückte den fünften Ring wieder auf der Stange fest und krabbelte rückwärts aus dem Schaufenster. Dabei brachte sie mit dem Hintern das Plastikruder, das sie zu Ehren von Fritz in eine Ecke gelehnt hatte, ordentlich zum Wackeln. Dahlmanns Gemischtwaren drückt unserem Starnberger Athleten Fritz von Thaler fest die Daumen, hatte sie draufgeschrieben. Als seine Tante Dalli, wie der Nachbarsbub sie von klein auf genannt hatte, war Luise sehr stolz auf Annabels Sohn. Mittlerweile war Fritz ein drahtiger Kerl von Mitte zwanzig, der sich mit seiner Rudermannschaft für die Olympiade qualifiziert hatte. Welche Ehre für Starnberg! Die

Die Ampel ließ Gnade walten und schaltete genau in dem Moment um, als sie den Schlossberg hinuntersauste. Was war das? An ihrer Handbremse hing ein Stift. Am Bahnhof angekommen, sperrte sie ihren geliebten Flying Dutchman an das verschnörkelte Eisengeländer, löste die Schleife, mit der der Kugelschreiber festgebunden war, und schob ihn in ihre Fransentasche. Die S-Bahn fuhr ein. Helga rannte durch die Unterführung und die Treppe hoch, dabei hielt sie die ganze Zeit Ausschau nach Luise. Wo war sie nur? Sie hatten sich doch für sieben Uhr vierundvierzig verabredet. Falls ihr etwas dazwischengekommen war, hätte sie bestimmt angerufen. Bis vor fünf Minuten war Helga schließlich noch zu Hause gewesen. Sie überlegte kurz, ob sie die Bahn sausen lassen und zu Luise laufen sollte, um nach ihr zu sehen, dann entschied sie, ohne die Freundin einzusteigen. Bestimmt gab es eine harmlose Erklärung, Luise würde nachkommen. Das Abteil war voll besetzt und stickig heiß. Helga ergatterte noch einen freien Sitz und kippte das Fenster.

Sofort beschwerte sich die alte Dame neben ihr. »Sind Sie narrisch, ich will doch nicht im Zug sitzen.«

»Tja, dann sollten sie besser Auto oder Bus fahren«, sagte Helga, suchte sich dann aber lieber weiter vorne einen freien Platz, wo alle Fenster gekippt waren. Dennoch klebte ihr nach ein paar Haltestellen das schwarze Kleid am Leib, sie knöpfte es auf und wedelte mit dem Rocksaum, was den Herrn ihr

»Noch nie eine echte Frau gesehen?«, sagte sie zu dem Zeitungsleser, der sie mit offenem Mund anstarrte. Raschelnd versteckte er sich wieder hinter seiner Bild und schlug die Beine übereinander. Helga betrachtete den Kugelschreiber. Ein sehr edles Teil, mit eindrehbarer Spitze, sie probierte ihn auf der Rückseite der Streifenkarte. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie in der Eile ganz vergessen hatte zu stempeln. Wenn jetzt ein Kontrolleur kam, war sie dran. Neuerdings patrouillierten auch welche in Zivil durch die S-Bahn, damit man sie nicht an ihrer Uniform erkannte und vorzeitig ausstieg. Was soll’s, wär nicht das erste Mal, dass sie vierzig Mark blechen musste. Der Stift schrieb angenehm weich und würde sich perfekt in der

»Vielleicht hat eine der Krankenschwestern deiner Patientin den Tipp gegeben? Mich hat in letzter Zeit jedenfalls keine Kundin gefragt, was du gern magst. Falls es vorkommt, sage ich Bescheid«, versprach Luise. Sie konnte recht haben, die Kollegen in der Seeklinik zogen Helga oft mit ihrem Hang zu Schokolade auf und schanzten ihr die Patientenpräsente zu.

Aber nun ein Kugelschreiber. Was sollte das? Hatte ihr Sohn etwas ausgefressen und wollte sie auf diese Weise schon mal besänftigen? Oder hatte sie einen neuen Verehrer? Theo schied aus, er hätte ihr gleich bei den Pralinen gestanden, dass er dahintersteckte. Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Blieb noch ihr Kollege Otto, ein Stift als Aufmerksamkeit nach ihrer gemeinsamen letzten Nacht? Aber warum übergab er ihr das

Eines von beiden ist es. Entweder so viel wie Nichtsein oder irgendeine Empfindung von irgendetwas besitzen. Oder das Totsein ist gar keine Empfindung, sondern ein traumloser Schlaf. Dann scheint die Zeit nicht länger als eine Nacht.« Der Redner stand hinter dem offenen Grab und las aus einem kleinen, grauen Buch, stockte, hatte offenbar Mühe, den Text zu entziffern. Immer wieder ruckelte er an seiner Nickelbrille, die viel zu schmal für seinen breiten Kopf war. Wen zitierte er, fragte sich Annabel. Aristoteles oder Platon? Sie beugte sich leicht nach vorn, um den Titel des Büchleins zu erkennen. Der Umschlag war fleckig und ohne Schriftzug, das Büchlein an den Rändern zerfranst.

»Hat das der Opa gedichtet?«, fragte Marlene flüsternd.

»Vermutlich hat er es irgendwo abgeschrieben, sieht wie ein Notizbuch aus.« So wie Annabel ihren Schwiegervater gekannt hatte, hatte er auch seine Beerdigung bis ins Detail geplant. Sie umfasste Marlenes kleine Hand, die ihr ohne Arm aus der Schulter ragte. Ausnahmsweise erlaubte ihre Tochter es, dass sie sie hielt, und drückte sogar ihre Finger. So traurig der Anlass auch war, Hauptsache, sie stand das mit ihren Liebsten durch. Rechts Marlene, links von ihr Konstantin mit Friedrich, der seine Großmutter untergehakt hatte, die jetzt verwitwet war. Bei jedem Atemzug streifte die schwarze Popeline von Annabels kurzärmeligem Kleid Konstantins Sakko. Mehr Nähe ließ ihr Mann im Moment nicht zu, und sie

»Wenn also der Tod nichts ist«, las der Trauerredner weiter, »dann nenne ich es einen Gewinn, ist aber der Tod eine Abtrennung von innen an einen anderen Ort und müssen alle Verstorbenen dorthin wandern und sich einem Richter stellen, dann …« Das klang, als ob Richard Angst vor einem göttlichen Urteil gehabt hatte. Merkwürdig, am liebsten hätte ihm die Stadt München doch schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt. Für seine Errungenschaften in der Forschung gegen Kinderlähmung, für die Leitung seiner über Deutschland hinaus berühmten Kinderklinik und für sein wohltätiges Wirken. Als vorhin Richards selbstverfasster Lebenslauf verlesen wurde, schienen seine Leistungen kein Ende zu nehmen. Nur seine Familie blieb unerwähnt. Weder Irmela, seine Frau, noch seinen Sohn nannte er. Schon gar nicht die Enkel. Marlene mit ihrer Behinderung hatte Richard von Geburt an abgelehnt, und dass Friedrich für die Olympiade trainierte, war für ihn nicht mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Wie es mit dem Studium voranging, hatte er bloß wissen wollen, und auf welches Fachgebiet Friedrich sich spezialisieren wollte. Am besten sollte der Junge gleich in die Krebsforschung gehen, das sei die Zukunft und zudem am lukrativsten, hatte er eine Woche vor seinem Herzinfarkt beim letzten Familienessen vorgeschlagen.

Wie lange mussten sie noch in der prallen Sonne ausharren? Das Thaler’sche Familiengrab war eines der wenigen auf dem

Schade, dass Luise es offenbar nicht zur Beerdigung geschafft

Hinter dem Redner türmten sich die Kränze und Blumenspenden. »Gewiss werden sie dich an diesem Ort nicht hinrichten, sonst wäre es dort nicht anders als hier. Dort ist man unsterblich, wenn wahr ist, was gesagt wird.« Endlich schloss er das Buch und streckte zwei Finger in die Luft, als wollte er den Toten segnen, zuckte zurück, als hätte er sich vertan. »Ruhe in Frieden, Richard von Thaler«, ergänzte er bloß und machte einem Musiker Platz. Ein Trompeter blies durchdringend schrill Danny Boy, dazu ließen die Träger feierlich den Sarg in die Erde hinab. Konstantins Schultern bebten, vorsichtig strich Annabel ihrem Mann über den Rücken und lauschte dem schaurig schönen Lied. Die Träger lösten die Gurte, der Sarg war versenkt. Irmela warf als Erste ein Schäufelchen voll Erde hinab, zog eine weiße Rose aus einem Strauß, den die Bestatter in einem Kübel bereitgestellt hatten. Konstantin trat als Nächster ans Grab, zusammen mit Friedrich. Die Fotografen knipsten und knipsten. Der Olympionike und sein Vater, wenn das kein Aufmacher war. Nun musste Annabel doch noch weinen. Gerade als sie mit Marlene vortreten wollte, drängte sich ein Mann an ihnen vorbei. Erst glaubte sie, er wäre einer der Sargträger, der sich auf die falsche Seite gestellt hatte. Der Mann trug allerdings keinen Anzug, sondern eine Kniebundlederne und einen Trachtenhut. Er blieb vor dem Erdloch stehen, nahm den Hut ab und hob den Kopf. Nicht nur Annabel, auch andere folgten seinem Blick gen Himmel.

Er neigte sich weit zurück. Sie glaubte schon, er wollte etwas singen oder vielleicht jodeln, diesen Bayern war alles

Irmela kreischte. »So tut doch etwas! Warum greift denn niemand ein?« Sie fuchtelte mit dem Stock, dann sackte sie zusammen. Friedrich und Konstantin fingen sie auf. Ein Tumult entstand.

»Ein Arzt, ist denn kein Arzt hier?«, war alles, was Annabel auf die Schnelle einfiel. Schützend stellte sie sich vor Marlene, die mangels Arme so leicht das Gleichgewicht verlor. Sie sah sich nach dem Trachtler um, der den Tumult ausgelöst hatte. Er war fort, vielleicht hatte ihn auch jemand überwältigt und weggezerrt.

»Was ist passiert? Geht’s euch gut?« Helga schlängelte sich zu ihnen durch.

»Uns fehlt nichts«, sagte Annabel. »Aber schau mal nach meiner Schwiegermutter. Ich glaube, sie hat einen Nervenzusammenbruch.« Helga nickte, eilte zu der Bank im Schatten einer Kiefer, zu der sie Irmela geführt hatten. Annabel und Marlene folgten ihr.

»Haben Sie Schmerzen?« Helga hockte sich zu Irmela und fühlte ihr den Puls. Umgeben von Ärzten, allen voran Konstantin, ihr eigener Sohn, war anscheinend nur die Frau Doktor in der Lage, sich um sie zu kümmern. Die Männer umringten sie und glotzten.

Irmela nahm ihren Trauerhut ab, spreizte keuchend die Beine, spannte den Saum des engen Rocks bis aufs Äußerste,

»Hat jemand was zu trinken?« Helga wandte sich an die Herren. Irmelas Chauffeur reichte ihr einen Flachmann. »Ich meinte Wasser.«

»Ich fülle eine Flasche an dem Brunnen da vorne«, bot Friedrich an und wollte loslaufen.

»Bleib hier, Jungchen, was mit Geschmack ist mir lieber, danke, Venko.« Beherzt griff Irmela nach dem Flachmann, schraubte ihn auf und nahm einen kräftigen Schluck. Dann atmete sie wie erfrischt durch und klatschte in die Hände. »Auf zum Leichenschmaus.«

»Versuch, den Voltigiergurt zu greifen, Sophie, ja, sehr gut.« Marie hielt den Haflinger an der Longe und sprach ihrer neuen Schülerin, die Paulchen kaum bis an den Bauch reichte, Mut zu. Trotz der Insekten, die den Haflinger in der Sommerhitze umschwirrten, trottete Paulchen brav neben ihnen her. Auf einer einigermaßen waagerechten Koppel, die hoch über dem Hof lag und den Starnberger See überblickte, hatten sie mit Sand und Sägespänen einen Kreis gestreut. »Genau so, halt dich fest und jetzt mit Schwung, spring vom Boden ab und zieh dich hoch.« Sophie hüpfte mehrmals, schaffte es aber nicht, Paulchens Rücken zu erklimmen. »Los, Alma, hilf mal.« Marie rief nach ihrer Ältesten, die bei den anderen am Gatter stand und Dehnübungen machte. Mit fast sechzehn und dreizehn waren Alma und Linda ihre fleißigen Mitarbeiterinnen, aber auch Xaver, der erst zehn war, half, wo er konnte. Die Kinder liebten Reiten und Pferde und alles, was damit zu tun hatte, genau wie sie selbst. Alma hatte sogar die Idee für die Voltigierkurse gehabt, mit denen sie inzwischen gutes Geld verdienten. Begonnen hatten sie vor einigen Jahren mit Freundinnen aus der Schule ihrer Töchter, aber inzwischen nahmen Kinder aus dem gesamten Landkreis teil. Manche reisten am Wochenende extra aus München an. Nur Konrad, Maries Fünfzehnjähriger, ging freitags und samstags, wenn bei den Pferden Hochbetrieb herrschte, lieber Fußball spielen. Angefeuert von Onkel Hans, der seinen Neffen unterstützte. Marie gönnte es ihm.

Sophie strahlte stolz. »Ich kann schon mit ohne Festhalten, schau, Frau Brandstetter.« Mit zusammengepressten Lippen und hoch konzentriert löste sie langsam die Arme von den Griffen und streckte sie zur Seite aus.

»Sehr schön, willst du noch die Fahne probieren?« Sophie nickte, kniete sich vorsichtig auf den Pferderücken und streckte einen Arm und ein Bein aus. »Super. Etwas mehr Körperspannung bitte. Trau dich. Das Bein und den Arm nicht mitschwingen, halte dich ruhig. Ja, genau so, perfekt.« Erschöpft lehnte sich Sophie nach vorne, schmiegte sich um Paulchens Hals und vergrub ihre Hände in seiner langen Mähne. Marie schmunzelte. »Die Übung kenne ich noch gar nicht. Ist das die Schmusenummer?« Nach ein paar weiteren Runden saß das Mädchen ab, und die geübteren Kinder kamen an die Reihe. Die Sonne brannte auf die Wiese herunter. Mit dem Handrücken wischte sich Marie über die Stirn und rückte den Strohhut wieder gerade.