Abschlussarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts in Speech Communication and Rhetoric,
vorgelegt an der Universität Regensburg,
Zentrum für Sprache und Kommunikation,
Mündliche Kommunikation und Sprecherziehung
Sie finden uns im Internet unter
www.forschung-waldorf.de • www.waldorfbuch.de
© 2017 Pädagogische Forschungsstelle
beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart
ISBN 978-3-939374-61-9
Satz und Gestaltung:
Druck und Bindung: Druck- und Medienzentrum Gerlingen GmbH, 70839 Gerlingen
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Pädagogischen Forschungsstelle Stuttgart.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.
Cover-Abbildungen:
Friedrich Schiller 1759 - 1805 (Carl Jägers Schillerportrait von 1878)
Johann Wolfgang von Goethe 1749 - 1832 (Portrait von Carl Stieler 17881 – 1858)
Wilhelm von Humboldt 1767 - 1835 (Lithographie von Franz Krüger (http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/6012/) 10.04.2017
Marie Steiner 1867 - 1948 (Dokumentation Goetheanum, Dornach/CH)
Rudolf Steiner 1861 - 1925 (Dokumentation Goetheanum, Dornach/CH)
Hans Martin Ritter *1936 (Fotograf: Hillert Ibbeken, Berlin)
Konstantin Stanislawski 1863 - 1938
Books on Demand GmbH, Norderstedt
(https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Constantin_Stanislavski.jpg) 10.04.2017
Michael Tschechow 1891 – 1955 (http://www.nekrasovactortraining.com/files/2010/12/Chekhov-in-1929.jpg) 10.04.2017
Antonin Artaud (http://biografieonline.it/biografia.htm?BioID=3315&biografia=Antonin+Artaud) 10.04.2017
Bertolt Brecht 1898 - 1956 (Quelle: Bundesarchiv Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0)
Die Sprache, die nicht gestalteter Gestus ist, ist im Grunde
genommen etwas, was keinen Boden unter den Füßen hat.
Rudolf Steiner
Gesprochene Worte sind nicht gleichzusetzen mit geschriebenen, sondern folgen durchaus eigenen Regeln und, bezogen auf die Sprechkunst, auch einer eigenen Ästhetik. Ob das Sprechen von Dichtung sich unterscheiden solle vom alltäglichen Sprechen, ob man also eine gehobene Sprache benötige oder ob der Sprecher sich den Text so zu eigen machen solle, dass er für die Zuhörer vertraut und natürlich klingt, darüber streiten sich die Fachleute für Sprechkunst seit langem.
Der Theaterdirektor Johann Wolfgang von Goethe kämpfte bei der ‚Erziehung’ seiner Schauspieltruppe in Weimar mit zwei Unarten: Entweder waren ihm die Schauspieler zu unbefangen und natürlich, vollführten private Handlungen und redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, oder sie präsentierten sich auf der Bühne steif, gekünstelt und manieriert. So war die Blütezeit des klassischen Theaters und des Dichtungssprechens in den Salons auch eine Zeit, in der das künstlerisch dargebotene Wort besondere Pflege und Aufmerksamkeit bekam.
Die Sprechwissenschaftlerin Irmgard Weithase bezeichnet Goethe als den ersten Sprecherzieher. Seine Regeln für Schauspieler und seine unermüdliche praktische Arbeit bewirkten, dass der Stil der Weimarer Klassik für lange Zeit das Ideal darstellte.
Im Laufe der darauf folgenden zwei Jahrhunderte hat sich das Verständnis dessen, was Dichtungssprechen ist und welche Paradigmen gelten, stark verändert. Heute geht die Tendenz dahin, das Sprechen sowohl innerhalb der Theaterrolle als auch beim Rezitieren möglichst natürlich und realistisch, also publikumsnah zu präsentieren.
Der Weg dazwischen wurde geprägt von vielen verschiedenen Persönlichkeiten, von denen in diesem Buch nur einige wenige in ihren Ansätzen beschrieben werden können. In einem historischen Abriss wird gezeigt, inwiefern Stanislawskis Realismus, Tschechows Psychologische Geste und Brechts Gestisches Prinzip sich auf die Sprechkunst ausgewirkt haben. Es schließen sich die wichtigsten Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts in Bezug auf die Sprechkunst und beim Verständnis von Sprache allgemein an.
Der Hauptteil des Buches stellt zwei ästhetische Konzepte einander gegenüber, die zeitlich weit auseinander liegen. Die Sprachgestaltung nach Marie und Rudolf Steiner entstand in den Jahren 1902 bis 1924. Das Konzept des Gestischen Sprechens wurde ab etwa 1986 von Hans Martin Ritter entwickelt. Als Ergebnis einer ausführlichen Literaturrecherche und eines Interviews mit Hans Martin Ritter kann gezeigt werden, dass Gemeinsamkeiten der beiden ästhetischen Konzepte vor allem in Bezug auf ihre Auffassung von Sprache bestehen. Beide Konzepte betrachten die gesprochene Sprache als einen gesamtkörperlichen Prozess mit gestischem bzw. gebärdenhaftem Charakter.
Zu Grunde liegt bei beiden Ansätzen die These, dass das Sprechen eine besondere Form des Sich-Gebärdens ist und somit seinen Ausgangspunkt in vorsprachlichen seelischen Impulsen nimmt. Auf dieser Annahme basierten auch die Theorien und Methoden Michael Tschechows, Antonin Artauds und Bertolt Brechts, von denen sich Hans Martin Ritter inspirieren ließ. Der Frage, woher diese Impulse stammen und welche ureigenen menschlichen Fähigkeiten ihnen zu Grunde liegen, ging besonders Rudolf Steiner in seinen Überlegungen zur Sprachentstehung und Sprachwahrnehmung nach. Seine Darstellungen dazu werden in einem gesonderten Kapitel zusammengefasst und allgemein verständlich vorgestellt.
In beiden ästhetischen Konzepten artikuliert sich zusätzlich eine deutliche Skepsis gegenüber der Vorstellung, die lautlichen Zeichen, aus denen jede Sprache besteht, seien nichts anderes als willkürlich gesetzte Vereinbarungen, also Symbole, die nichts mit dem Inhalt des Wortes gemein hätten. Die von Ritter wie von Steiner vertretene Auffassung, Vokale und Konsonanten hätten sich innerhalb der evolutionären Entstehung der Sprachen aus dem gestischen oder gebärdenhaftem Ausdrucksverhalten des Menschen herausgebildet, entspricht den Ergebnissen der neueren psycholinguistischen Forschung. Forscher der Max Planck Institute in Nimwegen, Jena und Leipzig haben in den letzten Jahren verschiedene Studien zu dieser Thematik veröffentlicht.1 Dass sich der evolutionäre Zusammenhang von Bewegung bzw. Gebärde und Sprache sowohl neurowissenschaftlich als auch psycholinguistisch auffinden lässt, bekräftigt die besondere Bedeutung derjenigen Konzepte, die auf dieser Erkenntnis fußen. Bemerkenswert ist, dass Steiner und Ritter bei ihren Beschreibungen der Lautgesten oder Lautgebärden zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen. Dies spricht für eine gewisse objektiv erkennbare gestische Charakteristik eines jeden Lautes. Sowohl das Gestische Sprechen als auch die Sprachgestaltung haben, so die Schlussfolgerung dieser Arbeit, ihre tiefe Berechtigung innerhalb der Erscheinungsformen der modernen Sprechkunst.
1 https://www.mpg.de/9676546/sprache-nicht-arbitraer
Fast zeitgleich mit der Begründung der Sprecherziehung durch Erich Drach entstand in Dornach/Schweiz die Sprachgestaltungsbewegung. Im September 1924 hielt Rudolf Steiner gemeinsam mit seiner Frau, der Schauspielerin und Rezitatorin Marie Steiner-von Sivers2 eine Vortragsreihe, in der er seine Theorien und Methoden zum Umgang mit Rezitationskunst und Schauspiel entwickelte. Schon in den Jahren zuvor hatten Marie und Rudolf Steiner im Rahmen der Waldorfschulgründung und der Ausbildung von Vortragsrednern theoretische und praktische Hinweise zur Sprechbildung und zur Rhetorik gegeben. Nach Steiners Tod im Jahre 1925 gründete Marie Steiner eine Ausbildung für Sprachgestaltung und Schauspiel, die bis heute fortbesteht. Absolventen dieser Ausbildung gründeten in den 1970er Jahren weitere Ausbildungsstätten z.B. in Alfter bei Bonn (Alanus-Hochschule) und in Stuttgart. Der Studiengang Sprachgestaltung/Schauspiel an der Alanus-Hochschule hatte ab 2002 die staatliche Anerkennung, bevor er 2005 in eine Schauspielausbildung umgewandelt wurde. Sprachgestalter3 sind heute in der Kultur- und Kunstszene, in Pädagogik, Erwachsenenbildung und Therapie tätig. Sehr häufig bringen sie ihre Arbeit auch in nicht-anthroposophischen Arbeitszusammenhängen erfolgreich ein. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich innerhalb dieser Berufsgruppe ein großer Erfahrungsschatz angesammelt, der aufgearbeitet und in den Diskurs der Sprechwissenschaft eingebracht werden könnte. Dass dies bisher kaum stattfindet, führt dazu, dass zwei in den Fragen und Problemstellungen ganz ähnliche Berufsgruppen weitestgehend isoliert voneinander existieren und meist wenig voneinander wissen.
Zwar haben viele Sprachgestalter4 sich mit den Methoden und Erkenntnissen der Sprecherziehung und der Sprechwissenschaft beschäftigt, außerdem gibt es eine große Anzahl einzelner Persönlichkeiten, die sich in beiden Kreisen bewegen. Darüber hinaus finden seit einigen Jahren vermehrt Arbeitsbegegnungen von Sprachgestaltern und Sprecherziehern statt. Allerdings fehlen öffentlich zugängliche Publikationen dazu. Eine wissenschaftlich vergleichende Untersuchung zu Ansätzen der Sprecherziehung mit dem Konzept der Sprachgestaltung gibt es meines Wissens noch nicht.
Mit dieser Arbeit soll ein erster Schritt in diese Richtung getan werden. Um nicht das Trennende, das in vielerlei Hinsicht aufgezeigt werden könnte, sondern das Verbindende in den Vordergrund zu stellen, wurde für einen Vergleich ein ästhetischer Ansatz ausgewählt, der auf den ersten Blick eine frappierende Nähe zum Konzept der Sprachgestaltung aufweist.
Das Gestische Sprechen, das der Sprecherzieher Hans Martin Ritter entwickelt hat, entspricht dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand in hohem Maße. Ritter ist auf dem Feld der Ästhetischen Kommunikation renommiert, seine Methoden und Theorien zum Gestischen Sprechen sind allgemein anerkannt und werden an Schauspielschulen und innerhalb der Sprecherzieherausbildung praktiziert. Der Vergleich mit einem Konzept, das knapp hundert Jahre zuvor, also etwa zeitgleich mit den Anfängen der Sprecherziehung entwickelt wurde, ist vor allem dann zu rechtfertigen, wenn in diesem Konzept Elemente zu finden sind, die ebenfalls dem heutigen Stand der Wissenschaft entsprechen. Da Ritter in den Methoden ähnlich vorgeht wie Steiner, scheint ein Brückenschlag möglich. Wie Steiner geht Ritter davon aus, dass im Sprechen der Mensch als Ganzes einbezogen werden muss. Beide setzen voraus, dass die Sprache ein komplexer Vorgang ist, der Denken, Fühlen und Handeln des Menschen gleichermaßen betrifft. Die Methoden, nach denen im Umgang mit Texten vorgegangen wird, berücksichtigen diese Zusammenhänge. Wie bei Steiner, spielt in Ritters Ansatz die physische Bewegung, das Ergreifen und Hervorbringen der inneren Impulse über die körperliche Bewegung eine große Rolle.
Auffällig ist die Ähnlichkeit besonders in diesem körperlich-gestischen Ansatz. Deshalb wurde bei der Untersuchung beider Konzepte das Augenmerk besonders auf diesen Aspekt gelegt. Während bei Ritter das Gestische schon in der Benennung des Ansatzes erscheint, wurde es für die Sprachgestaltung als ‚Gebärden-Ansatz’ explizit herausgegriffen. Damit soll verdeutlicht werden, dass es in der Untersuchung der Sprachgestaltung vor allem um diesen grundlegenden Aspekt gehen wird.
Obwohl beide Konzepte sich sowohl auf das Schauspiel als auch auf das Dichtungssprechen beziehen, wird sich die Untersuchung zugunsten einer tieferen Betrachtung auf das Dichtungssprechen beschränken. Überlegungen zum Sprechen innerhalb einer Rollendarstellung werden nur dort einbezogen, wo sie für das Dichtungssprechen relevant erscheinen.
Auf die naheliegende Frage, warum die beiden Konzepte in mancher Hinsicht diese Nähe aufweisen, ließ sich die Antwort leicht finden. Dies wird in der biographischen Darstellung zu Ritter in Kapitel 3.3.1 und im angehängten Interview ersichtlich.
Somit will die folgende Untersuchung Antworten finden auf die Frage: Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem Konzept des Gestischen Sprechens nach Ritter und dem Gebärden-Ansatz der Sprachgestaltung Steiners in Bezug auf das Sprechen literarischer Texte und wo liegen die Unterschiede?
Die Erkenntnisse dieser Arbeit stützen sich in erster Linie auf einschlägige Publikationen. Dabei wurde so viel als möglich auf Primärliteratur zurückgegriffen. In einigen wenigen Fällen wurden Internetquellen einbezogen. Diese Quellen wurden auf Aktualität überprüft. Für die Untersuchung des Gestischen Sprechens nach Ritter wurde zusätzlich ein Interview herangezogen, das die Verfasserin dieser Arbeit mit Hans Martin Ritter geführt hat. Das Interview wurde mit Hilfe eines digitalen Aufnahmegerätes dokumentiert und nachträglich transkribiert. Eine leicht gekürzte, von Hans Martin Ritter überarbeitete und autorisierte Fassung dieses Interviews befindet sich im Anhang dieser Arbeit.
Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um theoretische Grundlagen und die Historie des Dichtungssprechens. Im zweiten Teil werden die zu vergleichenden Konzepte separat dargestellt. Dass dabei der Sprachgestaltung der quantitativ größere Teil zufällt, möge nicht als Ausdruck geringerer Wertschätzung dem Gestischen Sprechen gegenüber verstanden werden. Vielmehr schien es der Verfasserin geboten, den speziellen Denkansatz Steiners in Bezug auf Sprachwahrnehmung (Kapitel 3.2.2) und Weltbezug (Kapitel 3.2.4) näher zu erläutern. In Kapitel 4 werden einzelne Aspekte zu Sprache und Dichtungssprechen herausgegriffen und in direktem Vergleich gegenübergestellt. Im Schlusskapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse gewichtet und zu aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Beziehung gesetzt. Darüber hinaus wird ein Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen sowohl innerhalb der Sprechkunst und Sprecherziehung, als auch bei den Sprachgestaltern gegeben.
2 Im Folgenden Marie Steiner
3 Aus Gründen der Vereinfachung wird ausschließlich die männliche Form verwendet. Personen jeglichen Geschlechts sind darin gleichermaßen eingeschlossen.
4 Nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Berufsbezeichnung der Sprecherzieher in Österreich
In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff des Dichtungssprechens eingegrenzt und unter Berücksichtigung der aktuellen Publikationen zur Sprechkunst definiert. Um die theoretischen Grundlagen in ihrer historischen Veranlagung aufzuzeigen, folgen Darstellungen zu den Einflüssen, die das Dichtungssprechen seit Beginn des
19. Jahrhunderts bis heute geprägt haben. Hier schien vor allem eine ausführliche Darstellung der Goethe’schen Einflüsse geboten, in dessen Nachfolge sich Steiner bezüglich seiner Auffassungen zum Dichtungssprechen einordnen lässt. In der dann folgenden Darstellung der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wurde besonders Bertolt Brecht berücksichtigt, der für Ritter richtungsweisend wurde. Ferner wird ein kurzer Überblick über die Konzepte Stanislawskis, Tschechows und Artauds gegeben, die ebenfalls in Bezug auf ein Verständnis der Überlegungen Ritters relevant sind. Es wird außerdem ein Blick auf das sich verändernde Sprachverständnis von 1800 bis heute geworfen.
Alles in allem fanden aus der Fülle der Erscheinungen und Theorien hauptsächlich diejenigen Berücksichtigung, bei denen ein direkter Einfluss auf die zu untersuchenden Ansätze erkennbar war.
Das Dichtungssprechen oder die Rezitation gehört zu den Erscheinungen der mündlichen Kommunikation und ist ein Teilbereich der Sprechkunst oder der Ästhetischen Kommunikation. Es bezieht sich auf das sprechkünstlerische Interpretieren literarischer Texte, sofern dies nicht ein Sprechen während des Theaterspielens ist. Das Sprechen beim Schauspielern innerhalb eines Theaterstückes stellt einen weiteren Teilbereich der Sprechkunst dar, der der Rezitation zwar nahe steht, jedoch ganz andere Bedingungen zu erfüllen hat. Abzugrenzen ist das Dichtungssprechen auch vom Sprechen nicht-literarischer oder improvisierter Texte.
Als Textgrundlage des Dichtungssprechens dienen poetische Werke aus den Gattungen Epik, Lyrik oder Dramatik. Bei der Dramatik wird von einer sprecherischen, nicht einer „figurendarstellenden“5 Interpretation ausgegangen.
Das Hineinschlüpfen in eine Figur kann als zentrales Merkmal der schauspielerischen Darstellung gesehen werden. Die
’reine’ Sprechkunst (wie in der klassischen Rezitation) ist gegeben, solange der Sprecher nur er selbst ist, nicht vorgibt, ein anderer zu sein, in keine Figur schlüpft.6
Das Dichtungssprechen kann als eigenständige Kunstform in Form von Rezitationen vor Publikum stattfinden, aber auch Bestandteil anderer Künste sein wie z.B. Vernissagen oder Konzerten. Auch häufig anzutreffen sind Mischformen gemeinsam mit Formen des Schauspiels in Szenischen Lesungen, Szenischen Collagen oder Performances.7 Auch wenn die strikte Trennung in der Bühnenpraxis nur noch selten realisiert ist, soll sie hier zugrunde gelegt werden, um im weiteren Verlauf der Untersuchung eine Unterscheidung zu haben zwischen der Erarbeitung von Texten für das Schauspiel oder für das Dichtungssprechen. Obwohl es sich beim Dichtungssprechen um einen mündlichen „Prozess der Textreproduktion“8 handelt, hat es doch auch produzierenden Charakter. Die Produktivität liegt in der eigenständigen Interpretation der Textvorlage, bei welcher dem Sprecher „eine aktiv künstlerische Rolle “9 zukommt.
Die Zuordnung des Dichtungssprechens zum Fachbereich der mündlichen Kommunikation markiert neben dem Bezug zur literarischen Grundlage den kommunikativen, rhetorischen Charakter dieser Kunst. Der zugrunde liegende Text ist die Partitur des Vortrags und muss neu gestaltet werden. Diese Neugestaltung fügt der literarischen Fassung eine sinnliche Dimension hinzu, die ohne die sprecherische Interpretation verborgen bliebe. Als Parameter für die zu erarbeitende Sprechfassung dient, zusätzlich zu den Eigenschaften des Textes und der individuellen Beziehung des Sprechers zum Text, auch die rhetorische Absicht für den jeweiligen Vortrag. Als Konsequenz einer, wie immer gearteten, rhetorischen Intention ergibt sich, dass schon bei der Erarbeitung die zu erwartenden Hörer und die Vortragssituation insgesamt in den Blick genommen werden müssen.10 Insofern ist die von Hellmut Geißner beschriebene Konstellation zwischen dem Produzierenden, dem Produkt und den Rezipienten zu beachten.11 Zur rhetorischen Situation gehört, dass der Sprecher nicht der Urheber des zu vermittelnden Textes ist, (sofern es sich nicht um eine Autoren- oder Dichterlesung handelt). Dies bedeutet, dass es immer eine „historische Differenz“12 zwischen der wiedergegeben Sprechfassung und dem literarischen Original gibt, die nicht aufzulösen ist. Selbst im Falle einer Dichterlesung ist diese historische Differenz vorhanden, da zum Zeitpunkt der Entstehung des dichterischen Werkes andere Bedingungen vorlagen, als während der Lesung. Dies bedeutet, dass es keine objektive, allein gültige Sprechfassung gibt, sondern dass jede Sprechfassung an die oben beschriebenen Bedingungen geknüpft ist. Insofern gibt es auch keine Wiederholbarkeit. Die in einem sprechkünstlerischen Vortrag wiedergegebene Sprechfassung ist einzigartig und allein in der jeweiligen Situation möglich. Trotzdem muss für den Zuhörer immer wahrnehmbar bleiben, dass es sich um eine Textreproduktion und nicht um phatisches bzw. spontanes Sprechen handelt.13 Soll das Dichtungssprechen im sprechwissenschaftlichen Sinne künstlerisch oder ästhetisch sein, so ist nach Gutenberg nicht nur die Auswahl der Textgrundlage entscheidend, sondern vor allem die Art der Darstellung, die im Sinne der ‚aisthesis’ wahrnehmungsbezogen und im Sinne der ‚techné’ handwerklich fundiert bzw. kunstfertig sein sollte.14 Um beurteilen zu können, ob eine Sprechfassung im oben genannten Sinne richtig oder falsch ist, benötigt man beschreibbare Kriterien. Diese machen sich fest an literarturwissenschaftlichen, poetologischen und linguistischen Strukturgesetzmäßigkeiten einerseits und an phonetischen und sprechwissenschaftlichen Erkenntnissen andererseits. In neuerer Zeit fließen auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf mündliches Kommunizieren in den Diskurs ein.15
Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte wurden in Bezug auf das Rezitieren vielfältige Theorien und Normen aufgestellt und kontrovers diskutiert. Diese Regeln und Normen bezogen sich zum einen auf phonetische Prozesse bezüglich der Artikulation, der Atemtechnik und der Stimmbildung bzw. des Stimmgebrauchs, zum anderen auf Ausspracheregeln und Fragen des Sprechstils. Eine häufig thematisierte Frage ist die der Werkangemessenheit bzw. der interpretatorischen Freiheit gegenüber einem dichterischen Kunstwerk. Die Begriffe ‚Werksprecher’ oder ‚Selbstsprecher’ wurden, seit der Begründung der Sprechkunst durch Drach, immer wieder in unterschiedlichen Gewichtungen diskutiert. Ortwin Lämke hält diese Diskussion für beendet:
Da die neuere Sprechwissenschaft die Ästhetische Kommunikation konsequent als kommunikativen Prozess begreift, vermag sie im Prinzip subjektivistische [Selbstsprecher] oder objektivistische [Werksprecher] Haltungen zu vermeiden.16
Dem gegenüber stellt Wernfried Hübschmann die Unterordnung der Sprechkunst unter die Kategorie ‚Kommunikation’ durchaus in Frage. Er argumentiert, dass die Sprechkunst kein Sonderfall der Rhetorik sei, sondern ein
eigengesetzlicher Handlungsraum, in dem Kommunikation etwas ganz anderes bedeutet als in allen anderen Teilbereichen,17
denn das dichterische Kunstwerk sei ebenso wenig von der Alltagssprache ableitbar, wie die Sprechkunst vom phatischen Sprechen. Das besondere Merkmal des künstlerischen Sprechens sei es gerade, dass es nicht funktional sei und, wie jedes Kunstwerk im eigentlichen Sinne, „zweck-los.“18 Somit relativiere sich die rhetorische Intention als dominierende und übergeordnete Funktion. Entscheidend für eine wissenschaftliche Betrachtung sei daher nicht in erster Linie die Kommunikation mit dem Publikum, sondern die Begegnung mit dem dichterischen Kunstwerk. Dies sei das eigentliche Gegenüber des Sprechkünstlers.19
Parallel zu den theoretischen Diskursen gab es fortlaufend Entwicklungen in der künstlerischen Praxis, die sich häufig dadurch auszeichneten, dass sie nicht mit der gerade gültigen Lehrmeinung konform gingen und deshalb für Diskussionsstoff sorgten. Möglicherweise erwiesen sie sich für die Weiterentwicklung der Sprechwissenschaft und der Sprecherziehung gerade dadurch als fruchtbar.
Die hier wiedergegebene Definition des Dichtungssprechens stellt einen Grundkonsens dar, unter dem sich die meisten der heute publizierenden Sprechkünstler und Sprechwissenschaftler wiederfinden. Zum Grundkonsens gehört auch, dass das Sprechen ein gesamtkörperliches Ereignis ist, in das sowohl physische und physiologische als auch psychische Zustände und Haltungen maßgeblich hineinwirken.
Da im Zentrum dieser Arbeit der Vergleich zweier theoretischer Ansätze stehen soll, die in großem zeitlichen Abstand zueinander entstanden sind, nämlich derjenige der Sprachgestaltung zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem des Gestischen Sprechens, das gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelt wurde, soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre gegeben werden. Dabei werden aus der Vielfalt der Themen vor allem diejenigen Ansätze und Fachvertreter berücksichtigt, die sich auf die zu vergleichenden Konzepte ausgewirkt haben. Im Hinblick auf die Forschungsfrage ist außerdem interessant, wie sich das Sprachverständnis in diesem Zeitraum verändert hat, welche Standpunkte bezüglich der Methoden zur Aneignung von Texten eingenommen wurden und welche Ansichten bestanden bezüglich des Verhältnisses des Sprechers zu Textvorlage und zum Publikum. Am Ende dieses Kapitels werden heute aktuelle Ansätze skizziert.
Während die klassische Rhetorik, die bis ins 18. Jahrhundert hinein an Universitäten und in den höheren Schulen unterrichtet worden war, zur Zeit der Aufklärung in die Kritik geraten und als Mittel zur Überredung oder zur „höfischen Beredsamkeit“20 beargwöhnt worden war, erhielt sich mehr oder weniger unangefochten die Lehre von der „Wohlredenheit bzw. der Sprechkunst.“21 So gab es eine große Anzahl von Lehrbüchern zum Deklamieren, Vorlesen oder Schauspielern.22 Das Anhören und Vortragen von Dichtung auf Bühnen oder in privaten Salons wurde in gebildeten Kreisen populär und führte zur Herausbildung einer „sprachlich-kulturellen Identität“23 in Deutschland. Das literarische Leben wurde geprägt von Dichtern wie Goethe, Schiller, Lessing und Tieck. Darüber hinaus reisten beliebte Deklamatoren wie Karl von Holtei oder Emil Palleske durch Deutschland und trugen vor großem Publikum klassische und zeitgenössische Dichtung vor.24
Als einer der größten Reformer des sprachlichen Ausdrucks und der Sprechkunst sei hier Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) genannt, dessen Wirken an dieser Stelle näher beleuchtet werden soll. Goethes Maximen werden besonders bei Rudolf Steiner, in mancher Hinsicht auch bei Hans Martin Ritter wieder auftauchen. Mit seinen Regeln für den Schauspieler25 setzte Goethe 1803 Maßstäbe, die z.T. bis heute gelten können.26 Irmgard Weithase hält Goethes Einfluss für so groß, dass sie ihn noch für die Betrachtung der Vortragspraxis zwischen 1825 und 1890 einbezieht. Sie begründet dies damit, dass Goethes unermüdliche Bestrebungen dafür, dass „das reine Wort“27 wieder größere Bedeutung bekomme, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirklich zum Tragen gekommen seien, er somit etwas angelegt habe, was später erst aufzublühen vermochte.28 Zu Lebzeiten wirkte Goethe nicht nur durch seine Regeln, sondern auch, indem er sich selbst als Sprecher betätigte und darüber hinaus viel Zeit und Engagement darein setzte, seine Schauspieler auszubilden. Weithase geht soweit, der Tätigkeit Goethes als Sprecher und Sprecherzieher mehr Wirkung zuzugestehen als seiner niedergeschrieben Theorie.29 Goethes strenges Regiment als Theaterdirektor in Weimar führte dazu, dass improvisatorische Freiheiten dem Text gegenüber und das Dialektsprechen auf der Bühne eingedämmt wurden. Dies führte für das Theater zu einer zunehmenden Literarisierung. Die von Goethe in Weimar eingeführten Leseproben und das Dramenlesen als kulturelles Ereignis wirkten stilbildend für Schauspiel, Rezitation und Deklamation bis ins 20. Jahrhundert hinein und zwar:
mit der Insistenz auf Deutlichkeit, leicht faßlicher [sic] Verständlichkeit und Gefälligkeit des Vortrags, mit dem Bestreben, zu einer vollständigen und reinen Aussprache zu gelangen, mit der Kampfansage gegen Dialekte und Provinzialismen, [...] schließlich mit der Dominanz des geschriebenen dichterischen Wortes über dem gesprochenen.30
Im Gegensatz zu Weithase vertritt Meyer-Kalkus die Ansicht, dass es zu kurz gegriffen sei, in erster Linie das Theater als den Ort der Sprechkunst des beginnenden 19. Jahrhunderts zu betrachten. Größere „soziale und kulturelle Breitenwirkung“3132