ISBN: 978-3-96861-147-1
1. Auflage 2020
© Aquamarin Verlag GmbH
Aus dem Englischen übersetzt von Karl Friedrich Hörner
Titel der Originalausgabe: Memoirs of an Ordinary Mystic
© 2010 by Dorothy G. Maclean
published by Lorian Press LLC, 6592 Peninsula Dr., Traverse City, MI 49686 (USA)
Umschlaggestaltung: Annette Wagner, unter Verwendung eines Fotos von Geoff Dalglish
Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Diese Erinnerungen widme ich meinen Eltern:
Sie haben nicht nur dafür gesorgt, dass ich auf die Welt kam,
sondern umgaben mich auch mit einer Liebe, so stark und nachhaltig, dass sie all meine angeborenen Vorbehalte gegen das Leben überwand.
Zuerst und vor allem danke ich Judy McAllister, die zahllose Stunden im Kopierladen verbrachte, um lesbare Fotokopien meiner frühen Botschaften anzufertigen, die sie in vergessenen Ordnern welkend gefunden hatte, und mich dann drängte, weiter an meinen Memoiren zu schreiben. Nachdem dies getan war, gab mir Hiro Boga hilfreiche Anregungen und Unterstützung. Julie Spangler und Judy McAllister verbrachten endlose Stunden mit mir am Computer, um den Inhalt zu verfeinern und zu erweitern. Die Lektorin Catherine MacCoun nahm meine sequenziell erzählte Geschichte und verwandelte sie in eine ganz anders erzählte Geschichte. Jeremy Berg und Freya Secrest haben über Lorian Press liebevoll daran gearbeitet, dieses Buch für den Druck vorzubereiten. Schließlich danke ich den Freunden und Mitarbeitern, die mich unterstützt und ermutigt haben, meine Geschichte aufzuschreiben. Ihr alle wisst, wer Ihr seid!
Ein weiterer Mensch, dem ich danken möchte, ist mein jüngerer Bruder Donald. Seine wundervolle, kluge Einrichtung eines Vermächtnisses war ein großer Segen. Es stellte sicher, dass ich über die Jahre immer genügend Geld hatte, um meine Ausgaben zu decken. Donald wird wohl kaum viel von meiner Wertschätzung erfahren haben, er starb bereits als junger Mann. Dass ich ihm an dieser Stelle Dank sage, wird vielleicht Leser inspirieren, anderen Menschen auf ähnliche Weise zu helfen.
Falls wir unsere Eltern und unseren Geburtsort selbst wählen – was ich glaube –, habe ich eine gute Wahl getroffen. Als mittleres von drei Kindern und einzige Tochter von Marjorie Chambers und Gordon Ball Maclean wuchs ich in einer liebevollen Atmosphäre auf. Mein Vater, ein Bankier, war ruhig und humorvoll. Er war die Art von Persönlichkeit, an die andere sich wandten, wenn sie in Schwierigkeiten waren. Ich verehrte ihn, und er schwärmte für mich. Mutter war das aktive Herz in unserem Haushalt. Als sie starb, sagte eine Tante, wie ich mich erinnere, dass meine Onkel die liebste ihrer fünf Schwestern verloren hätten. »Wenn deine Mutter den Raum betrat, fühlte sich jeder augenblicklich besser.« Ich nehme an, dass alle kleinen Kinder ihre Eltern für die wunderbarsten Menschen der Welt halten. Ich empfinde es als großen Segen in meinem Leben, dass ich sie, als ich selbst älter wurde, weiterhin bewunderte und erlebte, dass auch andere sie verehrten.
Auf Drängen meiner Mutter entschied sich mein Vater, auf eine Beförderung zu verzichten, um in unserer Heimatstadt Guelph, hundert Kilometer westlich von Toronto, Kanada, zu bleiben. Dies bedeutete, dass wir das hübsche viktorianische Zuhause nicht verlassen mussten, in dem er selbst bereits aufgewachsen war. Es bedeutete auch, dass wir nicht viel Geld hatten. Ich bin dankbar, dass sich meine Eltern so entschieden haben, denn dies ermöglichte mir, im stabilen Umfeld einer Kleinstadt und naturnah aufzuwachsen. Unser Haus war von ausgedehnten unbebauten Flächen umgeben, und ich konnte die angrenzenden Wälder durchstreifen, wann immer ich Lust dazu hatte. Diese Wälder empfand ich als meine eigene Welt nicht nur, weil ich anscheinend der einzige Mensch war, der dort jemals unterwegs war, sondern weil ich all die Wildblumen und Bäume kannte und liebte, die dort wuchsen.
Ich kann mich nicht erinnern, in all den zwanzig Jahren, die ich in Guelph wohnte, jemals außer Hauses gegessen zu haben. Es war eine Zeit, in der sich das Leben der Menschen um ihr Zuhause drehte: provinziell, aber sehr geborgen und unterstützend. Die Tage und Wochen entfalteten sich in einem verlässlichen Rhythmus und Gleichmaß. Meine Schule war zwei Kilometer entfernt; diesen Weg ging – oder, häufiger: lief – ich vier Mal am Tag, da zum Mittagessen alle nach Hause kamen. Auch zur Stadtbücherei durfte ich allein gehen, und dies tat ich fast täglich. An den Abenden versammelten wir uns in der hinteren Stube, wo das Porträt meines Urgroßonkels (George Brown, Vater der Kanadischen Konföderation, Gründer und Führer der Liberalen Partei, Verleger der Toronto Globe) von seinem Platz über dem Kamin auf uns herabblickte. Charlie McCarthy, George Burns und Gracie Allen unterhielten uns im Radio, während meine Brüder und ich unsere Hausaufgaben machten und unsere Mutter stopfte. An Sonntagen waren das Kino und alle Geschäfte geschlossen. Morgens machten wir uns fein, um den Gottesdienst in der presbyterianischen Kirche zu besuchen, wo mein Vater Kassenmeister war, den Nachmittag verbrachten wir in der Sonntagsschule, und das zwanglose Abendessen der Familie wurde nicht im Esszimmer, sondern in der hinteren Stube eingenommen – einer Abweichung von der wöchentlichen Routine, die ich besonders liebte.
Auch die Jahreszeiten boten vorhersehbare Freuden. Im Herbst rechten wir das Laub zu großen Haufen zusammen, in die wir begeistert hineinsprangen, danach verbrannten wir es. Der Duft der brennenden Blätter ist etwas, das ich heute vermisse, da Gartenfeuer verboten sind. Im Winter pflegte mein Vater Wasser auf die Terrassen zu gießen, und wir schlitterten geräuschvoll auf Zinnblechen über das Eis. Da unser Haus auf einem Hügel gebaut war, konnten wir Ski laufen oder rodeln, ohne das Grundstück zu verlassen, und zum Eislaufen ging die ganze Familie auf den nahen Fluss. Schneeglöckchen waren die ersten Boten des Frühlings, gefolgt von einer Reihe von Wildblumen, die jedes Jahr wiederkehrten wie lange vermisste Freunde. Die Sommer waren heiß und herrlich. Im Juli mieteten wir manchmal ein Häuschen am Huronsee. Ich liebte die Sonne und lag stundenlang selig auf den Sanddünen.
Ich bin oft gefragt worden, ob ich in meiner Jugendzeit irgendwelche spirituellen Erlebnisse gehabt hätte: Nein, ich war überaus gewöhnlich. Einmal, als ich am Daumen lutschte, sah ich eine Gestalt, die ich für Jesus hielt, über die Wiese vor unserem Haus schweben. Als ich einer Freundin im Kindergarten davon erzählte, verriet sie mir, dass dies bedeute, dass ich binnen sieben Jahren sterben werde. Erst nach Ablauf von sieben Jahren fühlte ich mich von dieser Bedrohung befreit. Mehr war nicht nötig, um mich von Visionen nachhaltig abzuschrecken.
Was mich allerdings seit jungen Jahren begleitete, war die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie beschäftigte mich immer wieder.
Obwohl ich viele glückliche Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend habe, fühlte ich mich innerlich manchmal uneins mit der Welt. Ich kann dieses Gefühl bis zu einem anderen beunruhigenden Erlebnis im Kindergarten zurückverfolgen. Unsere Kindergärtnerin kündigte uns an, dass wir an einem bestimmten Tag nachmittags statt morgens in die Schule kommen würden. Ich war ob dieser Neuigkeit so aufgeregt, dass ich die Tage zählte und an nichts anderes mehr denken konnte. Schließlich erschien ich am Nachmittag in meinem gewohnten Gruppenzimmer – in dem ich andere Kinder vorfand, die von einer anderen Lehrerin unterrichtet wurden. Ich war am falschen Tag gekommen. Die Lehrerin sah mich mitleidig an, küsste mich vor der ganzen Klasse und sagte: »Armes kleines Mädchen, du hast es vergessen.« Vergessen! Dabei war ich so besessen gewesen von der Vorstellung. Ich brachte kein Wort heraus, um mich zu erklären. Als mir klar wurde, dass die Lehrerin mich missverstanden hatte, folgerte ich daraus, dass ich von der ganzen Welt missverstanden wurde, und dass die ganze Welt irgendwie gegen mich war.
An sich war es ein belangloser Zwischenfall, aber ich glaube, wir sind alle mit bestimmten Themen oder Anlagen geboren, die wir aus früheren Leben mitgebracht haben. Wenn wir schon in sehr jungen Jahren auf irgendeine geringfügige Störung völlig unverhältnismäßig reagieren, ist dies oft ein Anzeichen dafür, dass eines jener alten Themen erneut aufgetreten ist. Bei mir war es eine Tendenz, mich isoliert zu fühlen, missverstanden, allein auf mich gestellt und schuldig. Seit jenem Nachmittag war ich gehemmt und scheu, und ich erwartete ständig das Schlimmste. Zwischen die Welt und mich stellte ich eine schützende Barriere auf und erlaubte mir nicht, mich geliebt zu fühlen. Wäre ich nicht in einer Atmosphäre der Zuneigung und ständigen Geborgenheit aufgewachsen, hätte sich jene Barriere womöglich als unüberwindbar erwiesen. Doch wie ich schon sagte, hatte ich bei meinen Eltern eine gute Wahl getroffen. Ihre Liebe kam zu mir durch.
In meiner Schüchternheit suchte ich Trost in der Natur, in meinen Tagträumen oder einem guten Buch. Ich war fasziniert von Ägypten, seit ich acht Jahre alt war, und verschlang später die Schriften der Ägyptologen James H. Breasted und Sir Alan Gardiner. Ich las auch Bände des Book of Knowledge: The Children‘s Encyclopædia, des Lexikons für Kinder aus dem Verlag Grolier, angezogen vor allem von der ersten Kategorie (Universum) und der letzten Kategorie (Märchen) – eine seltsame Kombination. Da ich es liebte, aufzubleiben und lange über die Zeit hinaus zu lesen, die die Eltern für »Licht aus!« festgesetzt hatten, entwickelte ich so meine Art, ihnen ein Schnippchen zu schlagen. Die Standuhr auf dem Flur unweit meines Zimmers tickte exakt 62 Sekunden lang lauter, bevor sie die volle Stunde schlug. Ich lauschte auf das Ticken, dann zählte ich die Sekunden und betätigte meinen Lichtschalter in exakt dem Augenblick, als die Uhr schlug. Meine Eltern hörten nichts davon, das Schlagwerk übertönte alles. Noch heute kann ich mit ungewöhnlicher Präzision Sekunden zählen.
In der Oberschule wurde meine Schüchternheit schlimmer, denn ich litt unter Akne und glaubte, dass ich keinem Jungen je gefallen könnte. Der gesellschaftliche Kreis meiner Eltern veranstaltete Tänze, bei denen die Jungen sich an einer Seite des Saales in einer Reihe aufstellten und die auf der anderen Seite aufgereihten Mädchen in langen Kleidern musterten und versuchten, den Mut aufzubringen, um einen Tanz zu bitten. Ich erwartete niemals, aufgefordert zu werden – was denn auch selten geschah. Wieder einmal flüchtete ich mich zu Büchern und in ein lebhaftes und raffiniertes Fantasie-Leben.
Mein älterer Bruder ging an die Universität Toronto, und es galt als ausgemacht, dass auch mein jüngerer Bruder an der Universität studieren würde. Da ich die finanzielle Belastung meiner Eltern nicht vergrößern wollte, fand ich mich damit ab, statt dessen eine Berufsfachschule zu besuchen. Meine unverheiratete Tante Ina kam mir zu Hilfe und bot an, mir das Geld zu geben, das sie mir in ihrem Testament vermachen wollte, so dass ich davon die Studiengebühren bezahlen könnte. In jenen Tagen ging ich Entscheidungen pragmatisch an, und so durchforschte ich alle College-Pläne, die ich mir leisten konnte, und stellte eine Liste all der Argumente zusammen, die jeweils für oder gegen sie sprachen. Ich stellte mir vor, dass ich mit dem Titel eines Bachelors in Sekretariatswesen von der University of Western Ontario (dem besten Studiengang dieser Art in Kanada) immer einen guten Job bekommen könnte, ganz gleich, wohin es mich verschlagen sollte. Dies erwies sich als wahr – und überaus nützlich angesichts der unkonventionellen Wendungen, die mein Leben später nehmen würde –, doch mit dem Herzen war ich niemals ganz dabei. In Wirklichkeit wollte ich eine Künstlerin sein, doch ich zweifelte, dass ich begabt genug war, um davon leben zu können. Später sollte sich herausstellen, dass ich in der Tat recht gut im Zeichnen und Malen war – und recht schlecht in Maschineschreiben und Stenografie. Diese beiden Kurse zu bestehen, wurde ein rechter Kampf. Gleichwohl gelang es mir durch Büffeln in den Sommermonaten, das Vier-Jahres-Studium in drei Jahren zu bewältigen.
Eine Universität zu besuchen, wo mich – oder mein bisheriges Leben als Mauerblümchen – niemand kannte, hatte etwas Befreiendes. Ich wurde eingeladen, der Studentinnenverbindung meiner Wahl beizutreten, der Kappa Alpha Theta, und wohnte in ihrem Haus. An der Western trieb ich Sport und wurde schließlich Spielführerin des Badminton-Teams. Wir machten Reisen, um andere Universitäts-Teams kennenzulernen, aber ich bin immer schier verzweifelt, wenn wir in der Öffentlichkeit spielten. Das gleiche Muster kam auch zum Vorschein, wenn ich vor Publikum sprechen musste. Als ich zum ersten Mal vor einem Kurs an der Universität reden musste, litt ich so unter Lampenfieber, dass ich buchstäblich versteinert war und vom Podium getragen werden musste. Danach schwor ich mir, nie wieder eine öffentliche Rede zu halten. Aber »niemals« ist natürlich eine lange Zeit, und ich habe jenes Gelübde schon über tausend Mal gebrochen.
An der Western gelang es mir, meinen ersten Freund zu ergattern, einen glänzenden Badmintonspieler. Wir gingen zu den meisten Ereignissen gemeinsam, da ich alle außerschulischen Aktivitäten genoss, die das Studentenleben zu bieten hatte. Ich liebte es, den geräumigen Tanzsaal in Port Stanley zu besuchen, wo die großen Bands spielten. Da genoss ich die Dorseys, Duke Ellington, Benny Goodman und Benny Carter.
Wie die meisten Studenten an der Universität frönten wir bis spät in die Nacht Diskussionen über den Sinn des Lebens. In meinen frühen Teenagerjahren hatte ich ein Buch über einen indischen Guru gelesen, das mich sehr beeindruckte. Ich wusste nicht, warum es damals von Bedeutung war, und kann mich auch heute nicht mehr an das Buch erinnern, aber es führte mich zu Fragen, auf die ich Antworten finden wollte. Meine konventionell-protestantische Erziehung hatte die Frage, worum es im Leben wirklich ging, nicht zufriedenstellend beantwortet. In meiner College-Zeit machte ich keine großen Fortschritte mit dieser Frage. Bücher über spirituelle Themen, besonders über »fremde« Religionen oder unorthodoxe Sichtweisen, waren in Kanada in den 1930er Jahren schwer zu erhalten und wurden nur selten erwähnt. Mit der Allwissenheit der Jugend schlussfolgerten meine Mitschüler und ich, dass noch niemals jemand wirklich Antworten gefunden habe.
Während meines letzten Studienjahres an der Western brach der Zweite Weltkrieg aus; er veränderte das Leben meiner Generation, indem er uns über die ganze Welt verstreute. An dem Tag, als Kanada den Krieg erklärte, trat mein älterer Bruder den Fernmeldern bei, weil er, wie er mir viele Jahre später sagte, niemanden töten wollte. Die Operation Jubilee, eine Landungsoperation hauptsächlich kanadischer Truppen gegen den Hafen von Dieppe im deutsch besetzten Nordfrankreich vor der eigentlichen Invasion, überstand er unverwundet, aber zutiefst kritisch gegenüber einer Übung, bei der so viele Kanadier gefallen waren. Mein Freund Jim rückte ebenfalls ein und fiel schließlich in Holland.
Während jener Zeit wurden viele junge kanadische Frauen von Großbritannien für kriegsdienliche Arbeit in den Vereinigten Staaten angeheuert, weil wir Mitglied des Britischen Commonwealth waren und es schwierig war, Büropersonal aus England über den von U-Booten verseuchten Atlantik zu holen. Eine Arbeitsvermittlungsagentur schickte mich zu einem Bewerbungsgespräch für eine solche Stelle, und ich bekam den Job. Die genaue Art der Tätigkeit war unklar. Man sagte mir nur, dass ich von der British Security Coordination1 in New York beschäftigt würde, um irgendeine dem Krieg dienende Arbeit zu verrichten. Aufgrund solcher Verschwommenheit fürchteten manche Mütter, dass ihre Töchter als weiße Sklavinnen rekrutiert würden und weigerten sich, sie ziehen zu lassen. Meine Eltern hatten keine solchen Bedenken, da sie die Familie der Person kannten, die das Bewerbungsgespräch mit mir geführt hatte. Doch sowohl sie als auch alle meine anderen Freunde und Verwandten – besonders Tante Ina, die schon in New York gelebt hatte – machten sich Sorgen, dass ich mich in der Großstadt einsam und überwältigt fühlen würde.
Ich zauderte eine Weile, fühlte mich angezogen von dem Abenteuer, war aber zögerlich, meine Familie und Freunde vor den Kopf zu stoßen. Schließlich entschied ich mich, den Job anzunehmen – um allerdings auf eine unerwartete Schwierigkeit zu stoßen. Als sie erfuhren, dass ich erst einundzwanzig war, hatten die Leute in der Vermittlungsagentur das Gefühl, ich sei zu jung. Aber inzwischen war ich fest entschlossen zu gehen und ließ mich nicht mehr abweisen. Meine Hartnäckigkeit zahlte sich aus, aber als Zugeständnis an mein Alter wurde dafür gesorgt, dass ich in Begleitung einer Anstandsdame nach New York reiste. Dies war Sheena Govan, deren Einfluss den Kurs meines Lebens für immer verändern sollte. Später erfuhr ich, dass Sheenas Zuhause in Kanada ein Doppelhaus war, das sie mit meiner Großmutter teilte – es schien, dass Sheena und ich uns definitiv begegnen mussten.
Im Rückblick auf jene und andere Ereignisse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass unsere Seele uns schon früh im Leben zu einer Bestimmung leitet, die wir eines Tages frei wählen werden, aber noch nicht erwählt haben. Unsere bewusste Entscheidungsfindung hat wenig damit zu tun. So gesehen, ist unser Wille nicht gänzlich frei, wenn wir jung sind. Ich glaube, dass ich nach New York gehen sollte, und wenn ich mir erlaubt hätte, es mir ausreden zu lassen, wäre etwas anderes eingetreten, um meinen Weg dorthin zu lenken. In der Jugend rekapitulieren wir, was wir in früherem Leben lernten – positiv oder negativ – und werden auf eine überwiegend unbewusste Weise in Richtung Zukunft gelenkt. Erst im Alter von etwa achtundzwanzig Jahren, wenn die Lenkung aufhört und wir aufgrund unserer Selbstwahrnehmung wirklich die Wahl haben, erlangen wir die volle Freiheit.
So verließ ich mein Heimatland, um die Welt zu sehen, immer noch ohne zu ahnen, wieviel davon ich zu sehen bekäme. Bei meiner Abreise sagte mein Vater zu mir: »Tochter, wir haben dich großgezogen, und wir haben das Beste getan, das wir für dich tun konnten. Nun bist du auf dich gestellt – und wir vertrauen dir. Du wirst kein Geld von uns bekommen, weil wir keines haben. Aber hier ist ein Rat: Trinke nie mehr als sechs doppelte Whiskeys nacheinander.«
Sheena, die mir zugeteilte Anstandsdame, traf mich in der Union Station [dem Hauptbahnhof] von Toronto. Die schöne und kultivierte Schottin war sieben Jahre älter als ich. Auf der Eisenbahnfahrt machte ich mir Gedanken, wie viel Trinkgeld ich dem Gepäckträger geben sollte, aber Sheena wusste alles über derlei Dinge. In den Beekman Towers war für uns reserviert, und wir bezogen dort eine Suite. Dann stellten wir uns in unserem Büro hoch oben im Rockefeller Center vor, wo wir gebeten wurden, eine Geheimhaltungsvereinbarung zu unterschreiben und zu schwören, über unsere Arbeit Stillschweigen zu wahren. Wir waren gerade Angehörige des britischen Geheimdiensts geworden! Wie benebelt ging ich auf den Straßen von New York. Ich war jetzt Spionin! Was für ein Spaß!
Die Arbeit, so stellte sich heraus, war hauptsächlich die einer Sekretärin, wenngleich die Männer, für die wir arbeiteten, prächtig schienen, zumindest in den Augen einer hinterwäldlerischen Kanadierin wie mir. Einige waren berühmt, wie Eric Maschwitz, der Songs wie A Nightingale Sang in Berkeley Square und At the Balalaika geschrieben hatte. Viele von ihnen waren hochgebildete Oxford- und Cambridge-Professoren, waren weitgereist und sprachen, was ich als einen versnobten britischen Akzent empfand – ein Englisch, das ich später sehr lieben lernte. Für uns Provinzler war dies eine ganz andere Welt. Etliche von uns waren ganz aufgeregt, als wir erfuhren, dass ein echter Lord kommen und bei uns arbeiten wollte. Als er erschien, platzten alle unsere Fantasien, denn was wir sahen, war ein kleiner, stämmiger Bursche mit Brille, der ganz und gar nicht aussah wie der edle Ritter hoch zu weißem Rosse, den ich mir vorgestellt hatte. Wir hatten viele Illusionen, die sich auflösen mussten.
Sheena und ich fanden schließlich selbst Anschluss. Ihre Freunde kamen aus der Welt der Musik. (Später erfuhr ich, dass sie selbst Konzertpianistin gewesen sein könnte.) Mit Betty Judd, einer Freundin, die meine Freude am Badminton teilte, nahm ich eine winzig kleine Wohnung im Beaux-Arts-Komplex. Wir waren fasziniert von dem Schrankbett, das tagsüber in der Wand verschwand. Gemeinsam erkundeten wir Manhattan, lasen The New Yorker und Downbeat und fühlten uns durchaus kosmopolitisch. Wir gingen so oft in die Radio City Music Hall, dass der Türsteher dieses Konzertsaals uns schließlich erkannte und gratis durchwinkte. Sheena und ich blieben in Verbindung und gingen gelegentlich zum gemeinsamen Abendessen aus. Das war höchst peinlich für mich: Ich hatte irgendwie die Vorstellung, dass eine Frau beim Ausgehen von einem Mann begleitet sein sollte. Ich war sehr gern mit der schönen und kultivierten Sheena zusammen, außer wenn eine Migräne sie plagte und bedrückte. Dann – ich bedauere, dies zu sagen – war es mir peinlich, mit ihr gesehen zu werden, weil sie so elend aussah. Sie versuchte, mich musikalisch zu bilden, sie gab mir Schallplatten wie die Fantasie-Ouvertüre »Romeo und Julia« von Tschaikowsky, während ich, die Blues und Jazz liebte, versuchte, sie für Billie Holidays Version des Songs »Strange Fruit« zu interessieren.
Das New Yorker Büro, in dem ich arbeitete, koordinierte den britischen Geheimdienst und spezielle Operationen für Nord- und Südamerika. Es wurde von William Stephenson geführt, über dessen Leben H. Montgomery Hyde in The Quiet Canadian (oder Room 3603; dt. Ausgabe: Zimmer 3603. Die Geschichte des Secret-Service in Amerika) berichtete und in dem reißerischeren, aber stellenweise ungenauen A Man Called Intrepid. Als Büroangestellte bekamen wir nur Gesprächsfetzen von Stephensons Arbeit mit. Es ging darum, wichtige Lieferungen für Britannien zu erlangen, feindliche Aktivitäten zu ermitteln, Maßnahmen gegen die Sabotage der britischen Schifffahrt und britischen Eigentums zu ergreifen, und die öffentliche Meinung in Amerika zugunsten der britischen Kriegsanstrengungen zu mobilisieren. Jahre später sah ich im Fernsehen den Schluss einer Sendung »Intrepid‘s Girls«, in dem zwei achtzigjährige Frauen über ihre Arbeit im zweiten Weltkrieg interviewt wurden. Ich erkannte sie nicht, war aber sprachlos, wie wenig sie darüber zu wissen schienen, was in anderen Ländern seinerzeit vor sich ging. Durch meine folgenden Umzüge von New York zu anderen Geheimdienst-Standorten hatte ich einen weiteren Horizont gewonnen, auch wenn meine Eindrücke von der Welt der Intrigen und Machenschaften nach wie vor etwas begrenzt blieben. Angehörigen des britischen Geheimdienstes wurden Zahlen zugeteilt, die wechselten, wenn wir in ein anderes Land versetzt wurden, aber ich war niemals 006!
Aus Kanada stammend, hatte ich das Ausmaß der deutsch-freundlichen und britisch-feindlichen Stimmung in den Vereinigten Staaten nicht erkannt. Es führte dazu, dass Franklin Roosevelt, der pro-britisch und gegen die Nationalsozialisten eingestellt war, trotz der defätistischen Berichte von Joseph Kennedy, seinem Botschafter in London, politisch sehr vorsichtig handelte. In den Vereinigten Staaten existierten sehr viele Tarnorganisationen, die von dem weit gespannten deutschen Industriekartell der IG Farben geführt wurden, und so gab es wirtschaftliche Gründe, die USA aus dem Krieg herauszuhalten. Zudem gab es auch Ideologen wie die Isolationisten, deren Wahlspruch »Amerika zuerst!« lautete und die eine dominierende Kraft bei den Bemühungen darstellten, nicht in den Krieg einzutreten.
Unter dem erschütternden Eindruck der Bombardierung von Pearl Harbor wandelte sich die öffentliche Meinung in Amerika. Ich erinnere mich lebhaft an jenen Tag in New York, als schreckensbleiche Amerikaner ungläubig und gänzlich entmutigt mitten auf der Straße anhielten. Im Gegensatz hierzu jubelten wir im Büro, da nun klar wurde, dass das Commonwealth im Kampf gegen die Nazis nicht länger mehr allein sein würde. Diese hatten in Europa ein Land nach dem anderen erobert, und es waren nur noch Britannien und Russland da, um sie zu bekämpfen. Die Vereinigten Staaten hatten zu jener Zeit keinen koordinierten Geheimdienst, und so kamen die Amerikaner zu Stephenson um Rat. Mit Hilfe des britischen SIS (Secret Intelligence Service, MI6) wurde das amerikanische Office of Strategic Services (OSS) aufgebaut, dessen Nachfolgeorganisation die CIA wurde. In unserem Büro lernten wir seinen Gründer, »Wild Bill« Donovan, und andere Amerikaner kennen. Die Briten hatten bereits mit dem FBI zusammengearbeitet.
Wir Kanadierinnen, die den größten Teil des weiblichen Personals stellten, hatten gute Arbeitsbeziehungen zu unseren britischen Vorgesetzten, die, wie ich meine, unsere offene Art schätzten. Obwohl ich wusste, dass meine Arbeit mit etwas sehr Wichtigem zusammenhing, war sie ein wenig langweilig, und nach etwa neun Monaten begann ich mich unruhig zu fühlen. Eines Tages beklagte ich mich darüber bei meinem Chef. Sein Zimmerkollege, dessen Zuständigkeitsbereich Panama war, fragte: »Sie sind nicht glücklich? Gehen Sie nach Panama. Dort werden Sekretärinnen gebraucht.« Ich machte mir erst keine großen Gedanken darüber, doch als ich mit Betty darüber sprach, meinte sie: »Warum nicht?«
Ja, in der Tat, warum eigentlich nicht? Als wir andere Kolleginnen im Büro fragten, die schon in Lateinamerika gewesen waren, ermutigten sie uns alle zu gehen, und sagten, dass wir uns dort großartig amüsieren würden. Betty und ich bewarben uns formell um den Posten und fingen an, uns in diese Gegend einzulesen. Zum Spaß sammelten wir so viele negative Aspekte Panamas, wie wir finden konnten, so das tropische Klima, den überreichlichen Regen, die giftigen Schlangen (besonders die Korallenotter) und die Entfernung von der Heimat. Diese listeten wir auf, und zum Ausgleich dafür, dass wir uns solchen Beschwernissen aussetzten, behaupteten wir, dass wir einen Diplomatenpass benötigten, eine Verdoppelung unseres Gehalts und einen Besuch in der Heimat, bevor wir nach Panama reisten. Im Spaß präsentierte ich dieses Dokument meinem Chef. Zu unserer nicht zu übertreffenden Peinlichkeit wurden wir ins Büro von Stephenson selbst bestellt. Er teilte uns mit, dass wir zwar für die Versetzung akzeptiert wurden, es jedoch nicht möglich sei, allen unseren Wünschen stattzugeben. Er sprach mit ausdrucksloser Miene. Wir sollten nie herausfinden, ob er erkannt hatte, dass unsere Für-und-Wider-Liste ein Jux gewesen war. Wir zogen uns so rasch wie möglich aus seinem Büro zurück und fühlten uns sehr verärgert. Betty und ich wurden die ersten von vielen Freiwilligen aus dem New Yorker Büro, die nach Mittel- und Südamerika wechselten.
Bevor wir abreisten, war es uns noch möglich, in die Heimat zu fahren, aber wir durften unseren Angehörigen und Freunden nichts über unsere Arbeit oder unseren nächsten Standort erzählen. Mein Arzt, ein alter Freund der Familie, wusste wegen der verschiedenen Spritzen, die er mir verabreichen musste, dass ich in die Tropen reisen würde. Es war spannend, Geheimnisträgerin zu sein, und meine Familie akzeptierte, dass ich irgendeinen Kriegsdienst leistete.
Die Reise nach Panama war ein großes Abenteuer. In jenen Tagen gab es mit unseren Flugzeugen vom Typ Douglas DC-3 noch keine Nachtflüge, und so hatten wir an verschiedenen Orten unterwegs Zwischenlandungen mit Übernachtung. Bei einem Aufenthalt in Houston waren wir so fasziniert von den südlichen Dialekten, dass wir den Menschen nachgingen, um ihnen beim Reden zuzuhören. Eine andere Station war in Brownsville, Texas, wo wir über die mexikanische Grenze und zurück spazierten. Mit großem Entzücken pflückten wir unsere ersten Apfelsinen von echten Bäumen und bissen hinein – um zu unserem Schrecken festzustellen, dass es Exemplare der bitteren Sorte waren. In der Stadt Mexiko wurden wir gewarnt, keine scharfen mexikanischen Speisen zu essen. Am nächsten Tag waren wir froh, diesen Rat befolgt zu haben, da viele unserer Mitreisenden – hauptsächlich Amerikaner, die zur Arbeit in die Kanalzone unterwegs waren – ihn ignoriert und nun unter den bösen Konsequenzen zu leiden hatten.
Als wir in San José, der Hauptstadt von Costa Rica, landeten, beteten wir, dass irgendetwas mit dem Flugzeug schiefgehen würde, so dass wir dort einen längeren Aufenthalt hätten. Zu unserer großen Freude schien unser Gebet erhört zu werden: Eines der Triebwerke unserer Maschine war defekt, und wir mussten mehrere Tage in San José verweilen. Wir checkten in ein gutes Hotel ein und gingen spazieren. Es war Gründonnerstag, der Tag vor Karfreitag, und für Touristen wegen der großen Passions-Prozessionen der interessanteste Tag des Jahres. Bei einer dieser Prozessionen wurde ein Mann, der den Judas spielte, verhöhnt und ausgezischt und mit faulen Eiern und Tomaten beworfen. Auf den Straßen gab es sehr viele bettelnde Kinder, und wir ließen uns von einem kleinen Jungen ins Schlepptau nehmen, der unser Führer wurde. An den Abenden mischten wir uns unters Volk, als die Menge um den zentralen Platz der Stadt paradierte. In jenen Tagen durften die Señoritas das Haus nur verlassen, wenn sie von einer Dueña, einer Anstandsdame, begleitet waren, alle sehr ernst und generell in Schwarz gekleidet. Schließlich war das Triebwerk unseres Flugzeugs repariert, und um vier Uhr früh ging es weiter. Pan Am startete immer so früh am Morgen. Wir schienen eine Ewigkeit zu sitzen und zu warten, während das Flugzeug in einem wilden, wackeligen Tanz alle seine Motoren ausprobierte, bis es genügend Schub entwickelt hatte, um abzuheben.
Nachdem ich in meinem Schurwollkostüm in der schwülen Hitze Panamas gelandet war, lernte ich rasch, mich leichter zu kleiden. Die Vegetation wuchs in dieser Hitze so schnell, dass wir ihr fast dabei zusehen konnten. In unseren Quartieren mussten wir wählen: Entweder wir verhängten die Fenster mit Netzen, um die Insekten draußen zu halten – was das Zimmer noch heißer und stickiger machte –, oder wir wurden von den Stechmücken bei lebendigem Leibe aufgefressen. Wir versuchten, uns dem örtlichen Brauch anzupassen, nach dem Mittagessen eine Siesta zu halten, aber das Mittagsschläfchen erschöpfte uns so, dass wir entschieden, statt dessen in einem örtlichen Pool zu schwimmen. Das Meerwasser war für diesen Zweck zu warm. Das einzige Mal, dass mir wirklich kühl war, erlebte ich nach einer kräftezehrenden und schweißtreibenden Partie Badminton, als ich mich nach dem Duschen für einige Augenblicke normal fühlte.
Unser Büro, wo wir wohnten und arbeiteten, war ein separates Gebäude unter dem Deckmantel des Wirtschafts-Attachés der britischen Gesandtschaft bei der Republik Panama. Es befand sich in der Republik Panama, nicht in der Panama-Kanalzone, wo die Amerikaner wohnten. Wir waren eine kleine und vertraute Gruppe von etwa einem Dutzend, vorwiegend Briten, obwohl auch eine im Exil lebende russische Gräfin unter uns war. Peter Wood, unser charmanter Dienststellenleiter, servierte uns jeden Morgen um elf Uhr Pink Gins. Als ich mich mokierte, noch keinen Skorpion gesehen zu haben, sorgten meine hilfreichen Mitarbeiter dafür, dass ich ein Exemplar gleich neben meinen Lebensmitteln im Kühlschrank fand.
Die Arbeit war interessant, und wir bekamen mehr Aspekte davon zu sehen, als wir in dem großen Büro in New York kennengelernt hatten. Manchmal wurde ich zu der US-Briefzensurbehörde geschickt, wo ich alle eingehende und ausgehende Post in Panama studierte, um irgendetwas herauszuziehen, das für unser Büro von Interesse sein könnte, sei es vielleicht einen Brief, der einen bekannten Sympathisanten der Achsenmächte erwähnte, oder einen, der anscheinend unsinnig war und deshalb eine verschlüsselte Nachricht enthalten konnte. Unser Büro hatte Unterabteilungen in der Region, die Geheimdienstberichte über Aktivitäten der Achsenmächte und politische Ereignisse in den jeweiligen Ländern einschickten, welche wir dann zu beurteilen und ans Hauptquartier zu melden hatten.
Zu unserer Belegschaft gehörte auch ein Kurier namens Robert, der regelmäßig ins nördliche Südamerika reiste, um Geheimdienstberichte einzuholen. Robert war ein wenig legasthenisch und schrieb Ziffern oft in der falschen Reihenfolge. Da alle unsere Codes Ziffern verwendeten, war Chaos die Folge. Wir nannten diese Krankheit »Robertitis«. Doch er war ein wunderbar freundlicher Mann, und wenn er aus Venezuela zurückkehrte, war er beladen mit exotischen Orchideen für uns. Ich genoss es, im Büro zu sitzen und zu tippen und dabei diese ungewöhnlichen und wunderschönen Blüten zu tragen. Das war etwas, worüber man in die Heimat schreiben konnte.
Mein wöchentlicher Brief nach Hause war oft schwierig, weil ich nicht über die alles beherrschende Arbeit schreiben durfte. Statt dessen füllte ich ihn mit Klatsch über mein gesellschaftliches Leben. In der amerikanischen Kanalzone kamen angeblich fünfhundert englischsprechende Männer auf eine Frau – dank der vielen hundert Amerikaner, die geschickt worden waren, um den Kanal zu schützen. Betty und ich hatten mehr Anfragen um Verabredungen, als wir uns je wünschen konnten. Als ehemaliges Mauerblümchen genoss ich meine neu gefundene Beliebtheit. Wir schlossen uns den Patriettes an, einer Gruppe, die Tanzveranstaltungen in verschiedenen US-Militärlagern in der Kanalzone sowie Ausflüge in den Dschungel arrangierte. Eines Abends gab Ariadne, unsere russische Gräfin, eine Party und servierte verschiedene Sorten Kaviar. Ich hatte erwartet, dass Kaviar die köstlichste Feinschmecker-Speise sei, die man je erleben konnte. Statt dessen bekam ich Fischeier. Was für eine Enttäuschung!
Betty und ich waren sehr froh, dass wir uns entschlossen hatten zu reisen, und wollten sogar noch mehr unternehmen. Ich bewarb mich um freie Posten in Guatemala und Britisch-Honduras (heute Belize). Besonders für letzteres schwärmte ich, da ich gehört hatte, dass sich das dortige Büro, geleitet von dem Zoologen Ivan T. Sanderson, auf einer Yacht bei den Korallen-Riffen vor Belize befand. Aber ich muss es wohl übertrieben haben, denn ich erhielt ein Telegramm aus New York, das im Klartext nach der Entschlüsselung lautete: »Dies ist kein – wiederhole: kein – Reisebüro.«
1 lt. Wikipedia: eine als britische Nachrichtenagentur getarnte Organisation, die vom Secret Intelligence Service (MI6) ab Mai 1940 in New York aufgebaut wurde (Anm.d.Ü.)
Die Kolleginnen in unserem Büro sprachen häufig über einen abwesenden Angehörigen unserer Belegschaft, einen Offizier, der sich einer Ausbildung in Camp X in der Nähe von Toronto unterzog, dem britischen Trainingslager für Geheimagenten. Sie sagten, er wäre gewiss ein guter Freund für Betty oder mich. Er war eine geheimnisvolle Gestalt unbekannter Nationalität; es hieß, er sei brillant, aber exzentrisch. So habe man ihn zum Beispiel wie einen Buddha lange unter einem Baum sitzend gesehen, etwas, das mir in meiner kanadischen Vergangenheit noch nie begegnet war. Ich war so fasziniert von diesen Geschichten, dass ich mich dabei ertappte, wie ich meinen Namen schrieb, als wäre ich seine Frau: Mrs. John Wood.
Als er schließlich nach Panama zurückkam, war ich weiterhin fasziniert. Er war ein zerstrubbelter Rotschopf, der mir sehr englisch schien, doch die Leute glauben machte, er sei Norweger. Er war unverkennbar hochintelligent, gab aber nur wenig von sich preis. Gelegentlich traf ich mich mit ihm, auch mit vielen anderen. Wir sprachen über spirituelle Themen, und er war die erste Person, die mir Antworten über den Sinn des Lebens gab, die mich befriedigten. Als John mich mit der Idee der Reinkarnation bekanntmachte, begann meine Suche nach dem Sinn des Lebens Antworten zu finden: Natürlich bedurfte es vieler Leben. Ich war erfreut, Schlüssel zu meinem ständigen Fragen kennenzulernen. John sprach über den versunkenen Kontinent Atlantis, als sei dieser ein selbstverständlicher Teil der Geschichte unseres Planeten. Noch nie zuvor hatte ich Gespräche wie diese gehabt, und ich erkannte sie als etwas, nach dem sich meine Seele gesehnt hatte.
Eines Tages bat mich John, ihn zu heiraten. Obwohl ich über seinen Antrag erfreut war, hatte ich doch viel zu viel Spaß, um den Wunsch zu hegen, mich niederzulassen und eine Familie zu gründen. Abgesehen davon war er definitiv sonderbar. Trotz meiner anfänglichen Ablehnung fragte er weiterhin: »Wann wirst du mich heiraten?«, als halte er es für selbstverständlich, dass ich schließlich einwilligen würde, und es wäre lediglich eine Frage der Zeit. Betty jedoch lehnte die Partie entschieden ab. »Tue das nicht«, warnte sie mich.
Als John eines Tages an meinen Schreibtisch kam, um mir ein Telegramm zu zeigen, das ihn nach Buenos Aires beorderte, wusste ich augenblicklich, dass ich ihn heiraten musste. Dies war die erste tiefe Intuition, die ich jemals hatte, und sie war so stark und überzeugend, dass es nur eines gab: ihr zu folgen. Nach einer hastigen Suche nach einem langen weißen Kleid – denn zu meiner Überraschung wollte dieser unkonventionelle Kerl eine traditionelle Hochzeit in Weiß – wurden wir von dem anglikanischen Bischof der Kanalzone getraut. Als ich meine Familie in Kanada anrief, um ihnen die Neuigkeit mitzuteilen, äußerten sie Überraschung und Entzücken, doch ich spürte, dass sie enttäuscht waren, die Hochzeit nicht miterlebt zu haben. Meine Mutter hatte immer davon geträumt, mich im Elternhaus verheiratet zu sehen. Kriege haben die Neigung, Pläne zu durchkreuzen.
Nach der Trauung flogen wir Richtung Süden. Erst als er am Flugplatz einen britischen Reisepass hervorzog, erfuhr ich, dass mein neuer Ehemann am Ende doch kein Norweger war. Wir übernachteten in Hauptstädten wie Lima und Santiago und genossen es, die trockene Westküste von Südamerika zu sehen und die lokalen Speisen in den Städten zu kosten. Da die DC-3 nur eine bescheidene Gipfelhöhe erreichen konnte, schienen wir fast die Flanken der Berge zu berühren. Doch wir flogen hoch genug, dass wir die Sauerstoffmasken benutzen mussten, denn zu jener Zeit gab es noch keinen Luftdruckausgleich in den Kabinen.
In Buenos Aires wohnten wir in einem kleinen Hotel, nahmen unsere Mahlzeiten in den vielen wunderbaren Restaurants ein und lernten, mittags und abends Wein zu trinken, wie es die Einheimischen zu tun pflegten. Unsere Arbeit fand in der geheimdienstlichen Abteilung der britischen Botschaft statt. Finanziell waren wir gut situiert. Ich erhielt weiterhin den Gegenwert meines New Yorker Gehalts, was nach argentinischen Verhältnissen großzügig war. So lebten wir von meinen Einkünften, während John die seinen auf ein Konto einzahlte. Wir wurden zu Ehrenmitgliedern des Hurlingham-Clubs ernannt, der so britisch, snobistisch und stockkonservativ war – anscheinend waren Argentinier dort nicht zugelassen, weil sie den Swimmingpool verunreinigen könnten! –, dass wir stattdessen dem norwegischen Ruderclub beitraten. John, der aus Cambridge einen Abschluss in modernen Sprachen hatte, sprach Norwegisch so perfekt, dass ihn die Norweger dort – meist Kapitäne und Mannschaften von Walfang-Schiffen – als ihren Landsmann akzeptierten. An freien Sonntagen ruderten wir auf den zahlreichen Wasserwegen des Tigre-Deltas des Paraná, nur selten fuhren wir einen Abschnitt ein zweites Mal. Es war seltsam, auch unsere »Feinde« dort rudern zu sehen; man konnte die Japaner am roten Rund der aufgehenden Sonne auf ihren Rudern erkennen. Doch wir lernten nur wenige Argentinier kennen, da die geheime Natur unserer Arbeit dazu neigte, uns gesellschaftlich zu isolieren.
Wir waren in Argentinien während des Putsches, durch den Farrell 1943 an die Macht und ins Amt des Präsidenten kam, in dem ihn Perón ablöste. Ich war begeistert über diese Wende der Ereignisse und aufgebracht, dass ich als Frau nicht allein auf die überfüllten Straßen hinausgehen durfte, um mit eigenen Augen mitzuerleben, was vor sich ging. Später an jenem Tage gelangte ich mit John nach draußen. Die Revolution selbst war unblutig, lediglich ein Marsch von der Kaserne zur Casa Rosada (dem rosa Haus, entsprechend dem Weißen Haus in Washington, D.C.), aber junge Schläger nutzten die allgemeine Verwirrung aus, um auf den Straßen Chaos und Verwüstung anzurichten. Inmitten all des aufgeregten Getriebes und Geschiebes um mich herum prägten sich meiner Erinnerung am deutlichsten die Jugendlichen ein, die mit ausgestreckten Armen Straßenbahnen anhielten, allen Fahrgästen befahlen, die Wägen zu verlassen und diese dann umstürzten und in Brand steckten. Nachdem ich einen Jungen dabei beobachtet hatte, blickte ich ihm geradewegs in die Augen, wie seine Mutter es wohl getan hätte. Er hatte den Anstand, beschämt den Blick zu senken und sich abzuwenden.
Obwohl John besaß, was mir als vernünftige Ideen und Antworten über den Sinn des Lebens erschien – schlichte Wahrheiten wie »Kein Mensch macht keine Fehler« –, wollte er mir nicht erzählen, was sein Hintergrund war beziehungsweise wo oder wie er sein ungewöhnliches Wissen erlangt hatte. Je mehr ich ihn ausfragte, desto mehr verschloss er sich. Schließlich hörte ich auf zu fragen. Einmal fand ich ihn mitten in der Nacht im Schneidersitz im Wohnzimmer sitzend. Ich hatte keine Ahnung, was er da tat, und er gab mir keine Erklärung. Ich fühlte mich frustriert und verärgert, dass er nicht mit mir teilte, was offenbar so wichtig in seinem Leben war. Aber was konnte ich tun? Da ich gewusst hatte, das ich ihn heiraten musste, und jener Intuition weiterhin vertraute, fühlte ich, dass ich mit den Konsequenzen zu leben hatte.
An einem brasilianischen Feiertag fuhren wir über das kaffee-duftende Santos und die riesige Stadt São Paulo, dann mit dem Zug nach Rio de Janeiro. Dort ließ mich John stundenlang in einem Park zurück, während er allein ging, um Freunde zu besuchen. Als die Freunde erfuhren, dass er mit seiner Frau unterwegs war, bestanden sie darauf, dass er mich mitbrachte.
Am nächsten Tag nahm mich John mit in ihr Heim in einem Vorstadthaus. Der Eingang war gekrönt von einem Symbol, einem geflügelten Herzen, und drinnen wurde ein Universeller Gottesdienst abgehalten. Während dieser Andacht wurde zu Ehren jeder der sechs wichtigsten Weltreligionen eine Kerze entzündet, und die Gruppe hörte Lesungen aus verschiedenen heiligen Schriften. Es war eine schlichte, aber eindrucksvolle Feier. Ich hatte schon immer geglaubt, dass alle Religionen zu demselben Gott führen, und als der Leiter, Shabaz Best, fragte, ob ich gerne ihrer Gruppe beitreten möchte, sagte ich ja. Ich erfuhr, dass sie Sufis waren, die dem indischen Meister Hazrat Inayat Khan folgten, der 1910 in den Westen gekommen und 1927 gestorben war. Shabaz zeigte mir ein Bild von Inayat Khan und sagte: »Wer dies ist, wissen Sie natürlich.«
Als ich entgegnete, dies nicht zu wissen, warf er John einen missbilligenden Blick zu und erklärte, das Inayat Khan der größte Mensch seit Jesus gewesen sei. Ich glaubte das keinen Augenblick. Obwohl ich dachte, meine christliche Erziehung hinter mir gelassen zu haben, empfand ich immer noch, dass keiner Jesus gleich war, dem Sohn Gottes. In der Tat verbrachte ich die nächsten vier Jahre mit dem Versuch, Shabaz‘ Behauptung ad absurdum zu führen, hauptsächlich indem ich das Thema Inayat Khan gegenüber Menschen ansprach, die ihn kennengelernt hatten. Bei der bloßen Erwähnung seines Namens wurden die Mienen dieser älteren Menschen ausnahmslos sanfter, und sie wurden liebevoller und erzählten mir etwas Schönes über ihn. Ich erfuhr von einigen seiner persönlichen Eigenarten, zum Beispiel dass er gerne Erdnüsse aß, wenn er mit der Eisenbahn fuhr, aber ich hörte nie irgendetwas Negatives über ihn. Nach vier Jahren musste ich mein Vorurteil aufgeben und anerkennen, dass Inayat Khan – wie Jesus – ein Mann von enormem spirituellem Format war.
Shabaz nahm mich in den esoterischen Sufi-Orden auf – ich wusste damals nicht, was esoterisch bedeutete – und gab mir Sufi-Lehren zum Studieren sowie eine am Morgen zu praktizierende Atemübung. Einige Wörterbücher sagen, dass Sufis Moslems seien, aber Hazrat Inayat Khan (gewöhnlich Murshid genannt, das heißt Meister) lehrte, dass Sufis die Mystiker aller Religionen seien und alle Religionen Respekt verdienten. Ich begann, die vielen verschiedenen Zugänge zur Spiritualität wertzuschätzen und war froh, einige der Interessen meines Mannes mehr und mehr zu verstehen und mit ihm zu teilen. Bis zum heutigen Tage liebe und achte ich Inayats einfache und unmittelbare Lehren, obwohl ich im Sufi-Orden nicht aktiv geblieben bin.
Im auf der Seite der Achsenmächte stehenden Argentinien gab es viele Deutsche und ein großes Betätigungsfeld für das geheimdienstliche Erfassen von Informationen. Wir arbeiteten lange Stunden, und das Leben wurde bestimmt vom Büro und dem Rudern auf dem Tigre-Delta. Nach neun Monaten wurden wir auf die andere Seite des Rio de la Plata nach Montevideo versetzt, die Hauptstadt des Alliierten-freundlichen Uruguay, einem kleineren Land mit wenigen Deutschen. Im Flug über den sehr breiten Fluss konnten wir die Überreste des deutschen Panzerschiffs Admiral Graf Spee sehen, dessen Rumpf noch immer aus dem Wasser ragte. Später erfuhr ich seine bemerkenswerte Geschichte. Im Jahr 1939, während der Schlacht vom Rio de la Plata, gab es einen Schusswechsel zwischen der Graf Spee und drei kleinen britischen Schiffen, bei dem alle Beteiligten beschädigt wurden. Die Graf Spee fuhr Richtung Hafen Montevideo, während zwei übrige britische Schiffe, die Kreuzer Ajax und Achilles, folgten; alle diese Schiffe schossen weiterhin aufeinander und erlitten weitere Schäden. Internationales Recht erlaubt die Zuflucht in einem Hafen nur für achtundvierzig Stunden. Die Graf Spee ersuchte um und erhielt eine Verlängerung dieser Frist. Danach schickte der deutsche Kapitän, der in Montevideo und Buenos Aires vor dem Krieg sehr bekannt und beliebt war, seine Mannschaft in Rettungsbooten an Land und versenkte das Schiff selbst. Zwei Tage später nahm er sich in einem Hotelzimmer in Montevideo das Leben.