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Stuart Hood

Das Buch Judith

edition 8

Stuart Hood

Das Buch Judith

Roman

Aus dem Englischen

und mit einem Nachwort

von Stefan Howald

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Eine ungenannt sein wollende Frau aus Zürich hat die Herausgabe dieses Buches mit einem finanziellen Beitrag unterstützt. Herzlichen Dank!

Die Übersetzung des Gedichts von Antonio Machado auf der Seite 52 stammt von Christoph Schmitz-Scholemann.

Die edition 8 wird im Rahmen des Förderkonzepts zur Verlagsförderung in der Schweiz vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2019–2020 unterstützt.

Besuchen Sie uns im Internet: Informationen zu unseren Büchern und AutorInnen sowie Rezensionen und Veranstaltungshinweise finden Sie unter www.edition8.ch

September 2020, 1. Auflage, © dieser Ausgabe bei edition 8. Alle Rechte, einschliesslich der Rechte der öffentlichen Lesung, vorbehalten. Lektorat & Korrektorat: Geri Balsiger; Typografie, Umschlag: Heinz Scheidegger. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Verlagsadresse: edition 8, Quellenstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41/(0)44 271 80 22, info@edition8.ch

ISBN 978-3-85990-407-1

Dann ging sie zum Bettpfosten am Kopf des Holofernes und nahm von dort sein Schwert herab. Sie ging ganz nahe zu seinem Lager hin, ergriff sein Haar […]. Und sie schlug zweimal mit ihrer ganzen Kraft auf seinen Nacken und hieb ihm den Kopf ab. Dann wälzte sie seinen Rumpf von dem Lager […]. Kurz danach ging sie hinaus und übergab den Kopf des Holofernes ihrer Dienerin, die ihn in einen Sack steckte.

Das Buch Judith, Kapitel 13 [Einheitsübersetzung]

 

Warnung für die Leserin, für den Leser:
Alle Geschichte mag Fiktion sein, aber nicht jede Fiktion ist
Geschichte

Im Zimmer hört man nur das Geräusch von Atmen, oberflächlich, gleichmässig, unterbrochen von gelegentlichen Verzögerungen, die sich zu Pausen verlängern, Ruhepausen, Schweigen. Die Nonne erhebt sich von ihrem Stuhl beim Fenster, beugt sich über das Bett und lauscht. Dann beginnt das Atmen erneut, mit einem Krampf, mit einem verzweifelten Husten, diesmal schneller, als ob der Träumer irgendeine Strasse hinunterrennen würde, einen Engpass, der ein grosses Rohr wird – kein Rohr –, etwas Bewegliches, farbig, wie die Innenseite einer riesigen Speiseröhre, die ihn verschlingt, ins Dunkel hinein. Jetzt lässt das Tempo nach, der Atem stockt, hört für ein paar Sekunden auf, bevor er aufs Neue einen sanften Rhythmus findet, nur durch etwas unterbrochen, was ein Schluchzen sein mag. Die Nonne greift nach der Sauerstoffmaske, damit der sterbende Mann mehr Sauerstoff aus dem grossen glänzenden Behälter bekommt. Auf dem Oszillograf bildet eine Lichtwelle immer noch den Rhythmus des hartnäckigen Kampfs des Herzens ab. Die Nonne beugt sich erneut über den Schläfer und fühlt am Handgelenk nach dem unsteten Puls. Dann überprüft sie die Nadel, durch die jene Flüssigkeit in die Vene tropft, die ihn ernährt und ihn für diese verzweifelten Fugen stärkt, die Schweissperlen auf seiner Stirn zurücklassen. Sanft, vorsichtig schlägt sie das Leintuch zurück, das bald gewechselt werden muss, da es feucht wird. Auf seinem Bauch kann sie die tiefe Narbe sehen, wie die Höhlung von einem Furunkel, wo auf einem afrikanischen Hügel die Kugel eintrat, die ihn vor mehr als fünfzig Jahren hätte töten sollen. Weiter unten läuft ein Katheder von seinem braunen, verschrumpelten Penis. Dann, als sie die Kleider wieder ordnet, blickt sie auf sein vertrautes Gesicht hinunter.

Während ihrer ganzen Kindheit und Jugend, bevor sie das Gelübde ablegte, sah sie es auf Anschlägen, auf den Wänden von Klassenzimmern neben dem Kruzifix, auf den Seiten von Zeitungen und Zeitschriften, mit dem Schnurrbart, dem zurückweichenden grauen Haar, dem Lächeln der Macht. Deshalb kennt sie es gut und kann ermessen, wie die Krankheit seine Züge verschärft, die Wangen dünner gemacht und das Gesicht damit seiner Autorität beraubt hat. Wie lange, fragt sie sich, wird er noch zu kämpfen haben, bevor sie ihm erlauben, den Endpunkt zu erreichen, dem er entgegenstrebt? Mit dem Trost der Religion, der letzten Ölung, der Segnung und des Kreuzschlagens und der Formel, die indulgentiam, absolutionem et remissionem omnium peccatorum verspricht, während der Weihrauch emporsteigt und sich im Baldachin über dem Bett mit den feuchten Laken und Kissen festsetzt.

Sie wendet sich vom Bett und von den verwickelten Röhren und Schläuchen und Drähten ab, die mechanisch den Rhythmus des Lebens aufrechterhalten, hin zum Schrein in der gegenüberliegenden Ecke des Raums. Auf dem Tisch mit der gestickten Decke mit Spitzenbordüren liegt ein Reliquiar. Durch dessen durchbrochenes Silber kann sie ein Hautstück wie verschrumpeltes Leder und darüber einen gelben Knochen sehen: der Arm der Heiligen Teresa von Avila, der den sterbenden Mann durch den Bürgerkrieg und in den Frieden begleitet hatte. Darüber, in einem Glaskasten, liegt der blaue Mantel, als ob er über die Schultern der Trägerin geworfen sei, das Kleid der Schutzheiligen des Landes – die Madonna auf dem Pfeiler, die aus ihrem Altarraum in Saragossa hierher gebracht worden ist, um über das Totenbett zu wachen. Die Nonne kniet vor dem Schrein nieder und beginnt den Rosenkranz zu beten, ohne Hast, um die Perlen nicht unachtsam durch die Finger gleiten zu lassen, nicht mechanisch wie ein unwissendes Bauernmädchen, sondern bei jeder Perle innezuhalten, die Bedeutung der Worte zu bedenken, den vertrauten Rhythmus des Lateins zu fühlen. Nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Das kann ich mir vorstellen, sagte sich Fergus, während er auf dem Rücken im Dunkel eines fremden Raums lag, in dem er auf eine Nachricht, einen Telefonanruf wartete, der ihn zu einem Treffen aufbot, und auf einen anderen Atem horchte – denjenigen seiner Partnerin, seiner Begleiterin, seiner Mitreisenden (nur im wörtlichen, nicht im politischen Sinn), die reglos dalag. Sie atmete kaum wahrnehmbar, so dass er sich auf einen Ellbogen stützen und sich über ihr Bett beugen musste, um den gleichmässigen Rhythmus zu hören. Als er das Laken hochzog und ihre nackte Schulter bedeckte, stockte der Rhythmus kurz. Dann legte sich Fergus wieder auf den Rücken und streckte die Beine aus, wie ein Ritter auf einem Grabmal in einer Kathedrale. Jener Weisen Frau, seiner Analytikerin, gegenüber hatte er einmal (zu seiner eigenen Überraschung) gesagt, dass er so übe, tot zu sein – so dass sie von ihren Notizen aufblickte und ihn fragte, weshalb er glaube, das üben zu müssen. Worauf er keine schnelle Antwort gefunden hatte und auch in diesem Hotelzimmer keine fand, in dem die vagen Umrisse der Möbel nicht vertraut und so schwierig zu unterscheiden waren wie in jenem anderen Raum, in dem der grosse Mann zwischen Leben und Tod lag, dort festgehalten durch eine Verschwörung von Ärzten und Politikern.

In der Zwischenzeit trafen aus der ganzen Halbinsel, von den Generalgouverneuren, die die Provinzen beherrschten, von den Kommandanten der Guardia Civil, von den Bischöfen und Erzbischöfen, von den Staatsmännern, den hohen Parteifunktionären, den Instanzen der Geheimpolizei Informationen über den Zustand der Nation ein, über die Hoffnungen und Befürchtungen des Volks, über die Absichten derjenigen, die gewagt hatten, ihm Widerstand zu leisten und die unter ihm gelitten hatten. Aufgrund dieser Berichte würde eine Entscheidung im innersten Zirkel des Staats gefällt werden, wann ihm erlaubt würde, zu sterben: Dieser harte Mann, der ein grosser Kämpfer gewesen war, der nicht vor Blutvergiessen zurückgeschreckt war, der peinlich genau zeremonielle Hingabe gezeigt hatte, aber berüchtigt gleichgültig gegenüber der Religion gewesen war – wie seine eigenen Fremdenlegionäre mit ihrem Kasernenmotto: kein Schnaps, keine Frauen, keine Priester. Aber war das wirklich so gewesen? Es war kaum glaublich, dass diese Männer, die der Verführung der Gefahr und des Todes nicht widerstehen konnten (der für sie Geliebter und Partner war), wirklich Mönche des Kriegs waren, keusch und nüchtern, die eine Art Askese ausübten. Waren sie niemals in den maurischen Städten, die ihre Hauptbastion bildeten, durch die engen Gassen dorthin gegangen, wo die Frauen an den mit Vorhängen versehenen Türen ihrer Zellen sassen, mit tätowierten Stirnen und hennaroten Händen, und einladend winkten?

Welche Bilder, fragte sich Fergus, steigen im Bewusstsein des sterbenden Mannes auf, wenn der flache Atem für ein paar Sekunden schneller wird und die Augen hinter den geschlossenen Lidern hin und her flackern? In welchen Zentren seines Körpers und Kammern seines Gedächtnisses entstehen sie? Fühlt er auf seinem Arm, wo die intravenöse Nadel hineingeht, den Druck der weiss behandschuhten Hand seiner Braut, als sie zusammen aus der Kirche durch die Reihen der schlicht gekleideten Frauen und Kinder schreiten? Er lächelt – seine Kameraden sagen, dass er immer lächelt, aber niemals lacht. Vielleicht eine Erinnerung an das Gefühl ihrer Haut, an die Erforschung ihres unvertrauten Körpers in der ersten, jungfräulichen Umarmung. Das heisst, falls er als 31-Jähriger immer noch jungfräulich war; dass er, sagen wir als 18-Jähriger, als Reserveleutnant im 8. Infanterieregiment niemals mit seinen Kameraden zu den diskret verschlossenen Häusern gegangen war, wo die Frauen ihre parfümierten Haare über die Gesichter von Männern und Knaben fallen liessen. Die würden eines Tages in ihre Heiraten eine spezielle Zaghaftigkeit mitbringen – denn wie nähert man sich sexuell einer Frau, die man nicht gekauft hat, die nicht definitionsgemäss schamlos ist? –, aber auch mit dem starken Drang, ihre Rechte durchzusetzen, eine Familie zu gründen, einen Namen und eine Tradition durch einen Sohn weiterzuführen. Was der Sterbende niemals getan hatte – da er nach fünf Jahren Ehe nur eine Tochter bekam –, so dass er sich nach einem Ersatz in einem Prinzen königlicher Herkunft umsehen musste. Den hegte er wie seine anderen Kadetten, Freiwillige, die der Armut entflohen, oder Zwangsverpflichtete. Allen hatte er das Ideal eines Dienstes am Mutterland eingepflanzt, über das die Jungfrau Maria wachte. Ihr Bildnis war auf jener Medaille eingeprägt, die auf seiner Brust lag – nicht die Magd des Herrn, ancilla Domini, aus den Gebeten der Nonne, sondern eine kriegerische Königin.

Aber Fergus wusste – da er seinen Gegenstand intensiv studiert hatte –, dass einige derjenigen, die dem grossen Mann nahegestanden hatten, sagten, er sei letztlich nicht gläubig gewesen: Er befolgte die Formalitäten, ja, er verlangte nach dem kirchlichen Prunk, der einst das Vorrecht der Könige von Spanien gewesen war, aber er war kein Gläubiger. Es gab sogar solche, die sein Gebet zum Erntedankfest in der Kirche der Heiligen Barbara (Schutzheilige der Artillerie, deren Salven seine Siege begrüssten) beinahe blasphemisch fanden, da er für sich beanspruchte, beim Sieg über seine Landsleute ein Werkzeug Gottes gewesen zu sein. Den frischen Scharen von jungen Männern und Knaben, die Jahr für Jahr mit ihren Hoffnungen und Aspirationen zu der von ihm befehligten Militärakademie kamen, hatte er nicht – so wiesen Kritiker darauf hin – die Religion gelehrt. Was sie lernten, war Pflicht und, wie er es kühl nannte, ›angemessene Vorsorge‹, damit ihre sexuellen Abenteuer folgenlos blieben. Ja, hatte er gesagt, ja, die Jugend hatte ihn beeinflusst. Die Jugend, in die er womöglich seine Liebe investiert hatte. Keusch. Denn er war nicht wie sein Bruder, der Exhibitionist, der kühne Atlantiküberquerer, der seine ›Frau‹ heimgebracht hatte, die er in den Kaschemmen von Marokko aufgegriffen und dann verlassen hatte; er war wirklich ein Bräutigam des Kriegs. Man sehe sich seine Hochzeit an, die ständig verschoben worden war, da er dem Aufruf folgte, in den kolonialen Feldzügen zu kämpfen, die seinen Ruf begründeten. Sein Motto lautete: Liebe dein Mutterland. Liebe das Opfer. Von da war es nur ein kleiner Schritt zum Schlachtruf der Deutschen, Österreicher, Franzosen und Lateinamerikaner seiner Legion: das Oxymoron – Lang lebe der Tod!

Den sterbenden Mann hatte, mutmasste Fergus, während das Licht langsam durch die Vorhänge zu sickern begann, ziemlich sicher eine starke und sexuell unterlegte Erregung getrieben, die ihn dazu führte, den Risiken und Gefahren des Kriegs, dem Orgasmus des Todes entgegenzutreten. Eine Erregung, von der Fergus fühlte, dass er selbst darum betrogen worden war – was er unter dem Siegel der Beichte sogar gegenüber der Weisen Frau zugegeben hatte, als er sie während einer Zeit der Einsamkeit, des Verlusts der Liebe oder (was er am meisten fürchtete) der Fähigkeit zu lieben aufgesucht hatte.

Es war unfair, hatte er erklärt, während das Gasfeuer in ihrem Studierzimmer flüsterte und von irgendwoher über den Platz Klavierklänge von einem Kind wehten, das eifrig und sorgfältig übte. Was war unfair?, hatte die Weise Frau gefragt. Er hatte nicht geantwortet, weil ihn die Klavierklänge ablenkten. Deshalb verstummte er für ein paar Minuten lang und liess ein Schweigen sich aufbauen, in das hinein die Weise Frau ihre rituelle Verabschiedung aussprach. Die Sitzung war vorbei. Aber als er über den Hügel nachhause ging, probte er, was er ihr hatte erklären wollen. Die Erregung während des Kriegs, als die Kampfflugzeuge vom Flughafen bei den Kreidehügeln der Downs ausschwärmten. Die Verflechtungen der Kondensstreifen, als die Flugzeuge über seiner Schule wirbelten und glänzten. Die toten Kühe in einem Feld, wo die Bombenkrater wie riesige Gartenteiche in der Kreidelandschaft lagen. Die abgestürzte Messerschmidt in den Sümpfen jenseits der Bahnlinie. Die Tafeln mit Aufrissen feindlicher Flugzeuge oder gepanzerter Fahrzeuge an den Wänden seines Arbeitszimmers. Die Kadettenübungen, die keine blossen Spiele, sondern Vorbereitungen für den Kampf waren, wenn die Zweite Front endlich an der Küste eröffnet wurde. Die glaubte er an schönen Tagen zu sehen, wenn er auf den Kamm der Downs kletterte, inmitten der Flugabwehrstellungen mit den Fussball spielenden Besatzungen. Mit ein wenig Glück würde die Schulzeit vor Beginn der Invasion vorbei sein, und er und seine Kameraden beim Kadettenkorps würden zu jenen Abenteuern aufgeboten, die sie in den dunklen Schlafsälen der Klassenaufseher unermüdlich diskutierten – mit derselben prickelnden Neugier, mit der sie dem ältesten unter ihnen lauschten, wenn er erzählte, wie er das Dienstmädchen unter dem Esstisch gefickt und sie mit einer halben Krone belohnt hatte.

Von einem der amerikanischen Soldaten, die in den Wäldern hinter den Downs campierten und auf den D-Day warteten, hatte derselbe Junge einen seltenen Preis erhalten, den er hegte und schlau verbarg, auf das Risiko hin, zumindest eine Tracht Prügel zu kriegen oder womöglich sogar von der Schule verwiesen zu werden: ein Magazin, das sich Silk Stockings nannte. Für eine kleine Entschädigung – ein Stück selbstgebackenen Kuchen, ein Teil der Ration an Süssigkeiten – war er bereit, unter grösstmöglichen Sicherheitsvorkehrungen die Bilder zu enthüllen, deren Hüter und Besitzer er war: Junge Frauen, die mit einem falschen unschuldigen Lächeln von den Magazinseiten blickten, mit Schmollmund, und einen einladenden Blick über eine Schulter warfen. Aber was sie vor allem zeigten, waren lange Beine in Seidenstrümpfen, die von Strapsen gehalten wurden, die in Unterwäsche verschwanden, unter denen Geheimnisse lagen, die Fergus in seiner gefolterten Unschuld und seinem schuldbeladenen Masturbieren nur erahnen konnte.

Diese Bilder studierte er kurz, schuldbewusst im Kämmerchen seines Arbeitszimmers, in dem Plakate sofort eine Zweite Front forderten und verkündeten, dass der Kampf der Roten Armee auch derjenige Grossbritanniens sei. Darunter, auf einer Karte von Osteuropa, markierten kleine rote Flaggen den russischen Vormarsch von Stalingrad her, und rote Kreise bezeichneten die befreiten Städte: Kursk, Smolensk, Orel. Im Debattierclub der Schule hatte er verkündet, er sei Kommunist – eine Behauptung, die der Rektor mit ironischem Lächeln akzeptiert hatte, da eine solche Anwandlung angesichts der Propaganda, die alle (inklusive der BBC) absonderten, entschuldbar sei. Fergus MacIvers jugendlicher Enthusiasmus, argumentierte er, werde sich mit dem Alter und der Erfahrung abschwächen; schliesslich sei er selber in seiner Jugend durch den Sozialismus in Versuchung geführt worden. Also sollte man den Knaben sich ausdrücken lassen.

Aber Fergus war zu spät gekommen. Eine Woche nachdem die neuen Rekruten, die er befehligte, ihre Ausrüstung den Gangway hinauf und auf das Boot gestemmt hatten, das sie von Newhaven nach Ostende brachte, hatte der Krieg geendet. Seine wachsende Erregung war nicht gestillt worden. Das war es, was unfair war.

Er mochte der frische rothaarige Leutnant gewesen sein, den ich eines Morgens im April 1945 sah, wie er Jungs mit geröteten Gesichtern sich mit Gewehren und Tornistern in einer Einerreihe am Fuss einer Gangway aufstellen liess, als ich mit einem Offizierskollegen auf den Quai trat, nach fünf Jahren im Krieg, in dem wir beide unsere Unschuld verloren hatten. »Mein Gott«, sagte mein Begleiter, »da fühlt man sich ganz schön alt.«

Vor sich würden sie die lange langsame Reise in einem Lastwagenkonvoi haben, durch Städte, in denen Trümmerhaufen die Strassen versperrten. In verkraterten Feldern sanken zerstörte Panzer in den feuchten Boden. An den Strassenrändern rosteten ausgebrannte Anti-Tankgeschütze, daneben eine Ansammlung von Kreuzen, britisch, amerikanisch, deutsch. Auf einigen von ihnen mochte ein hoffnungsfroher Strauss aus Frühlingsblumen liegen. Ihr Konvoi zog nach Osten, dem Dröhnen der Kanonen entgegen, über den Rhein und in die norddeutsche Ebene. Aber plötzlich schwiegen die Kanonen, und der Konvoi hielt an. Für sie war der Krieg vorbei.

Statt Kriegshandlungen, diesem Ausprobieren am Abgrund von Angst und Erregung, gab es den Antiklimax des militärischen Lebens in der Besatzungsarmee. Monate in einem Niemandsland, wo sich die geschlagenen Feinde in abgewetzten und zerfetzten Uniformen wie Insekten auf den Trittbrettern und den Dächern dahinkriechender Züge drängten, und die Sieger, während sie die Tage bis zur Demobilisierung zählten, mit gemischten Gefühlen dem Zivilleben und dem Verlust von Privilegien, Autorität und Freiheiten entgegensahen, die ihnen der Krieg verschafft hatte. Er trank in den NAAFI-Clubs, wo die Veteranen an der Bar vom afrikanischen Wüstenkrieg, der Schlacht an der Bulge, den Stränden in der Normandie, der Rheinüberquerung, den Luftangriffen auf Berlin erzählten, und die Neuankömmlinge mit jungen Frauen in den blauen Uniformen der Kontrollkommission tanzten. Mit einer von ihnen, in einem geliehenen Jeep, im Sommer 1945, fuhr Fergus (immer noch jungfräulich) über die Lüneburger Heide; eine junge Frau, deren Vater eine angesehene Advokatskanzlei in Lincoln’s Inn in London führte: Sarah, hochgewachsen, blond, katholisch (nicht mehr praktizierend), die zwischen den Heiderosen und dem hohen Gras, die die Mulden zwischen den mittelalterlichen Türmen füllten, energisch zur Sache ging und kicherte, wenn ein Grashüpfer auf ihrer nackten Haut landete.

Die Frau regte sich im Bett und drehte sich um. Im Dämmerlicht konnte Fergus sehen, wie sie mit der Hand reflexartig eine Haarsträhne zurückstrich, die ihr über den Mund gefallen war. »Judith«, sagte er leise, »Judith.« Sie antwortete nicht, aber drückte ihr Gesicht noch stärker ins Kissen. Die dünne Goldkette mit dem Davidstern, den sie beharrlich trug, lag lose auf der Haut. Ihre Hand rutschte ab und blieb am Rande der Matratze liegen. Er beugte sich hinüber und berührte die Hand. Die reagierte nicht, wurde aber auch nicht in den Schutz des Bettlakens zurückgezogen. Er fuhr mit den Fingern sanft über ihren Handrücken, über das Handgelenk hinaus, bis dorthin, wo die zarten dunklen Haare begannen. Sie brach den Kontakt nicht ab, aber sie antwortete auch nicht auf den Druck seiner Finger. Er liess seine Hand eine Zeitlang liegen, die vom Rhythmus ihres Atems bestimmt wurde, der, wie er glaubte, unnatürlich kontrolliert war, regelmässig, aber bewusst. Er zählte auf zehn, zog dann seine Hand zurück und drehte sich um. Es gab keine Hoffnung mehr, dass sie das Bettlaken anheben würde und ihn mit einem »Herein mit dir« in die Wärme ihres Körpers und die Stärke ihrer Schenkel empfangen würde. Plötzlich entschlossen stand er auf und begann das Ritual eines Tags, der wieder aus Warten bestehen würde. Als er aus der Dusche in der Zimmerecke kam, lief sie im Nachthemd herum; durch das einfache lose Hängekleid konnte er, wenn sie sich bückte, das geschwungene Rückgrat ihres starken, muskulösen Rückens sehen. »Hallo«, sagte er. Sie antwortete mit einem »Hallo«, das rein rituell war, verschlossen, neutral, abweisend. Er zog sich schnell an und folgte dem Fortschritt ihrer Körperwäsche – eine Abfolge, die er auswendig kannte und in der es kein Verheimlichen, keine falsche Bescheidenheit gab, sondern nur eine kühle körperliche Distanz, so neutral wie ihr Morgengruss.

Er sitzt auf dem Bettrand, betrachtet die Karte dieser Stadt, die die Winde von der Sierra durchfegen, in der ein römischer Aquädukt sich hundert Meter von ihrem Hotel entfernt über die Hauptstrasse schwingt. Er kennt die Anlage der Strassen, die vom Platz ausgehen, weil er sie sorgfältig studiert hat. Er schaut hinüber, wie sie ihre Sachen einsammelt und dabei das Zimmer genau, ordentlich mustert – denn Ordentlichkeit ist eine ihrer grössten Tugenden –, bereit zum Aufbruch, falls sie entscheiden sollten, diesen Morgen wegzufahren. Schneidend fühlt er das Vakuum, in dem sie leben und sich bewegen, nah und entfernt zugleich, aber er kann nicht mehr als jeder andere Mann in ihr Inneres blicken; denn wir sind von unserer Konstitution her voneinander getrennt, so dass selbst die Augenblicke der Nähe vielleicht nur eine Illusion sind und dies wohl am stärksten, wenn sich unsere Körper durchdringen.

»Warum beobachtest du mich?«, fragt sie, mit einer Spur Tadel. Sie ist zornig und misstrauisch, denn die Gründe, warum sie hier ist, sind ihr nicht klar, und sie befürchtet, dass sie weniger mit der Recherche für einen Dokumentarfilm über die spanischen Befreiungskriege als mit einem Zweck zu tun haben, den er vor ihr verbirgt. In der Zeit, die sie zusammen sind – mittlerweile fünf Jahre –, hat er viel vor ihr verborgen: so viel, dass sie ihn gelegentlich anschrie und mit den Fäusten auf ihn losging, was er einen hysterischen Anfall nannte, als ob ihr Zorn durch Hormone verursacht würde und nicht durch einen verzweifelten Versuch, den Schutzwall seiner Zurückhaltung zu erstürmen, um die Quelle seiner Gedanken und Gefühle zu finden, zu entdecken, was ihn abgesehen von Sex und, wie es ihr schien, einer Art Wohlwollen bewegte. Ein Wohlwollen, das sie nach dem Tod ihres Ehemanns, jenem abwesenden Herrn ihres Herzens, gerne angenommen hatte. Deshalb sammelt sie mit gezügeltem Zorn ihre verstreuten Strümpfe, ihr Nachthemd und ihre Toilettensachen zusammen und packt sie ein. Schweigend. Entschlossen, stelle ich mir vor, zu schweigen. Ihren Zorn im Zaum zu halten.

Judith ist eine Rechercheurin; eine Dienstmagd, die intellektuelle Nahrung für Regisseure (zumeist männlich) zusammensuchen muss, die nicht talentierter als sie sind, aber über ein Netz von Bekannten verfügen, das aus dem Militärdienst, der Schule, dem Gymnasium und der Universität stammt. Für die spürt sie erfolgreich Archivfilme, Filmbilder, einen Druck in einem Modemagazin aus der Zeit König Edwards auf; sie herrscht über ein Adressbuch, in dem sie schnell und genau einen mit kräftiger Handschrift in Grossbuchstaben verzeichneten Sprecher, eine Kontaktperson, einen Guru aus dem Kulturbereich, einen Militärhistoriker, einen Abgeordneten mit genau dem passenden linken oder rechten Touch für ein Programm finden kann, für das sie angestellt worden ist. Ihre Belohnung: ihr Name im Abspann eines Films, wo er nur von anderen Berufsleuten gelesen wird, die sich zu ihrer Frau, ihrem Partner, einer Geliebten, einem Programmleiter wenden und sagen: »Judith Gordon – war die nicht mit jenem Spitzen-Kameramann verheiratet, Kev, wie hiess er noch mal, der zu nahe an die Eigernordwand heranflog? Erinnerst du dich an die Aufnahmen vom Flugzeugabsturz? Man kann zwei Männer an der Felskante sehen. Am Erfrieren. Versuchen zu winken. Dann gibt es plötzlich diesen verblüffenden Schwenk und dann nichts mehr. Ausserordentliche Sache. Hab mit ihr an jenem Film zusammengearbeitet, den ich über Machu Picchu gemacht hab. Gute Rechercheurin – beherrscht ihr Handwerk. Allerdings nicht mein Typ. Ziemlich kühl, abgekapselt, hab ich immer gedacht. Na, auf jeden Fall wünsch ich ihr viel Glück.«

Als sie sich zum ersten Mal für einen Job als Rechercheurin beworben hatte, hatte sie nur einen knappen Lebenslauf zusammengekriegt:

1945–1951 South Hampstead Mädchengymnasium (wo ihre Mutter erzogen worden war und woran sie nur wenige gute Erinnerungen hatte)

1952–1955 Universität London, Lizentiat in Spanisch (Note 2.1)

1955–1958 Übersetzerin und Simultandolmetscherin für die Uno-Nahrungsmittelorganisation (FAO) in Rom

1958 – Büroorganisation – kommerzielle Übersetzungen – stellvertretende Leiterin einer Buchhandlung für fremdsprachige Literatur

Einträge, die über die platten Fakten hinaus durch einen wichtigen Subtext hätten erläutert werden sollen: Wie sie an der Universität, nachdem sie die Bevormundung ihrer Mutter abgeschüttelt hatte, Bier trank, ihre Jungfräulichkeit verlor, Melonen in einem Kibbuz erntete und unglücklich war. Nichts über Itzak, wegen dem sie so unglücklich war, auch nichts über die lange Verbindung mit einem Studienkollegen in Rom, Sebastian, Sohn eines exilierten Kämpfers der spanischen Republik, über seine Seitensprünge, über den Schmutz und Schmerz ihrer Trennung, gefolgt von einer Zeit der Leere, von Springer- und Teilzeitjobs und Einsamkeit. Eine Zeit gelegentlicher sexueller Eskapaden in einer Einzimmerwohnung auf dem Hügelzug über Lavender Hill in Südlondon, von wo aus man, bei klarer Sicht, jenseits der Türme und Kuppeln von Kensington die Anhöhe von Hampstead sehen konnte. Dort besuchte sie (so selten wie möglich) ihre Mutter, die mit Untermietern und Katzen in einem heruntergekommenen Haus mit Garten lebte, das auf den Park blickte. Aus diesem Haus heraus war die Mutter einst geheiratet worden, und in ihm lebte sie, als ihr Ehemann verschwand, ihren selbst auferlegten Witwenstand. Pensioniert als Englischlehrerin in einer Staatsschule – »nicht gerade die Crème de la Crème, kann ich dir versichern« –, genügten ihre Pension und die Mieten ihrer Untermieter – »alles Berufsleute« –, um sie in Gin-betäubter Bürgerlichkeit zu bewahren.

Dann war da Kev gewesen, der Junge aus West Kilburn, der die Schule mit fünfzehn verlassen hatte und keine Ansprüche erhob, aber eine grosse Begabung besass, ihre Mutter zu bezirzen und in ihr selbst eine Art mütterlicher Zuneigung zu wecken. Seine eigene Mutter war gestorben, als er vier war, und Judith behauptete, in ihm die Gestalt eines Waisenkinds zu entdecken, wofür sie ihm seine Vorliebe für Ketchup und Speckbrote verzieh. Nicht fassbar, ständig verschwindend, um zurückzukehren und Judith zu bezaubern und zu verführen, mit Geschenken wie Muscheln, eine Eskimo-Skulptur aus Seifenstein, ein Armring aus Nashornhaar, eine untersetzte indische Figur, die, wie er behauptete, ein Talisman gegen Seuche und Tod war. Unbeständig, war er so selten anwesend, dass sie gar nicht aus ihrer kleinen Wohnung ausgezogen war, in der er seine Filmausrüstung untergebracht hatte. Zusammen mit einem Stativ und Filmdosen lag die Ausrüstung in einer Schlafzimmerecke, wo er sie kontrollierte und obsessiv reinigte. Wenn Judith beobachtete, wie er sie pflegte, bewunderte sie, wie die Geräte ein Teil seiner selbst zu werden schienen, und sie verstand, warum seine Kollegen ihn den ›Mann mit der Federung in den Knien‹ nannten. Selbst wenn die Aufnahme mit der Handkamera erfolge, sagten sie, könne man darauf wetten, dass sie vollkommen scharf blieb. Sie lernte, wie er durch die Kameralinse die Geschehnisse beobachten konnte, sie zentriert hielt, gut ins Bild rückte – selbst wenn was er sah (etwa an der thailändischen Grenze) ein Junge war, der vor Angst kotzte, als ein Banditenführer ihn verhörte und dann den Wachen ein Zeichen gab, die ihn wegführten und zu Tode prügelten. Aber nachdem er aufgehört hatte zu drehen, musste er selbst kotzen, was den Beherrscher jener grünen und fruchtbaren Hügel amüsierte, von denen aus das weisse Pulver nach den Strassen von New York und London exportiert wurde. Er war nicht untreu, ausser in dem Sinn, dass er gefährliche Aufträge nicht ablehnen konnte, was möglicherweise ihrer Leidenschaft eine besondere Schärfe verliehen hatte, eine Angst, die durch sie wie ein Orgasmus floss, während sie an langen Morgen neben ihm lag und seinen Körper erforschte. Sie hatte versucht, die Angst durch eine Heirat auszutreiben, während seine Kollegen im Standesamt verlegen im Hintergrund herumstanden. Beim Empfang in einem Pub in der Wardour Street in Soho verkrampfte sich ihre Mutter und begann zu weinen, so dass Kev sie trösten musste und sie in ein Taxi setzte, das sie nachhause nach Hampstead brachte. Aber die Teufelsaustreibung hatte nicht gewirkt, und als er von einem Auftrag aus den Alpen nicht zurückkehrte, blieb Judith mit einem Gefühl der Leere, des Mangels und des Verlangens zurück.

In derselben Einzimmerwohnung hatte sie zum ersten Mal mit Fergus geschlafen, diesem Mann, diesem Filmemacher, den sie nicht liebte, so wie man lieben zu verstehen pflegt, aber der sie in den Augenblicken grösster Verzweiflung getröstet und sie beruflich viel gelehrt hatte, mit dem sie zusammenarbeitete und der bereit war – wie sie in ihren lichteren Augenblicken glaubte –, ihr einen Teil seines eigenen grundsätzlich einsamen Lebens zu widmen. Zumindest jenen Teil, der sich den Anforderungen der Politik entzog. Denn er gehörte zu einer strikt organisierten und, wie ihr schien, paranoiden linken Partei, die ihn (selbst nachdem er bei ihr eingezogen war) im Namen der revolutionären Disziplin zu Sitzungen in der Werft aufbot (und er leistete den Aufgeboten Folge). Die Werft war ein festungsartiges Hauptquartier (in das ihr nie erlaubt worden war, einzutreten), am Ufer eines öligen Kanals; und die Partei, so vermutete sie, hatte ihn auch nach Spanien geschickt. Also würde sie ihren Teil in der Scharade spielen, Schauplätze, Gemälde und Gravierungen über den spanischen Befreiungskrieg gegen Napoleon suchen, Aufnahmen machen, so wie sie – kaum waren sie in Madrid angekommen – als Übersetzerin amtete, während Fergus versuchte, Kader des spanischen Fernsehens für eine Ko-Produktion zu gewinnen – modisch gekleidet, undurchschaubar hinter ihren Sonnenbrillen und zweifellos mit wichtigeren Dingen beschäftigt, da das Staatsoberhaupt im Sterben lag.

»Also, Fergus«, fragte sie, als sie nach dem Frühstück im beinahe leeren Frühstücksraum sassen und beobachteten, wie die Regentropfen die Fensterscheiben herunterrannen, »wirst du mir sagen, was wir hier eigentlich tun?« Mit dem Finger tupfte Fergus die Krümel des Croissants auf seinem Teller auf.

»Ich muss auf einen Kontakt warten. Er kommt entweder heute oder morgen.«

»Einer deiner Kumpel?«

»Ja, ein Genosse.«

»Ich nehme nicht an, er ist ein Experte bezüglich des spanischen Befreiungskriegs, oder doch?«

»Ich bezweifle es. Sagen wir, es handelt sich um eine Parteiangelegenheit.«

»Also die üblichen Spielchen – lang lebe die Vierte Internationale und die Weltrevolution. Wunschdenken und Verfolgungswahn.«

»Nein, diesmal ist es ernst. Du hast die Zeitungen gesehen. Das Land befindet sich auf der Kippe. Aber das, wovon ich spreche, ist nichts Besonderes. Sehr einfach. Nicht wirklich gefährlich.«

Sie hüstelte leicht, wie sie es tat, wenn sie verärgert, aufgebracht, widerspenstig war.

»Also bin ich bloss ein Deckmäntelchen?«

»Nein«, sagte er, »ich brauche dich.«

»Zu gnädig, werter Herr«, antwortete sie ironisch.

Er streifte sie mit einem Blick.

»Du weisst, was ich meine – du bist nicht bloss ein Deckmäntelchen – wir haben all dieses Material. Wir werden es gebrauchen können, wenn wir zurück sind.«

Er tätschelte die Kameratasche auf dem Stuhl neben sich. Darin befanden sich bereits Bilder von Mauern, an denen Tote und Verwundete in Rauch und Flammen gehangen hatten, deren Füsse sich in Sturmleitern verfangen hatten, von einem in die Landschaft gekauerten Dorf, wo man nach einer Schlacht die Federbüsche der toten schottischen Soldaten bündelweise eingesammelt hatte, von einem langen Abhang oberhalb einer Hauptstrasse – ein Schlachtfeld, auf dem er mit dem Schuh ein verbogenes Hutabzeichen freigelegt hatte, französisch oder britisch.

»Das macht mich immer noch zu einem Deckmäntelchen.«

»Wenn du das so sehen willst. Aber ich hab gedacht, wir seien Partner. Ich möchte, dass du dabei bist – für alle Fälle. Aber vermutlich sprechen sie Englisch. Wie Carlos. Erinnerst du dich an Carlos?«

Sie erinnert sich an einen jungen Mann, der an irgendeinem Nordlondoner Polytechnikum studierte, bärtig, kurz angebunden, der sie mit betontem Desinteresse und beträchtlichem Misstrauen behandelt hatte. Das hatte ihn nicht daran gehindert, von ihr zu erwarten, dass sie lange und verwickelte Protokolle über sektiererische Debatten innerhalb der Vierten Internationale übersetzte. Sie erinnert sich insbesondere an sein Urteil über ihren Vater: »Ein Stalinist.« Worauf sie nichts antworten konnte, denn obwohl sie die Sprache der grossen Spaltung innerhalb der Linken verstand, so sprach sie diese doch nicht. Auch konnte sie einen Mann nicht verteidigen, den sie nicht gekannt hatte, ausser von einem Bündel Fotografien, die ihre Mutter an der Rückseite des grossen dunklen Schreibtischs im Wohnzimmer versteckt hatte.

Eines Tages, als sie zwölf Jahre alt und ihre Mutter sicher aus dem Haus war, hatte Judith einen verborgenen Hebel im Schreibtisch gefunden und gedrückt und aus dem Versteck einen grossen Umschlag hervorgeholt, der mit einem einzigen Wort angeschrieben war: »Tony«. Darin fand sie Fotografien, die sie seither auswendig kannte. Sie legte sie zuweilen auf einen Tisch, wobei sie darauf achtete, die Reihenfolge nicht durcheinander zu bringen, und versuchte, die Bilder zu entziffern: ein junger Mann in Flanellhosen und einem Hemd mit offenem Kragen, mit den dunklen Haaren, die er ihr zusammen mit den starken Gesichtszügen vererbt hatte. Neben ihm stand zumeist eine junge Frau (blond, aschblond) mit einem rundlichen plumpen Gesicht aber einer schlanken Taille. Ein Windstoss auf einer Klippe drückte ihren Baumwoll-rock gegen die Hüfte, als sie eine Hand hob, um das feine Haar zurückzustreichen, das über ihr Gesicht wehte. Dieselbe junge Frau hatte jemand aufgenommen, als sie in einer Bucht in Cornwall auf einem Felsen sass und sich lächelnd der Kamera zuwandte. Ihr Lächeln war offen und vertrauensvoll und hatte eine gewisse Sinnlichkeit. Das war ihre Mutter, aber Judith fand es schwierig, sie mit der unzufriedenen, abweisenden Frau zu verbinden, die sie kannte. Noch unwahrscheinlicher erschien es ihr, sie auf einer Strasse, vermutlich dem Embankment in London, mit einem (vermutlich roten) Banner, auf dem »WAFFEN FÜR SPANIEN« stand, marschieren zu sehen. Auf der Rückseite war das Bild mit 1936 datiert, jenem Jahr, in dem dieser unbekannte Mann, ihr Vater, auf Anordnung der Partei nach Spanien ging, um dort zu kämpfen, und eine schwangere Ehefrau zurückliess.

Es gab ein paar Bilder vom selben Mann aus Spanien mit seinen Kameraden – Genossen, würde er sie ohne Zweifel genannt haben, aber sie fand das Wort schwierig und konnte sich nicht vorstellen, dass es ihre Mutter gebraucht hatte. In einem Bild alberten sie vor der Kamera herum – ein Genosse mit einer Tätowierung auf dem Arm hatte ein Bajonett zwischen den Zähnen. Albacete, hiess es auf der Rückseite – der Name bedeutete ihr nichts, bis sie viel später entdeckte, dass dies das Lager war, wo sich die Internationalen Brigaden versammelt hatten, bevor sie an die Front zogen. Auf einem anderen Bild stand er allein, geisterhaft, beinahe körperlos in der vergilbenden Schwarzweissaufnahme. Nicht düster, sondern ein wenig lächelnd, reckte er eine geballte Faust, als ob das Gewehr in der anderen Hand so harmlos wie die Stangen jenes Banners sei, das er auf jenem Marsch dem Embankment entlang bis zum Trafalgar Square getragen hatte. Darüber hinaus wusste sie von ihm bloss, dass er bei der Verteidigung von Madrid mitgekämpft hatte und dass er nach einer Schlacht im Jarama-Tal als vermisst, vermutlich gefallen gemeldet worden war.