Cover

Mit Illustrationen von Max Meinzold

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Coverillustration und Vignetten: Max Meinzold

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie,

unter Verwendung einer Illustration von Max Meinzold

Lektorat: Michelle Landau

aw • Herstellung: uk

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25378-3
V001

www.cbj-verlag.de

In jeder Sage steckt Wahrhaftiges.

In jeder Wahrheit steckt Sagenhaftes.

INHALT

Kapitel 1 – Blutmond

Kapitel 2 – Alibaba

Kapitel 3 – Löwenpeter

Kapitel 4 – Gänsechaos

Kapitel 5 – Wandermuscheln

Kapitel 6 – Reusen, Räuber und Riesenwaller

Kapitel 7 – Sausmikats Sagenwelt

Kapitel 8 – Das Muschelhaus

Kapitel 9 – Mercury Superwings

Kapitel 10 – Ein seltsamer Fund

Kapitel 11 – Najaden

Kapitel 12 – Irrfahrt auf dem Malmuddy

Kapitel 13 – Unter schwarzer Flagge

Kapitel 14 – Käpt'n Modder

Kapitel 15 – Die geheimnisvolle Insel

Kapitel 16 – Das Baumhaus

Kapitel 17 – Der stumme Samstag

Kapitel 18 – Flapperone

Kapitel 19 – Die Weiße Königin

Kapitel 20 – Das Zauberding

Kapitel 21 – Margaritifera migrata

Kapitel 22 – Der Rote Ritter

KAPITEL 1Blutmond

Blutmond

ES WAR EINE WINDSTILLE SOMMERNACHT. Der Halbmond streute funkelnde Lichter auf die trägen Wellen des Malmuddy, der sich in weiten Schleifen durch die Hügellandschaft der Oakys zog. Ein einsamer Lastkahn schob sich durch den breiten Strom, seine roten Positionslampen spiegelten sich im dunklen Wasser. Im kleinen Ruderhaus der Molly Dick legte Kapitän Hank Burbank seine Pfeife weg und rückte die Schiffermütze zurecht. Argwöhnisch spähte er auf den mondbeschienenen Fluss hinaus.

Er fürchtete sich nicht wegen der Schauermärchen, die die Alten über den Malmuddy erzählten. Etwa, dass an seiner tiefsten Stelle, im Drudengrund, einst Hexen ertränkt worden waren. Oder dass dort urplötzlich Geisterstrudel entstanden. Oder dass in den Tiefen ein uraltes Riesenwelsweibchen hauste. Er glaubte auch nicht an die Weiße Königin, das verfluchte Edelfräulein. Die Alten behaupteten, ihr Geist spuke auf der Insel herum, die im Drudengrund lag.

Hank schnaubte in seinen Bart. So ein Quatsch.

Absolut kein Quatsch waren jedoch die Felsen, die der Insel vorgelagert waren. Schwarz, schroff und scharf lauerten sie unter der Wasseroberfläche. Die Molly Dick wäre nicht der erste Kahn, der von ihnen aufgeschlitzt worden wäre. Hank drosselte das Tempo auf Schleichfahrt, als sich hinter der nächsten Flussbiegung der Drudengrund vor ihm öffnete. In dessen Tiefe lag angeblich auch die Blanche Lareine. Einst sollte die mittelalterliche Flussbarke an eben jenen Felsen zerschellt und samt Mann, Maus und einer geheimnisvollen Fracht untergegangen sein. Jüngst hatten Hobbyschatztaucher versucht, das Wrack ausfindig zu machen, waren jedoch in hundert Meter Tiefe angesichts des Unterwasserdschungels aus Mammutseegras und Gigantuskraut gleich wieder umgekehrt. Tiefer vorzudringen, wäre lebensgefährlich gewesen.

Das Wasser im Drudengrund war so tief, dass es sogar am helllichten Tag schwarz wirkte. Das linke Ufer war eine düstere Wildnis aus Schwarzerlen, das rechte Ufer wurde durch eine steil aufragende Felswand begrenzt, auf der eine Turmruine stand. Angeblich war dies der letzte Überrest der Burg, von deren Zinnen sich das verfluchte Edelfräulein, die Weiße Königin, in den Tod gestürzt haben sollte.

Hank schnaubte in seinen Bart. So ein Quatsch.

Kein Quatsch war jedoch die Insel, die sich aus der Mitte des Drudengrundes erhob. Hank schloss seine rauen Schifferhände fester um die gedrechselten Griffe des Steuerrads. In sicherem Abstand zur Insel manövrierte er die Molly Dick durch den Drudengrund. Ohne es zu merken, hielt er die Luft an, bis das Heck die nördlichen Ausläufer der Insel passiert hatte.

Geschafft! Hank griff nach seiner Pfeife. Sie war verlöscht. Er tastete nach den Streichhölzern, als sich plötzlich das Mondlicht veränderte. Stirnrunzelnd schaute er zum wolkenlosen Nachthimmel hinauf. Der eben noch silberhelle Halbmond hatte eine fahlrote Färbung angenommen. Und während Hank sich noch über das seltsame Naturschauspiel wunderte, spürte er einen dumpfen Schlag gegen den Schiffsrumpf.

Dann geschah alles gleichzeitig.

Das Steuerrad wirbelte wild hin und her, und als Hank es zu packen versuchte, schnellten die harten Griffe gegen seine Hände und schlugen sie fort. Sein Schmerzensschrei ging unter in dem Lärm der Instrumente, die plötzlich verrücktspielten. Das Echolot fiepte hektisch, der Kreiselkompass flutschte wild in seiner Glaskugel herum, das Nebelhorn stieß einen lang gezogenen Klagelaut aus.

Wie von Geisterhand gelenkt schwenkte der Bug der Molly Dick zurück zur Insel. Aus dem Nichts war dort eine Nebelwand aufgetaucht und flog nun über die Fluten hinweg genau auf den Kahn zu. Schon langten die ersten Schwaden über die Bordwand wie riesige Geisterfinger. Noch nie hatte Hank einen solchen Nebel gesehen.

Wenn es denn Nebel war …

Hank warf sich auf das wirbelnde Steuerrad und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran. Mit aller Kraft riss er es herum und gab Vollgas. Der Dieselmotor brüllte auf, und mit brodelnder Heckwelle pflügte der Kahn durch den Drudengrund, fort von der Insel, fort von dem Nebel.

Das Echolot beruhigte sich, der Kreiselkompass stand wieder still und das Nebelhorn verstummte. Hank sah schwer atmend zurück. Der Nebel löste sich so schnell auf, wie er entstanden war. Der Mond schien wieder in unschuldigem Silberweiß auf die schäumenden Kreisel der meterlangen Heckwelle herab. Etwas Helles tanzte darin, ging unter, tauchte wieder auf. Treibgut, dachte Hank. Das ist bloß Treibgut. Irgendein Plastikkanister, der über Bord gegangen war.

Doch dann …

Er sah hastig wieder nach vorn. Schnaubte. So ein Quatsch.

Seine Augen mussten ihm einen Streich gespielt haben.

Plastikkanister konnten nicht winken.

KAPITEL 2 Alibaba

Alibaba

ETLICHE MEILEN FLUSSAUFWÄRTS, IN OAKSEND, saßen zur gleichen Zeit ein Junge und ein Monster in einer verborgenen Kammer hoch oben auf dem Dachboden eines alten schäbigen Hauses am Ende des Mistelweges und spielten Karten. Das Monster mischte gerade. Plötzlich hielt es inne und kratzte sich das rechte Horn.

Der Junge, der ihm gegenübersaß, merkte auf. »Was ist los?« Unwillkürlich sah er durch das kleine runde Giebelfenster zum Nachthimmel auf. Es war Halbmond.

»Ich dachte nur … nein, alles in Ordnung«, murmelte das Monster, schlackerte mit den Ohren und teilte die Karten aus.

Der Junge nahm sie eine nach der anderen auf. Er war elf Jahre alt, hieß Robin und war ziemlich klein und blass. Wer ihn nicht kannte, übersah ihn glatt, so unscheinbar war er.

Das Monster hieß Melvin und war ganz und gar nicht zu übersehen – sofern es nicht gerade bluffte. Melvin konnte sein Fell nämlich jedem beliebigen Hintergrund anpassen wie ein Oktopus. Dann war er so gut wie unsichtbar. Er zeigte sich nur, wenn er sich zeigen wollte. Robin zeigte er sich oft und gern. Natürlich nur, wenn sie alleine waren.

Melvin war Robins Schutzmonster. Und sein bester Freund. Er war ein Pellitus, ein Fellartiger, und einen Kopf größer als Robin. Er hatte sehr bewegliche plüschige Ohren, ein paar Hörner auf dem Kopf, prächtige Fangzähne und war von oben bis unten mit blaugrauem Fell bedeckt. Da und dort zeigten sich in seinem Pelz dunklere Sprenkel, ähnlich wie Sommersprossen. Nur dass es ungewöhnlich große Sommersprossen waren. Eigentlich waren es eher Tupfen, aber Robin hütete sich, das Wort zu benutzen. Die Tupfen waren Melvins wunder Punkt. Es war ihm peinlich, dass er mit elfeinhalb Jahren immer noch sein Kinderfell hatte.

Melvin hatte fertig ausgeteilt – jeder bekam dreizehn Karten – und legte den restlichen Stapel zwischen sie. Sie spielten nicht mit gewöhnlichen Karten, wie die Menschen sie benutzten, sondern mit Monsterkarten. Statt vier Farben – Karo, Herz, Pik und Kreuz – gab es sechs Farben. Diese symbolisierten die sechs Monsterspezies: Fell, Schuppen, Panzer, Stachel, Feder und Schleim. Das Symbol für die Joker war eine Wolke, und es stand für die Fogger. Das waren Monster, die so hässlich waren, dass sie sich in Nebel hüllten.

Melvin nahm seine Karten auf und fächerte sie in seiner pelzigen Pratze auf. Die beiden Freunde musterten das Blatt des jeweils anderen mit steinernen Mienen. Das Spiel hieß Alibaba, und die Regeln waren ein bisschen kompliziert. Das fing schon damit an, dass man die Karten verkehrt herum hielt. Das eigene Blatt sah man gar nicht, man sah nur das Blatt des Gegenspielers.

Man musste dem Gegner möglichst viele Karten abluchsen. Dabei zählte nicht nur der Wert der Karte, sondern die Fähigkeit der ausgespielten Monsterart, so ähnlich wie bei dem Spiel Schere, Stein, Papier. Stachel schlug zum Beispiel alle Farben, wenn die Karte auf der zuvor ausgespielten Karte des Gegners lag. Lag sie aber darunter, schlug Stachel nur Fell, Panzer und Schuppen, aber nicht Feder und Schleim, denn eine Feder würde fortfliegen und Schleim einfach an den Stacheln abgleiten. Das galt aber nur in Runden mit gerader Zahl. Bei Runden mit ungerader Zahl war es genau umgekehrt – außer montags und mittwochs. Die Fogger schlugen alles, egal, ob sie oben oder unten lagen, ob es eine gerade oder eine ungerade Runde war – außer bei Vollmond. Und an Freitagen musste man höllisch aufpassen, denn an dem Tag war es wurschtegal, wie viele Karten man erbeutete. Hauptsache, man schlug die letzte Karte des Gegners.

Wie gesagt: alles ein bisschen kompliziert. Dafür durfte man so ziemlich alles setzen, was nicht gerade fest verwurzelt oder einbetoniert war.

Melvin sagte mit einem letzten Blick auf Robins Blatt: »Ich setze ein halbes Pfund Thunfisch.« Er tastete sein Fell ab, zog dann aus einer seiner vielen Taschen drei Dosen Thunfisch in Sonnenblumenöl heraus und legte sie auf einen alten Überseekoffer mit Messingbeschlägen.

Von einem Dachbalken seilte sich eine dicke Spinne ab und verharrte leicht schwankend über Melvins Kopf. Neugierig beäugte sie Robins Blatt, dann ballte sie sich zusammen wie eine Faust und hob ein haariges Bein senkrecht in die Luft, wie um Robin zu signalisieren: Alles bestens! Dann hangelte sie sich flugs wieder nach oben.

Robin kaute auf der Unterlippe und machte eine Miene, als hadere er mit Melvins Blatt. Dabei schien ihm der Sieg so gut wie gewiss. Melvin hatte nur Nieten auf der Hand. Doch das durfte Robin sich natürlich nicht anmerken lassen. Und wenn er das Zeichen der Spinne richtig deutete, hatte er selbst ein sehr gutes Blatt.

Er tat so, als sei er unsicher, seufzte und sagte: »Ich setzte drei Bronferschuppen« und zog drei handtellergroße, raue Schuppen aus der Hosentasche. Bronferschuppen waren ungemein praktisch. Man konnte damit wasserfestes Feuer machen. Er legte die Schuppen zu Melvins Thunfischdosen.

»Ich geh mit«, erwiderte Melvin, zog ein Glas Maraschino-Kirschen aus einer anderen Felltasche und stellte es zu den Einsätzen.

Robin verkniff sich ein Grinsen. Melvin reizte hoch, doch mit dem Blatt konnte er unmöglich gewinnen. Es sei denn, er spekulierte auf die Karten im Stapel, und so viel Glück hatte selbst ein Schutzmonster nicht. Doch es kam noch schöner.

»… und ich erhöhe noch um zehn Lakritzen«, fügte Melvin hinzu, griff wiederum in eine Felltasche und zog einen dunklen runden Stofffetzen heraus. Er warf ihn auf den Boden neben sich. Sowie der Stoff die Dielen berührte, wurde er lebendig, breitete sich aus und mit einem leisen Schmatzen öffnete sich ein Loch im Boden. Es war der Zugang zur Schleusenkammer von Melvins Hatchpatch, eine Art Expresstunnel, mit dem man von einem Ort zum anderen gelangen konnte. Melvin tauchte mit dem Arm bis zur Achsel hinein und kramte darin herum. Robin hörte, wie Schubladen in der Schleusenkammer auf- und zu gingen. Dann zog Melvin eine Handvoll Lakritzschnecken hervor und legte sie neben das Glas mit den Maraschino-Kirschen.

Robin holte tief Luft. »Ich erhöhe um …« Er legte eine Tüte Puffmais und eine Trillerpfeife zu den Einsätzen.

Melvin zog wieder mit und legte ein leicht zerdrücktes Karamelleclair dazu, eine verschlafen blinzelnde Zwergfledermaus und eine Wellhornschnecke.

Hmm, dachte Robin, Melvin ging aufs Ganze. Aber kein Problem. Er griff tief in seine Hosentasche und zog seinen kostbarsten Schatz heraus. Es war eine Sternschnuppe. Im milchigen Weiß der Murmel schillerten regenbogenfarbige Einschlüsse wie bei einem Opal. Er legte die Lieblingsmurmel zu dem Haufen. Er hatte sie ja gleich wieder …

Melvin verzog keine Miene. Nur seine Schnurrhaare fingen an, sachte zu beben. Dann gab er sich einen Ruck und holte nun seinen kostbarsten Schatz heraus. Er legte einen zusammengefalteten Zettel neben die Sternschnuppe.

»Was ist das?«, fragte Robin.

Melvin grinste: »Ein Rezept für Honigpops. Hab ich von Helen.«

»Echt?«, fragte Robin verblüfft. Helen war Melvins Tante und konnte fantastisch kochen, doch sie hütete ihre Rezepte wie Kronjuwelen. Robin fragte lieber nicht, wie Melvin an das Rezept gekommen war. Bei der Aussicht auf die sagenhaften Honigpops lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

»Simsalabim!«, rief Melvin und eröffnete damit das eigentliche Spiel.

Wie sich zeigte, hatte Robin nicht nur ein gutes Blatt, sondern ein super Blatt. Und es wurde mit jeder Karte, die er vom Stapel zog, sogar noch besser. Noch nie hatte er so viele Fogger gezogen. Er luchste Melvin eine Karte nach der anderen ab. Der lief vor Ärger pflaumenblau an.

Dann warf Robin seine letzte Karte ab. Ein Fogger!

Melvins letzte Karte war auch ein Fogger, aber das spielte keine Rolle mehr, weil Robin seinen zuerst ausgespielt hatte.

»ALIBABA!«, jubelte er und langte nach den Einsätzen.

»Moment!«, stoppte ihn Melvin, hob die Hand mit seiner letzten Karte in die Höhe und zuckte mit den Ohren.

»Worauf wartest du? Wirf endlich ab. Ich habe gewonnen«, rief Robin.

Melvin grinste von einem Ohr zum anderen und sagte: »Von wegen! Meine letzte Karte schlägt deine.«

Robin protestierte: »Aber heute ist Donnerstag! Nicht Freitag. Da gilt die Regel mit der letzten Karte nicht.«

»Irrtum! Hörst du sie nicht?«

»Was? Wen?«

»Die Faule Sophie.«

Robin horchte. Tatsächlich. In der Ferne erklangen die Schläge einer Kirchturmglocke. Alle nannten sie die Faule Sophie, weil sie nicht ordentlich gongte, sondern hohl schepperte wie eine Kuhglocke.

Kling … long … lang …

Und ehe Robin noch begreifen konnte, wie ihm geschah, verhallte auch schon der zwölfte Glockenschlag. Mitternacht. Und damit war es nicht mehr Donnerstag, sondern Freitag.

Melvins Fell wechselte von pflaumenblau zu wonnig orange. Mit übertriebener Sorgfalt legte er seinen Fogger auf Robins und sagte: »Alibaba!«

Robin konnte es nicht fassen. Wie konnte man nur so unverschämtes Glück haben? Dabei hatte er so ein bombiges Blatt gehabt. Wie oft bekam man schon so viele Joker … äh … Fogger? Er hatte bestimmt sechs gehabt, und dann hatte Melvin auch noch einen bekommen … das wären schon sieben. Moment, mal, selbst bei einem Monsterkartenspiel mit sechs Farben konnte es doch nicht mehr als sechs Joker geben. Oder?

»Ich will eine Revanche!«, rief Robin. »Und diesmal mische ich!«

Melvin, der die Gewinne eilig in seine Felltaschen stopfte, sagte: »Auf keinen Fall. Es ist schon Mitternacht! Höchste Zeit, schlafen zu gehen.« Er raffte die Karten zusammen.

Robin meuterte: »Jetzt schon? Kommt gar nicht infrage. Her mit den Karten!«

»Nix da! Morgen ist Schule«, erwiderte Melvin und ging zur gegenüberliegenden Kammerwand, die aus einem Wirrwarr zusammengenagelter Bretter bestand. Er steckte einen Finger in ein Astloch und zog daran. Ein Stück der Wand schwang auf und offenbarte das Innere eines monströsen Kleiderschrankes. Melvin scheuchte den sich sträubenden Robin hinein, schob ihn über ein räudiges Bärenfell, eine Federboa, durch mottenzerfressene Kleider und stieß dann die schwere Schranktür auf der anderen Seite auf. Dahinter lag ein vollgestopfter Dachboden.

»Ich bin aber gar nicht müde!«, protestierte Robin. »Komm schon, nur noch eine Runde!«

»Kein Chance!«, brummte Melvin. »Wenn du morgen verschläfst, gibt’s Ärger in der Schule.« Er scheuchte Robin vor sich her und fing an zu schnurren.

»Nein, nicht!«, rief Robin und spürte schon, wie seine Augenlider schwer wurden. Rasch stopfte er sich die Finger in die Ohren.

Melvin konnte auf vielerlei Arten schnurren. Wenn Robin sehr nervös war, schnurrte Melvin zum Beispiel auf eine Weise, die Robin beruhigte. Manchmal verfolgte er mit dem Schnurren jedoch einen ganz anderen Zweck, nämlich Robin in den Schlaf zu lullen, so wie jetzt.

»Lass das!«, maulte Robin. »Ich geh ja schon. Aber morgen krieg ich eine Revanche!« Er schlängelte sich durch das Labyrinth aus kunterbuntem Gerümpel. Alte Möbel, Kisten, Kartons und Körbe stapelten sich stellenweise bis zum Dachfirst hinauf.

Melvin folgte ihm auf dem Fuß. Nur um sicherzugehen. Wie er seinen Schützling kannte, würde der sonst glatt noch die Nase in ein Buch stecken, vor lauter Lesen die Zeit vergessen und morgen verschlafen.

Sie stiegen durch eine Bodenluke und eine schmale Stiege hinab, die scheinbar vor einer Wand endete. Robin drückte den verborgenen Riegel hinunter und eine niedrige Tapetentür schwang auf. Die beiden schlüpften hindurch und gelangten in Robins begehbaren Kleiderschrank. Die Innenwände waren mit Zierleisten in dekorative Rechtecke unterteilt. Das Rechteck ganz hinten im Kleiderschrank war jedoch nicht nur dekorativ, sondern diente als Tarnung für die Tapetentür.

Auf den Kleiderbügeln darüber baumelten geflickte Hemden und Hosen. In die Fächer daneben waren Unterwäsche, T-Shirts und Pyjamas geworfen worden. Die Hälfte war wieder herausgerutscht und lag verstreut am Boden. Prompt stolperte Melvin über etwas Unförmiges, das sich unter den Kleidern verbarg. Stumm fluchend zog er einen harten, klobigen Schuh hervor und trat damit leicht humpelnd aus dem Kleiderschrank ins Zimmer. Auch hier herrschte Unordnung. Spielsachen, Bücher und Comics lagen überall herum, die Regale waren vollgestopft mit kunterbuntem Krimskrams.

Melvin blickte auf den klobigen Schuh in seiner Hand und sah sich suchend um. Wo war der zweite?

In dem Moment sagte Robin: »Du hast da was verloren.« Er bückte sich und hob einen zerknitterten Brief auf, der aus einer von Melvins überquellenden Felltaschen gefallen war. Die wenigen Zeilen darauf lauteten:

Einbestellung zur Auffrischung Ihrer Schutzimpfung gegen Löwenpeter:

Freitag, den 14. Juni, 6.15 Uhr, Sektion Villa Montevista, Abteilung für Seuchenverhütung. Bitte erscheinen Sie pünktlich, nüchtern und bringen Sie ihren amtlichen Impfpass mit.

Prudence Peapott

stellvertretende Abteilungsleiterin

Ein Blick auf das Datum, an dem der Brief abgeschickt worden war, sagte Robin, dass Melvin die Einbestellung schon vor zwei Wochen bekommen hatte.

Am 14. Juni sollte er also geimpft werden … Das war ja schon morgen. Nein, schon heute! Warum hatte Melvin ihm nichts von diesem Termin gesagt? Deshalb hatte er also darauf gedrängt, dass sie schlafen gingen. Weil er früh rausmusste. Und Robin hatte gedacht, sein Freund täusche die Sorge nur vor, um ihn von der Schummelei beim Alibaba abzulenken.

»Tut mir leid, das wusste ich nicht. Warum hast du nichts gesagt?«

Melvin, der sich im Zimmer nach dem fehlenden Schuh umgesehen hatte, sah ihn verständnislos an, dann bemerkte er den Brief in Robins Hand, riss ihn an sich und stopfte ihn in eine seiner Taschen. »Och, das ist nicht so wichtig«, nuschelte er.

Robin sagte: »Es klingt aber wichtig.«

Melvin brummte: »Halb so wild … außerdem wurde ich schon gegen Löwenpeter geimpft, als ich drei Jahre alt war.«

Robin beharrte: »Da steht aber, die Impfung muss aufgefrischt werden.«

Melvin winkte ab: »Jaja, mach ich auch – aber nicht morgen und schon gar nicht um sechs Uhr früh! Die spinnen doch! Also, gute Nacht, schlaf gut und nicht mehr lesen, versprochen?«

»Versprochen!«

Melvin verschwand im Kleiderschrank. Einen Augenblick später hörte Robin die Tapetentür zugehen. Löwenpeter? War das vielleicht so etwas wie Ziegenpeter?, überlegte er. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er stand auf und ging zum Erker, der mit Kissen ausgepolstert war. In den Kissen lehnte eine zerschlissene Handpuppe. Sie hieß Mr Moon und war aus einem Frotteehandtuch genäht worden. Zwei bemalte Pingpongbälle dienten ihr als Augen. Sie schielte zu Robin herüber, als ob sie ihn an das Versprechen mahnen wollte, das er Melvin eben gegeben hatte.

»Nur noch schnell was nachgucken«, flüsterte Robin der Handpuppe zu und zog unter dem Sitzpolster ein Buch hervor. Es war die Mentores Mundi, ein bebildertes Lexikon der Monsterwelt. Unter Löwenpeter fand er keinen Eintrag, doch als er durch die Seiten flippte, stolperte er über ein gruseliges Foto. Es zeigte das böse entstellte Antlitz eines Puffhornmonsters. Es hatte keine Nase mehr, die Augen verschwanden fast in dem von Geschwüren aufgequollenen Gesicht wie zwei Rosinen in klumpigem Teig. Angeekelt und fasziniert zugleich las Robin, was unter dem Bild stand:

Die Infektion mit Leprosa erfolgt über die mikroskopisch kleine tropische Wolfsspinnmilbe (Arcarilupus tropicus), die sich unbemerkt unter der Haut einnistet. Bis sich die ersten Symptome zeigen, können Jahre vergehen. Dann jedoch bilden sich entzündliche Geschwüre auf der ganzen Haut, gefolgt von Haar-, Schuppen- und Stachelausfall und Entstellungen, besonders im Gesicht (Löwengesicht) und an den Gliedmaßen (Löwenklauen), bis hin zum Verlust von Körperteilen, insbesondere kleinerer Körperteile wie Nase, Ohren, Finger und Zehen. Die Leprosa infernalis ist hochansteckend und meldepflichtig, während die mildere Variante Leprosa innocens – bei gleicher Symptomatik – nicht ansteckend ist. Für die mit der harmloseren Form Infizierten wurde das Vermummungsgebot und das Tragen der Löwenschelle (um andere zu warnen) erst Ende des letzten Jahrhunderts abgeschafft.

Robin schluckte. Das hörte sich so an wie Lepra. Zum Glück kam diese schreckliche Krankheit heutzutage nur noch sehr selten vor und auch nur in weitab gelegenen Gegenden der Tropen. Beruhigt schob Robin das Buch wieder unter das Sitzkissen. Löwenpeter hingegen schien nicht gefährlich zu sein, sonst hätte es dazu bestimmt auch einen Eintrag in der Mentores Mundi gegeben.

Andererseits … wenn Löwenpeter so etwas Ähnliches war wie Ziegenpeter bei den Menschen, war die Impfung schon wichtig. Robin hatte Ziegenpeter gehabt, als er sieben Jahre alt gewesen war. Das Fieber hatte Backen und Hals dick anschwellen lassen, und er hatte kaum etwas essen können, weil das Schlucken so wehgetan hatte. Dr. Oxley hatte ihm strengste Bettruhe verordnet. Im abgedunkelten Zimmer. Vier Wochen lang. In den Sommerferien!

Robin dachte an die Sommerferien, die bald begannen. Melvin musste zu diesem Impftermin! Und Robin würde dafür sorgen, dass sein Freund sich nicht davor drücken konnte. Denn was sollte er mit den Sommerferien anfangen, wenn Melvin krank war? Robin stellte den Wecker auf kurz vor fünf Uhr.