DAS BUCH
Mitten in der Nacht wartet Josie Gamble voller Angst auf die Rückkehr ihres Freundes. Als Stu Kofer schließlich kommt, ist er sturzbetrunken und grenzenlos aggressiv. Er schlägt Josie nieder und will sich dann über ihre Kinder hermachen. Wenig später erschießt ihn Josies Sohn Drew. Doch handelte es sich dabei um Notwehr oder Mord? Der Aufschrei in Clanton, Mississippi, ist riesig. Denn obwohl Stu Kofers dunkle Seite durchaus bekannt war, genoss er als Deputy Ansehen. Lautstark wird die Todesstrafe für Drew Gamble gefordert, obwohl dieser erst 16 Jahre alt ist.
Zunächst hat der Anwalt Jake Brigance überhaupt keine Lust, diesen heiklen Fall zu übernehmen. Aber das Schicksal Drews und seiner Familie rührt ihn, und er weiß genau, dass er der Einzige ist, der zwischen dem Angeklagten und dem Todesurteil steht. Schon bald zeigt sich: Mit dem Mandat begibt er auch sich selbst in große Gefahr.
DER AUTOR
John Grisham hat über dreißig Romane geschrieben, die ausnahmslos Bestseller sind. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und sieben Jugendbücher veröffentlicht. Seine Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Das Manuskript«.
JOHN
GRISHAM
DER
POLIZIST
ROMAN
Aus dem Amerikanischen
von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya
und Kristiana Dorn-Ruhl
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
A Time for Mercy
bei Doubleday, New York
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Oliver Neumann
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von Shutterstock.com (invisiblepower, Robert Nyholm)
Herstellung: Mariam En Nazer
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26619-6
V002
www.heyne.de
In Erinnerung an
SONNY MEHTA,
Chairman, Cheflektor und Verleger
des Knopf-Verlags
1
Das schäbige kleine Haus lag weit draußen auf dem Land, etwa zehn Kilometer südlich von Clanton an einer alten Bezirksstraße, die irgendwann im Nichts endete. Es war von der Straße aus nicht zu sehen und nur über eine lange, gewundene Schotterzufahrt zu erreichen. Näherte sich nachts ein Auto, strich das Scheinwerferlicht über die Fenster und Türen an der Front, als wollte es die Menschen, die dort wohnten, vorwarnen. Die Abgeschiedenheit machte das, was ihnen bevorstand, noch schlimmer.
An diesem frühen Sonntagmorgen tauchte das Scheinwerferlicht erst lange nach Mitternacht auf. Es tastete sich durch die Räume, warf stumme, bedrohliche Schatten an die Wände und verschwand wieder, während der Wagen auf den letzten Metern durch eine Bodensenke fuhr. Die Menschen im Haus hätten schon seit Stunden schlafen sollen, doch an Schlaf war in diesen furchtbaren Nächten nicht zu denken. Josie, die im Wohnzimmer auf dem Sofa saß, holte tief Luft, sprach ein kurzes Gebet und schlich zum Fenster, um einen Blick auf das Auto zu werfen. Schlingerte es wie üblich hin und her, oder hatte er es unter Kontrolle? War er betrunken, wie immer in diesen Nächten, oder hatte er nicht ganz so viel Alkohol intus wie sonst? Sie trug ein aufreizendes Negligé, um ihn auf sich aufmerksam zu machen und vielleicht davon abzubringen, gewalttätig zu werden. Sie hatte es schon öfter getragen, es hatte ihm gefallen.
Der Wagen hielt neben dem Haus, und Josie sah zu, wie er ausstieg. Er torkelte und stolperte, und sie machte sich auf das Schlimmste gefasst. Sie ging in die Küche, in der Licht brannte, und wartete. Neben der Tür, etwas versteckt in einer Ecke, stand ein Baseballschläger aus Aluminium, der ihrem Sohn gehörte. Vor einer Stunde hatte sie den Knüppel dort hingestellt, für den Fall, dass er auf ihre Kinder losging. Sie hatte um den Mut gebetet, den Schläger zu benutzen, doch noch immer wurde sie von Zweifeln geplagt. Er ließ sich gegen die Küchentür fallen und rüttelte am Knauf, als wäre sie verriegelt, doch es war alles offen. Schließlich trat er mit dem Fuß gegen die Tür, die aufsprang und gegen den Kühlschrank knallte.
Wenn Stu getrunken hatte, wurde er gewalttätig. Seine blasse irische Haut wurde dunkler, seine Wangen röteten sich, und in seinen Augen glühte ein vom Whiskey entfachtes Feuer, das sie schon zu oft gesehen hatte. Er war vierunddreißig, hatte aber bereits graue Haare und eine Glatze, die er mit einer schlechten Überkämmfrisur zu kaschieren versuchte. Nach der nächtlichen Sauftour hingen ihm ein paar lange Strähnen bis unter die Ohren. Sein Gesicht wies keine Schnittwunden oder Blutergüsse auf, was vielleicht ein gutes Zeichen war. Vielleicht auch nicht. Er prügelte sich gern in den Kneipen, und nach einer harten Nacht leckte er sich für gewöhnlich die Wunden und ging schnurstracks ins Bett. Hatte es keine Schlägerei gegeben, suchte er oft hier Streit.
»Warum zum Teufel bist du noch auf?«, fuhr Stu sie an, während er versuchte, die Tür hinter sich zu schließen.
»Ich warte auf dich, Liebling. Geht’s dir gut?«, sagte Josie so gelassen wie möglich.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten. Wie spät ist es? Zwei?«
Sie lächelte, als wäre alles in Ordnung. Vor einer Woche hatte sie sich ins Bett gelegt und dort auf ihn gewartet. Er war spät nach Hause gekommen, nach oben gegangen und hatte ihre Kinder bedroht.
»Ungefähr zwei«, bestätigte sie leise. »Lass uns schlafen gehen.«
»Warum trägst du diesen Fummel? Du siehst aus wie ein Flittchen. War heute Abend jemand hier?«
Das vermutete er zurzeit häufig. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich habe mich nur schon fürs Bett fertig gemacht.«
»Du bist eine Hure.«
»Stu, bitte. Ich bin müde. Lass uns schlafen gehen.«
»Wer ist es?«, herrschte er sie an, während er nach hinten gegen die Tür torkelte.
»Wen meinst du? Es gibt niemanden. Ich bin den ganzen Abend hier gewesen, bei den Kindern.«
»Du Schlampe. Du lügst doch.«
»Nein, tue ich nicht. Lass uns ins Bett gehen. Es ist spät.«
»Heute Abend hat mir jemand erzählt, dass er vor ein paar Tagen John Alberts Pick-up hier draußen gesehen hat.«
»Wer ist John Albert?«
»Wer ist John Albert?, fragt die kleine Schlampe. Du weißt ganz genau, wer John Albert ist.« Er stieß sich von der Tür ab, kam mit unsicheren Schritten auf Josie zu und musste sich an der Arbeitsplatte abstützen. Dann wies er anklagend mit dem Finger auf sie. »Du bist eine Hure und bekommst Besuch von deinen Ex-Freunden. Ich habe dich gewarnt.«
»Stu, ich habe keinen anderen, das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Warum glaubst du mir nicht?«
»Weil du eine Lügnerin bist und weil ich dich schon mal beim Lügen erwischt habe. Die Kreditkarte, weißt du noch? Du Miststück.«
»Das war letztes Jahr, und wir haben darüber geredet.«
Er machte einen Satz auf sie zu, packte mit der linken Hand ihren Unterarm und holte mit der anderen aus. Dann schlug er ihr mit der offenen Hand ins Gesicht, ein knallendes, widerwärtiges Geräusch. Schmerz und Schock ließen sie aufschreien. Sie hatte sich geschworen, auf keinen Fall laut zu werden. Ihre Kinder hatten sich oben eingesperrt und hörten alles mit an.
»Stu, hör auf!«, kreischte sie, während sie die Hand auf die Wange drückte und nach Luft rang. »Nicht wieder schlagen! Ich habe dir geschworen, dass ich gehe, und das werde ich auch ganz bestimmt tun!«
Er lachte brüllend. »Ach ja? Und wo willst du hin, du kleine Nutte? Zurück in das Wohnmobil im Wald? Oder willst du wieder in deinem Auto leben?« Er zog sie mit einem Ruck zu sich, drehte sie um und legte ihr seinen muskulösen Unterarm um den Hals. »Du kannst nirgendwohin, du Schlampe, nicht mal mehr in den Trailerpark, in dem du geboren wurdest«, flüsterte er ihr ins Ohr. Der Gestank nach abgestandenem Whiskey schlug ihr entgegen, Speichel sprühte aus seinem Mund.
Josie versuchte sich loszureißen, doch er zerrte ihren Arm hart nach oben. Sie schrie unwillkürlich auf und musste dabei an ihre Kinder denken. »Stu, du brichst mir den Arm! Hör auf! Bitte!«
Er ließ ihren Arm ein wenig sinken, drückte sie aber noch fester an sich. »Wo willst du denn hin?«, zischte er. »Du hast ein Dach über dem Kopf, Essen auf dem Tisch, Zimmer für deine zwei Bälger, und dann redest du davon, mich zu verlassen? Nicht mit mir.«
Sie wehrte sich und wollte sich aus seinem Griff winden, aber er war ein kräftiger Mann und sehr jähzornig. »Stu, du brichst mir den Arm. Lass los! Bitte!«
Doch er zerrte noch einmal mit einem kräftigen Ruck an ihrem Arm, was sie wieder aufschreien ließ. Sie versuchte es mit einem Fußtritt nach hinten und traf Stu mit der nackten Ferse am Schienbein, dann drehte sie sich halb um und rammte ihm ihren linken Ellbogen in die Rippen. Viel ausrichten konnte sie damit nicht, doch er schnappte für einen Moment nach Luft, und es gelang ihr, sich loszureißen. Ein Küchenstuhl fiel zu Boden. Der Lärm würde ihren Kindern noch mehr Angst machen.
Wie ein wilder Stier stürzte er sich auf sie. Er packte sie an der Kehle, drückte sie gegen die Wand und grub die Fingernägel in ihren Hals. Josie konnte nicht schreien, konnte weder schlucken noch atmen, und das irre Leuchten in seinen Augen sagte ihr, dass es ihr letzter Streit war. Dieses Mal würde er sie umbringen. Sie versuchte, Stu zu treten, verfehlte ihn aber. Blitzschnell verpasste er ihr einen rechten Haken, der sie mit voller Wucht am Kinn traf und bewusstlos werden ließ. Sie ging zu Boden und blieb mit gespreizten Beinen auf dem Rücken liegen. Ihr Negligé war verrutscht und entblößte ihre Brüste. Er stand einen Moment da und bewunderte sein Werk.
»Die Schlampe hat zuerst zugeschlagen«, murmelte er. Dann ging er zum Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. Er öffnete sie, trank einen Schluck, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und wartete, weil er wissen wollte, ob sie vielleicht wieder aufwachte oder die ganze Nacht bewusstlos sein würde. Sie bewegte sich nicht, daher machte er einen Schritt auf sie zu, um sich zu vergewissern, dass sie noch atmete.
Stu prügelte sich schon sein Leben lang durch Kneipen und kannte die wichtigste Regel: Triff sie am Kinn, dann sind sie erledigt.
Im Haus war es ruhig, aber er wusste, dass Josies Kinder sich oben versteckt hatten und warteten.
Drew war zwei Jahre älter als seine Schwester Kiera, aber wie so viele Veränderungen in seinem Leben hatte bei ihm auch die Pubertät spät eingesetzt. Er war sechzehn und klein für sein Alter, was ihn sehr störte, vor allem, wenn er neben seiner Schwester stand, die gerade wieder einen Wachstumsschub erlebte. Die beiden wussten allerdings noch nicht, dass sie verschiedene Väter hatten und dass man ihre körperliche Entwicklung nicht miteinander vergleichen konnte. Trotzdem waren sich die beiden in diesem Moment so nah wie alle Geschwister und hörten entsetzt mit an, wie ihre Mutter wieder einmal verprügelt wurde.
Die Auseinandersetzungen wurden gewalttätiger, die Misshandlungen häufiger. Sie flehten Josie an, endlich zu gehen, doch alle drei wussten, dass sie nirgendwohin konnten. Ihre Mutter versicherte ihnen, dass alles besser werden würde, dass Stu ein guter Mann sei, wenn er nicht gerade trinke, und sie war fest entschlossen, zu ihm zu halten.
Sie konnten nirgendwohin. Ihr letztes »Zuhause« war ein altes Wohnmobil im Garten eines entfernten Verwandten gewesen, dem ihre Anwesenheit auf seinem Grundstück peinlich war. Alle drei wussten, dass das Leben mit Stu nur deshalb erträglich war, weil er ein richtiges Haus hatte, eines aus Ziegelsteinen und mit einem Blechdach. Sie mussten nicht hungern – erinnerten sich allerdings noch gut an diese furchtbare Zeit – und konnten zur Schule gehen. Im Grunde genommen war die Schule für sie ein Zufluchtsort, denn dort kam er nie hin. Es gab Probleme – Drews schlechte Noten, nicht genug Freunde, abgetragene Kleidung, die Schlangen für das kostenlose Mittagessen –, aber in der Schule waren sie wenigstens vor Stu sicher.
Selbst wenn er nüchtern war, was zum Glück die meiste Zeit über zutraf, war er ein widerlicher Typ, der nur äußerst ungern für Josies Kinder sorgte. Eigene hatte er nicht, weil er nie welche haben wollte und weil seine beiden ersten Ehen ohnehin nicht lange gehalten hatten. Er war ein Tyrann, der sein Haus für seine Burg hielt. Drew und Kiera waren unwillkommene Gäste, ja Eindringlinge, und deshalb sollten sie auch die schmutzige Arbeit erledigen. Für sie gab es eine endlose Liste mit Aufgaben, die getan werden mussten, und die meisten davon sollten die Tatsache verschleiern, dass er selbst ein fauler Hund war. Bei der kleinsten Pflichtverletzung beschimpfte und bedrohte er die beiden. Er kaufte Lebensmittel und Bier für sich selbst und bestand darauf, dass Josies magere Lohnschecks für »ihre« Seite des Tisches ausgegeben wurden.
Doch die viele Arbeit, das schlechte Essen und die Drohungen waren nichts im Vergleich zu der Gewalt.
Josie atmete kaum noch und bewegte sich nicht. Stu stand über ihr, starrte auf ihre Brüste und wünschte wie immer, sie wären größer. Großer Gott, sogar Kiera war besser bestückt. Bei dem Gedanken daran grinste er und beschloss, sich davon zu überzeugen. Er ging durch das kleine Wohnzimmer, das im Dunkeln lag, und stieg die Treppe hinauf, mit so viel Lärm wie möglich, um den beiden Angst zu machen. Auf halbem Weg nach oben rief er mit hoher, fast neckischer Stimme: »Kiera, o Kiera …«
Sie saß im Dunkeln, zitternd vor Angst, und krallte ihre Fingernägel in Drews Arm. Stu kam näher, seine schweren Schritte polterten die Holztreppe hoch.
»Kiera, o Kiera …«
Er stieß die unverschlossene Tür zu Drews Zimmer zuerst auf, dann zog er sie mit einem lauten Knall wieder zu. Als er den Knauf an Kieras Zimmertür drehen wollte, stellte er fest, dass sie verriegelt war. »Sehr witzig, Kiera. Ich weiß, dass du da drin bist. Mach die Tür auf.« Er warf sich mit der Schulter dagegen.
Die beiden saßen nebeneinander am Fußende des schmalen Betts und starrten die Tür an. Sie war mit einer verrosteten Metallstange blockiert, die Drew in der Scheune gefunden hatte. Er hatte sie zwischen die Tür und das Bettgestell geklemmt, ein Provisorium, das hoffentlich halten würde. Als Stu am Knauf rüttelte, stützten sich Drew und Kiera mit ihrem vollen Gewicht auf die Stange, um den Druck zu verstärken. Sie hatten dieses Szenario geübt und waren fast sicher, dass die Tür halten würde. Falls nicht, hatten sie einen Angriff geplant. Kiera würde zu einem alten Tennisschläger greifen, Drew eine kleine Dose Pfefferspray aus der Tasche ziehen und draufhalten. Josie hatte es den beiden gekauft, nur für den Fall. Stu würde sie vielleicht wieder verprügeln, aber sie würden sich wenigstens wehren können.
Vielleicht würde er die Tür eintreten, wie schon einmal vor einem Monat. Hinterher hatte er ein Riesentheater veranstaltet, weil er hundert Dollar für eine neue bezahlen musste. Zuerst hatte er darauf bestanden, dass Josie die Reparatur übernahm, dann hatte er Geld von Drew und Kiera gefordert, und irgendwann hatte er aufgehört, sich darüber aufzuregen.
Kiera war starr vor Angst und weinte lautlos, trotzdem fiel ihr auf, dass die Situation anders war als sonst. Bis jetzt war sie immer allein zu Hause gewesen, wenn Stu in ihr Zimmer gekommen war. Es hatte keine Zeugen gegeben, und er hatte gedroht, sie umzubringen, falls sie jemandem davon erzählte. Ihre Mutter hatte er bereits zum Schweigen gebracht. Wollte er auch Drew etwas antun? Wollte er ihm drohen?
»O Kiera, o Kiera«, rief er in seinem merkwürdigen Singsang und ließ sich wieder gegen die Tür fallen. Seine Stimme klang leiser, als würde er vielleicht aufgeben.
Sie stützten sich auf die Stange und warteten darauf, dass Stu die Tür aufbrach, doch er verstummte. Dann zog er sich zurück, seine Schritte verhallten auf der Treppe. Alles war ruhig.
Und kein Laut von ihrer Mutter. Sicher lag sie tot oder bewusstlos unten, denn sonst wäre Stu nicht die Treppe hochgekommen, nicht ohne heftige Auseinandersetzung. Josie würde ihm im Schlaf die Augen auskratzen, wenn er ihren Kindern noch einmal etwas zuleide tat.
Sekunden und Minuten verstrichen. Kiera hörte auf zu weinen. Sie setzten sich auf die Bettkante und warteten auf etwas, ein Geräusch, eine Stimme, eine Tür, die zugeschlagen wurde. Doch sie hörten nichts.
»Wir müssen was tun«, flüsterte Drew schließlich.
Kiera war immer noch so verängstigt, dass sie nicht antworten konnte.
»Ich werde nach Mom sehen«, sagte er. »Du bleibst hier und schließt die Tür hinter mir ab. Verstanden?«
»Geh nicht!«
»Ich muss. Mom ist was passiert, sonst wäre sie längst hier oben. Sie ist bestimmt verletzt. Du rührst dich nicht vom Fleck und sperrst ab.«
Drew nahm die Stange weg und öffnete vorsichtig die Tür. Er warf einen Blick die Treppe hinunter, sah aber nichts als Dunkelheit und das gedämpfte Licht einer Lampe vor dem Haus. Kiera beobachtete ihn und schloss dann die Tür hinter ihm. Als er den ersten Schritt die Treppe hinunter machte, die Dose Pfefferspray in der Hand, dachte er daran, wie großartig es wäre, diesem Mistkerl eine Giftwolke ins Gesicht zu blasen, ihm die Augen zu verätzen und ihn vielleicht sogar blind werden zu lassen. Langsam, ein Schritt nach dem anderen, ganz leise.
Im Wohnzimmer blieb er stehen und lauschte. Aus Stus Schlafzimmer am Ende des kurzen Flurs drang ein leises Geräusch. Drew wartete noch einen Moment und hoffte, dass Stu ihre Mutter vielleicht ins Bett gebracht hatte, nachdem er sie verprügelt hatte. In der Küche brannte Licht. Als er durch die offene Tür spähte, sah er ihre nackten Füße, die sich nicht bewegten, dann ihre Beine. Er ließ sich auf die Knie fallen und krabbelte unter dem Tisch bis zu ihr, dann packte er sie am Arm und schüttelte sie heftig, ohne etwas zu sagen. Jedes Geräusch hätte Stu auf ihn aufmerksam machen können. Drew bemerkte ihre entblößten Brüste, doch er hatte solche Angst, dass es ihn nicht in Verlegenheit bringen konnte. Er schüttelte seine Mutter noch einmal und zischte: »Mom, Mom, wach auf!« Aber er bekam keine Antwort. Die linke Seite ihres Gesichts war gerötet und stark geschwollen, und er war sicher, dass sie nicht atmete. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, wich zurück und schlich sich wieder in den Flur.
Die Tür zu Stus Schlafzimmer stand offen, eine kleine Tischlampe verbreitete dämmriges Licht. Als Drew genauer hinsah, bemerkte er ein Paar spitz zulaufende Cowboystiefel aus Schlangenleder, die vom Bett herunterhingen. Stus Lieblingsstiefel. Drew stand auf und ging zum Schlafzimmer, wo Stuart Kofer mit weit ausgebreiteten Armen rücklings und angezogen auf dem Bett lag und wieder einmal seinen Rausch ausschlief. Während Drew ihn mit unbändigem Hass anstarrte, begann der Mann zu schnarchen.
Drew rannte die Treppe hoch, und als Kiera die Tür öffnete, rief er: »Sie ist tot, Kiera, Mom ist tot! Sie liegt in der Küche auf dem Boden und ist tot!«
Kiera schrie auf und klammerte sich an ihren Bruder. Beide weinten, als sie nach unten in die Küche schlichen und sich neben ihre Mutter knieten. »Wach auf, Mom! Bitte wach auf!«, schluchzte Kiera.
Drew nahm behutsam das linke Handgelenk seiner Mutter und versuchte, ihren Puls zu fühlen, war sich aber nicht sicher, ob er es richtig machte. Er fand keinen.
»Wir müssen den Notruf wählen«, sagte er.
»Wo ist Stu?«, fragte Kiera, während sie sich umsah.
»Im Bett. Er schläft. Ich glaube, er hat zu viel getrunken.«
»Ich bleibe bei Mom. Du rufst an.«
Drew ging ins Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Notrufs. Nach langem Klingeln meldete sich endlich jemand. »Notrufzentrale. Um welche Art von Notfall handelt es sich?«, fragte ein Mann.
»Meine Mutter wurde von Stuart Kofer ermordet. Sie ist tot.«
»Wer ist da?«
»Ich heiße Drew Gamble. Meine Mutter heißt Josie. Sie ist tot.«
»Und wo wohnst du?«
»In Stuart Kofers Haus, draußen an der Bart Road. Vierzehn-vierzehn Bart Road. Bitte schicken Sie jemanden, der uns hilft.«
»Ist bereits unterwegs. Du hast gesagt, sie ist tot. Woher weißt du, dass sie tot ist?«
»Weil sie nicht mehr atmet. Weil Stu sie wieder mal zusammengeschlagen hat, so wie immer.«
»Ist Stuart im Haus?«
»Ja. Es ist sein Haus. Wir wohnen nur hier. Er ist betrunken nach Hause gekommen und hat meine Mutter verprügelt. Er hat sie umgebracht. Wir haben gehört, wie er es getan hat.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er liegt auf seinem Bett und schläft. Bitte beeilen Sie sich.«
»Du bleibst in der Leitung, verstanden?«
»Nein. Ich muss nach meiner Mom sehen.«
Drew legte auf und griff sich eine Decke vom Sofa. Kiera hatte Josies Kopf in ihren Schoß gezogen und strich ihr über die Haare, während sie weinte und immer wieder sagte: »Mom, bitte wach auf. Bitte wach auf. Bleib bei uns, Mom.« Drew legte die Decke auf seine Mutter und setzte sich zu ihren Füßen auf den Boden. Er schloss die Augen, kniff sich in die Nase und versuchte zu beten. Im Haus war es völlig ruhig, nur Kieras flehentliches Schluchzen war zu hören. Minuten verstrichen, und Drew zwang sich dazu, seine Tränen zu unterdrücken und etwas zu tun, um sich und seine Schwester zu beschützen. Stu schlief zwar gerade, aber es war durchaus möglich, dass er wach wurde. Wenn er sie dann im Erdgeschoss entdeckte, würde er einen Wutanfall bekommen und sie zusammenschlagen.
Es wäre nicht das erste Mal. Es kam häufig vor, dass er sich betrank, vor Wut ausrastete, sie verprügelte, eine Weile schlief und wieder handgreiflich wurde, wenn er aufwachte.
Als Stu schnaubte und laut stöhnte, befürchtete Drew, dass er gleich aus seinem Rausch aufschreckte. »Kiera, sei leise«, sagte Drew, aber sie hörte ihn nicht. Sie war wie in Trance und klammerte sich an ihre Mutter, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
Er schlich sich vorsichtig weg und verließ die Küche. Im Flur duckte er sich und ging auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Stu hatte sich nicht bewegt. Seine Cowboystiefel hingen immer noch vom Bett herunter. Sein massiger Körper lag mit weit ausgebreiteten Armen auf der Decke. Sein Mund stand so weit offen, dass er Fliegen hätte fangen können. Drew starrte den Mann an, mit einem unbändigen Hass, der ihn fast blind machte. Der Kerl hatte ihre Mutter getötet, nachdem er es monatelang versucht hatte, und sie beide würde er als Nächstes umbringen. Niemand würde Stu dafür zur Rechenschaft ziehen, denn er hatte gute Verbindungen und kannte wichtige Leute, ein Umstand, mit dem er oft prahlte. Drew und seine Familie waren weißer Abschaum, Ausgestoßene aus den Trailerparks. Stu dagegen hatte Einfluss, weil er Land besaß und für die Polizei arbeitete.
Drew trat einen Schritt zurück und warf einen Blick in den Flur. Er sah seine Mutter, die auf dem Boden in der Küche lag, und seine Schwester, die ihren Kopf festhielt, leise stöhnte und völlig weggetreten war. Dann ging er in eine Ecke des Schlafzimmers, zu einem kleinen Tisch auf Stus Seite des Betts, auf dem er immer seine Pistole und seinen schweren schwarzen Gürtel mit dem Holster und dem sternförmigen Abzeichen hinlegte. Als Drew die Waffe aus dem Holster zog, fiel ihm ein, wie schwer sie war. Die Pistole, eine 9-Millimeter-Glock, gehörte zur Standardausrüstung der Polizei. Es verstieß gegen die Regeln, sie einem Zivilisten in die Hand zu geben. Stu scherte sich wenig um dumme Regeln, und einmal, vor nicht allzu langer Zeit, als er nüchtern und einigermaßen gut gelaunt gewesen war, hatte er Drew auf die Wiese hinterm Haus mitgenommen und ihm gezeigt, wie man mit der Glock umging und damit schoss. Er war mit Waffen groß geworden, Drew nicht, und Stu hatte sich darüber lustig gemacht, dass der Junge keine Ahnung hatte. Er hatte damit geprahlt, seinen ersten Hirsch mit acht Jahren erlegt zu haben.
Drew hatte dreimal abgedrückt und eine Zielscheibe fürs Bogenschießen nicht einmal gestreift. Der Rückstoß und der laute Knall der Pistole hatten ihm Angst gemacht. Stu hatte ihn ausgelacht, dann sechsmal schnell geschossen und immer ins Schwarze getroffen.
Drew hielt die Pistole in der rechten Hand und musterte sie. Er wusste, dass sie geladen war, denn Stus Waffen waren immer schussbereit. Im Schrank standen mehrere Gewehre und Schrotflinten, alle geladen.
Aus der Küche drang Kieras Stöhnen und Schluchzen zu ihm, und vor ihm schnarchte Stu. Bald würde die Polizei ins Haus stürmen und das tun, was sie immer tat: nichts. Nichts, um Drew und Kiera zu beschützen, nicht einmal jetzt, wo ihre Mutter tot auf dem Küchenboden lag. Stuart Kofer hatte sie umgebracht, aber er würde lügen, und die Polizei würde ihm glauben. Ohne ihre Mutter würde die Zukunft von Drew und seiner Schwester noch viel düsterer aussehen.
Drew verließ den Raum, die Glock in der Hand, und ging langsam in die Küche, wo alles noch so war wie vorhin. Er fragte Kiera, ob ihre Mutter atme, doch sie weinte nur und antwortete nicht. Dann ging er ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Seinen Vater kannte er nicht, und wieder einmal fragte er sich, wo der Mann in der Familie war. Wo war das Oberhaupt, der kluge Mensch, der Rat und Schutz gab? Er und Kiera kannten keine stabilen Familienverhältnisse. Während ihrer Zeit bei Pflegeeltern hatten sie andere Väter und vom Jugendgericht bestellte Anwälte kennengelernt, die zu helfen versucht hatten, aber die Umarmung eines Mannes, dem man vertrauen konnte, hatten sie nie erlebt.
Jetzt musste er, der Älteste, die Verantwortung übernehmen. Ihre Mutter war tot, und er hatte keine andere Wahl, als sich der Herausforderung zu stellen und erwachsen zu werden. Nur er selbst konnte sie vor einem endlosen Albtraum bewahren.
Als Drew ein Geräusch hörte, schreckte er auf. Aus dem Schlafzimmer drang eine Art Stöhnen oder Prusten zu ihm, und die Matratze quietschte, als würde Stu sich bewegen und gleich aufwachen.
Sie konnten nicht noch mehr ertragen. Der Augenblick war gekommen, es war ihre einzige Chance zu überleben, und Drew musste handeln. Er ging wieder ins Schlafzimmer und starrte Stu an, der immer noch auf dem Rücken lag und tief und fest schlief. Seltsamerweise war ihm einer seiner Cowboystiefel vom Fuß gerutscht und auf dem Boden gelandet. Stu hatte den Tod verdient. Drew zog langsam die Tür hinter sich zu, als wollte er Kiera vor jeglicher Beteiligung schützen. Wie einfach würde es sein? Mit beiden Händen umklammerte er die Pistole. Er hielt die Luft an und ließ die Waffe sinken, bis der Lauf keine drei Zentimeter mehr von Stus linker Schläfe entfernt war.
Er schloss die Augen und drückte ab.
2
Kiera sah ihn nicht einmal an. Sie strich ihrer Mutter über die Haare und fragte: »Was hast du gemacht?«
»Ich habe ihn erschossen«, erwiderte Drew. In seiner Stimme lag weder Angst noch Bedauern. Sie klang völlig ausdruckslos. »Ich habe ihn erschossen.«
Sie nickte und sagte nichts mehr. Drew ging ins Wohnzimmer und starrte wieder aus dem Fenster auf die Einfahrt. Wo waren die Streifenwagen? Wo war der Rettungswagen? Du rufst an und meldest, dass deine Mutter ermordet wurde, und niemand kommt. Er schaltete eine Lampe ein und sah auf die Uhr. 2.47 Uhr. Für den Rest seines Lebens würde er sich daran erinnern, um welche Uhrzeit er Stuart Kofer erschossen hatte. Seine Hände zitterten und waren taub, in seinen Ohren klingelte es, aber um 2.47 Uhr bereute er es nicht, den Mann getötet zu haben, der seine Mutter umgebracht hatte. Er ging ins Schlafzimmer zurück und schaltete die Deckenlampe an. Die Pistole lag neben Stus Kopf, der auf der linken Seite ein kleines, hässliches Loch hatte. Stu sah immer noch an die Decke, jetzt mit offenen Augen. Auf der Bettwäsche breitete sich ein Kreis aus hellrotem Blut aus.
Drew ging wieder in die Küche, wo sich nichts geändert hatte. Dann lief er ins Wohnzimmer hinüber, schaltete noch eine Lampe ein, öffnete die Haustür und setzte sich in Stus Fernsehsessel. Stu hatte immer einen Wutanfall bekommen, wenn er jemanden auf seinem Thron erwischt hatte. Der Sessel roch wie er – kalter Zigarettenrauch, getrockneter Schweiß, altes Leder, Whiskey und Bier. Nach ein paar Minuten war Drew klar, dass er den Fernsehsessel hasste, daher schob er einen Stuhl zum Fenster und wartete dort auf die Blinklichter.
Die ersten waren blau, und als der Streifenwagen die letzte Bodensenke hinter sich gebracht hatte, bekam Drew Angst und konnte kaum noch atmen. Sie wollten ihn holen. Sie würden ihm Handschellen anlegen, ihn auf den Rücksitz eines Polizeiautos setzen und von hier wegbringen. Und er konnte nichts tun, um es zu verhindern.
Das zweite Einsatzfahrzeug war ein Rettungswagen mit rotem Blinklicht, das dritte ein weiterer Streifenwagen. Als sich herausstellte, dass es nicht nur ein, sondern zwei Opfer gab, wurde ein zweiter Rettungswagen gerufen, auf den noch mehr Polizeibeamte folgten.
Josie lebte noch und wurde eilig auf eine Trage geschnallt und ins Krankenhaus gefahren. Drew und Kiera wurden im Wohnzimmer abgesondert, mit der Anweisung, sich nicht vom Fleck zu rühren. Aber wo hätten sie auch hingehen sollen? Im Haus brannten sämtliche Lampen, und es wimmelte nur so von Polizisten.
Als Sheriff Ozzie Walls eintraf, wurde er vor dem Haus von Moss Junior Tatum, seinem Chief Deputy, in Empfang genommen. »Anscheinend ist Kofer spät nach Hause gekommen, sie haben sich gestritten, er hat sie verprügelt, und dann ist er auf dem Bett eingeschlafen. Der Junge hat sich seine Waffe geschnappt und ihm einmal in den Kopf geschossen. Kofer war sofort tot«, sagte Tatum.
»Haben Sie schon mit dem Jungen geredet?«
»Na klar. Drew Gamble, sechzehn, der Sohn von Kofers Freundin. Hat nicht viel gesagt. Ich glaube, er steht unter Schock. Seine Schwester Kiera, vierzehn, hat mir erzählt, dass sie seit etwa einem Jahr hier wohnen und dass Kofer gewalttätig war und ihre Mutter immer wieder verprügelt hat.«
»Kofer ist tatsächlich tot?«, fragte Ozzie fassungslos.
»Ja, Chef. Stuart Kofer ist tot.«
Ozzie schüttelte ungläubig den Kopf und ging zur Haustür, die weit offen stand. Als er im Flur war, hielt er inne und warf einen Blick auf Drew und Kiera, die nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen, ihre Füße anstarrten und versuchten, das Chaos um sich herum zu ignorieren. Ozzie wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben. Er folgte Tatum ins Schlafzimmer, in dem niemand etwas angerührt hatte. Die Pistole lag auf der Decke, etwa fünfundzwanzig Zentimeter von Kofers Kopf entfernt, und in der Mitte des Betts befand sich eine große, kreisförmige Blutlache. Die Kugel hatte bei ihrem Austritt einen Teil des Schädels zerschmettert, Blut und Hirnmasse waren auf Laken, Kissen, Kopfteil und Wand gespritzt.
Zurzeit hatte Ozzie vierzehn in Vollzeit arbeitende Deputys. Jetzt waren es nur noch dreizehn. Dazu kamen sieben Teilzeitangestellte und jede Menge Ehrenamtliche, sodass es ihm schon fast zu viel wurde. Vor sieben Jahren, 1983, war er in einem historischen Erdrutschsieg zum Sheriff von Ford County gewählt worden. Historisch deshalb, weil er damals der einzige schwarze Sheriff in Mississippi gewesen war und der erste, der aus einem vorwiegend von Weißen bewohnten County stammte. In den ganzen sieben Jahren war kein einziger seiner Männer ums Leben gekommen. DeWayne Looney hatte bei der Schießerei im Gerichtsgebäude, für die Carl Lee Hailey 1985 angeklagt worden war, ein Bein verloren, war aber immer noch im Dienst.
Jetzt lag sein erster toter Deputy vor ihm. Stuart Kofer, einer seiner besten Männer und mit Sicherheit der Furchtloseste. Er war mausetot, und aus seinem Körper sickerten immer noch diverse Flüssigkeiten.
Ozzie nahm seinen Hut ab, sprach ein kurzes Gebet und trat einen Schritt zurück. Ohne den Blick von Kofer zu nehmen, sagte er: »Mord an einem Polizeibeamten. Verständigen Sie die State Police, sie soll mit den Ermittlungen beginnen. Und fassen Sie nichts an.« Er sah Tatum an. »Haben die beiden noch was anderes gesagt?«
»Nein. Aus dem Jungen habe ich ja nichts rausbekommen. Seine Schwester gibt an, dass er Kofer erschossen hat. Die beiden dachten, ihre Mutter wäre tot.«
Ozzie nickte und überlegte kurz. »Sie werden nicht mehr befragt«, meinte er dann. »Ab jetzt wird alles, was wir tun, von den Anwälten zerpflückt werden. Wir nehmen die beiden in Gewahrsam, reden aber nicht mit ihnen. Und es ist vielleicht besser, wenn wir mit meinem Wagen fahren.«
»Handschellen?«
»Selbstverständlich. Für den Jungen. Haben die beiden Familie hier?«
Deputy Mick Swayze räusperte sich. »Ich glaube nicht, Sheriff«, erwiderte er. »Ich habe Stu ziemlich gut gekannt. Er hat mit der Frau zusammengelebt und gesagt, dass sie es nicht leicht hatte. Eine, vielleicht auch zwei Scheidungen. Ich weiß nicht, wo sie herkommt, aber Stu hat mal erzählt, dass sie nicht von hier ist. Vor ein paar Wochen bin ich hergefahren, weil sie den Notruf gewählt und etwas von einem Streit gesagt hat, aber sie wollte keine Anzeige erstatten.«
»Alles klar. Wir finden es schon noch heraus. Ich werde den Jungen und seine Schwester mitnehmen. Moss, Sie fahren mit mir. Mick, Sie bleiben hier.«
Drew stand auf, als man ihn dazu aufforderte, und streckte die Arme vor sich aus. Tatum legte ihm behutsam Handschellen an und führte den Verdächtigen aus dem Haus zum Wagen des Sheriffs. Kiera ging ihnen nach und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Unzählige Autoscheinwerfer tasteten sich durch die Hügel. Es hatte sich herumgesprochen, dass ein Deputy ums Leben gekommen war, und jeder Cop, der gerade keinen Dienst hatte, wollte es sich ansehen.
Ozzie wich den Polizeiautos und Rettungswagen aus und kämpfte sich durch die Einfahrt bis zur Landstraße. Dort schaltete er das Blaulicht ein und gab Gas.
»Können wir zu unserer Mutter?«, fragte Drew.
»Stellen Sie Ihr Aufnahmegerät an«, sagte Ozzie mit einem Blick auf seinen Deputy.
Tatum zog einen kleinen Rekorder aus der Tasche und drückte auf einen Knopf.
»Ab jetzt zeichnen wir alles auf, was gesagt wird«, erklärte Ozzie. »Ich bin Sheriff Ozzie Walls, heute haben wir den 25. März 1999, es ist jetzt 3.51 Uhr, und ich bin unterwegs zum Ford-County-Gefängnis, im Beisein von Deputy Moss Junior Tatum, der sich neben mir auf dem Vordersitz befindet. Auf der Rückbank haben wir … Junge, wie heißt du mit vollem Namen?«
»Drew Allen Gamble.«
»Alter?«
»Sechzehn.«
»Und wie heißt die junge Dame?«
»Kiera Gale Gamble. Ich bin vierzehn.«
»Und der Name eurer Mutter?«
»Josie Gamble. Sie ist zweiunddreißig.«
»Okay. Ich rate euch, nicht über das zu sprechen, was heute Nacht passiert ist. Wartet, bis ihr einen Anwalt habt. Habt ihr das verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Drew, du hast nach deiner Mutter gefragt, richtig?«
»Ja, Sir. Ist sie am Leben?«
Ozzie sah Tatum an, der mit den Schultern zuckte und in das Aufnahmegerät sprach: »Soweit wir wissen, lebt Josie Gamble. Sie wurde in einem Rettungswagen vom Tatort weggebracht und befindet sich vermutlich schon im Krankenhaus.«
»Können wir sie besuchen?«, wollte Drew wissen.
»Nein, jetzt nicht«, gab Ozzie zurück.
Sie fuhren schweigend weiter. »Sie sind als Erster am Tatort eingetroffen, richtig?«, sagte Ozzie nach einer Weile in Richtung des Aufnahmegeräts.
»Ja«, bestätigte Tatum.
»Haben Sie die beiden gefragt, was passiert ist?«
»Ja, das habe ich. Der Junge, Drew, hat nichts gesagt. Ich habe seine Schwester, Kiera, gefragt, ob sie etwas weiß, und sie hat geantwortet, ihr Bruder habe Kofer erschossen. Danach habe ich ihnen keine weiteren Fragen mehr gestellt. Es war ziemlich klar, was passiert ist.«
Das Funkgerät krächzte und quäkte. Obwohl es noch dunkel war, schien ganz Ford County wach zu sein. Ozzie drehte die Lautstärke herunter und sagte nichts mehr. Er behielt den Fuß auf dem Gaspedal, und sein großer brauner Ford raste über die Landstraße, immer an der Mittellinie entlang, so laut und schnell, dass sich kein einziges Tier auf den Asphalt wagte.
Er hatte Stuart Kofer vor vier Jahren eingestellt, als Kofer nach einer vorzeitig beendeten Karriere bei der Army nach Ford County zurückgekommen war. Kofer hatte ihm eine einigermaßen plausible Erklärung für seine unehrenhafte Entlassung gegeben – es sei um Spitzfindigkeiten und Missverständnisse und so weiter gegangen. Ozzie hatte Kofer eine Uniform besorgt, ihn für sechs Monate zur Probe eingestellt und auf die Polizeischule in Jackson geschickt, wo er zu den Besten seines Jahrgangs gehörte. War Kofer im Dienst, gab es keinerlei Beschwerden. Er war auf einen Schlag zur Legende geworden, als er ganz allein drei Drogenhändler aus Memphis verhaftete, die sich im ländlichen Ford County verfahren hatten.
War Kofer nicht im Dienst, sah es schon anders aus. Ozzie hatte Kofer mindestens zweimal eine Standpauke gehalten, nachdem ihm Berichte von Saufgelagen und Prügeleien zu Ohren gekommen waren. Kofer hatte sich tränenreich entschuldigt, versprochen, sich zusammenzureißen, und Ozzie und der Polizei Treue geschworen. Seinen Schwur hatte er gehalten.
Ozzie hatte keine Geduld mit Beamten, die Schwierigkeiten machten, und die Problemfälle waren schnell wieder weg. Kofer gehörte zu den allseits beliebten Deputys und meldete sich oft freiwillig für Einsätze in Schulen und Vereinen. Während seiner Zeit bei der Army war er in der Welt herumgekommen, ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, von denen die meisten eher schlichten Gemüts waren und sich nur selten einmal aus Mississippi hinausgewagt hatten. Nach außen war er ein Gewinn für die Polizeitruppe, ein geselliger Beamter, der immer ein Lächeln und einen Witz parat hatte, sich jeden Namen merkte und gern durch Lowtown ging, dem Schwarzenviertel der Stadt, zu Fuß, ohne Waffe, dafür mit Süßigkeiten für die Kinder.
In seinem Privatleben gab es Probleme, doch seine Kollegen hielten zusammen und versuchten, sie vor Ozzie zu verbergen. Tatum, Swayze und die meisten anderen Deputys kannten Kofers dunkle Seite, aber es war einfacher, sie zu ignorieren und darauf zu hoffen, dass niemand zu Schaden kam.
Ozzie warf einen Blick in den Rückspiegel und musterte Drew. Er hatte den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und gab keinen Mucks von sich. Und obwohl der Sheriff fassungslos und wütend war, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass der Junge ein Mörder sein sollte. Schmal, kleiner als seine Schwester, blass, schüchtern und ganz offensichtlich überfordert, hätte er auch als Zwölfjähriger durchgehen können.
Sie erreichten die dunklen Straßen von Clanton und hielten vor dem Gefängnis, das zwei Blocks vom Clanton Square, dem zentralen Stadtplatz, entfernt lag. Vor dem Haupteingang standen ein Deputy und ein Mann mit einem Fotoapparat in der Hand.
»Verdammt«, fluchte Ozzie. »Das ist Dumas Lee, oder?«
»Ja«, bestätigte Tatum. »Es hat sich wohl schon herumgesprochen. Heutzutage hören ja alle den Polizeifunk ab.«
»Ihr bleibt im Wagen.« Ozzie stieg aus und knallte die Autotür hinter sich zu. Dann marschierte er schnurstracks auf den Reporter zu und schüttelte den Kopf. »Dumas, hier gibt es nichts für Sie zu holen«, herrschte er ihn an. »Es geht um einen Minderjährigen, und Sie werden weder seinen Namen noch ein Foto von ihm bekommen. Hauen Sie ab.«
Dumas Lee war einer der beiden Polizeireporter der Ford County Times und kannte Ozzie gut. »Sheriff, können Sie bestätigen, dass ein Polizeibeamter getötet wurde?«
»Ich bestätige gar nichts. Sie haben zehn Sekunden, um von hier zu verschwinden, bevor ich Ihnen Handschellen anlege und Sie in das Gebäude vor uns befördere. Machen Sie, dass Sie wegkommen!«
Der Reporter schlich sich davon und war bald in der Dunkelheit verschwunden. Ozzie sah ihm nach, dann holten er und Tatum die beiden Jugendlichen aus dem Auto und führten sie ins Gefängnis.
»Machen wir den Papierkram gleich?«, fragte der Wärter.
»Nein, das erledigen wir später. Wir bringen sie erst mal in die Jugendzelle.«
Mit Tatum als Schlusslicht wurden Drew und Kiera durch eine vergitterte Trennwand und einen schmalen Gang hinunter zu einer dicken Metalltür geführt, in der ein kleines Fenster eingesetzt war. Nachdem der Wärter die Tür geöffnet hatte, betraten sie den leeren Raum. Es gab je zwei Stockbetten an den Wänden und eine schmutzige Toilette in der Ecke.
»Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, befahl Ozzie seinem Deputy. Tatum tat, wie ihm geheißen, und Drew fing an, sich die Handgelenke zu reiben. »Ihr werdet für ein paar Stunden hierbleiben.«
»Ich will zu meiner Mutter«, sagte Drew mit mehr Nachdruck, als Ozzie erwartet hatte.
»Junge, momentan hast du gar nichts zu wollen. Du bist wegen Mord an einem Polizeibeamten festgenommen worden.«
»Er hat meine Mutter umgebracht.«
»Deine Mutter ist zum Glück nicht tot. Ich werde gleich ins Krankenhaus fahren und mich erkundigen, wie es ihr geht. Wenn ich zurück bin, werde ich dir sagen, was ich weiß. Mehr kann ich nicht tun.«
»Warum bin ich im Gefängnis? Ich habe doch nichts verbrochen«, fragte Kiera.
»Das weiß ich. Du bist zu deiner eigenen Sicherheit im Gefängnis, wirst aber nicht lange hierbleiben müssen. Wenn wir dich in ein paar Stunden entlassen, wo würdest du dann hingehen?«
Kiera sah Drew an. Es war klar, dass die beiden keinen blassen Schimmer hatten.
»Habt ihr denn keine Verwandten hier in der Gegend? Tanten, Onkel, Großeltern? Irgendjemanden?«, erkundigte sich Ozzie.
Die beiden zögerten und schüttelten schließlich langsam den Kopf. Nein.
»Okay. Kiera, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Wenn du jetzt jemanden anrufen müsstest, damit man dich abholt, wer würde das sein?«
Das Mädchen starrte auf seine Füße. »Unseren Prediger, Bruder Charles.«
»Hat Charles auch einen Nachnamen?«
»Charles McGarry. Draußen in Pine Grove.«
Ozzie dachte, er würde alle Prediger in der Gegend kennen, aber vielleicht hatte er einen übersehen. Allerdings gab es dreihundert Kirchen in Ford County. Die meisten bestanden aus kleinen, überall verstreuten Gemeinden, die sich häufig stritten, auflösten und ihre Seelsorger davonjagten. Es war unmöglich, auf dem Laufenden zu bleiben. Der Sheriff sah Tatum an und sagte: »Kenne ich nicht.«
»Ich schon. Guter Mann.«
»Rufen Sie ihn an, und bitten Sie ihn herzukommen.« Ozzie sah die beiden Jugendlichen an. »Hier seid ihr in Sicherheit. Ihr bekommt gleich etwas zu essen und zu trinken. Macht es euch bequem. Ich fahre jetzt ins Krankenhaus.« Der Sheriff holte tief Luft und versuchte, sein Mitgefühl in Zaum zu halten. Er hatte sich vorrangig um einen toten Deputy zu kümmern, und der Mörder stand direkt vor ihm. Aber die beiden wirkten so eingeschüchtert und bedauernswürdig, dass es ihm schwerfiel, an Vergeltung zu denken.
Kiera sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Ist er wirklich tot?«
»Ja, er ist tot.«
»Das tut mir leid, aber er hat unsere Mutter so oft verprügelt und uns auch.«
Ozzy hob abwehrend die Hände. »Das reicht. Wir werden euch einen Anwalt besorgen, dem ihr alles erzählen könnt. Aber bis dahin sagt ihr kein Wort mehr.«
»Ja, Sir.«
Ozzie und Tatum verließen die Zelle und knallten die Tür hinter sich zu. Als sie zum Eingang kamen, beendete der Wärter gerade ein Telefongespräch. »Sheriff, das war Earl Kofer«, rief er ihnen entgegen. »Er sagte, er hat gerade gehört, dass sein Sohn getötet wurde. Er klingt sehr mitgenommen. Ich habe so getan, als hätte ich es nicht gewusst, aber Sie müssen ihn unbedingt anrufen.«
Ozzie fluchte leise und murmelte: »Das wollte ich gerade tun. Aber ich muss ins Krankenhaus. Moss, das übernehmen Sie. Kriegen Sie das hin?«
»Nein«, erwiderte Tatum.
»Aber sicher doch. Geben Sie ihm ein paar Fakten, und sagen Sie ihm, dass ich später anrufen werde.«
»Vielen Dank auch.«
»Sie schaffen das schon.« Ozzie verließ das Gebäude durch den Haupteingang und fuhr davon.
Es war fast fünf Uhr morgens, als Ozzie den leeren Parkplatz des Krankenhauses erreichte. Er stellte den Wagen in der Nähe der Notaufnahme ab, eilte hinein und wäre fast mit Dumas Lee zusammengestoßen, der ihm einen Schritt voraus war.
»Kein Kommentar, Dumas, außer dass Sie mir gerade gewaltig auf die Nerven gehen.«
»Das ist mein Job, Sheriff. Ich suche nur nach der Wahrheit.«
»Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist.«
»Ist die Frau tot?«
»Ich bin kein Arzt. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.«