Heimlichmilch

Roman

Gisela Stammer und Inge Jungnitz (Zeitzeugin)


ISBN: 978-3-96045-113-6
1. Auflage 2020
© 2014 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude

Lektorat: Annette Freudling
Umschlag: Elisabeth Büchsel (1867–1957), Melkerin, 1926 © VG Bild-Kunst
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ergeben sich rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Inge Jungnitz wurde 1931 in Ostpreußen geboren und lebte dort bis 1948. Seit 1949 wohnt sie im Landkreis Rotenburg/Wümme. Sie war Landarbeiterin und Altenpflegerin. Inge Jungnitz ist Zeitzeugin und Mitautorin. Sie machte eigene Aufzeichnungen, sie beantwortete zahllose Fragen in Gesprächen und in Fragebögen und sie entwarf einige Reime, Dialoge auf Ostpreußisch und in gebrochenem Deutsch. Mit ihren Erinnerungen an Ostpreußen schaffte sie die Voraussetzung für die Entstehung dieses Romans. Ohne Frau Jungnitz wäre er nicht geschrieben worden.

 

Gisela Stammer, geboren 1952 im Landkreis Rotenburg/Wümme, ist Autorin. Sie hat für den vorliegenden Roman recherchiert, Fragen gestellt, Fragebögen entworfen, die Ergebnisse ausgewertet, Auszüge aus Frau Jungnitz’ Aufzeichnungen und Antworten in den Text eingearbeitet und den Roman verfasst.

„Die Vergangenheit ist nicht tot,
sie ist nicht einmal vergangen.“

 

William Faulkner

Wiedersehen

Es kommt ein Schiff gefahren, weiß nicht wohin es fährt.

Wär gerne mitgefahren, ganz gleich wohin es fährt.

 

Jetzt ist es gleich geschafft! Jetzt wirst die paar Meter auch noch halten können! Die Tür wurde von außen geöffnet, graues Dämmerlicht hineingelassen. Dunkle Gestalten, eingemummt in Decken und Lumpen, die sich schneller erhoben hatten, strömten hinaus, sie, geschoben von der Menschenmenge im Waggon, hinterher. Annegret, bereits an der Kante stehend, die Hände schützend über den Bauch gelegt, setzte zum Sprung an, spürte beim Aufprall den Druck der Blase sich über ihren Unterleib verteilen, presste noch einmal gegen ihn an, raffte im Laufschritt wie die anderen Frauen bereits ihren Rock, reihte sich ein nur wenige Meter vom Zug entfernt, man wusste nie, wie schnell er weiterfuhr, streifte die Unterhose herunter, saß schon in der Hocke wie alle anderen, den nackten Hintern in die feuchte, kühle Wiese haltend und konnte endlich dem Sturzbach zwischen ihren Beinen freien Lauf lassen.

Wie oft hatte sie dieses vertraute Geräusch gehört, Jahrzehnte nachdem es sich zugetragen hatte, wenn sie des Nachts nicht schlief, und sich, Annegret, in der Hocke sitzen sah, die anderen erschienen nur verschwommen, eingehüllt in einen Schwall undeutlicher, angstbesetzter Worte, das Rauschen des eigenen Sturzbaches mal mehr, mal weniger übertönend. Unzählige Male war diese Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auf und ab gezogen. In dieser Nacht sah sie das Geschehen aus größerer Entfernung, die lange Reihe blanker Hintern vor sich, die dabei waren, ihr Geschäft zu erledigen. – Das muss doch ein Bild für die Götter gewesen sein!, fuhr es plötzlich durch ihren Kopf und brachte sie dazu, sich in ihrem Bett aufzurichten, eine Reihe nackter Hintern und du warst mitten drin! Sie hielt sich prustend die Hand vor den Mund, leise bleiben! Walter lag neben ihr und schlief, wer das Glück hatte, so selig zu schlafen, den wollte sie doch nicht aufwecken. Vorsichtig lehnte sie sich wieder zurück, zog die Decke bis unter die Nasenspitze, ließ ihr Lachen unter der Bettdecke ruckeln, hielt sich vor Freude, nicht wie früher vor Schreck, die Hand auf den Mund, eine Reihe nackter Hintern und du warst mitten drin! – Dass sie eines Tages über diese Szene würde lachen können, niemals hätte sie das gedacht.

Schon sah sie sich, wie sie mit ihren siebzehn Jahren mühelos aus der Hocke hochkam, während die älteren Frauen neben ihr wackelten, beim Aufrichten Schwierigkeiten hatten, ihr Gleichgewicht zu halten, ihre Knie nach dem langen Sitzen gerade biegen mussten, sich schmerzend den Rücken hielten, die Knie massierten. Sie, Annegret, in ihren selbstgestrickten Wollsachen, Büschel um Büschel hatte sie aus den achtlos fortgeworfenen Schaffellen gerissen, Faden um Faden mit der Hand gedreht, Masche um Masche gestrickt, in Jacke, Rock, beides mit winzigen Stoffresten wie mit kleinen Schleifchen verziert, und in den langen Strümpfen, die sich seit dem Vorfall im Kuhstall stets oben festgebunden hielten, da passte sie auf wie ein Luchs, die junge Annegret, gertenschlank aber kräftig, Zentnersäcke hatte sie auf der Kolchose über den Hof geschleppt, Milchkannen aufgeladen, Getreidegarben, eine nach der anderen gestapelt. Sie stand sicher und fest, ihr konnte zwischen den wackelnden Gestalten niemand etwas anhaben, damals, fast sechs Jahrzehnte zuvor, als mit der Ausreise alles vorüber war.

 

Als sie vierundsechzig Jahre alt gewesen war, wackelte der Boden unter ihren Füßen. Sie selber wankte mit, früh am Morgen, sich an der Bettkante, am Schrank, am Türrahmen festhaltend. Es gelang ihr nicht, die sperrangelweit geöffnete Tür am Griff zu packen, während der Boden unablässig nach unten zog, sie zwang, sich zunehmend angespannter festzuklammern, bis auch er mit ihr zu wanken begann. Der Stuhl, auf dem sie abends ihre Kleider ablegte, schien unerreichbar. Während sie überlegte, was sie machen könne, wenn sie hinfiele, Walter würde erst in einigen Stunden kommen, begann die Angst sich weiter auszubreiten, Angst wie in der Nacht zuvor, nie hatte sie so etwas gekannt, Angst, die von den Gedärmen über den Magen, die Brust Richtung Gurgel in ihr hochkroch, von hinten über Schultern und Genick, Angst, die sie zum Zittern brachte und jetzt dazu, in die Hocke zu gehen: sonst fällst du um, der Länge nach hin!

Sie krabbelte auf allen Vieren zum Stuhl hinüber, fand Halt an der Sitzfläche, zog sich hoch, drehte sich und ließ sich mit einem Plumps auf ihn fallen. – Im Sitzen schien es erträglicher. Sie schüttelte ihren Kopf, rieb sich ihr Gesicht, schlenkerte mit Armen und Beinen. Das war alles nur ein Versehen. Trotzig stampfte sie nun abwechselnd mit beiden Füßen auf, stark wie eh und je fühlten sich ihre Beine an. Na also. Sie hielt sich am Stuhl fest, schob sich vorsichtig hoch, wollte ein Bein vor das andere setzen, doch sowie sie versuchte loszulassen, begann der Sog von unten, von den Seiten aufs Neue, bis alles wankte und sie mit. Schwindel! So musste Schwindel sein. Dann würde sie eben auf dem Stuhl sitzen bleiben, sich damit vorwärts bewegen, und schon rutschte sie mit ihrem Stuhl mühselig, Zentimeter für Zentimeter weiter, durch den Flur, in die Küche, bis ans Waschbecken zum Wasserholen, zur Kaffeedose, Kaffeemaschine.

 

Als Walter nach Hause kam, hakte sie sich bei ihm ein. Auch dann ließ der Sog von unten nach.

„Haben Sie so etwas schon einmal gehabt?“, fragte der Arzt.

„Nein. Nie!“ Sie schüttelte energisch ihren Kopf. Wenngleich... Aber das sagte sie nicht laut, es wäre töricht, dem Arzt von solch einer nichtigen Begebenheit zu erzählen, davon, wie einige Monate zuvor, als sie noch berufstätig war, der Boden unter ihren Füßen das erste Mal zu wanken begonnen hatte, als sie dem alten Mann die Hand ...

Der Arzt hielt bereits einen Rezeptblock in der Hand. Der Arzt fragte nicht weiter nach. Der Arzt verschrieb Medikamente.

Sie hatte trotzdem Angst vor der folgenden Nacht. Was für ein Unsinn. Unruhig lag sie im Bett, ihre Gedanken kreisten um Klipschen, das kleine Dorf in der Nähe von Tilsit mit dem Ziehbrunnen vor dem Haus ihrer Pflegeeltern … Ach nein, wie ihre Gedanken davonflogen! Es war der Ort zehn Kilometer von Frauenburg entfernt, dessen Name ihr gerade nicht einfiel, auch dort gab es einen Ziehbrunnen, in diesem Ort, in dem sie einen schönen November, Dezember und einen halben Januar hatte verbringen können – und schließlich drei schreckliche Monate. Bis sie fortgetrieben wurden, das Haus am Waldrand fanden. Dieses Haus. Sie und die Kinder, die Kinder aus Klipschen, waren tagsüber auf Entdeckungstour gegangen, immer auf der Suche nach Essbarem, nach üppig gefüllten Einmachgläsern, einem bisher unentdeckten Vorratsschrank. Was für kühne Träume sich über ihren leeren Mägen damals aufgetürmt hatten! Über den kleinen Trampelpfad waren sie zu dem leerstehenden Bauernhaus gelaufen, wo sie niemanden mehr vermuteten …

Dann brach das Zittern über sie herein, brachte sie ins Wanken, obwohl sie im Bett lag, ließ sie erstarren und plötzlich in einer Küche stehen, mit einem großen Herd, größer als dem der Pflegeeltern, mit weißen Emailletürchen und riesiger Herdplatte, daneben ein Handtuchhalter, ein Waschbecken ... Sie zuckte zusammen und spürte mit einem Mal den harten Griff des russischen Soldaten an ihrem Arm, als wäre er plötzlich hier, direkt neben ihr auf ihrer Bettkante.

„Hhhha!“ Sie hielt vor Schreck den Atem an.

Er hatte sie gepackt und mit sich gezerrt und packte sie auch jetzt. In die Waschküche hatte er sie geschleppt, wo der hagere, alte Mann auf dem Boden lag, sie anschaute mit weit aufgerissenen Augen, Augen, die im Halbdunkel der Waschküche blieben. Augen, die sie in der Nacht zuvor gesehen hatte? Augen, nur Augen aus der Dunkelheit heraus, Augen, die jetzt, kaum hatte sie an sie gedacht, wieder über ihrem Bett standen, ihr den Atem raubten, ihre Arme fest gegen ihren Leib pressend, bis die Muskeln vor Anspannung schmerzten. Sie wälzte sich hin und her in ihrem Bett, strich sich mit ihren Fingern wieder und wieder durch ihr welliges, verschwitztes, kaum von Silberfäden durchzogenes Haar, bis sie bemerkte, wie diese Augen sich zu einem scharfkantigen Bildstreifen formierten, der durch ihren Kopf sauste, zu einer Filmrolle mit verschwommenen Szenen und Menschen, scharf wie eine Rasierklinge. Ein Ratscher nach dem anderen. Sie legte ihre Hände schützend über ihren Kopf, formte den Mund zu einem Schrei, ohne ihn loszulassen, Walter schlief wie immer. Wie konnte man nur so gut schlafen? Sie sah sich mit Hans, dem Pferd, im Graben. Die Verwundeten. Die Toten am Wegesrand. Die entstellten Gesichter. Die Tiefflieger über dem Treck. Ihr Atem wurde knapp und flach, der Puls raste, sie rang nach Luft, sie schreckte hoch: Jetzt ist’s aus! Sie hechelte, strich sich über Stirn und Augen, immer wieder, immer wieder, damit die Bilder verschwanden, und versuchte Walters ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen zu lauschen, was ihr nur kurzzeitig gelang. – Sie schreckte hoch. Der Schwindel zog sie sogleich nach unten. So krabbelte sie auf allen Vieren ins Bad, wo sie sich mit kaltem Wasser Gesicht und Oberkörper wusch, sanft mit dem Waschlappen über ihr laut pochendes Herz strich, ein Glas Wasser trank und wieder zurück ins Bett stolperte.

 

Sie wurde zur Untersuchung ins Kreiskrankenhaus eingewiesen.

„Da ist nichts!“

„Was soll das heißen, da ist nichts? Wollen Sie mir erzählen, dass ich mir das alles nur einbilde?“

„Ja, wenn Sie das so verstehen wollen“, der Arzt lächelte sie von oben herab an, „gehen Sie lieber ordentlich arbeiten.“

„Wie bitte?“

Was bildete sich dieser hochnäsige Schnösel von vielleicht gerade einmal dreißig Jahren eigentlich ein! Wie konnte der ihr so etwas unterstellen! Und wie redete der eigentlich mit ihr, der wusste doch gar nicht, was sie alles erlebt hatte?

Wie in einem Rutsch zog ihr Arbeitsleben an ihr vorüber, das als Kind begann: Mit neun Jahren hatte sie ihre jüngeren Geschwister versorgen müssen, die zwei kleinsten angezogen, vor Schulbeginn zwei Kilometer auf dem Schlitten zum Kindergarten gezogen, ihre Schwester Karin zur ersten Klasse der Grundschulegebracht. Im Heimmusstesiefüreine Lehrerin putzen, beiden Pflegeelternden Gartenumgraben, mitvierzehn wurde sie Zwangsarbeiterin, danach hatte sie fünf Kinder geboren, täglich Kühe gemolken. Halb sechs aufstehen. Die Kinder schreiend im Bett zurück lassen. Melken. Milchkannen abwaschen. Essen kochen. Gartenarbeit. Feldarbeit. Melken. Den Kindern über den Kopf streicheln, ihnen auf die Nase stupsen, damit sie etwas zu lachen hatten. Waschen. Bügeln. Rüben hacken, auch abends noch, Schulbrote für den nächsten Morgen, den Frühstückstisch decken. Mitternacht. Selber ins Bett fallen. Aufstehen. Arbeiten. Hinlegen. Aufstehen. Arbeiten. Hinlegen. Und dann sagte dieser Mann, der sich Arzt nannte, sie solle lieber mal arbeiten? Sie, die all die Jahre nicht ein einziges Mal gesagt hatte: Ich kann nicht. Nie. Nie. Nie. Ausgerechnet sie sollte eine eingebildete Kranke sein und sich vor Arbeit drücken? – Der hatte doch keine Ahnung, der wusste doch nicht im Geringsten, wovon der redete. Und so einer wollte Arzt sein? Er guckte sie immer noch von oben herab an. Sie schaute verächtlich zu ihm hinüber, wollte etwas sagen, allein ihre Sprache schien ihr abhandengekommen zu sein. So stand sie wortlos auf und ging. Aufstehen. Arbeiten. Hinlegen. Sie legte sich nicht mehr ins Krankenhausbett, sie rief Walter an, damit er sie abhole.

 

Mittlerweile stand sie mehrfach in der Nacht auf, getrieben von der Furcht vor neuen Bildern von Menschen, die sie längst vergessen geglaubt, vom Krieg.

Als sie eines Nachts im Bademantel im Flur auf und ab ging, ihre Hände fanden Halt an den Türgriffen ihres großen Schrankes, bekamen die Bilder plötzlich einen Ton: „Hast ja noch junge Beine.“ Die Pflegeeltern saßen auf dem Wagen, das tote Schwein, zwei Tage vor der Flucht Richtung Westen geschlachtet, lag gut zerteilt unter ihrer Sitzbank. Annegret, durfte nicht mit den Pflegeeltern auf dem Planwagen sitzen, sie musste neben dem Wagen gehen und die Zügel halten. Hans das Pferd wieherte schaurig, galoppierte wie besessen, sie, Annegret, dreizehn Jahre alt, konnte es nicht halten. DieTiefflieger kamen zurück. Die Tiefflieger dröhnten über ihrem Kopf! Detonationen. Schreiende Menschen. Sie flogen in die Luft. Ein Wagen mit Mann und Maus. Ab in den Graben, die Arme über den Kopf. Die ersten Laute dieser fremden, angsteinflößenden Sprache: „Stói! stói!“ Schüsse knallten an die Decke. Schrilles Kreischen. Mark und Bein erschütternd, dazwischen quietschten die Bremsen, sah sie sich querfeldein durch Ostpreußen laufen, eben noch im Dorf, dessen Name ihr noch nicht eingefallen war, schon, als trüge sie Siebenmeilenstiefel, in Klipschen bei Tronka und den Kühen; am Mühlenbach neben Tatjana, Tatjana so fremd, hörte sie die Peitschenhiebe, rannte sie um ihr Leben, der schlimme Offizier ihr auf den Fersen, ihr Atem flach, gehetzt, „ha-he-ha-he-hahe…“, raste ihr Herz, jetzt ist es aus!, brach der Boden unter ihr weg, hielten die Schranktürgriffe im Flur ihrem Wanken nicht mehr stand. Zusammengekauert saß sie am Boden, zitternd. Dann wurde es hell, feuerhell.

„Und jetzt bombardieren sie Königsberg“, hatten die Erwachsenen gerufen, Annegrets schaute hoch und sah einen riesigen Feuerschein am Himmel mitten in ihrem Flur. In Königsberg war die Mutter. Wenn sie nicht geflohen war. Den linken Arm legte Annegret abwehrend vor ihr Gesicht. Mit der rechten Hand konnte sie keinen Halt mehr finden und stürzte, fiel auf ihre Schulter. – Was war nur mit ihr los?

Eines Nachts, sie hatte zum wiederholten Male das Gespräch mit diesem Arzt in ihrem Kopf hin und her gewälzt, ... da ist nichts ..., ... ja, soll das heißen, ich bilde mir das alles nur ein ...?, maßlos hatte sie das geärgert und an ihr genagt, lief sie plötzlich in Gedanken durch das Heim in Rastenburg, in das sie wegen der Krankheit ihrer Mutter zusammen mit ihrer Schwester Karin gebracht worden war. Die Striemen auf ihrer Haut schmerzten, nachdem die Lehrerin sie vor aller Augen verprügelt hatte, weil Karin ins Bett gemacht, aber sie, Annegret, die Schuld auf sich genommen hatte. Sie hörte das Pfeifen des Rohrstockes, spürte den dumpfen Aufprall auf Rücken und Armen und wie er in ihrem damals noch kleinen Körper widerhallte, sie sah sich geschwind den Busch hinter dem Heim hochklettern, ihm mit ihrer traurigen Kinderstimme ihr Leid klagend: „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten zusammen nicht kommen ...“ – wie sie, Annegret, die damals auch nicht zu ihrer Mutter kommen konnte, nicht zu ihren Brüdern, nicht zu Schiepelchen, ihrer kleinsten Schwester, die man ihr schreiend vom Schoß gerissen hatte, als sie ins Heim mussten. Abends, wenn sie alleine im Bett lag, war die Einsamkeit ihr Begleiter gewesen, weinte sie sich in den Schlaf, bis sie ihre Gedanken woanders hatte hinlenken können: zu ihren Reimen, die ihr stets aufs Neue einfielen, die die anderen Mädchen aus dem Heim tagsüber immer wieder von ihr hören wollten und die Annegret dann stolz auf dem Hof mit einem Stöckchen in den Sand ritzte. Papier gab es nicht. Sie selber hatte allerdings noch ein geheimes winziges Notizheft und einen kleinen Bleistiftstummel, mit dem sie, halb unter der Bettdecke im Dämmerlicht, heimlich, angespornt durch das Interesse der anderen Mädchen an ihren Strophen, ihre neuen Reimideen aufschrieb.

Es huschte in dieser Nacht, so viele Jahre später, zum ersten Mal seit langem ein Lächeln über ihr Gesicht. Der Bleistiftstummel! Das winzige Stückchen Holz mit der scharfen Spitze, sie spürte, wie ihre Fingerkuppen über ihn glitten, geriffelt, nicht länger als die Kuppe ihres Mittelfingers. Wenn sie damals im Heim etwas aufgeschrieben hatte, konnte sie beruhigt schlafen, die Augen schließen, weil sie ihren Reim, falls sie ihn bis zum nächsten Morgen vergessen haben würde, wieder nachlesen könnte. Wir sahen im Garten eine Rose stehn, eine gelbe Rose ..., und während sie noch dabei war, diesen Reim zu Ende zu denken, erhob sie sich bereits, wankte in die Küche, in der linken Schublade ganz hinten lag Papier für neue Rezepte, Papier, das sie gesammelt hatte, einzelne Blätter vom Block, die die Enkelkinder beim Spielen achtlos abgerissen hatten, aber sie, Annegret, nicht wegwerfen konnte. Von diesem Stapel Blätter nahm sie einige, sowie den Kugelschreiber, und setzte sich an den Küchentisch. Es war halb vier in der Nacht, als sie ihn gegen das Papier drückte: Ach Maria, sie war nicht mehr in Rastenburg im Heim, der alte Mann war plötzlich wieder da. Wie gehaucht kam es aus seinem Mund, ach, Maria! Annegret beobachtete, wie ihr Kugelschreiber sich in Bewegung setzte.

Es war alles ruhig und so gingen wir in das Haus. Wir waren kaum darin, schon hörten wir, dass jemand kam. Wir hatten große Angst und wollten zur Tür raus. Da stand ein junger Soldat, die anderen Kinder flitzten los. Mich packte der Russe am Arm und hielt mich fest. Er redete sehr viel, ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Ich zitterte vor Angst.

Auch jetzt mitten in der Nacht, nicht vor Kälte in der ungeheizten Küche, der feste Griff des jungen Soldaten um ihren linken Arm blieb, während sie ungeduldig die ersten Wörter und Sätze schrieb, die in ungeahnter Geschwindigkeit aus ihr herausstürzten. Unendlich lange dauerte es. Wann hatte sie zuletzt etwas geschrieben? Sie hatte vor Jahren den Kindern bei den Hausaufgaben geholfen. Unwirsch strich sie einen Buchstaben wieder durch, bei dem sie sich verheddert hatte, das h wollte nicht werden, wurde ein k und es hieß „versteken“ statt „verstehen“, sie musste das Wort durchstreichen, noch einmal beginnen, während ihre Gedanken anfingen, ungeduldig nach vorne zu eilen, zu dem Soldaten, der sie immer noch fest am Arm gepackt hielt:

Er machte aber ein freundliches Gesicht. Er zog mich hinter sich her. Er führte mich in eine Waschküche, die am Stall angebaut war. Er kniete sich hin, ich hatte in meiner Angst nicht gesehen, dass da jemand lag. Er winkte, ich sollte doch kommen. Da lag ein alter Mann und sagte etwas. Man konnte es kaum verstehen. Als ich dann seine Hand anfasste und mich niederbeugte, schlug er die Augen auf, sah mich groß an, sagte immer wieder, „Wasser, Wasser“. Dann sagte er auf einmal: „Maria, bist du das?“ Ich nickte. „Ach, Maria!“ Dann lächelte er und machte die Augen zu. Ein großer Seufzer kam, so als wäre es eine Erleichterung. Ich glaube, er dachte, ich sei Maria. Und er wurde still, aber sein Lächeln blieb.

Und dann sehe ich mich auch das alles durchmachen beim Schreiben. Ich höre mich gleichzeitig sprechen und was ge­ sprochen wird. Ich weiß nicht, wie das angehen kann.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich wie nach tagelanger Schwerstarbeit. Das Wort „grässlich“ fiel ihr ein, als sie an die in der Nacht erlebte Szene zurückdachte, sich mit dem russischen Soldaten und dem alten, sterbenden Mann dort sitzen sah, obwohl sie zu Hause in Bekenbostel am Küchentisch gehockt hatte, grässlich, weil es für sie kaum auszuhalten gewesen war, dieses gleichzeitig hier und gleichzeitig dort zu sein. – Gab es so etwas überhaupt?

Walter war längst zur Arbeit gegangen. Sie ging unruhig vor dem Küchentisch auf und ab, ihre Hände suchten abwechselnd an der Tischkante und den Stühlen Halt, der Küchenschrank mit der Schublade, in der sie hinten unter dem Stapel unbeschrifteter Blätter ihren Text der letzten Nacht aufbewahrte, in ihrem Rücken. Sie hatten, nachdem die anderen Kinder ihr Erwachsene zur Hilfe geschickt hatten, den alten Mann im Garten neben einem Kreuz beerdigt, auf dem „Maria“ stand, das fiel ihr jetzt erst ein, auch dass sie danach ein zuschanden gerittenes Pferd auf drei Beinen stehend zitternd am Wegesrand gefunden hatten. Wo kamen nur diese Erinnerungen her? Sie waren glasklar, nicht gealtert in fünfzig Jahren, als wäre es am Tag zuvor passiert, mit scharfen Konturen stand das Pferd auf drei Beinen zitternd da. Dann sah sie es liegen, die Erwachsenen darüber gebeugt, sie hatten es geschlachtet und schleppten es zum Haus am Waldrand, sie … – Es drehte sich schon wieder alles. Sie befahl ihren Gedanken, sich davon fortzubewegen, zu etwas, was es zu erledigen galt. Sie hatte immer ihre Arbeit gemacht, egal wie krank sie gewesen war. Sie hatte sich immer zusammengerissen. „Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an“, in Königsberg noch war ihr dieser Spruch von ihrer Mutter beigebracht worden. Sie würde auch jetzt das Essen kochen, Putzen und Abwaschen hinbekommen. – Und doch kamen die Gedanken zurück, später am Abend kamen sie, denn abends waren die Russen mit Stalllaternen gekommen, zum Dachboden, wo sie, die Leute aus Klipschen, sich ein Lager auf Stroh bereitet hatten. Eng beieinander, wie Heringe in der Dose. Sie zwischen den Pflegeeltern. „Frau komm“, auch in ihr Gesicht wurde geleuchtet. Sie fuhr erschrocken zurück, riss die Schublade auf, setzte sich mit Stift und Papier an den Küchentisch: Was dann kam, weiß ich nicht so genau. Ich hatte immer nach meiner Mutter gerufen. Die Pflegemutter konnte es nicht begreifen, denn meine Mutter war ja nicht da. Dann soll ich ganz laut das Vaterunser gebetet haben und alle haben mitgebetet. Die Soldaten sind in der Dunkelheit verschwunden. Ich soll dann in Ohnmacht gefallen sein, hat man mir am nächsten Tag erzählt. Ich konnte damals nicht verstehen, was mit mir los war.

 

„Geht’s dir nicht gut?“ Walter war besorgt, sah die traurigen Schatten unter ihren grünen Augen, die sonst fröhlich lachten, strahlten, Annegret, gerne zu einem Späßchen bereit.

„Doch, doch, das geht schon.“ Sie lächelte angestrengt. Sie stellte das Essen auf den Tisch. Ihre Gedanken ließen sich nicht abstellen. Trotzdem freundlich gucken. Wie es innen drin aussieht, geht keinen was an. – Jetzt mit all dem Vergessenen von vor fünfzig Jahren ankommen? Walter erzählen, oder den Kindern, dass die Schreckensbilder der Kriegs- und Nachkriegszeit sie überfielen, sie in Panik versetzten, ins Wanken brachten – fünfzig Jahre nach Kriegsende? Sie schüttelte den Kopf. Das konnte ja nicht einmal sie selber verstehen. Im Vergleich zu Ilse und Rosi, Ilse und Rosi!, die plötzlichinihre Gedankenweltdrangen, währendsiemit Walter am Küchentisch saß, hatte sie unterentwickelt ausgesehen, Dank der Schmalhansportionen bei ihrer armen Mutter und der Sparrationen im Heim. Sie, ein Kind mit eingefallenen Wangen, zusammengekauert, vom Kleidersack fast verdeckt, in eine blau-gelb karierte Wolldecke gehüllt, klein, zierlich, der Blick gesenkt, nur nicht gesehen werden, die gewellten Haare streng unter der Mütze versteckt. Es hätte ein Junge sein können. Doch das war sie, sie selber, Annegret! Nach unten gucken, so tun, als wäre man nicht da, wenn ein Russe an ihr vorüberlief. Ilse und Rosi, beide ein halbes Jahr älter und gut im Futter stehend von täglichen Bauernportionen, Ilse und Rosi waren nicht zu übersehen.

„Reicht dir die Portion?“, fragte sie Walter geistesabwesend. Er nickte: „Du musst mehr essen!“

Es hatte sich nicht verdecken lassen, was die beiden unter ihren Kleidern zu bieten haben würden. Sie dagegen war zart gebaut gewesen, schmale Schultern, Wangenknochen sichtbar.

„Pass auf! Der Wind pustet dich fort, so dünn bist du.“ Wie oft hatte die Pflegemutter das zu ihr gesagt. Sie, wie ein Strich in der Landschaft, den man einfach übersah.

 

Ilse hatten sie das erste Mal in dem Dorf geholt, deren Name ihr immer noch nicht eingefallen war, sie kam mit schüttelndem Kopf zurück, saß den ganzen Nachmittag in diesem einen Raum, in dem Haus, in das die Russen sie wie Vieh hineingetrieben hatten, bevor sie zum Haus am Waldrand kamen, und schüttelte den Kopf. Ihre langen blonden Zöpfe schüttelten hinterher. Dann kam Rosi dran und schüttelte ihre dunklen Zöpfe mit. Annegret holte an diesem Nachmittag eine Schere, schnitt ihr schulterlanges, mittelblond-gewelltes Haar kurz bis über die Ohren.

Zwei Mal kamen sie, um mich für den Transport nach Sibirien zu holen. Einmal hatte ich vorher Mohn gegessen, den wir Kinder gefunden haben, vielleicht hat der Soldat mich deshalb nicht wachgekriegt, und einmal hat der Pflegevater mich blitzschnell in einen alten Schrank gesteckt. Er packte Rucksäcke und altes Zeug oben auf, sagte nur noch: „Ganz still sein und keinen Laut!“

 

Das ganze Elend überkommt mich schon wieder so plötzlich, dass ich gar nicht so schnell schreiben kann, wie ich denke. Es schwirrt in meinem Kopf herum und deshalb schreibe ich es auf, so wie es mir in den Sinn kommt. Damit ich es von meiner Seele habe. Alles will auf einmal raus, als ob keine Zeit mehr ist. Nur lesen möchte ich es nicht und das ist auch gut so. Die Russen gingen durch das ganze Haus und schossen immer wieder. Einer machte den Schrank auf, ich dachte nur noch, jetzt bist du tot. Ich konnte vor Schreck nicht atmen. Er fasste das Zeug an, das über mir lag, machte dann aber doch die Tür vom alten Bauernschrank zu. Als alles ruhig war, wurde ich herausgeholt. Ich war schweißgebadet und vor Angst geschlottert habe ich auch.

 

Annegret faltete den beschriebenen Bogen Papier langsam zusammen, suchte eine Tüte, nahm eine sorgsam zusammengefaltete Brötchentüte, Mohnkrümel kullerten ihr entgegen, Mohn für Mohnkuchen, den Walter so gerne aß. Sie steckte diesen Bogen hinein, legte die Blätter, die sie bereits beschrieben hatte und in der hinteren Ecke der Schublade aufbewahrte, dazu. – In die Brötchentüte, festgehalten auf Papier. Nicht mehr in ihrem Kopf.

 

Warum nur kamen all diese Erinnerungen jetzt, so viele Jahrzehnte später? Weil es ihr schlecht ging und niemand ihr helfen konnte? Weil sie über ihr Leben nachdachte? Weil sie irgendwann kommen mussten? Fragte sie sich, als sie sich wieder zu fragen getraute, Tage, Wochen, danach, und wusste, dass sie die Schublade in der Küche würde öffnen können. So viel hatte sie sich schon von ihrer Seele geschrieben und trotzdem tauchte immer noch wieder etwas auf, etwas, woran sie vorher nie gedacht, auch etwas, woran sie längst oft genug gedacht und es schon aufgeschrieben hatte, oder etwas, das sie überhaupt nicht einordnen konnte … Wie diese Frau, die Frau, die sie so zugerichtet hatten mit der tief zwischen den Beinen in den Unterleib hineingeschobenen Flasche. Wo nur hatte sie diese Frau gesehen? Es war nicht auf der Kolchose gewesen, auch nicht im Dorf, dessen Name sie nicht mehr wusste, auch nicht im Haus am Waldrand. Bilder fragten nicht nach der Reihenfolge, sie fielen über sie her, kamen und gingen in ihrem Kopf ein und aus, wie früher die Russen, die Ostpreußen erobert hatten, in den Häusern der Deutschen. Sie klebten an ihr, ließen sich nicht wegdrängen, sprudelten heraus und zappelten wie Fliegen an einem Fliegenfänger – traurige Bildfetzen ihres damals dreizehn Jahre, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahre währenden Lebens, irrten mit ihr durch das Labyrinth ihrer Jugend, wanderten auf Bögen von Papier.

 

Die Zwillinge. Die Zwillinge wollten auch nicht weichen. Niemals würde sie die vergessen. Annegret holte wieder neue Blätter hervor. Die Zwillinge der Häuslingsfrau, Seppel und Emil, mit ihrem fröhlich lachenden Geplappere bei der netten Bäuerin in dem Dorf, das sie mittlerweile das Dorf ohne Namen nannte, denn sie hatte inzwischen auf eine neue Landkarte vom ehemaligen Ostpreußen geschaut, sämtliche Orte mit polnischem und deutschem Namen waren dort verzeichnet, auf das Gebiet zwischen Elbing, Frauenburg und Mühlhausen hatte sie geschaut, im Oktober vierundvierzig waren sie dorthin geflüchtet und sie konnte selbst auf dieser Landkarte, obwohl es dort gewesen war, nicht den Namen des Dorfes wiedererkennen.

„Annele, Annele!“

Seppel und Emil drückten abwechselnd und dann von beiden Seiten ihre warmen Wangen an die ihre. Wie Schiepelchen, ihre kleinste Schwester, nur sie hatte so schmusen können wie diese beiden.

„Annele, komm! Annele, singen!“

„Leise, Peterle leise, der Mond geht auf die Reise, ich glaube ja, jetzt bleibt er stehn, uns Peterle im Schlaf zu sehn.“

Wenn Annegret der Bauersfrau half, Pudding zu kochen, saßen die Zwillinge und sie, Annegret, hinterher über den Topf gebeugt auf dem Küchenfußboden, strichen mit ihren Fingern an der Topfwand längs und leckten … Hhhha! Die Bilder schmolzen dahin, in Sekundenschnelle hörte sie die hauchende Stimme des leichenblassen Seppels. In Sekundenschnelle begann ihr Puls zu rasen. Sie stand auf, schaltete im Wohnzimmer das Licht an. Sie sollte messen, hatte der Arzt gesagt: einhundertvierzig. Das Blutdruckmessgerät kletterte auf einhundertneunzig!, der Atem flach, die Angst mit der Schlinge um ihr Genick. Das kam davon, wenn man abschweifte.

Sie hörte die Stalinorgel. Am neunten Mai ratterte sie durch das Dorf ohne Namen. Die Gewehre der Russen schossen vor Freude in die Luft oder versehentlich zur Seite, am neunten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig floss der Alkohol reichlich, torkelten Soldatentrupps durch den Ort ohne Namen, schwenkten Fahnen und Wodkaflaschen: „Alle Deutschen binnen einer Stunde raus“, schrie ein Offizier. Sie trennten sich, die nette Bäuerin und die Häuslingsfrau mit den Zwillingen zogen in die eine Richtung, die Leute aus Klipschen in die andere, zunächst zu dem Haus am Waldrand, dann hin und her, durch Dörfer ohne Namen, ohne Fensterscheiben, ohne Tiere, ohne Vögel, ohne Menschen.

Wann denn war ein Krieg überhaupt beendet? Mit der Unterzeichnung der Kapitulation? Mit dem letzten Schusswechsel? Das würde dauern. Mit dem letzten Gedanken an das Leid? Das hörte nie auf, bei ihr jedenfalls nicht. – Vielleicht sollte man auch nicht vergessen. Nie vergessen, nimmer, was im Krieg passiert war? – Irgendwann und irgendwo hieß es, in dem und dem Nachbarort sei die Häuslingsfrau mit ihren Kindern. Hunderte von Toten lagen dort herum. Gedanken und Bilder überschlugen sich.

Was ich da sah, war einfach furchtbar. Emil, einer von den Zwillingen, war aufgebahrt, der zweite lag im Sterben. Er hatte Typhus. Als er mich sah, streckte er seine Händchen nach mir aus. Er hatte mich wiedererkannt. Ich sah in seine Augen, da lächelte er und sagte: „Annele, Pudding kochen.“ Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie mir zumute war. Ich glaube, er hatte sich in seiner Sterbestunde daran erinnert, dass wir drei den Puddingtopf auslöffeln durften. Damals habe ich immer gedacht, wo bekomme ich bloß das Puddingpulver her?

 

Sie holte die Brötchentüte. Sie hielt das Blatt in der Hand. So lange, viel zu lange hatte sie ihrer Vergangenheit bereits ins Gesicht geschaut. Weg damit in die Tüte, in der inzwischen so viele Zettel steckten, dass sie sie zusammendrücken musste, um auch noch dieses Blatt hinein zu bekommen. Langsam und fest drückte sie, damit die Luft herauskam, ohne dass die Papiertüte platzte. – Und als habe sie damit alte Geister geweckt, herausgetrieben, hörte sie wieder den alten Mann sprechen, Tronka schaurig brüllen, die Peitschenhiebe … dazu die Mark und Bein erschütternden Kinderschreie. Hatte das denn kein Ende? Sie wollte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr. Sie musste mit dem Schreiben aufhören. Die Kopfschmerzen, das Herzrasen und dann der Schwindel.

Fünf Uhr morgens. Gerädert. Übermüdet. Annegret stand abrupt auf. Zwei, drei Stunden Schlaf waren ihr täglich vergönnt. Wenn sie es nicht mehr aushielt, nahm sie Schlaftabletten. Eine Nacht, zwei Nächte lang, nicht länger. Von so etwas wollte sie nicht abhängig werden. Sie fühlte sich dauermüde, setzte aber nach wie vor ein tapferes Lächeln auf, wenn Walter nach Hause kam, die Kinder sie besuchten, sie mit den Enkelkindern „Mensch ärgere dich nicht“ spielte und zwischendrin Emils und Seppels Gesichter erschienen. Bleich. Totenbleich. „Oma, du bist doch dran!“ Annegret zuckte zusammen, guckte irritiert, würfelte geistesabwesend, strich den Enkeln liebevoll über den Kopf. Bei Seppel und Emil hatte sie es nicht mehr gekonnt.