Heugebläse

Sieben Tage Kindheit auf dem Lande. Erzählung

Gisela Stammer


ISBN: 978-3-96045-117-4
1. Auflage 2020
© 2019 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ergeben sich rein zufällig.

Umschlag: Elisabeth Büchsel, Mädchen am Weidezaun, um 1905 © VG Bild-Kunst, Bonn
Lektorat: Mareike Kaden
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

Die wichtigsten Figuren

 

Bauernfamilie Goelken aus Belldorf

Hermann, Emma; ihre Kinder: Lisa, Fritz und Grete

Fritz’ und Gretes Spielgefährten: Wöltmers Hans, Wurchen Dieter, Max, Marion

 

Mitarbeiter/Tagelöhner

Walter und Annegret, Bruno, Onkel Heini, Herbert

 

Mitbewohner

Tante Precht, Onkel Precht

Frau Mohnhaupt; Horst und Helmut (ihre Söhne)

Frau Wilumeit mit Dorothee (inzwischen verzogen)

 

Nachbarn

Wöltmers Otto, Helma; Hans (ihr Sohn); Onkel Manek

Wurchen Marie; Dieter (ihr Sohn)

 

Lehrer

Fräulein Klimkeit

Herr Dernow

 

weitere Dorfleute

Tante Hedi (Gemischtwarenhändlerin)

Onkel Willy und Tante Teda (Kolonialwarenladen)

Didi (Gastwirt)

 

Personen von außerhalb

Herr Klemper (Lesemappenlieferant)

Eickmers Paul (Eieraufkäufer)

Donnerstagnachmittag

 

„Sie ko-mmen! – Sie ko-mmen!“

Grete, die so gerne ihren Beinen folgend weiter nach oben gelaufen wäre – wie schade, ausgerechnet jetzt! – hält auf der fünften Treppenstufe inne, horcht noch einmal, formt die Hände vor dem Mund zur Flüstertüte und setzt erneut an zum lauten Ruf: „Sie ko-mmen!“

Das Tuckern in der Ferne ist nicht zu überhören. Sie hat es beim Herausklettern bereits vernommen, doch die Schreie der über den Hof sausenden Schwalben haben sich zumindest kurzzeitig darüber legen lassen, das Tuckern vertrieben und der Illusion von noch einmal freien Lauf gegeben. Grete, von ihren Beinen über den Hof und durch den Stall getragen, eilt die Treppe hinauf, hört das Wid-Wid der Schwalbeneltern verebben und das Tuckern sich durchsetzen, das sie dazu zwingt, nicht wieder ganz nach oben zu laufen.

Auf der fünften Treppenstufe zum Heuboden schaukeln ihre Beine nun ungeduldig hin und her. Die Vernunft siegt, muss siegen, nicht nur bei ihr, auch bei den anderen Kindern. Sonst wird der Ärger zu groß. Das wissen sie. Und schon kommen die Kinder angerannt, von oben vom Heuboden her, aufgeschreckt durch Gretes ‚Sie kommen!‘ – Fritz, Max, Hans, Marion. Sonst hören sie nicht unbedingt auf Gretes Kommando, jetzt laufen sie ihr enttäuscht, mit heruntergezogenen Mundwinkeln, auf der Heubodentreppe entgegen, mit der Angst vor dem Vater und dem, was sonst noch folgen könnte. Fritz als Ältester würde das Meiste abbekommen.

Und doch liegt in den Augen ein Blitzen, huscht ein Lachen über ihre Gesichter wegen dieser ausgelassen verbrachten Stunden, der geteilten Freude dieses Nachmittags, bringen wissende Blicke Hans dazu, albern zu kichern und Max, zappelnd herumzuknuffen. Marion und Grete stimmen ein.

Als Erwachsener wird man Jahrzehnte später dastehen, ergriffen von der Wucht der Erinnerung und lacht mit. So lange, bis man Fritz in dieses alberne Gelächter hineinrufen hört: „Mann, höchste Eisenbahn!“

Fast schon tuckert der Trecker bei Tante Hedi mit seiner hohen Fracht unter den Eichen entlang. Gleich werden die Eltern auf dem Fahrrad vorneweg über den Holzplatz angeradelt kommen. Schnell die Heubodentreppe hinunter, sich gegenseitig das Heu aus der Kleidung geklopft, die Halme aus den Haaren gefuddelt.

„Nich rumalbern, los, schnell, schnell!“

Marion wirft entschlossen ihre dunklen Zöpfe nach hinten und läuft nach Hause, vier Höfe weiter. Hans fällt just in dem Moment ein, dass er längst bei sich, schräg gegenüber hinter der Kurve, den Stall hätte fegen sollen und Max, dessen Eltern oben unterm Dach bei Bammans wohnen, Dorf auswärts Richtung Altenburg, bleibt wie immer so lange es geht.

Mit Unschuldsmienen auf den Gesichtern, als hätten sie die ganze Zeit über nichts anderes gemacht, stehen Fritz, Max und Grete nun vor der hohen Dielentür des Kuhstalls.

„Na, waatet ihr schon auf uns?“

Gut gelaunt kommen die Eltern angeradelt. Der Vater lehnt als erstes sein Fahrrad gegen den Gartenzaun. Vier Fuder des ersten Schnitts Heuernte von der Moorwiese haben sie an diesem Tag geladen – die Moorwiese, die nach jedem Regenguss abzusaufen droht. Allerdings nicht mehr lange. Der Vater hat vorgesorgt, Drainage ist längst in Planung, die ersten Rohre sind verlegt. Außerdem wird dann, bei richtiger Düngung, mit ganz anderen Erträgen zu rechnen sein. Und wenn sie heute noch zwei Fuder auf den Heuboden bringen könnten – die anderen beiden Fuder sollen vorerst in der Scheune und unter dem Schauer bleiben, man weiß nicht, ob das Wetter hält – wird der Tag für ihn als Erfolgstag bei seinem abendlichen Betriebstagebucheintrag verbucht. Noch ist es zwar nicht so weit, aber er sieht seinen Eintrag bereits vor sich, den er, wie alle seine Arbeiten, mit akribischer Sorgfalt durchführen wird: Sonnig warm. Heu gewendet und vier Fuder Heu geladen. Moorwiese.

Die Kinder nicken brav, so wie der Vater es sich wünscht, als hätten sie die ganze Zeit nichts anderes gemacht, als auf die Eltern zu warten, an diesem warmen Heuernte-Juninachmittag, die Sonne fast schon im Südwesten, das Kopfsteinpflaster des Hofes in Licht getüncht und unter ihren unbekleideten Füßen schön warm.

 

Der Vater geht zur Straße und schaut der großen Fracht entgegen, die Mutter geht auf die Kinder zu, schaut einen Moment lang skeptisch.

„Is was?“

„Nö, wir waatn bloß.“

Sie streicht Grete im Vorbeigehen übers Haar, bei Fritz darf sie das nicht, wenn ein anderer Junge dabei ist.

Der Trecker holt mit weitem Bogen auf der Dorfstraße aus, damit die beiden ersten Fuder Heu durch die Toreinfahrt passen. Walter fährt sie vor die Mistkuhle und dreht den Schlüssel des Treckers um. Das Tuckern verebbt zunächst, bis aus der Ferne ein neues, schwächeres Tuckern naht: Bruno kommt mit dem ganz kleinen Trecker und einem Fuder hinterher und wird vom Vater damit direkt in die Scheune dirigiert. Erst jetzt hört man ganz in der Ferne die Pferde heranklackern, beschlagene Hufe auf Kopfsteinpflaster, weit, weit, weiter hinten. Pferde sind nun einmal nicht so schnell.

Der Vater kratzt sich am Kopf unter der vollgeschwitzten Mütze und nickt dabei. Seine Entscheidung ist die einzig richtige, einige andere im Dorf haben sie ebenfalls getroffen und keine Pferde mehr. Er muss nach vorne blicken, mit der Zeit gehen, schließlich geht es um den Hof. Der dritte Gummiwagen war bereits bestellt, in weiser Voraussicht, damit die mit Eisen beschlagenen Ackerwagenräder von Anno dazumal hinter dem Pferdegespann – was für ein Geklapper! – seltener holpern werden.

An diesem Nachmittag aber holpern sie noch, langsam von den Pferden über das Kopfsteinpflaster der Belldorfer Dorfstraße gezogen geht es dem Hof entgegen, mischt sich das laute Geklapper unter das Klack-Klack der Pferdehufe. Onkel Heini und Frau Mohnhaupt vorne auf dem Wagen, mit dem vierten Fuder Heu ziehen sie jetzt durch das Hoftor. Endlich!, denkt der Vater. Er schaut erst auf die Uhr und dann gen Himmel: Ob das Wetter stabil bleibt?

Onkel Heini, der ältere Mitarbeiter, der gut mit Pferden umgehen kann, aber nicht auf einen Trecker steigt, dirigiert sie gekonnt – schließlich hat er sein Leben lang Pferde dirigiert – bei der Feldarbeit, bei der Fracht, beim Ein- und Ausschirren und lässt sie nun das erste Fuder vor das Heugebläse ziehen.

„Brrr!“ Liese und Lotte halten auf sein Kommando, lobend tätschelt er ihnen den Hals. Seine Hände streichen liebevoll von oben nach unten die Beine entlang. Grete guckt vom Kuhstall aus durch die geöffnete Mistgangtür zu. Onkel Heini will die Pferde von den lästigen Moorschuhen befreien, mit denen sie auf dem feuchten Untergrund den Wagen ziehen können. Er öffnet die Schnallen und lässt die Pferde ohne Hast aus diesen Schuhen steigen und streicht dabei wieder sanft über ihre Beine. Was haben sie auf der Wiese für Arbeit geleistet! Er spannt sie aus, führt sie am Halfter zum Stall, öffnet die Tür und gibt ihnen einen liebevollen Klaps auf den Hintern: „Gut gemacht!“

Walter, der jüngere Mitarbeiter, der Trecker fährt und mit den Maschinen alles machen kann, was man mit Maschinen machen muss – „Wirklich alles“, sagt der Vater, und das soll beim Vater etwas heißen – hat inzwischen die Forken bereitgestellt und das lange Kabel mit dem riesigen Stecker, der mindestens fünf Mal so groß und schwer ist wie der Stecker der Stehlampe in der guten Stube, aus dem Kuhstall geholt und es so über das Kopfsteinpflaster gelegt, dass niemand darüber stolpern kann. Nun schiebt er diesen riesigen Stecker in die am Heugebläse befestigte Steckdose. Es muss nur noch der Stecker am anderen Ende des Kabels im Kuhstall in die hohe Steckdose mit Klappdeckel an der Wand über dem Rübenschneider geschoben und danach der Schalthebel nach rechts gedreht werden.

Grete hat sich alles genau eingeprägt, schließlich sind am Tag zuvor schon zwei Fuder von der Braake eingebracht und abgeladen worden. Aber Walter zögert. Er wartet, denn der Vater steht noch unten am Fuder Heu, zieht ein Büschel Heu heraus, begutachtet es auf seinen offenen Händen und riecht zufrieden daran. Erst dann greift er sich eine der bereitgestellten Forken, nickt Walter zu, ruft laut durch die weit geöffnete Waschküchentür zur Küche hinüber: „Emma, wo bleibste denn, ’s geht los!“, und steigt die Heubodentreppe hinauf.

 

Das Feuer in der Küche ist fast heruntergebrannt, weil Lisa, die Älteste, noch nicht aus Schlöse zurück ist, wo sie mit einem Zettel in der rotkarierten Umhängetasche, unterschrieben vom Vater, bei der Sparkasse etwas erledigen soll: ‚Bitte händigen Sie meiner Tochter Lisa dreihundert Mark aus.‘ Der Sparkassenangestellte, Herr Wellhorn, kennt Lisa, schließlich wird sie regelmäßig nach Schlöse zu Botenfahrten geschickt.

„Ach, da kommt ja wieder das kleine Fräulein.“

Manchmal gibt Lisa nur zu tätigende Überweisungen ab. Wenn sie mit einem Auftragszettel wie diesem kommt, muss Herr Wellhorn aufstehen, und wenn er zum Tresor geht, umständlich mit nur einem Arm und einer Hand, weil sein zweiter Arm im Krieg geblieben ist, den Tresor öffnen. Und bevor Lisa das von ihm gebrachte Geld in ihrer Umhängetasche verstaut, zählt er ihr, mit seinem vorgebeugten Körper an der Tresenkante die Geldscheine haltend, mit einer Hand genau vor, wie viel Geld dies ist. Lisa zählt dann noch einmal leise sprechend nach, gleich auf dem Tresen der Sparkasse. Darauf besteht der Vater, damit das alles seine Richtigkeit hat und auch wirklich die dreihundert Mark, die der Vater bestellt hat, ankommen. Schließlich braucht er diese Summe, die er im verschlossenen Schränkchen in einer Geldkassette neben seinem Bett aufbewahrt, für Lohnauszahlungen an Tagelöhner oder für Einkäufe bei den beiden Dorfkaufleuten und sonstige Kleinigkeiten.

Die Mutter stöhnt vor dem Küchenherd, als sie das Kommando des Vaters hört, sie muss sich beeilen, sie pustet ins Feuer, sucht letzte dünne Buschholzreisige in der Holzkiste zusammen, damit es sich wieder entfacht, und schüttelt enttäuscht den Kopf. „Kinners, wo seid ihr? Ihr solltet doch Holz holn, sonst kricht Lisa nachher die Erdbeern nich eingekocht un die Bratkartoffeln nich wam. – Geht gleich los!“

Und weil die Kinder, während sie im Schnellschritt durch die Waschküche zum Kuhstall eilt, nicht reagieren, ruft sie im Gehen mehrfach hinterher: „Holz holn! Ihr müsst doch Holz holn!“

Fritz und Grete schnappen sich je eine Kiepe aus der Waschküche – schließlich ist der Vater in der Nähe – eine kleinere für Buschholz und eine große für Feuerholz, um sie zum kleinen Milchkannenhandwagen, der auch der Holzholhandwagen ist, zu tragen. Aber weil Walter am Kippschalter steht und gerade dabei ist, den Hebel langsam nach rechts zu schieben, lässt Grete ihre Kiepe fallen. Denn gleich wird es losgehen: Mit nur einem kleinen Kippschalter unter seiner Hand wird Walter dem Heugebläserohr Leben einhauchen, es zum Heulen bringen, indem er den Schalter auf volle Touren stellt.

Nicht beim Kippschalter im Kuhstall wird das Geheule losgehen, sondern beim Heugebläse draußen hinter den Mistgangtüren mit dem Rohr hoch zum Heuboden. Walter bewegt langsam seine rechte Hand und lässt den Hebel einrasten. Schon hört Grete, wie das dicke Gebläse tief Luft holt für einen ersten Hauch, wie beim Anstimmen in der Schule, Fräulein Klimkeits summendes Mhhh, bevor sie alle gemeinsam – aber wehe das klappt nicht! Fräulein Klimkeits Blick spricht schon wieder Bände – in der Klasse mit ihrem gesammelten Atem einstimmen müssen.

„Nicht schreien! Verdammt noch mal! Könnt ihr denn nicht hören!“

Die Kinder zucken zurück, versuchen es sacht, diejenigen, denen mangelhafte Singfähigkeit vorgeworfen wurde, bewegen nur ihre Lippen, hauchen ohne Ton, nur die von ihr stets ermunterten Kinder stimmen klar mit ein: „Na, also! Warum nicht gleich so?“ Ihr Blick bleibt streng, wird aber milder.

Hier am Gebläse ist kein strenger Blick, entwickelt sich der Atem einheitlich zu einem kräftigen Wind, der schließlich laut aufheult und vom weit geöffneten Trichter zum Rohr hinauf beginnt es zu dröhnen, während Walter zu Bruno, dem Lehrling, auf das Fuder Heu hochklettert.

Zügig werfen sie im Takt eine Forke voll Heu nach der anderen in den großen Gebläsetrichter, der die Heubüschel begierig ansaugt und in Windeseile nach oben auf den Heuboden bläst, mal in dunkleren, mal in helleren Tönen. Ist der Trichter voll, dröhnt es dunkel, ist er leer, heult das Gebläse auf. Nicht so hell wie die Sirene jeden Sonnabendmittag um zwölf, aber doch eindringlich genug für Grete, dass sie sich mitten im Gebläse – ach nein, da hat es nicht genügend Platz – wohl aber oben auf dem Heuboden ein jaulendes Tier vorstellen kann, das mehr zu fressen haben will, mehr von diesen Heubüscheln, von denen es offensichtlich nicht genug kriegen kann.

Walter und Bruno passen auf, dass das Gebläse möglichst nichtleerläuft, stopfenemsigweiterim Takteinedicke Forkevoll Heu nach der anderen in den Trichter, das im Nu verschwindet. Von Weitem, dort, auf dem breiten Kuhstallgang, wo Grete wie angewurzelt steht und sich nicht loseisen kann, sieht es aus, als wenn dieser große Trichter der weit aufgesperrte Schlund des jaulenden, gefräßigen Tieres ist, eines Nimmersatts, der in Nullkommanichts alles wegfrisst und über den langen dicken Hals, das Heugebläserohr, seinen Hunger zu stillen versucht.

 

Das muss Grete sich unbedingt direkt auf dem Heuboden anschauen.

Dort gibt es von einem Nimmersatt jedoch keine Spur. Dort, an der Kante des Gebläserohres, am Heugebläseausgang, im Staub und Lärm des Gebläses, durch das die Heubüschel fröhlich heraushüpfend ihren Weg von unten nach oben finden, und nicht umgekehrt, wie bei ihnen, den Kindern, vorher von oben nach unten, dort steht jetzt der Vater mit der Forke. Er wirft die heraufgeblasenen Heubüschel in größeren Haufen über den breiten Heuboden zu Frau Mohnhaupt, die die Haufen weiter zur Mutter wirft, die wiederum diese ganz vorsichtig, damit er nicht in die Forke greift, Onkel Heini zum Packen vorlegt. An den Seiten beginnt er eine Schicht höher zu packen, bis sich diese höhere Schicht immer weiter über den hinteren Teil des Heubodens ausbreitet, über den sie, die Kinder, vorhin noch so fröhlich und ausgelassen haben toben können.

Die Mutter hat sogleich bemerkt, dass Grete am Heubodeneingang steht.

„Deern, ihr müsst doch Holz holn!“, ruft sie gegen den Gebläselärm und Staub an. Grete macht auf dem Absatz kehrt, greift unten im Kuhstall auf dem breiten Futtergang ihre fallengelassene Kiepe mit einer Hand und zerrt sie laut scheppernd, was sie sonst nie machen dürfte – „so geht man doch nich mit ner Kiepe um!“, würde der Vater sagen, aber das Gebläse ist so laut, der Vater hört es nicht – hinter sich her auf den Hof über das Kopfsteinpflaster. Fritz schiebt und zieht abwechselnd den in der großen Kiepe auf dem Holzhandwagen zusammengerollten Max im Laufschritt über den Hof, wo Grete so lange lauthals schreit, bis Fritz endlich anhält und sie ungehindert ihre kleinere Kiepe auf den Handwagen neben Max stellen kann. Sie klettert geschwind hinein und lässt sich ebenfalls mit fröhlichem Gejauchze von Fritz über den Hof ziehen und schieben.

Doch was heißt hier über den Hof?

Die Reise geht ganz woanders hin, von Hamburg nach Bremen – „alle einsteigen, bitte!“ – und dann geht es mit viel schnellerem Tempo weiter. Wohin? „Nach Köln natürlich.“

„Aua! – Haaalt!“

Fritz ist so rasant in eine Kurve hinein gegangen, dass Grete fast samt ihrer Kiepe vom Handwagen gefallen wäre.

„Uhhh! Das tut so weh!“

Fritz hält unwirsch an. „Ja, dann schieb doch selber!“

Und so schiebt Grete, weil es zum Holzschuppen hin leicht abschüssig ist, den Handwagen mit Max und Fritz in den Kiepen als Fracht und bringt den Wagen, schließlich sind die beiden viel schwerer als sie, nur mit Mühe und Not kurz vor einer der wackeligen Holzstalltüren zum Stehen.

 

Am schönsten ist es im Küchenholzstall, in dem die kleineren Stücke lagern, das sind die noch mehrfach gespaltenen Stubenholzklötze. Bis hoch unter das Dach wurden sie im letzten Jahr nicht schichtweise gepackt, sondern lose aufgehäuft, und die Kinder müssen sich einige schwere Stubenholzklötze holen, um damit im ‚Zielwurf‘ den durch stetiges Holzholen steil ansteigenden, manchmal sogar leicht überhängenden Holzhaufen zum Einsturz zu bringen. Was ist das für ein Geholper, wenn die Holzlawine nach unten bricht! Was ist das für eine Aufregung! Vor allem, weil sie sich alle schleunigst vor der Lawine in Sicherheit bringen müssen. Ab und an reichen zwei bis drei feste, gut gezielte Würfe, bis das oberste Holz wie eine Lawine herunterrollt. Aber diese Würfe muss man erst einmal hinbekommen.

Mit den schweren Stubenholzklötzen bewaffnet werfen sie jetzt hintereinander weg gegen die steile Holzhaufenwand. Fritz streckt wie immer, wenn er sich konzentriert, die Zunge spitz geformt aus seinen leicht geöffneten Mund heraus. Doch es klappt nicht, und heute schon gar nicht, da nützt ihm auch seine Zunge nichts. Die steil, etwas überhängende Holzhaufenspitze bleibt, wo sie ist. Natürlich liegt unten noch genügend greifbares Küchenholz für ihre Kiepe, trotzdem würden sie am liebsten dicke Stubenholzklötze bis in den Abend hinein mit aller Kraft gegen die überhängende Holzwand schleudern. Selbst nur wenige ins Rutschen gebrachte Holzscheite wären ein Erfolg.

Am liebsten würden sie auch in diesem Moment, als sie ihn wieder hören, Dieter, den Jungen von nebenan auf Wurchens Nachbarhof, mit dem sie mittags nach der Schule in Streit geraten sind und dem sie sofort eine gehörige Lektion erteilt haben, erneut eine kleine Abreibung erteilen. Sie vernehmen schon wieder seine provozierende Stimme: „Das setzt noch was für euch!“

Und Dieter, der gerne auch mal Unterhaltungen mit Wörtern wie Schweinehund und Drecksack spickt, traut sich jetzt tatsächlich, mittags hat er nur gewinselt, jetzt, wo er wieder zu Hause ist, seine ihn stets unterstützende und aufmunternd zunickende große Schwester im Schlepptau, noch einmal zu drohen: „Das setzt wirklich noch was, das sollt ihr sehn! Na, waatet! Oekele-Goekele! Goelkele-Hoelkele!“, schallt es vom Hof hinter dem Holzschuppen herüber, der mit dem daneben liegenden hoch aufgestapelten Holzästehaufen für zukünftiges Buschholz die Grenze zwischen dem Goelkenhof und dem Wurchenhof bildet.

Fritz winkt ab. Der mit seinem Kauderwelsch. Aber weil er auch so ein Gefühl im Bauch hat, dass Dieter für diesen Tag bereits genug abbekommen hat und möglicherweise doch noch zu Hause am Abend etwas Ärger auf ihn zukommen könnte …, obwohl eigentlich … nein, bei dem hatte es noch nie richtigen Ärger hinterher gegeben – nur, wusste man es?, entscheidet Fritz sich für die sanftere Methode und ruft durch die dünne Holzwand des Schuppens zum Nachbarhof hinüber:

„Du interessierst doch gar nich! Wir ham was Bessres zu tun!“

 

Außerdem weiß Fritz, dass es keine Zeit zu verlieren gilt, denn er weiß, was all die Aufgaben, die sie noch zu erledigen haben, an Zeit verschlingen werden. Aus der Ferne nimmt er bereits wahr, dass das Heugebläse schweigt, was bedeutet, dass die Erwachsenen schon ein Fuder Heu abgeladen haben müssen und Walter mit dem zu hörenden Tucktuck des Treckers bereits das zweite Fuder vor das Heugebläse, genau an die Stelle, die der Vater ihm anzeigt, rangieren wird. Wie schade, denkt Fritz sich, denn er hätte noch sehr gerne für mehr Kleinholzabwurf gesorgt, als unbedingt nötig ist. Am frühen Morgen auf dem Weg zur Schule war ihm nämlich wieder eingefallen – einige Male hatte er schon daran gedacht, es dann aber wieder vergessen –, dass auf der rechten Seite unter dem dicken Kleinholzstapel noch ein paar seiner Funde vergraben sind. Mindestens einen Spatenstich tief liegen sie dort. Im Jahr zuvor hatte er sie nach der Kartoffelernte auf dem Hünenkamp, noch bevor der Holzschuppen bis zur Decke und fast bis zum Eingang hin mit Küchenholz vollgestopft worden war, alleine dort verbuddeln können. Und er alleine weiß folglich, wo das Versteck ist – leider noch mindestens einen Meter hinter der vor ihm aufrecht stehenden, meterhoch geworfenen Holzwand.

Diese dort verbuddelten Schwarzpulverfunde gehen nicht nur auf sein Konto. Sie sind ihm von den anderen Kindern, die bei der Kartoffelernte mitarbeiteten – einschließlich seiner beiden Schwestern – zugetragen worden, weil alle Kinder wissen, wie wild Fritz darauf ist, und sicherlich auch in der Erwartung, dass sie von dem Ereignis etwas abbekommen würden.

Die Funde dieser schwarz- und schwefelgelben, in Ansätzen noch zylinderförmigen, doch recht harmlos aussehenden Bruchstücke versetzen ihn alleine beim Gedanken daran in Aufregung. Ihm hat es den ganzen Vormittag schon in den Fingern gejuckt, als ihm dieses Versteck beim Fußballspielen mit einem herumliegenden Holzstück frühmorgens auf dem Weg zur Schule wieder eingefallen war, und es juckt ihm auch jetzt in den Fingern, und wie!

So nah am Fundort und doch so weit entfernt.

Denn nach seiner Erinnerung müssten sie noch einige Holzmassen bewegen, um an das im letzten September zur Kartoffelzeit angelegte Versteck zu gelangen. Spätestens in den Sommerferien, besser aber doch schon in den nächsten Tagen, würden sie mal Zeit finden, die Holzsteilwand in Angriff zu nehmen.

Aber da die Kinder, wenn das Heuabladen fertig ist, schleunigst die Kühe von der Weide holen, vorher jedoch noch die Sauen von der Schweineweide nach Hause treiben und das Holzholen erledigt haben müssen – da führt kein Weg dran vorbei –, holt Fritz erst einmal tief Luft. Zumindest könnte er am Wochenende schon damit beginnen, die Attacke auf den rechten Kleinholzberg im Küchenholzschuppen genau zu planen.

 

Und so beginnen sich die Kinder zu sputen. Sie füllen zuerst die große Küchenholzkiepe und dann die etwas kleinere mit diesem elendigen Buschholz.

Buschholz ist so pieksig durch die klein geschredderten feinen Zweige, dass keines von ihnen es gerne in die Kiepe füllt. Ständig schmerzt es, wenn sie mit ihren Kinderhänden in den lockeren Buschholzhaufen greifen. Aber wenigstens muss Grete nicht mehr die ganze Kiepe alleine mit dem grässlichen Buschholz füllen. Sie schaut auch nicht mehr ängstlich hoch, zum oberen Rand des Buschholzberges, obwohl sie nicht völlig entspannt ist und immer noch froh, wenn die Buschholzkiepe voll ist und sie wieder aus dem Buschholzschuppen nach draußen kann. Das verrät sie Fritz natürlich nicht.

Gegenüber früher ist es jedoch viel besser geworden. Früher, als sie noch voller Angst zum Kamm des hohen Buschholzberges schielte, denn dahinter – und manchmal hatte sie einen dunklen Schatten dort oben vorbeihuschen sehen und sich große Kulleraugen von ihm vorgestellt – sollte er laut Fritz gelebt haben. Damals hatte sie noch alles geglaubt und Fritz hatte ihr mit dem Butzemann jede Menge Angst einjagen können und sie mit Drohungen wie: „Wenn du nich die Buschholzkiepe vollmachst, kommt der Butzemann!“, sofort an die Arbeit gekriegt. Der Butzemann, so hatte Fritz ihr gesagt, lebe zwar hinten, ganz hinten hinter dem großen Buschholzhaufen, aber in null Komma nichts käme er hervor, wenn kleine Kinder nicht artig seien und bringe sie für immer in seine Gewalt und in ein fernes, dunkles Land, so dunkel wie der Butzemann selber.

Das hatte bei Grete Eindruck gemacht und eifrig, ganz eifrig hatte sie die Kiepe gefüllt, während die Jungs, Fritz und Max, manchmal war Hans noch dabei, sich zwischendrin wissende Blicke zuwarfen, vor dem Holzstall spielten oder mit Dieter von nebenan entweder stritten oder herumalberten. Die wissenden Blicke waren ihr nicht entgangen. Sie ahnte etwas, das sagte ihr das dumme Gekichere der Jungs, aber die Angst vor dem Butzemann war größer gewesen – so mächtig. Ihre Gedankengänge dagegen wirkten wie eingefroren, die Zweifel erstarrt, denn riesig, hatte Fritz gesagt, stand er hoch oben auf dem Buschholzhaufen.

„Hast du ’n ebn nich gesehn?“

So eine grässliche, dunkle Gestalt. Wie ein zerfleddertes Torfstück in Riesenformat sollte er ausgesehen haben, nur hatte dieses riesige Torfstück kräftige Arme und Beine. Jeden Moment würde er, so stellte sie es sich damals vor, sie, die kleine Grete, packen können, sodass sie sich nicht getraute, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Damals, vor gut einem halben Jahr noch.

Inzwischen war der übermächtige Butzemann winzig klein geworden, vielleicht so klein, wie der Daumen in ihrer Hand, ein Däumling also. Denn als nach Weihnachten die Jungs in der Schule wieder einmal, wie jedes Jahr, über die kleinsten Kinder der ersten Klasse, die noch fest an den Weihnachtsmann glaubten, albern lachten, und im gleichen Atemzug über das Butzemannmärchen witzelten, war sie, Grete, ins Grübeln gekommen. Dass der Weihnachtsmann eine gemeine märchenhafte Erfindung der Erwachsenen war, hatte sie nach Weihnachten vor eineinhalb Jahren, am Ende der ersten Klasse, selber desillusioniert zur Kenntnis nehmen müssen und sich von den Erwachsenen, die sich erdreisteten, mit Kindern Schabernack zu treiben, verraten und verkauft gefühlt. Damit war sie eineinhalb Jahre zuvor genug beschäftigt gewesen und hatte gar nicht weiter das Gedöns der großen Jungs wahrgenommen.

Aber in diesem Jahr, als sie die Erstklässler auf dem Schulhof in der Pause nach Weihnachten genau beobachtete, die einen immer noch voller Illusionen und unwissend, „was sagst du da, den Weihnachtsmann gibts nich?, der war doch da!“, und die anderen, desillusioniert mit ungläubig geöffneten Mündern dastehend, wurde Grete hellhörig, als die Jungs den Butzemann mit dem Weihnachtsmann zusammen in einen Satz packten: Der Weihnachtsmann, ein albernes Märchen, ja, das hatte sie mittlerweile verstanden, aber etwa der Butzemann auch? Sie beobachtete den herumalbernden Fritz auf dem Schulhof ganz genau und am Nachmittag dieses hellen, frostklirrenden Januartages beim täglichen Holzholen zeigte sie Fritz den Vogel und drohte sogar an, obwohl sie nach wie vor Angst hatte, diese aber nicht zeigte, sondern Mut genug, sich nicht alles bieten zu lassen, zur Mutter zu laufen, falls er nicht mit den Butzemanndrohungen aufhörte.

Und tatsächlich, Grete staunte, sie war, um mehr Druck zu erzeugen, gleich ein paar Meter Richtung Haus gelaufen, Fritz, der großtuerische Fritz, lenkte ein.

Zwar kann Fritz sie hin und wieder immer noch mit dem Butzemann erschrecken, wenn er unvermittelt angerannt kommt und versucht, ihr muffelige, zerfledderte Torffetzen blitzschnell an den Augen vorbeizuziehen und dann an den Hals zu drücken, während sie dabei ist, Holz in die Kiepe zu schmeißen. Dann erschrickt sie wegen des dunklen, pelzigen Gebildes an Gesicht und Hals und wegen Fritz‘ schreckhafter Bewegung, nicht aber wegen des Butzemanns.

Fritz weiß auch, dass, wenn er es zu schlimm treibt, der Vater ins Spiel kommt. Grete darf diese Drohung nur nicht zu oft einsetzen, sonst würde Fritz nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Schließlich spielt sie gerne mit ihm und den großen Jungs.

Jetzt schieben sie alle drei vereint den schweren, mit den vollen Kiepen bepackten Handwagen Richtung Kuhstall, Fritz und Max an der Stange, Grete hilft, oder tut zumindest so, an der Seite des Handwagens zu schieben. Wenn es Richtung große Dielentür geht, müssen sie kräftig Anlauf nehmen. Fritz hat das Kommando: „Wir sind die Stärksten!“, um mit Schwung die leichte Steigung zu nehmen, und kaum, dass sie durch die Dielentür gelangt sind, beginnen sie zu bremsen, damit sie vor der Waschküchentür halten können.

Wenn Ruth, das letzte der Mutter im Haushalt helfende junge Mädchen, noch dagewesen wäre, käme sie jetzt durch die Waschküchentür und schleppte die schweren Kiepen zur Holzkiste in der Küche, aber weil Ruth nicht mehr da ist, und es in dieser Zeit keine neuen jungen Mädchen mehr gibt, die auf einem Bauernhof im Haushalt und mit auf dem Feld arbeiten wollen, sagen Fritz und Max bereits: „eins, zwei, drei - hoch!“, und heben mit vereinten Kräften die schwerste Kiepe, die ganz große mit dem Küchenholz, aus dem Handwagen und schleppen sie in die Küche.

Lisa ist inzwischen aus Schlöse zurückgekommen, ihre karierte Umhängetasche mit den zarten roten seitlich angebrachten Riemen vor dem Bauch. Sie ist froh, dass sie die große Geldsumme – dreihundert Mark sind ziemlich viel - wohlbehalten nach Hause gebracht hat. In Schlöse sind Menschen auf der Straße oder gleich hinter der Geschäftstür, da könnte sie laut schreien, wenn einer an ihre schöne Tasche wollte. Bei Jelvers Schuppen allerdings, oben auf dem Hügel der Straße nach Belldorf hinter der Abzweigung an der Molkerei, zwischen dem dichten Gebüsch auf beiden Seiten der Straße, könnte sie schreien, so viel sie wollte. Dort ist selten ein Mensch unterwegs und die nächsten Häuser stehen erst in der Siedlung bevor dann das Eichende kommt.

Deshalb versuchte Lisa am Nachmittag bei der Rückfahrt von Schlöse, dort, wo an der Schwelle zu Jelvers Schuppen die Schlaglochstraße mit den spitzen Steinen in eine hubbelige Kopfsteinpflasterstraße übergeht und an den Seiten ein schmaler eingefahrener Streifen Sand für die Fahrräder zur Verfügung steht, bei einem verdächtigen Geräusch – der Wind war in die Büsche gefahren – so feste wie möglich in die Pedalen zu treten. Zum Glück trat keiner aus dem Gebüsch hervor.

Lisa mit ihren dreizehn Jahren. Seit Ruth nicht mehr da ist, kann sie der Mutter bereits gut helfen, genauer gesagt, sie nimmt der Mutter eine Arbeit nach der anderen ab. Dafür wird sie oft gelobt.

Jetzt ist sie dabei, die morgens von der Mutter geputzten Erdbeeren in Einmachgläser zu füllen.