Reckless

 

 

 

Für den Garcia

1 Zusammen

Fuchs spürte Jacobs Atem auf ihrem Nacken, warm und vertraut. Er schlief so fest, dass er nicht aufwachte, als sie sich sacht aus seiner Umarmung löste. Was auch immer ihm in seinen Träumen begegnete, es ließ ihn lächeln, und Fuchs fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen, als könnte sie so lesen, wovon er träumte. Die zwei Monde, die ihre Welt beschienen, fleckten ihm die Stirn mit rostigem Rot und blassem Silber, und draußen vor der Herberge schrien Vögel, deren Namen sie nicht kannte.

Doryeong … Ihre Zunge konnte den Namen der Hafenstadt kaum aussprechen, in der sie am Tag zuvor angekommen waren. Sie hatten aufgegeben. Vielleicht schlief Jacob deshalb so fest. Nach all den Monaten, in denen sie die Spur seines Bruders so oft verloren und neu aufgenommen hatten. Ein paarmal hatten sie Will fast eingeholt. Doch inzwischen suchten sie seit Wochen vergebens nach einem Lebenszeichen von ihm, und gestern, während die Sonne über einem fremden Meer untergegangen war, hatten sie sich endlich entschieden, die Suche abzubrechen. Selbst Jacob glaubte inzwischen, dass sein Bruder nach all dem, was geschehen war, nicht gefunden werden wollte und dass es Zeit war, ihre eigenen Wege zu gehen. Warum konnte sie dennoch nicht schlafen? Vielleicht, weil sie es nicht gewohnt war, so wunschlos glücklich zu sein?

Fuchs zog Jacob die Decke über die Schulter. Ihre eigenen Wege. Endlich. Ein Zweig mit weißen Blüten erfüllte den Raum, in dem sie schliefen, mit üppig süßem Duft. Es übernachteten noch zwei weitere Reisende auf den Matten, die die Wirtin ihnen wortlos ausgerollt hatte. Von Doryeong lief eine Fähre nach Aotearoa aus. Ein alter Freund von Jacob, Robert Dunbar, schickte begeisterte Telegramme von dort, die von dreiäugigen Eidechsen erzählten, von verzauberten Walknochen und wilden Königen, die sich die Farnwälder ihrer Heimat auf die Haut tätowierten.

Ihre eigenen Wege. Fuchs küsste Jacob das Mondlicht vom Gesicht und schlüpfte vorsichtig unter der Decke hervor, die sie beide wärmte. Die Nacht lockte die Füchsin nach draußen. Wenn sie das Fell trug, würde all das Menschenglück ihr Herz vielleicht nicht zum Überlaufen bringen.

Sie stahl sich vorbei an den zwei steinernen Drachen, die den Eingang der schlichten Herberge bewachten, und verwandelte sich unter Bäumen, die ihre Äste im Wind des nahen Meeres wiegten. Die ungepflasterte Straße, an der die Herberge lag, war menschenleer, und die flachen Holzhäuser, die sie säumten, trugen ihre Dächer wie hölzerne Hauben. Doryeong glich in nichts dem Dorf am Meer, in dem Fuchs aufgewachsen war. Selbst die Fischerboote auf den dunklen Wellen, die nur ein paar Häuser weiter das Hafenbecken füllten, schienen aus einem Märchen zu stammen, von dem sie nie zuvor gehört hatte.

Die Füchsin blickte hinauf zu den Sternen und fand in ihren Bildern all die Straßen, die sie in den letzten Monaten mit Jacob bereist hatte. Varangia, Kasakh, Mongol, Zhonggua … Vor einem Jahr hatten all diese Namen noch nichts bedeutet. Nun waren sie mit unvergesslichen Erinnerungen verbunden – an die Zeit, in der sie ihre Liebe nicht länger hatte verbergen müssen. Sie hatten schon bald nicht mehr gezählt, wie viele Wochen sie weiter und weiter nach Südosten gereist waren. Irgendwann hatten sie sogar fast vergessen, dass sie Jacobs Bruder suchten. Vielleicht hatten sie am Ende eh nur all das hinter sich lassen wollen, was Schatten auf ihr frisch gefundenes Glück warf: den erneuten Verrat von Jacobs Vater, den Tod der Dunklen Fee und die Rolle, die Will dabei gespielt hatte – und den Erlelf, der ihr Kind wollte und ihnen Jäger aus Glas und Silber nachsandte. In der Fremde ließ sich all das so viel leichter verdrängen.

Die Füchsin hielt inne und hob witternd die Nase. Selbst das Meer roch anders als das ihrer Heimat. Der Wind trug den Duft von beißendem Pfeffer von den Schiffen herbei und entlockte den Glöckchen, die überall in den Zweigen hingen, ein sachtes Läuten. Der leere Platz vor den Schiffsanlegern wurde ebenso wie die Herberge von steinernen Drachen bewacht. Sie saßen überall, zwischen den Hafenbaracken und vor den Anlegern. Die meisten waren mit Blumen bekränzt. Sie hatten in den letzten Monaten viele Drachen gesehen: aus Stein, aus Holz, aus Ton, so klein, dass man sie als Glücksbringer mit sich tragen konnte, und so groß, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um sie zu betrachten. Doch selbst in Zhonggua, wo Drachen einst in Schwärmen den Himmel verdunkelt hatten, waren ihnen nur deren tote Abbilder begegnet. ›Irgendwo‹, hatte Jacob ihr zugeflüstert, als sie sich im Schatten eines Steindrachen geliebt hatten, der mit Augen aus Lapislazuli auf sie herabblickte, ›muss es ein Zauberding geben, das Statuen lebendig macht. Und wenn wir es gefunden haben, kommen wir zurück und wecken sie alle auf.‹

Fuchs nahm Menschengestalt an und strich einem der Drachen über die gemeißelten Schuppen. Er trug einen Kranz aus roten und gelben Blumen. Ein Blütenblatt blieb an dem Goldenen Garn haften, das sich um ihr Handgelenk schlang. So viel in der Welt ging für alle Zeit verloren. Die Drachen, die Riesen und nun die Feen. Sie hatte den goldenen Faden neben dem reglosen Körper der Dunklen gefunden. Sie hatte sie so sehr gehasst und gefürchtet, und nun kam es ihr vor, als fehlte der Welt ohne sie und ihre Schwestern plötzlich der Regen.

Die Monde gaben Fuchs zwei Schatten, als sie den leeren Anlegeplatz überquerte, um die Abfahrzeiten der Fähren zu studieren. Sehr passend für eine Gestaltwandlerin. Aotearoa … Ja, sie freute sich darauf, dreiäugige Eidechsen zu treffen und nach geschnitzten Walknochen zu suchen, die einem die Gestalt eines Fisches gaben. Sie wollte mit Jacob für alle Zeit so weiterreisen, auf der Suche nach Zauberdingen, die sie sich in langen Nächten, nebeneinander liegend, ausmalten.

Die Fähre, deren Fahrgastliste am ersten Ableger hing, lief nach Tasmanien aus. Die zweite segelte nach Nihon. Die Inseln der Füchse … Vielleicht blieb sie deshalb stehen und warf einen Blick auf die Passagierliste.

Wills Name stand an dritter Stelle. Er hatte eine Ehefrau eingetragen. Der Goyl hatte »Der Bastard« hinter seinen Namen gesetzt.

Fuchs trat auf den leeren Anleger hinaus. Die Fähre nach Aotearoa lief am nächsten Pier aus. An der Baracke, wo man die Fahrkarten kaufte, wehte die Flagge, unverkennbar durch das Abbild der riesigen Farne, die nur dort wuchsen.

Nihons Flagge zeigte einen fliegenden Kranich vor einer roten Sonne.

Was, wenn sie Jacob nicht erzählte, welche Namen sie auf der Passagierliste gesehen hatte? Es gab sicher eine Fähre nach Aotearoa, die später als die nach Nihon auslief, und die Liste würde längst verschwunden sein, wenn sie zum Hafen kamen. Hör auf, Fuchs. Was machte sie sich vor? Jacob las ihr jede Lüge vom Gesicht, und diese würde er ihr nicht verzeihen, selbst wenn sie sie auch zu seinem Schutz erzählte.

Sie machte sich in Menschengestalt auf den Rückweg zu der Herberge. Selbst das Fell hätte ihr das Herz nicht leichter gemacht. Es wird Jacob glücklich machen, seinen Bruder zu sehen, Fuchs. Ja, vermutlich würde es das, aber was war mit dem Goyl? Der Bastard hasste Jacob. Und die Ehefrau, die Will auf der Liste eingetragen hatte … war das Sechzehn, Spielers Mörderin aus Glas und Silber? Wills Freundin Clara war in der anderen Welt, soweit Fuchs wusste, und Jacobs Bruder hatte die mächtigste aller Feen für den Erlelf erschlagen. Was, wenn Will ihm immer noch diente?

Spieler … Sein Name nistete in dem Klang der Glöckchen, die der Wind bewegte. Er wisperte im Wind, im Rauschen der Bäume und dem Murmeln des Meeres.

Nein, sie waren den Schatten nicht entkommen.

Fuchs stieg die flachen Stufen vor der Herberge hinauf, vorbei an den Drachen und den Bäumen, deren Zweige Spielers Namen flüsterten. Du musst es Jacob sagen, Fuchs. Und ihm das Lächeln von den Lippen wischen.

Sie streifte die Schuhe ab, wie ihre Wirtin es verlangte, und öffnete die Schiebewand aus Holz und milchweißem Papier, hinter der der Schlafraum lag. Die zwei anderen Gäste waren ein Mann und eine Frau. Wenn sie sich hinter der Trennwand regten, die die Wirtin aufgestellt hatte, sahen sie aus wie Figuren in einem Schattenspiel.

Jacob schlief noch genauso tief, wie Fuchs ihn verlassen hatte. Sie strich ihm über das schlafende Gesicht. Sie las seine vertrauten Züge ebenso gern mit den Fingern wie mit den Augen. Warum war sie zum Hafen gegangen?

Er wachte auf, als sie sich neben ihn legte.

»Die Füchsin war unterwegs.« Er griff nach ihrer Hand. »Hast du nicht gehört, was die Wirtin erzählt hat? Da draußen gibt es Untote, die aussehen wie Menschen, und …«

Fuchs verschloss ihm den Mund mit einem Kuss. »… und Bulyeowoos, Fuchsdämonen, die sich gern als Frauen ausgeben. Ich fühle mich ganz zu Hause!«

Es kam ihr bisweilen immer noch wie etwas köstlich Verbotenes vor, wenn sie ihn küsste. Er war so glücklich. Warum schwieg sie nicht einfach, und sie vergaßen seinen Bruder und waren stattdessen wieder, was sie so gut gemeinsam waren – Schatzsucher? All die Zauberdinge, die sie noch finden wollten, all die Orte, die sie noch nie gesehen hatten … Aotearoa … Dort wusste man nichts von Erlelfen und Feen, oder?

»Was ist?«

Nein. Er kannte sie zu gut.

Er setzte sich auf und strich über ihre Finger, einen nach dem anderen. Liebe drückt sich in so unscheinbaren Gesten aus.

»Ich war unten am Hafen. Ich wollte sehen, wann die Fähren nach Aotearoa ablegen. Dein Bruder ist eingetragen für ein Schiff, das morgen früh nach Nihon ausläuft.«

Ja, für einen Moment dachte er dasselbe, was sie am Hafen gedacht hatte: Hätte sie Wills Namen nur nicht entdeckt, hätten sie die Suche nur endlich aufgeben können. Natürlich schämte er sich für den Gedanken. Ältere Brüder hörten vermutlich nie auf, sich verantwortlich zu fühlen, vor allem, wenn sie ihre kleinen Brüder jahrelang alleingelassen hatten. Und da, ja, da kam auch die Freude, die Erleichterung darüber, dass Will am Leben war – obwohl er in den Krieg von Unsterblichen verwickelt worden war.

»Was ist mit dem Bastard und dem Spiegelmädchen? Sind sie noch bei ihm?«

»Will reist mit einer Frau. Und ja, der Bastard ist bei ihm.«

Jacob starrte in die fremde Nacht. Ja, das Lächeln war fort. Vermutlich stellte er sich dieselbe Frage, die Fuchs auf dem Rückweg zu der Herberge verfolgt hatte. War sein Bruder nun auf Spielers Seite?

Während ihrer Suche waren sie durch Dörfer gekommen, in denen Geschichten über einen Mann kursierten, dessen Haut sich in blassgrünen Stein verwandelte. Es schien nur zu passieren, wenn Will zornig war, aber es bestand kein Zweifel. Er war erneut der Jadegoyl, obwohl Jacob sein Leben riskiert hatte, um ihn davor zu bewahren. Und er reiste mit zweien ihrer schlimmsten Feinde.

»Wann läuft die Fähre aus?«

»In sechs Stunden. Kurz nach Tagesanbruch.«

Sie liebten sich, aber der Frieden war fort, den sie in den vergangenen Monaten so oft gefühlt hatte. Sie lagen danach wach nebeneinander, dem Schweigen des anderen lauschend. Es würde alles gut werden. Fuchs wollte einfach keinen anderen Gedanken zulassen. Und wie auch immer Jacobs Begegnung mit seinem Bruder verlief, er würde sich danach hoffentlich endlich von der Verantwortung freisprechen, Wills Hüter zu sein. Sie schlang die Arme um ihn und spürte, wie seine Wärme ihr den Schlaf brachte. Aber Will wartete in ihren Träumen. Er hatte ein Gesicht aus Jade, und neben ihm stand nicht das Mädchen aus Glas oder der Goyl, der Jacob Rache geschworen hatte. Der Mann an Wills Seite hatte kein Gesicht. Es war ein leerer Spiegel und Fuchs flüsterte seinen Namen im Schlaf.

Spieler …

2 Brüder

Das Erste, was Jacob sah, als er sich mit Fuchs einen Weg durch die wartende Menge vor dem Fähranleger bahnte, war der Bastard. Kein Wunder. Alle hielten Abstand von dem Goyl. Selbst die Dokkäbi, wichtelartige Geschöpfe, die sich teils ein-, teils zweibeinig mit den Möwen um die Abfälle stritten, wichen ihm aus. Niemand im Hafen von Doryeong hatte je einen Mann mit steinerner Haut und goldenen Augen gesehen.

Wer war der erfolgreichste Schatzjäger dieser Welt? Jacob Reckless wäre vermutlich die meistgehörte Antwort gewesen. Aber der Bastard war ein scharfer Konkurrent, und er würde Jacob nie verzeihen, dass er ihn um die kostbarste Zauberwaffe gebracht hatte, die man hinter den Spiegeln finden konnte: die Armbrust, die mit einem Pfeil ganze Armeen und durch die Hand seines Bruders auch die Dunkle Fee getötet hatte. War der Bastard deshalb an Wills Seite? Weil die Armbrust noch in seinem Besitz war?

Der Bastard versuchte nicht zu verbergen, wie sehr er das fast ehrfürchtige Schaudern genoss, mit dem man ihn musterte. Den Namen verdankte er dem Malachit, der ihm die dunkle Onyxhaut scheckte. Die Onyxlords ertränkten ihre Bastarde für gewöhnlich, aber Nerron, wie er eigentlich hieß, hatte seine Kindheit überlebt und spionierte nun für den ärgsten Feind der Onyx – Kami’en, den König der Goyl.

Die meisten, die den Bastard anstarrten, hielten ihn wohl für einen fremdländischen Dämon, doch selbst auf dieser Seite der Welt hatte man schon von den Goyl und ihrem unbesiegbaren König gehört.

DER KÖNIG DER GOYL HAT DIE FRIEDENSGESPRÄCHE MIT SEINEN MENSCHLICHEN FEINDEN ABGEBROCHEN. BAVARIA UND WALLACHIA KAPITULIEREN. THERESE VON AUSTRIEN HINGERICHTET FÜR DIE ENTFÜHRUNG VON KAMI’ENS SOHN.

Solche Schlagzeilen hatten sie in den entlegensten Dörfern erwartet. Die Dunkle Fee war tot, aber ihr einstiger Geliebter bewies jeden Tag, dass er keinen Feenzauber brauchte, um Menschenarmeen zu schlagen.

Jacob verbarg sich hinter einem Karren, als der goldene Blick des Bastards in seine Richtung wanderte. Die Händler, die ihre Waren verladen ließen, die Söldner, die die Sänfte eines Fürsten bewachten, die zu stark geschminkten Frauen, die den ankommenden Matrosen mit einem roten Lächeln Gesellschaft in der Fremde anboten – der goldene Blick streifte sie alle. Das Meer hatte den Eroberungen der Goyl lange Zeit feuchte Grenzen gesetzt. Sie fürchteten das offene Wasser, aber Jacob war sicher, dass die Fürsten im Osten trotzdem beunruhigt den Horizont beobachteten, denn die mehr als zehntausend Menschengoyl, die inzwischen für Kami’en kämpften, kannten eine solche Furcht nicht. Jacob wusste das aus erster Hand. Schließlich war sein Bruder einer von ihnen gewesen. Vermutlich war er es immer noch.

Er schob sich hinter dem Karren hervor. Vergiss den Bastard, Jacob. Verbarg er sich wirklich vor dem Goyl, oder hatte er Angst, seinen Bruder zu treffen? Würden Wills Augen aus Gold sein? Jacob war erstaunt, dass er etwas anderes inzwischen mehr fürchtete: dass sein Bruder in Spielers Diensten stand.

Fuchs machte ihm ein Zeichen und wies auf eine Sänfte, die die Träger gleich neben dem Anleger abgesetzt hatten. Will stand daneben. Es war keine Spur von Jade in seinem Gesicht zu entdecken, auch wenn er Jacob größer und kräftiger erschien als bei ihrer letzten Begegnung in der anderen Welt. Will hatte sich vorgebeugt und sprach mit der Insassin der Sänfte. Sechzehn verbarg sich hinter Vorhängen aus orangefarbener Seide. War ihre Spiegelhaut inzwischen geheilt oder mit Rinde bedeckt wie die ihres Bruders, der in den Bergen von Kasakh zum Baum erstarrt war? Will blickte sich um, als hätte er die Frage gehört. Ja, sein kleiner Bruder hatte sich verändert. Er war erwachsen. Was hast du gedacht, Jacob? Er hat die mächtigste aller Feen getötet.

»Soll ich den Bastard ablenken?« Fuchs trat an seine Seite.

Jacob schüttelte den Kopf. Das, was sich hinter den orangeroten Vorhängen verbarg, war weit gefährlicher als der Goyl. »Halt dich von der Sänfte fern. Versprochen?«

Sie warf ihm nur einen belustigten Blick zu. Die Liebe stellte seltsame Dinge mit ihm an. Er machte sich ständig Sorgen um sie, aber vielleicht hatte er in den letzten Jahren einfach zu oft Angst um sie gehabt.

»Geh zu ihm. Die Fähre läuft bald aus.«

Ja, worauf wartest du, Jacob? Geh. Auch wenn du keine Ahnung hast, was du zu deinem Bruder sagen sollst. Wie geht es dir, Will? Deine Reisebegleiter haben beide schon versucht, mich umzubringen?

Eine Gruppe von Ronins wartete ein paar Schritte entfernt, herrenlose Samurai von den Inseln, die das Ziel des Schiffes waren. Nihon. Es gab dort eins der mächtigsten Zauberschwerter dieser Welt: das Schwert von Murokamo, das mit seiner Klinge dem Wind befahl. Nihon barg so viele Zauberdinge, dass dem Bastard sicher das Wasser im Mund zusammenlief. Aber was wollte sein Bruder dort? Es gab dort auch eine Raupe, deren Kokon das raschere Altern von Gestaltwandlern aufhielt. Spieler hatte ihm von ihr erzählt. Natürlich. Der Erlelf las Sterblichen nicht nur ihre geheimsten Wünsche von der Stirn, sondern auch das, was ihnen am meisten Angst machte. Und dann … spielte er mit dieser Angst.

Jemand packte ihn bei der Schulter.

»Hältst du Ausschau nach neuen Feinden, Reckless?« Das Lächeln des Bastards war so wölfisch wie immer. »Wie wär’s mit denen da?« Er wies auf die Ronins. »Angeblich kämpfen sie sogar im Schlaf.«

Bei ihrer letzten Begegnung hatte der Goyl Jacob einen Pfeil in die Brust geschossen und er hatte ihn im Gegenzug bestohlen. Sie hatten beide keinen Grund, einander zu trauen.

»Was willst du von meinem Bruder? Lass mich raten. Er hat die Armbrust.«

»Ach ja? Dann hätte ich ihn wohl längst samt der Armbrust zu Kami’en gebracht, oder?« Der Bastard spuckte aus. »Stell dir vor, er hat sie mir sogar überlassen, weil er so verstört über das war, was er mit ihr getan hat. Drei Tage lang war ich der mächtigste Sterbliche dieser Welt. Drei Tage. Es waren gute Tage. Und dann … hat die verdammte Armbrust sich in Silberrauch aufgelöst. Wie alle Zauberdinge, die nur für eine Aufgabe gemacht wurden und diese erfüllt haben. Dir ist das sicher auch schon passiert, also starr mich nicht so ungläubig an!«

Ja, es war Jacob passiert. Mehr als ein Mal. Und er glaubte dem Goyl, so ungern er es sich eingestand. Die mächtigste Zauberwaffe dieser Welt war gemacht worden, um eine Fee zu töten, und das hatte sie getan. Jacob musste zugeben, dass er froh war, dass die Armbrust fort war.

»Was ist es dann?« Er blickte auf seinen Bruder. »Träumst du immer noch davon, dass Will deinen König unbesiegbar macht?«

»Sicher.« Der Bastard genoss es, Jacob seine Abneigung spüren zu lassen. »Das ist seine Bestimmung. Dein Bruder zweifelt daran ebenso wenig wie ich, aber alles zu seiner Zeit. Ich habe sein Versprechen, dass er mit mir kommt, sobald er noch ein paar Dinge geregelt hat. Und dein Bruder hält seine Versprechen.«

Jacob kam nicht dazu, darauf etwas zu erwidern.

»Sieh an, der Bastard.« Fuchs tauchte so lautlos hinter dem Goyl auf, als trüge sie ihr Fell.

Der Bastard musterte sie mit derselben Abneigung, die er Jacob fühlen ließ. »Die Füchsin. Wie immer in Männerkleidern? In diesen Breiten wird das leicht mit dem Tod vergolten.«

Fuchs würdigte ihn keiner Antwort. Sie ließ den Goyl nicht aus den Augen, während sie dichter an Jacobs Seite trat. »Die Fähre legt in einer halben Stunde ab«, raunte sie ihm zu.

Geh, Jacob.

Will stand immer noch bei der Sänfte. Er drehte sich erst um, als er seine Schritte hinter sich hörte. O ja, er hatte sich verändert. Aber diesmal hatte er nicht vergessen, wer er war, im Gegensatz zu damals, als die Jade ihm zum ersten Mal gewachsen war – durch den Fluch der Dunklen Fee. Hatte er sie vielleicht auch getötet, um sich dafür zu rächen?

Er zögerte für einen ungläubigen Moment, als er begriff, wer da auf ihn zukam. Dann ging er auf Jacob zu und umarmte ihn so fest und lange, wie er es als Kind getan hatte.

»Wie hast du mich gefunden? Ich kann nicht glauben, dass du hier bist!«

Er ließ ihn los und umarmte ihn erneut.

»Sie hat dich gefunden.«

Fuchs kam zögernd auf sie zu, aber Will umarmte sie fast ebenso herzlich wie Jacob. Die beiden hatten sich nicht immer so gut verstanden, doch inzwischen verband sie die Tatsache, dass sie beide bisweilen die Gestalt wechselten.

Der Goyl trat an die Seite seines Bruders, als hätte er immer dort gestanden. Lass dich nicht täuschen, Jacob Reckless, spottete sein Blick. Er ist einer von uns. Auch Will schien dem Bastard vollkommen zu vertrauen. War er inzwischen mehr Goyl als Mensch, obwohl man es ihm nicht ansah? Was hatte sein Bruder erlebt, seit er ihn zuletzt gesehen hatte, abgesehen davon, dass er einer Fee zum Verhängnis geworden war? Was auch immer es war – nicht er, sondern der Goyl war an seiner Seite gewesen.

Frag ihn. Frag Will, wie er zu Spieler steht, Jacob. Aber sie waren beide schon immer gut darin gewesen, nicht über das zu sprechen, was ihnen wirklich am Herzen lag, und Jacob wollte nicht vor dem Goyl über den Erlelf reden. Womöglich würde ihm der Bastard anhören, wie sehr er Spieler fürchtete. Also wies er stattdessen auf die Fähre.

»Warum Nihon?«

Will blickte zu der Sänfte. Konnte das, was Jacob auf seinem Gesicht sah, Liebe sein? Liebe zu was? Einem Ding aus Spiegelglas und Silber?

»Ihre Haut verholzt. Der Fluch wirkt immer noch, obwohl …« Sein Bruder musste den Satz nicht beenden. Obwohl er die Fee getötet hatte. Er hatte es nicht für Sechzehn getan, oder?

Die Vorhänge bewegten sich sacht, als Jacob zu der Sänfte hinüberblickte. Dass der Fluch noch wirkte, war eine gute Nachricht. Wenn er Spielers Geschöpfe entstellte, dann tat er dasselbe vielleicht auch noch bei ihm und hielt ihn in der anderen Welt fest.

Will griff nach Jacobs Arm und zog ihn mit sich. Der Bastard wollte ihnen folgen, aber schließlich blieb er wie Fuchs bei dem Fähranleger. Auch wenn er sie nicht aus den Augen ließ.

Will blieb zwischen den Kisten stehen, die sich zwischen den Anlegern stapelten. »Sechzehn sagt, es gibt in Nihon noch einen Spiegel«, raunte er Jacob zu. »Sie sagt, sie kann sie alle spüren.«

»Na sicher, sie ist aus demselben Glas gemacht.« Jacob konnte seinen Abscheu nicht verhehlen. Er erinnerte sich allzu gut an Fuchs’ zu Silber erstarrte Gestalt, nachdem Sechzehns Bruder sie berührt hatte.

»Das ist nicht ihre Schuld!«

Himmel. Sein Bruder war tatsächlich verliebt.

»Ich muss zurück in unsere Welt, um nach Clara zu sehen. Es ist eine lange Geschichte. Spieler hat mich belogen. Aber ich werde ihn finden und verlangen, dass er Sechzehn hilft.«

Verlangen? Helfen? Sollte er ihm erklären, dass Spieler sich seine Hilfe teuer bezahlen ließ? Jacob war dennoch erleichtert. Sechzehn schien ihrem Meister nachzutragen, dass er sie in diese Welt geschickt hatte, und Will hatte wohl begriffen, dass er dem Erlelf nicht trauen konnte. Spieler hat mich belogen. Natürlich.

Die Matrosen winkten die ersten Fahrgäste auf die Fähre. Die Träger der Sänfte sahen sich suchend nach Will um.

»Sechzehn sagt, der Spiegel gehört einem anderen Erlelf. Einem alten Feind von Spieler. Er nennt sich Krieger und ist gleich nach …«

Gleich nach … Er vermied es, von seiner Tat zu sprechen, als ließe sie das noch einmal geschehen.

»Will.« Jacob griff nach seinem Arm. »Die Fee hatte Tausende auf dem Gewissen.«

Will nickte nur.

»Erzähl mir von dem anderen Erlelf. Heißt das, er ist bereits in dieser Welt?«

»Ja. Sechzehn sagt, sie kommen alle zurück.«

Das waren schlimme Nachrichten. Solange Spieler in der anderen Welt gewesen war, hatte Jacob sich wenigstens vormachen können, dass Fuchs und er sich vor ihm verbergen konnten. Und selbst die Freude über das Ende seines Exils würde den Erlelf sicher nicht die Schulden vergessen lassen, die Fuchs und Jacob bei ihm hatten.

Will starrte aufs Meer hinaus, verloren in Bildern, die Jacob nicht sehen konnte. Eines Tages würde er ihn fragen, wie er die Fee getötet hatte. Aber nicht jetzt. Nein. Jacob sah seinem Bruder an, dass er keine Worte für seine Tat hatte – und dass Will sich wünschte, er könnte sie ungeschehen machen. Kein Wunder. Spieler hatte ihn dazu verführt. Seine Hilfe barg immer den silbernen Haken, wie der Köder an der Angel.

»Sechzehn glaubt, dass der andere Erlelf uns seinen Spiegel benutzen lässt, wenn sie ihm im Austausch ein paar Informationen über Spieler verspricht. Die zwei sind wohl schon lange Feinde.«

Das war kein Plan, das war Wahnsinn.

»Hat Sechzehn dir nichts über ihren Schöpfer erzählt? Spieler ist ebenso gefährlich wie die Fee. Und wesentlich verschlagener. Ich bin sicher, dieser Krieger ist nicht besser! Falls er dir hilft, wird dich das teuer zu stehen kommen!«

Das klang sehr nach großem Bruder. Halt den Mund, Jacob. Halt einfach den Mund! Wills Blick sagte dasselbe.

»Er hat mich belogen! Er hat Clara einen Dornröschenzauber geschickt und mir weisgemacht, dass es die Dunkle Fee war.«

Ah, natürlich. Man musste Will bloß vorgaukeln, dass er die Welt oder seine Freundin rettete, und schon zog er los. Spieler las sterbliche Herzen müheloser als eine Gebrauchsanleitung.

»Vertrau mir!« Diesmal fiel Wills Umarmung etwas kühler aus. »Ich weiß, was ich tue. Ich bin erwachsen, Bruder! Wir sehen uns. Hier oder in der anderen Welt.«

Jacob wollte nach seinem Arm greifen, wie er es so oft getan hatte, als sie Kinder waren. Warte, Will! Er hatte ihm noch nicht mal erzählt, dass er ihren Vater getroffen hatte … Aber sein Bruder ging bereits auf die Fähre zu. Die Träger hoben sich die Sänfte auf die Schultern und Will folgte ihnen. ›Pass auf Will auf, Jacob.‹ Wie sehr hatte er es gehasst, wenn seine Mutter das gesagt hatte. Und es dann meistens doch getan.

Ich bin erwachsen. Ja, das war er, schon lange. Jacob musste ihm nicht länger Geschichten von dieser Welt erzählen. Will schrieb inzwischen seine eigene hinter den Spiegeln, und was ihren Vater betraf, so war es eh besser, ihn einfach zu vergessen, so wie er sie vergessen hatte.

Du kannst dir Zeit mit der Bezahlung lassen. Aber du wirst bezahlen. Jacob glaubte, Spielers Stimme so deutlich zu hören, als hauste der Erlelf in seinem Innern. Heute brau ich, morgen back ich, übermorgen hol ich mir der Königin ihr erstgeborenes Kind. Was, wenn Sechzehn doch noch ihrem Schöpfer diente? Was, wenn sie Spieler wissen ließ, dass sie Fuchs und ihn gesehen hatte? Er dachte allzu oft an den Erlelf, wenn er sie liebte. Ging es Fuchs genauso? Er war froh, dass sie sich schon vor Jahren von einer Hexe hatte zeigen lassen, wie man nicht schwanger wurde.

Die Ronins gingen an Bord.

Deine Füchsin wird wunderschöne Kinder haben. Ich hoffe, ihr lasst euch nicht zu lange Zeit. Absurd, wie die Erinnerung seinen Herzschlag beschleunigte. Als stünde der Erlelf hinter ihm und flüsterte ihm die Worte ins Ohr.

»Es soll sehr mächtige Füchse in Nihon geben.«

Jacob fuhr zusammen, auch wenn es nicht Spieler, sondern Fuchs war, die hinter ihm stand. Mächtige Füchse und Schmetterlingskokons, die das Leben von Gestaltwandlern verlängerten. Nein. Spieler hat dir das erzählt, Jacob. Grund genug, niemals nach Nihon zu reisen. Er zog Fuchs an sich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Deine Füchsin wird wunderschöne Kinder haben.

Sie hob die Hand. Der rotbraune Henna-Stempel auf ihrem Handrücken zeigte einen Kranich im Kreis der Sonnenscheibe.

»Du bekommst deinen Stempel dort.«

Sie wies auf die Baracke neben dem Anleger. »Ich hab schon für unsere Überfahrt bezahlt.«

Sie presste Jacob die Hand auf den Mund, als er protestieren wollte. »Der Goyl hat mir erzählt, dass dein Bruder einen Erlelf sucht, der ein alter Feind von Spieler ist. Vielleicht verrät er uns, wie wir aus dem Handel mit ihm herauskommen.«

Jacob glaubte, in ihren Augen eine Angst zu entdecken, die er dort bislang nicht gesehen hatte. Sie war nicht schwanger, oder? Er wagte nicht zu fragen. Deine Füchsin wird wunderschöne Kinder haben.

»Nein«, flüsterte sie ihm zu. »Ich bin nicht schwanger, aber eines Tages will ich es sein, also lass uns die Gelegenheit nutzen. Man muss seine Feinde ebenso gut kennen wie seine Freunde. Sagst du das nicht immer?«

Ja, aber es hatte ihn auch schon mal fast den Hals gekostet, dass er eine unsterbliche Feindin allzu gut gekannt hatte.

Will stand hinter der Reling und blickte zu ihnen herüber.

»Sie nennen Nihon auch die Inseln der Füchse.« Sie hielt es tatsächlich für eine gute Idee. Und er hatte gedacht, dass er der Einzige sei, der ständig an Spieler dachte.

»Der Erlelf nennt sich Krieger.« Er strich ihr über das rote Haar. »Klingt das nach jemandem, dem man freiwillig begegnen sollte?«

Sie lachte. Und küsste ihn.

»Du willst tatsächlich davonlaufen, Jacob Reckless«, raunte sie ihm zu. »Dass ich das noch erlebe. Du willst dich vor dem Erlelf verstecken wie ein Hase!«

»Nein, wie ein kluger Fuchs.«

Ihr Gesicht wurde ernst. Sie blickte zu den Bergen, aus denen sie in die alte Hafenstadt gekommen waren, als riefe sie sich den langen Weg und all die Tage und Nächte in Erinnerung, die sie hierhergeführt hatten. Dann blickte sie zu dem Schiff.

»Ich finde, Krieger klingt vielversprechend.« Sie packte einen Dokkäbi, der dabei war, ihr in die Jackentasche zu kriechen, und scheuchte ihn fort. »Hol dir den Stempel. Sie legen bald ab. Oder muss ich dir von all den Zauberdingen erzählen, die es in Nihon gibt?«

3 Nur ein Toter

Die Träger hatten die Sänfte bei einem der Schiffsmasten abgesetzt. Fuchs konnte den Blick nicht davon lösen. Sie erinnerte sich gut an den schlammigen Teich, in den sie sich mit Jacob geflüchtet hatte, nachdem Sechzehn sie wie Kaninchen vor sich hergescheucht hatte. ›Du wirst nicht schnell genug sein, Fuchsschwester.‹ Wie sie die tödlichen Finger gespreizt hatte. Wie eine Katze, die sich darauf freute, die Klauen in die Maus zu schlagen. Hätte Fuchs damals geglaubt, dass sie Spielers Attentäterin eines Tages folgen würden, in der Hoffnung, zu erfahren, was sie vor ihm schützen konnte? Nein. Und doch hatte Fuchs immer noch das Gefühl, dass es richtig gewesen war, auf die Fähre zu steigen.

Jacob lehnte mit Will an der Reling, auch wenn der Anblick von Wellen ihn seekrank machte. Traute er seinem Bruder, obwohl Will mit Sechzehn und dem Bastard reiste? Sie sprachen miteinander, seit die Fähre abgelegt hatte. Erzählte Jacob Will, wie John Reckless sich mit dem Fliegenden Teppich davongemacht hatte, den sie dem Zaren gestohlen hatten? Gestand er Will, dass es ihm das Herz gebrochen hatte, erneut nur benutzt und im Stich gelassen zu werden? Nein, Jacob fiel es schwer, über solchen Schmerz zu sprechen, und die beiden schwiegen immer wieder, als gäbe es zu viel, was sie nicht über die Lippen brachten. Hatte Sechzehn Will Dinge über Spieler verraten, die ihnen helfen konnten? Hatte Jacob ihm erzählt, dass sie dem Erlelf ihr erstgeborenes Kind schuldeten? Nein. Er sprach auch nicht über das, was ihm Angst machte, aber ging ihr das nicht ebenso?

Der mondklaren Nacht war ein diesiger, kalter Morgen gefolgt. Nebelschwaden hingen über den Wellen und das Festland von Honguk war seit Langem verschwunden. ›Südkorea‹, hatte Jacob geantwortet, als sie ihn nach dem Namen des alten Königreiches in seiner Welt gefragt hatte. ›Noch ein Land, das ich zum ersten Mal hinter den Spiegeln bereise. Ich kenne deine Welt so viel besser als meine.‹

Einer der Matrosen war in den Mast geklettert, sobald sie abgelegt hatten, doch er hielt das Fernrohr nicht auf den Horizont, sondern auf die Wellen gerichtet. Fuchs musste sich nicht lange fragen, wonach er das Wasser mit so besorgtem Gesicht absuchte.

»Funayùreiiii!«

Fuchs hätte gern gewusst, welches Geschöpf so viel Furcht auslöste, dass die Fahrgäste sofort von der Reling zurückstolperten. Aber es tauchte nur ein Fischerboot aus dem morgendlichen Dunst auf und der Ausguck gab Entwarnung. Die Überfahrt von Honguk nach Nihon schien als gefährliche Angelegenheit zu gelten. Der Ausguck gab noch mehrmals Alarm, doch es begegnete ihnen nichts Bedrohlicheres als ein Schwarm Fliegender Fische, und die Ronins blieben bei all dem Geschrei aus dem Mast so gelassen, dass Fuchs schließlich nur zu ihnen blickte, wenn der Matrose erneut etwas Furchterregendes zu sehen glaubte. Die gefährlichste Kreatur sitzt in der Sänfte dort!, wollte sie ihm irgendwann zurufen, und selbst als sich in der Ferne der silbrige Leib einer gewaltigen Seeschlange aus den Wellen hob und die meisten Passagiere die Furcht angesichts ihrer Schönheit vergaßen, glaubte Fuchs, nur das Silber zu spüren, in das Sechzehns Bruder sie einst verwandelt hatte.

Die Seeschlange wand sich davon, ohne dem Schiff irgendeine Beachtung zu schenken, und die Sänftenträger erholten sich von dem Schreck, indem sie sich bei einem alten Mann anstellten, der auf Anweisung des Kapitäns am Bug warme Suppe ausschenkte. Das war die Gelegenheit, auf die Fuchs gewartet hatte.

Die Vorhänge, mit denen die Sänfte verhängt war, sahen nur aus der Ferne kostbar aus. Die Seide war angeschmutzt und an einigen Stellen zerrissen. Musste man essen, wenn man aus Glas war?, fragte Fuchs sich, als sie langsam auf die Sänfte zuging. Sie erinnerte sich an Sechzehns Augen, so unberührt von der Angst ihrer Beute, fast belustigt, Spielers silberner Dolch … Welches ihrer gestohlenen Gesichter hatte sie Will gezeigt oder hatte er sich in alle verliebt? Fuchs hielt Abstand zwischen sich und der Sänfte, als sie davor stehen blieb, gerade so viel, dass die Insassin sie nicht berühren konnte.

»Die Füchsin. Kommst du, um dich an meinem Elend zu weiden?« Natürlich hatte sie Fuchs erkannt. Gesichter waren Sechzehns Spezialität.

»Warum sollte ich? Ich höre, wir sind nun auf derselben Seite. Auch wenn das schwer zu glauben ist. Ich habe nicht vergessen, wer dich gemacht hat.«

Eine Hand schob die Vorhänge so weit zurück, dass Fuchs einen Blick ins Innere erhaschen konnte. Sechzehns Gesicht war aus Holz und Glas. Die Baumrinde wuchs ihr auf den Wangen und am Nacken.

»Der, der mich gemacht hat, hat mir auch das hier angetan. Mein linker Arm ist aus Holz und mein Bruder ist tot.«

Bruder … Du hast keine Brüder, wollte Fuchs sagen. Aber wer bestimmte, was das Wort bedeutete? Sie verabscheute ihre zwei ältesten Brüder, auch wenn sie alle dieselbe Mutter hatten.

Will hatte bemerkt, dass sie bei der Sänfte stand. Er ließ sie nicht aus den Augen, aber er blieb bei seinem Bruder.

Frag sie, Fuchs!

»Ist Spieler noch in der anderen Welt, oder ist er ebenso zurück wie der Erlelf, von dem du Will erzählt hast?«

Sechzehn kam nicht dazu, zu antworten. Der Ausguck schrie erneut, doch diesmal wies er nicht aufs Meer, sondern auf das Deck der Fähre.

Neben dem Hauptmast nahm etwas Gestalt an, als formte der Dunst, der immer noch vom Wasser heraufzog, die Silhouette eines Menschen. Selbst die Matrosen stolperten so entsetzt zurück, dass einer fast über die Reling stürzte.

Der Bastard schien zu wissen, wer sich da zeigte. Er stieß alle aus dem Weg, die zwischen ihm und Will standen, und zog den Säbel, während er sich schützend vor Will stellte. Aber Waffen konnten den schönen jungen Mann, der plötzlich blasser als der Nebel neben dem Mast stand, nicht verletzen. Der Turban und die Tunika, die er trug, stammten aus einer längst vergangenen Zeit.

»Warum das Geschrei?«, fragte Sechzehn.

»Es ist nur ein Geist.« Fuchs war schon zu vielen Toten begegnet, um sie beunruhigender zu finden als die Lebenden. Die Ronins rührten sich ebenfalls nicht, doch ihre Gesichter waren starr vor Respekt – vor dem Tod und vor denen, die aus ihrem Reich zurückkamen.

Der Bastard hatte recht gehabt, als er sich vor Will gestellt hatte. Der Geist hatte nur Augen für Jacobs Bruder. Er ging langsam auf ihn zu – mit laut- und gewichtlosen Schritten. Jacob hatte wie der Goyl den Säbel gezogen, aber Will brauchte keine Hilfe. Er hatte den Bastard zur Seite geschoben und sah dem Schatten unbewegt entgegen. Die Jade kam so selbstverständlich, wie Haut sich in der Sonne bräunt, und Wills versteinerndes Gesicht zeigte keine Spur von Angst. Bloß Schuld. Und Schmerz.

»Wie gefällt dir die Welt ohne meine dunkle Herrin, Feenhenker?« Der schemenhafte junge Mann blieb vor ihm stehen. Die Worte schienen nicht von seinen Lippen zu kommen. Der Wind flüsterte sie, salzig und feucht, und sie waren aus Zorn gemacht. »Sag denen, für die du sie ermordet hast, dass sie nicht vergessen ist! Und höre Chithiras Versprechen, dass du nie wieder Freude am Leben haben wirst, denn ich werde in deinen Träumen auf dich warten.«

Fuchs konnte den Blick, mit dem der Geist sie musterte, als sie an Jacobs Seite trat, nicht deuten. Das Garn an ihrem Handgelenk wurde kühl wie Tau und der Zorn auf dem schemenhaften Gesicht wich einem Lächeln. Der Tote verbeugte sich so tief vor ihr, dass sie die Verbeugung fast erwidert hätte. Dann löste seine Gestalt sich mit einem Seufzer auf, und eine schwarze Motte, groß wie Fuchs’ Hand, mit schädelweißen Flecken auf den zerfransten Flügeln, flatterte davon und verlor sich zwischen den Segeln.

Die Jade in Wills Haut verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und der Goyl fuhr all die, die ihn weiter entgeistert anstarrten, so barsch an, dass sie auf der anderen Seite der Fähre mit gedämpften Stimmen die Geschehnisse diskutierten. Hatte irgendjemand verstanden, wen der Tote meinte, als er von seiner dunklen Herrin sprach? Vermutlich nicht.

Die Ronins hatten das Erscheinen des Geistes ebenso unbewegt beobachtet wie die Alarmschreie des Ausgucks, aber Wills Verwandlung hatte sie deutlich mehr beeindruckt. Sie ließen ihn nicht aus den Augen und schienen sich zu fragen, welche Verwandtschaft er mit dem Goyl hatte. Als was verstand Will sich inzwischen selbst, als Goyl oder Mensch?

Den Bastard ließen Geister nicht so unberührt wie die Ronins. Als er den Säbel zurück in die Scheide schob, tat er es mit unsicherer Hand.

»Ich nehme an, du hast ihn erkannt?«

Will nickte.

Wie gefällt dir die Welt ohne meine dunkle Herrin, Feenhenker?

Er wandte sich um und ging zu der Sänfte, als wartete dort das Einzige, was ihm Halt gab.

Jacob lehnte den Rücken an die Reling. Er war inzwischen sicher seekrank. Er hasste Schiffsfahrten, aber seine Blässe hatte bestimmt auch mit dem Toten zu tun.

»Wessen Geist war das?«, fragte er den Bastard. »Sag schon. Du brennst doch darauf, es zu erzählen.«

Der Bastard schob sich etwas in den Mund. Er mied es ebenfalls, auf die Wellen zu blicken. Es hieß, dass die Goyl Pilze züchteten, die ihre Angst vor dem Wasser milderten. »Das? Das war der Kutscher der Dunklen Fee. Ich schätze, zu Lebzeiten war er auch ihr Liebhaber. Er hat versucht, sie zu beschützen, aber dein Bruder hat gut gezielt.«

Fuchs schloss die Augen. Das Garn an ihrem Handgelenk war immer noch kühl wie Frost, und sie glaubte, für einen Moment zu spüren, wie ihr der Pfeil der Armbrust in die Brust fuhr. Hatte die Dunkle kein Mittel gefunden, sich zu retten, weil sie Will bis zum Schluss vertraut hatte? Ihr Kutscher wusste vermutlich die Antwort. Wie kalt ihr war!

Der Wind frischte auf, als hätte der Geist seinen Zorn zurückgelassen, und Jacob fluchte, als das Schiff mit dem Bug in die Wellen tauchte. Verdammt, Fuchs, sagte sein Blick. Ich wollte nicht nach Nihon.

»Ich dachte, die Motten wären mit der Dunklen gestorben«, sagte er.

Sie waren ihre tödlichen Begleiter gewesen und angeblich die Seelen ihrer toten Liebhaber.

»Vielleicht war der Kutscher ihr Favorit, und sie hat ihm noch etwas Schutz mitgegeben, bevor dein Bruder …« Der Bastard ahmte einen Mann nach, der eine Armbrust abfeuert.

Jacobs Blick suchte Fuchs, als könnte sie ihn vor den Bildern schützen, die die Geste des Goyl heraufbeschwor. Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie diese Bilder oft sah, seit sie das Garn aufgehoben hatte, das sie neben der toten Fee gefunden hatte. Sie warteten in Tümpeln und Bächen, selbst in dem schmutzigen Hafenwasser, das den Anleger der Fähre umspült hatte. Sie sah nicht nur das Ende der Fee. Manchmal sah sie den See mit den Lilien und die Insel, auf der die Dunkle mit ihren Schwestern gelebt hatte, bevor sie sie für Kami’en verlassen hatte. Kami’en. Manchmal zeigte das Wasser Fuchs den König der Goyl so deutlich, dass sie sich nach ihm umsah. Warum erzählte sie Jacob nicht von den Bildern? Und dass sie manchmal glaubte, den Pfeil der Armbrust in der eigenen Brust zu spüren? Weil sie wusste, was er gesagt hätte. Wirf den goldenen Faden fort, Fuchs! Aber sie konnte ihn nicht einfach fortwerfen. Sie strich mit den Fingern daran entlang, während Jacob sich mit dem Bastard darüber stritt, wie sie Will vor dem Geist schützen konnten. Sie ertappte sich oft dabei, dass sie dem goldenen Faden mit den Fingern folgte. Sie spürte Leben darin, Schönheit, Stärke und Liebe. Vor allem Liebe. Und manchmal war es ihr – Jacob hätte sie dafür sicher ausgelacht –, als beschützte das Goldene Garn, das die Dunkle Fee zurückgelassen hatte, alle Liebe in der Welt, auch die zwischen ihr und ihm.

Der Ausguck rief erneut etwas vom Mast herunter, doch diesmal klang seine Stimme erleichtert. Am Horizont waren mehrere Inseln aufgetaucht. Sie trieben wie eine Kette aus grüner Jade auf dem Meer.

Die Inseln der Füchse. Fuchs spürte Neugier, Hoffnung und die Schatten kommender Gefahr.

4 Yanagita Hideo

Wann, beim Gestank aller Lavaechsen, sagte der Welpe seinem großen Bruder endlich, dass er sich zum Teufel scheren sollte? Nerron hatte mehrmals darüber nachgedacht, ihn unauffällig über die Reling zu schubsen, aber der Welpe wäre seinem großen Bruder sicher hinterhergesprungen. Und so gingen sie, als sie anlegten, zu fünft an Land.

Warum? Waren er und der Welpe nicht bestens ohne den fabelhaften Jacob Reckless zurechtgekommen? Das Wort »glücklich« war keine Vokabel, mit der Nerron sich gewöhnlich beschrieb, es war in seinen Augen ein Gefühlszustand, der nur gepaart mit Dummheit möglich war. Doch in den letzten Monaten war er dem Zustand bedrohlich nahe gekommen. Der Welpe hatte einfach eine Art, sich einem ins Herz zu stehlen, selbst wenn es aus Stein war. Sein uneingeschränktes Vertrauen, die Freundschaft, die er ihm um die Onyxschultern legte wie eine warme Decke, die Wertschätzung, um die er sich nicht mal sonderlich bemühen musste. Allesamt sehr verdächtige und unvertraute Empfindungen, die den Bastard zugleich mit Schaudern und mit – ja, verdammt, er konnte es einfach nicht anders nennen! – Glück erfüllten. Das einzige Lebewesen, das ihm je so bedingungslos seine Zuneigung gewährt hatte, war seine Mutter gewesen, und was hatte eine Mutter schon für eine Wahl?

Der Bastard und der Welpe … Es klang, als hätte das schon immer zusammengehört. Selbst der Malachit in seiner Onyxhaut kam ihm nicht länger wie ein Makel vor, sondern wie ein Echo der Jade, die Will Reckless im Zorn zu seinesgleichen machte. Doch all das ließ Nerron nicht vergessen, was der Welpe zuallererst war: der Held aus den Märchen seiner Kindheit, der Jadegoyl, der seinen König unbesiegbar machen würde. Gut, Kami’en eroberte ein Land nach dem anderen, doch die guten Zeiten währten nie lange. Es würden andere Zeiten kommen, finstere Zeiten, alle Anzeichen sprachen dafür, denn mit jedem Sieg wuchs auch die Zahl ihrer Feinde. Und dann? Dann würde Kami’en den Jadegoyl brauchen und der Bastard würde bis dahin gut auf ihn aufpassen.

Leicht war das nicht. Die Glasviper war sehr gut darin, den Welpen vergessen zu lassen, wofür er geboren worden war. Sechzehn … Zu schade, dass die Fee sie nicht umgebracht hatte. Es war ein trauriges Schauspiel, wie sehr der Welpe sie anbetete. Nerron spielte ihm natürlich vor, dass er diese Anbetung verstand. Er verstand nicht viel von Freundschaft, aber er wusste, dass der Welpe ihn vermutlich in die Wüste geschickt hätte, wenn er ihm erzählt hätte, was er wirklich von Sechzehn hielt. Es war ein Rätsel, was er an ihr fand. Die Rinde entstellte sie so, dass man ebenso gut einen Baum hätte liebkosen können. Versetzt mit ein paar Spiegelsplittern. Aber – Nerron sagte sich das immer wieder, um sich zur Geduld zu mahnen – es war sicher ohnehin besser, noch etwas Zeit verstreichen zu lassen, bevor er ihn zu Kami’en brachte. Schließlich hatte der Jadegoyl dessen Geliebte getötet. Andererseits – was wog verflossene Liebe gegen das Versprechen, unbesiegbar zu sein?

Ja, es war besser, noch ein paar Monate verstreichen zu lassen, beruhigte Nerron sich, während er hinter der Sänfte von Bord ging. Vielleicht war es sogar besser, den Jadegoyl erst in Zeiten der Not zu Kami’en zurückzubringen. Das würde ihm auch erlauben, dem Welpen in die andere Welt zu folgen, falls sie den Spiegel tatsächlich fanden. Schließlich musste er sicherstellen, dass der Dummkopf zurückkam. Ja, natürlich musste er ihm folgen. Eine neue Welt … Seit seiner Kindheit träumte er davon, diese hinter irgendeiner verzauberten Tür zu finden! Aber in seinen Träumen hatte er das allein, nicht Seite an Seite mit einem Freund getan.

Seite an Seite mit einem Freund … Hör dich nur an, Bastard!

Nerron hätte fast laut aufgelacht. Die Bucht, in der die Fähre angelegt hatte, war umgeben von grünen Bergen und einer Ansammlung von Häusern, die eher nach einem verschlafenen Dorf als nach einer Hafenstadt aussah. Egal. Es tat so gut, endlich wieder festen Boden unter den Stiefeln zu haben, auch wenn Jacob Reckless gleich hinter ihm an Land stiefelte. Er würde sicher bald dafür sorgen, dass das Glück des Bastards sich trübte.

Keiner von ihnen sprach die Landessprache. Doch bei den Anlegern warteten neben weiß geschminkten Prostituierten und unterwürfig lächelnden Lastenträgern auch Männer, die ihre Dienste als Führer und Übersetzer anboten. Einige waren Ronins, wie die Krieger, die mit ihnen auf der Fähre gewesen waren, doch die meisten trugen die vielfach geflickten Kleider, die man überall auf der Welt an denen sah, die nicht als Kinder von Fürsten oder Kriegern geboren worden waren.

Jacob Reckless ging auf denselben Mann zu, den der Bastard als Führer ausgesucht hätte: einen plumpen jungen Riesen, der versuchte, seinem Gesicht einen zuvorkommenden Ausdruck zu geben, obwohl er sichtlich gelangweilt von der Warterei am Hafen war. Langeweile kam nur bei denen auf, die über eine gehörige Portion Klugheit und Fantasie verfügten. Nerron sah den Ansatz eines Tattoos an dem fleischigen Nacken und den mächtigen Unterarmen. Der Rest des massigen Körpers verschwand unter einer schmucklosen, dunklen Tunika und weiten Hosen, wie die meisten Wartenden sie trugen. Selbst die Ronins hatten solche weiten, formlosen Hosen auf der Fähre getragen, sehr unpassend für Krieger, wie Nerron fand, verglichen mit seinen engen Echsenhautkleidern. Doch obwohl ihre Kleidung nicht danach aussah: Die Kampfkunst der Bewohner Nihons war legendär.

Der junge Riese schien sich ohne Probleme mit einem Westling unterhalten zu können. Der taubenäugige Hüne tat sein Bestes, Nerron nicht anzustarren, als Reckless erst auf die Sänfte und dann auf den Rest ihrer Reisegemeinschaft wies. Der Anblick der Füchsin dagegen hatte einen unbestreitbar dramatischen Effekt auf den Fleischberg. Er konnte seine Augen kaum von ihr lösen, doch schließlich nickte er mehrmals und folgte Reckless beflissen zu der Sänfte, beobachtet von den neidischen Blicken seiner Zunftgenossen. Als Nerron dazutrat, erklärte der Klotz Reckless gerade in fließendem Albisch, wo sie Pferde und Esel kaufen konnten. Dann begrüßte er Fuchs in Lothrisch mit einer Verbeugung, die deutlich tiefer als bei allen anderen ausfiel, und Nerron tatsächlich mit der korrekten Goyl-Anrede.

»Darf ich zu guter Letzt mich selbst vorstellen? Mein Name ist Yanagita Hideo«, erklärte er mit einem Lächeln, das zugleich freundlich und so verschlossen wie die Tresore eines Onyxlords war.

»Euer sehr geschätzter Bruder«, sagte er zu dem Welpen, während er es so sorgsam vermied, zu der Sänfte zu blicken, als wollte er seinen Respekt vor den zugezogenen Vorhängen demonstrieren, »hat mich informiert, dass Euer Ziel Kakeya ist. Das ist gewöhnlich eine Reise von fünf Tagen, doch wir müssen bedauerlicherweise einen Umweg machen. In der Umgebung von Ómi bekämpfen sich der Mizuno- und der Ikeda-Clan, da der Erstere den Shogun und der Letztere das Kaiserhaus unterstützt. Entschuldigt, dass ich Euch mit den politischen Zwistigkeiten meines Landes langweile, aber unsere Kaiserin ist alt und krank und der Kronprinz noch sehr jung …«

Yanagita Hideo erläuterte seine letzten Worte nicht weiter. Er ging zu Recht davon aus, dass die Fremdlinge wussten, welche Gefahren es einem Land brachte, wenn eine altgediente Herrscherin abtrat.

»Darf ich noch fragen, welche Absichten Euch nach Kakeya führen?« Er beugte den Kopf, als entschuldigte er sich für die rüde Neugier. »Ich muss den kaiserlichen Behörden melden, warum Ihr unser Land bereist.«