Nicole Heuer-Warmbold
Mein Bruder
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Samala Elis, Mittsommernacht, R. D. 15
Mein Bruder
Östlich von Nomlîn, Mandura, im Frühling R. D. 19
Samala Elis, Mandura, im Frühsommer R. D. 15
Westliches Mandura, im Frühling R. D. 19
Anwesen Remassey, Kirjat, weit im Herbst R. D. 15
Westliches Mandura, im Frühling R. D. 19
Bei Scheat, Mandura, im Frühjahr R. D. 16
Westliches Mandura, im Frühling R. D. 19
Kaserne der Neustadt, Kirjat, Herbst R. D. 16
Waldgebiet, zentrales Mandura, im Frühling R. D. 19
Westhänge Kitainagebirge, im Winter R. D. 18
Nahe Kirjat, Mandura, Frühling/Frühsommer R. D. 19
Kirjat, Mandura, im Winter R. D. 18/19
Nahe Kirjat, Mandura, Frühling/Frühsommer R. D. 19
Südwestliches Kalimatan, früh im Jahr R. D. 19
Nahe Kirjat, Mandura, Frühling/Frühsommer R. D. 19
Zentrales Kalimatan, im Frühjahr R. D. 19
Nahe Kirjat, Mandura, Frühling/Frühsommer R. D. 19
Ras Trémaire (Tremereras), Lipaicha’an, im Frühjahr R. D. 19
Kitainagebirge, Grenze zu Kalimatan, Frühsommer R. D. 19
Ras Trémaire (Tremereras), Lipaicha’an, im Frühling R. D. 19
Kitainagebirge, Grenzgebiet, im Frühsommer R. D. 19
Ras Trémaire, Lipaicha’an, im Frühling R. D. 19
Hinter Kuramai, südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Küste Lipaicha’an, unweit Ras Trémaire, Frühling R. D. 19
Südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Nahe Ras Trémaire, Küste Lipaicha’an, ...
Südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Unweit Ras Trémaire, Küste Lipaicha’an, Frühsommer R. D. 19
Ein namenloses Dorf, südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Nahe Ras Trémaire, Küste Lipaicha’an, Frühsommer R. D. 19
Jenes kleine Dorf, südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Ras Trémaire, Lipaicha’an, im Frühling R. D. 19
Weg nach Dessum, südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Ras Trémaire, Lipaicha’an, im Frühling R. D. 19
Weg nach Dessum, südwestliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Küste Lipaicha’an, Frühsommer R. D. 19
Weg nach Dessum, südliches Kalimatan, Sommer R. D. 19
Küste südliches Lipaicha’an, Kalimatan, Frühsommer R. D. 19
Dessum, Hauptstadt Kalimatans, im Frühsommer R. D. 19
Ken’Lis Stadtpalais, Dessum, im Frühsommer R. D. 19
Dessum, Hauptstadt Kalimatans, Frühsommer R. D. 19
Südliches Kalimatan, kurz vor Dessum, Hochsommer R. D. 19
Ken’Lis Stadtpalais, Dessum, Frühsommer R. D. 19
Dessum, Hauptstadt des Reiches Kalimatan, Sommer R. D. !9
Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Dessum, Hauptstadt des Reiches Kalimatan, Sommer R. D. !9
Dessum, Kalimatan, im Hochsommer R. D. 19
Stadtpalais Ken’Li, Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Äußerer Hof, Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Stadtpalais Ken’Li, Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Ken’Lis Stadtpalais, Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, im Sommer R. D. 19
Ken’Lis Stadtpalais, Dessum, Kalimatan, Hochsommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Ken’Lis Stadtpalais, Dessum, Kalimatan, im Sommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Stadtpalais Ken‘Li, Dessum, Kalimatan, Hochsommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, Sommer R. D. 19
Stadtpalais Ken‘Li, Dessum, Kalimatan, Spätsommer R. D. 19
Villa Dogba, unweit Dessum, Kalimatan, Spätsommer R. D. 19
Stadtpalais Ken‘Li, Dessum, Kalimatan, Spätsommer R. D. 19
Stadtpalais Ken’Li, Dessum. Kalimatan, Spätsommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, im Sommer R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, im Herbst R. D. 19
Villa Dogba, bei Dessum, Kalimatan, im Herbst R. D. 19
Villa Dogba, nahe Dessum, Kalimatan, im Herbst R. D. 19
Villa Dogba, bei Dessum, Kalimatan, im Herbst R. D. 19
Davians Haus, Samala Elis, Mandura, Frühling R. D. 20
Impressum neobooks
Bänder und Tuchbahnen in cremigem Weiß und hellem Lila schmückten die Wände des großen Festsaals, der vom Licht der Kerzen in den hohen, silbernen Leuchtern erhellt wurde. Die Farben fanden sich in den Blumengestecken und Sträußen in den wuchtigen Bodenvasen wieder, den Rosetten aus ebendiesem Stoff, die die oberen Ecken der bodentiefen Fenster zierten. Der Duft der Blumen wurde alsbald vom Körpergeruch, und dem nach Schweiß, der vielen anwesenden überdeckt. Die Herren trugen Anzüge in dunklen Tönen, darunter breite Schärpen in den Farben ihrer Häuser, manch einer auch Uniform, die Damen üppig wallende Festtagsroben und tief ausgeschnittene Ballkleider. Geschmeide glitzerte, Juwelen schimmerten auf nackter Haut und im hochgetürmten Haar der Frisuren.
Mara wanderte ruhelos zwischen den Gästen umher, nicht ganz unbeabsichtigt in Reiks ... des Königs Richtung. Vielleicht auf der Suche nach Trost, vielleicht nur nach Ablenkung von ihrem Ärger, einem weniger grimmigen, zornigen Gegenüber. Wut gehrte in ihr, nicht erst seit gestern, und Ivorek machte sie offenbar für die Situation mitverantwortlich. Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken, Jurei war ihr Sohn. Enisa jedoch ihrer beider Tochter. Wunderhübsch in dem hell fliederfarbenen Trägerkleid aus bestickter Seide, trotz ihres verheulten Gesichts, stur, aufmüpfig und Mara erschreckend fremd. Sie stritt schon wieder, noch immer, mit ihrem Vater. Fast und viel zu schnell erwachsen geworden.
Reik lächelte ihr entgegen und zog sie dann wenig förmlich in seine Arme. „So schlimm?“
„Du machst dir keine Vorstellung.“ Sie biss sich auf die Lippen, lehnte den Kopf einen Moment an seine Schulter.
„Soll ich mal mit ihm ... deinem Jungen reden?“
„Um ihm was zu sagen?“ Sie zwang sich, nicht auch noch auf ihn loszugehen, sie hatte in den letzten Tagen genug geschrien, geweint, mit Türen geknallt und Geschirr zerschlagen. „Dass er die Finger von ihr lassen soll? Vielleicht wie Ivorek mit der Warnung, ihm jeden einzeln zu brechen, sollte er sie noch einmal anfassen, oder ihm gar gleich die Hände abzuhacken?“
„Hat er das wirklich gesagt?“ Reik presste die Lippen aufeinander.
„Aye, das und anderes und ich ... Verdammt, er ist mein Sohn!“
„Ich weiß doch, und ... Es tut mir leid, Gènaija.“ Er küsste sie zum Trost, ein bisschen fahrig, doch dann inniger. „Willst du ... möchtest du vielleicht ein paar Tage bleiben, hier im Palast?“
„Nur zu gern, aber das sähe dann wie Weglaufen aus.“
„Dringend notwendigen Abstand gewinnen“, korrigierte er. „Wir reden über die Familie, zur Abwechslung mal über meine Kinder, trinken ein paar Gläser und du heulst dich aus.“
„Das hilft nichts, fürchte ich. Und das kann, sollte ich auch nicht tun, jetzt gehen. Aber ich danke dir für dieses überaus verlockende Angebot.“
„Immer und immer wieder, das weißt du.“ Er küsste sie einmal mehr, und das war ganz und gar kein freundschaftlicher Kuss. Das war kaum gezügeltes Verlangen. „Dann bist du gekommen, um mir abzusagen? Was ich sehr bedauern würde, aber im Anbetracht der Umstände natürlich verstehe.“
„Nein, das ... nicht, ich singe. Wir.“
Ohne jede weitere Erklärung ließ Mara ihn stehen und ging hinüber zu den Musikern. Spähte durch den plötzlich dämmrigen Saal, über die erwartungsvolle Menge, als suche sie jemanden, ihre Miene ernst und bedrückt. Im Festsaal war es nun fast völlig dunkel und sehr still. Die Musikanten spielten die ersten Takte, eine traurige, getragene Stimmung, und wie von weit her drang eine Stimme, beinahe ein Ruf, eine Aufforderung, und sie gab singend Antwort. Ein Wechselgesang entspann sich zwischen ihr, den Musikern und dem anderen Sänger, irgendwo von der Fensterwand her, Rede und Gegenrede, Vorwurf und Verteidigung, wurde kräftiger, drängender, mitreißend. Endlich trat die schlanke Gestalt vor, schritt durch den Raum auf Mara zu, ihre Stimmen im raschen Wechsel, sich steigernd, einander ergänzend. Einander umkreisen, um doch nie aufeinander zu treffen.
Reik hatte die Hände geballt, und er verstand, warum der Junge, warum Jurei schließlich mit tränenfeuchtem Gesicht vor seiner Mutter stand, die über seine Wange strich.
Schnell trat Reik vor, trat vor allem Enisa in den Weg und schloss das schluchzende, völlig aufgelöste Mädchen, das der Obhut seines Vaters entkommen war, in seine Arme. „Dein Bruder singt richtig gut.“
„Aye“, stimmte ihm das Mädchen leise zu. „Aber manchmal macht er mir Angst, wenn er so singt. Wenn er so fanatisch ist. Als gälten für ihn keinerlei Regeln, er verliert jedes Maß, überschreitet alle Grenzen.“
Der kleine, etwas staubige Strauß Strohblumen wirkte völlig fehl am Platz, dieses leuchtende Gelb, der intensive Orangeton, ihr kamen fast die Tränen. Enisa atmete keuchend, auch wenn ’s wehtat. Atmen war wichtig. Nicht der Schmerz, der würde vergehen, wie das Erschrecken, ihr Entsetzen über sich selbst: Sie hatte einfach immer weiter zugeschlagen, bis der blöde Kerl sich nicht mehr wehrte, sich gar nicht mehr rührte.
Er war nicht tot, und das erleichterte sie. Sie hatte ja nicht ... er sollte sie bloß in Ruhe lassen, sie nicht weiter anfassen.
Sie war so dumm, rutschte näher an das absurd pompöse Bett heran. Der Mann hatte sich dumpf stöhnend auf die Seite gewälzt. Sein Gesicht sah schlimm aus, ganz blutig und geschwollen. Sie mied seinen Blick, vermied den Blick auf ihre rohen, zerschundenen Knöchel, die...
„Warum schnappst du dir nicht das Geld und verschwindest? Darauf hattest du’s doch abgesehen.“
Enisa wusste nichts zu sagen, schüttelte nur den Kopf. Es wäre falsch, damit würde sie ja eingestehen, dass ... Was geschehen war, sich eben beinah zugetragen hätte.
Sie presste die Lippen zusammen, sollte einfach gehen. Konnte nicht gehen, sie musste doch etwas tun! „Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht verletzen.“
„Jetzt nimm endlich das Geld und hau ab!“
„Kann ich was ... etwas für Euch tun?“
„Du?“ Er stöhnte erneut, es klang nicht gut, stieß sie ab „Die Flasche, ein Schluck Wein.“
Sie stand neben dem wackligen Tisch. Sah nicht auf die Blumen oder zum Geld, zog hastig die Hand weg, als der Mann, sie wusste sein Alter nicht zu schätzen, ihre Finger streifte.
„Gibt schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen, Schätzchen.“ Er schien sich um ein Lächeln zu bemühen, es sah grausig aus, und sie biss sich auf die Lippen. Hätte gern nochmals zugeschlagen, auf das er endlich still wäre, damit er aufhörte zu reden, derart mit ihr zu sprechen ... sie war keine ... würde nicht losheulen und ballte die Fäuste.
„Und? Was hast du jetzt vor?“
Enisa zuckte die Achseln, schüttelte einmal mehr den Kopf. Zu ihrem Bruder, aber der ... und dazu brauchte sie Geld, wesentlich mehr Geld. Die paar läppischen Münzen auf dem Tisch reichten doch längst nicht.
„Kein Bedarf zu reden?“
„Mit Euch?“ Er hatte sich aufgesetzt und sie sah nicht hin, fühlte sich irritiert. Weil er ihr noch immer gefiel.
Aber sein blutiges Grinsen war grausig, nicht charmant. „Du wolltest noch ganz was anderes mit mir machen.“
„Gar nicht“, fauchte sie, hockte sich aber trotzdem neben ihn auf die Bettkante. Sie wollte nicht vor ihm auf dem Boden knien und zu ihm auf sehen.
„Auch einen Schluck?“ Er hielt ihr die Flasche hin, doch sie schüttelte den Kopf. „Ist nicht so übel. Du wolltest mir von deinen Plänen erzählen.“
„Wollte ich nicht!“ Was ging es diesen Kerl an, warum und wofür sie Geld brauchte.
„Deine Familie ist nicht einverstanden? Du hast doch eine Familie, Eltern?“
An die wollte sie jetzt bestimmt nicht denken.
„Natürlich.“ Eilig wandte sie den Kopf, sah ihm nicht ins Gesicht. Bis gerade eben ein ansprechendes, attraktives Gesicht, sie hatte keinen hässlichen Mann angesprochen. Zu verführen versucht, bis dann ... bis sie in Panik geraten war, weil er ihr, körperlich, viel zu nahe gekommen war. Der Mann war um einiges älter als sie, wenn auch nicht so alt wie ihr Vater. Vielleicht dreißig, Anfang dreißig?
„Ist womöglich noch nicht zu spät, wenn ich dich zurückbringe.“
„Bitte? Auf gar keinen Fall!“
„Weil ich sie vielleicht kenne?“
Dem Namen nach. Eventuell. Stumm verneinte sie, kämpfte mit den Tränen, weil sie sich jetzt schon zurück sehnte, so gern zurück wollte. Nicht zurück konnte!
„Was hast du angestellt, das Familienvermögen durchgebracht?“
„Nein ...“, ungewollt musste sie lachen. „Natürlich nicht.“
„Dann verrat mir wenigstens, wohin du willst, hm?“
Enisa entzog ihm nicht ihre Hand. Sie hatte auch nichts dagegen, dass er sie tröstend in den Arm nahm. Er roch ausgesprochen gut, nach Holz, nach Leder, ein wenig nach Schweiß. „Ich weiß nicht. Zu meinem Bruder.“
„Verstehe. Doch der lebt nicht hier?“
Wieder musste sie grinsen. „Nein. Nicht hier.“
„Also, Samala Elis?“
Sie antwortete nicht, wandte den Blick, das Gesicht ab. Was ging ihn das an?
„Ich könnte“
„Nein!“ Hastig sprang sie auf, wollte ... wusste nicht, was, und sah ihn nur zweifelnd an, wollte den Gedanken, die Idee gar nicht erst zulassen. Zu verlockend.
„Dann ...“, Er stemmte sich hoch, „... lass uns aufbrechen.“
Es ging ihr zu schnell, sie hatte das, ihre nächsten Schritte, noch gar nicht durchdacht, überdacht. Doch Enisa widersprach nicht, wehrte sich nicht länger, sondern suchte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Mied seinen Blick, beobachtete ihn allerdings scheu, wann immer er nicht zu ihr sah.
Aber das war der Anfang. Von was, wusste sie selbst nicht zu sagen, doch es fühlte sich nicht so schlecht, nicht falsch an. Sie grübelte nicht darüber nach. Es dämmerte, als sie den Gasthof, gleich darauf den elenden, engen kleinen Ort verließen. Insgeheim freute sie sich über seine Gesellschaft, insbesondere, aber nicht nur, in den Nächten. Denn die waren kalt. Auf den Bergenhöhen lag noch Schnee, die Wärme der hellen Jahreszeit schien sehr fern. Und mehr, als dicht an ihn gedrängt zu schlafen, in irgendeinem Schuppen, Gehölz, Gebüsch oder Unterschlupf, war da nicht, sie sprachen ja kaum miteinander. Es gab keinerlei Zärtlichkeiten, kein Rumgemache, und sie träumte auch nicht davon. Er war so viel ... deutlich älter.
Das Geld hatten sie unter sich aufgeteilt.
Irritiert lief Jurei neben dem Mädchen durch die belebten Straßen. Er wollte doch kein Mitleid, hatte lediglich erwähnt, er bedaure, seinen Vater nicht besser gekannt, nie richtig kenngelernt zu haben. Beiläufig, in irgend ‘nem Gespräch, er kannte ihn halt gar nicht. Wie auch? Sein Vater war gestorben, da war er noch kein Jahr alt. Damals, im Krieg. Deswegen hielt sie ihn für schwermütig, für zu ernst? Und Edgar, selbst ein elender Schlaks, bezeichnete ihn neulich als halbe Portion. Bloß, weil der fast einen Kopf länger war.
Mädchen! Oder, wenn sie darauf bestand: Weiber. Rebekka, ››auf gar keinen Fall Becky‹‹, machte mitunter merkwürdige Unterscheidungen. Würde sowieso nichts draus werden, nicht nur wegen ihres Alters, sie war nämlich älter; vermutlich besser so. Er würde nicht mehr lange bleiben, wollte weiter, nach Kirjat, das zumindest. Vielleicht sogar noch weiter, Richtung Osten. Die Idee, den Gedanken hatte er schon länger im Kopf, und nicht allein wegen all der alten Geschichten. Er trieb ihn um, verstärkte seine Unruhe, seine Unrast und Ungeduld; das alles hier, dieses ruhige, ach so bequeme Leben. Manchmal hatte er das Gefühl, gleich zu platzen, wollte laut schreien, losrennen, irgendwas zerschlagen, wollte...
Weit weg! Die Grenztruppen in Kirjat wären eine Möglichkeit, klar, eine vielversprechende Chance und lange seine größte Hoffnung. Berit Remassey, Kommandant der Truppen, ein langjähriger und enger Freund seiner Mutter, hatte ihm sogar angeboten, das letzte halbe Jahr, bis er alt genug wäre, bei ihm und seiner Familie zu leben. Ein großzügiger, großherziger Vorschlag. Er kannte Remasseys Haus, das weitläufige, prächtige große Anwesen, richtig grandios.
Jurei sprang hoch, boxte in die Luft. Nichts würde sich ändern, gar nichts. Er schleppte seine Wut doch mit, seine Probleme, er würde seine Fehler, in neuem Gewand, nur wiederholen. Aufs Neue Ärger machen, damit jedoch den ganz falschen treffen. Und er mochte den Mann, konnte Remassey wirklich gut leiden, was an sich schon ungewöhnlich war. Irgendwer, seine Mutter, vielleicht auch ihr Partner Ivorek, hatte ihm mal gesagt, er stelle zu hohe Ansprüche an andere und fühle sich daher immer enttäuscht. Von seinen Mitmenschen, den paar Freunden; er bezeichnete die ohnehin als Kumpel, weniger nah, nicht so bedeutsam.
Aber er genügte seinen eigenen Erwartungen doch auch nicht, viel zu selten, war von sich selbst enttäuscht. Unzufrieden, unglücklich und rastlos, immer auf der Suche. Wonach, wusste er selber nicht, dem nächsten Ärger, dem nächsten Mädchen, der nächsten Aufregung. Einem Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnte. Nur wurde nicht mehr gekämpft, der Krieg lange vorbei, es herrschte Frieden. Jedenfalls hier in Mandura.
Eigentlich war die Lösung seiner Probleme ganz einfach. Er musste sich halt trauen, alle vor den Kopf stoßen, seine Familie, seine Schwester. Enisa würde es nicht verstehen, schlimmer, sie würde ihn begleiten wollen. Und der Fehler durfte ihm nicht unterlaufen.
Von Kirjat aus wäre es ohnehin leichter. Falls er es noch so lange aushielt. Er wandte sich zu Rebekka um und zog sie in seine Arme, küsste sie stürmisch. „Lass uns gehen.“
„Und wohin, mein Liebster?“
„Mach dir keine Hoffnungen. Ich kenn‘ aber ‘nen Laden, ein Lokal direkt am Markt, da gibt’s leckeres Essen.“
„Etwa bei dem komischen Kerl, der sich als Frau verkleidet?“
„Pola, genau.“
„Ich find‘ den gruselig, der ist riesig groß, mit solchen Händen, gewaltig wie ein Bär. Und trägt einen Seidenschal um den Hals, mit Blütenrankenmuster.“
„Gefällt ihm halt. Du kennst ihn ja doch genauer.“
Sie zuckte die Achseln. „Er verkauft sehr schmackhafte Kuchen und Süßspeisen.“
„Ja, allerdings.“ Er mochte den Mann, den ihm eigenen Witz und Charme, und nicht allein, weil er nie bezahlen musste. Tat er aber meist dennoch, er wollte niemandem was schuldig sein. „Er kennt meine Mutter.“
„Die kennt jeder.“
„Jepp. Meint, er verehre sie, sie sei ein ganz besonderer Mensch.“
„Deine Mutter ist ein ganz besonderer Mensch“, kicherte Rebekka. „Eine Magierin.“
„Ich mag ihn, irgendwie, er hat noch Träume.“
„Träumt von deinem süßen Arsch.“
„Quatsch, doch nicht“
„Doch!“ Rebekka lachte nur noch lauter. „Genau das, mein Prinz. Der Kerl steht auf dich.“
„Das ist ... Du bist eklig. Er ist alt.“
„Auch alte Männer stehen auf junge, knackige Ärsche, glaubst du nicht?“
„Aber doch nicht so.“
Rebekka ging nicht darauf ein, mit einem hochnäsigen Zurückwerfen des Kopfes weiter. Jurei fühlte sich angegriffen von ihrer Bemerkung, ein bisschen verstört. Er hatte eigentlich keine Lust mehr, Polas Lokal, das ›Rosengärtchen‹, zu besuchen. Doch hieße das nicht, ihr Recht zu geben? Und als feige wollte er nicht dastehen.
Pola trug einen zart fliederfarbenen Schal zu einem langen, weiten Rock und begrüßte ihre, seine Gäste, insbesondere Jurei überschwänglich, sogar mit Wangenkuss. Er platzierte sie an einem ein klein wenig abseits stehenden Tischchen. Blühende Rosen rankten sich um das Spalier, über ihren Köpfen, dufteten herrlich in der lauen Luft. „Was darf ich euch zwei Süßen heute bringen?“
„Nur eine kleine Erfrischung. Hast du ...“, Jurei zögerte, übersah Rebekkas enttäuschte Miene; er bezahlte, also bestellte er auch. Und er war nicht der spendable Gönner, der sich mit Einladungen und Geschenken die Zuneigung der Mädchen erkaufte. „... frischen Minztee?“
„Für dich doch immer, Lieber“, flötete Pola. „Gekühlt, oder ...“
„Gern. Und für meine reizende Begleitung“, er warf eben jener einen spöttischen Blick zu, überhörte ihr Schnauben. „Ein Stück Obstkuchen.“
„Du bist so großzügig, mein Liebster“, höhnte sie halblaut.
„Nicht wahr?“
Er beobachtete, wie Pola sich umwandte, durch die niedrige Tür im Lokal verschwand, das Gewünschte zu holen.
Der Tag war mild und sie nicht die einzigen Gäste. Etwa die Hälfte der Plätze auf der Terrasse waren besetzt, Pärchen meist. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte man zwei, drei Tische zusammengerückt, an denen eine Gruppe lebhaft und lautstark diskutierender Männer weilte. Jurei zog die Augenbrauen hoch, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
„Was?“
„Nichts. Ich genieße den warmen Sonnenschein, den herrlichen Tag.“
„Dein Blick. Kennst du die?“
„Nope, glaub nich‘.“
„Sollen wir lieber reingehen?“
„Warum das denn?“
„Weil du ... Wär‘ ja nicht das erste Mal, du mischst dich ein, du mischst dich ständig ein, diskutierst mit, und dann sagt einer was Falsches und du fängst an zu streiten, wirst laut und motzig und ausfallend, und dann prügelt ihr euch.“
„Ehrlich, mach ich ... So siehst du mich?“
„Stimmt doch!“, beharrte Rebekka. „Neulich erst, dein großer, langer Freund, dieser Edgar, konnte dich kaum zurückhalten, sonst hättest du ’nen Soldaten zusammengeschlagen, weil der mich vermeintlich beleidigt hat.“
„Hat er ja auch.“
„Das sollte ein Kompliment sein, wenn auch kein besonders gelungenes. Und er war betrunken.“
„Das entschuldigt sein Verhalten aber nicht. Was wirfst du mir eigentlich vor?“
„Du...“ Sie biss sich auf die Lippen, wich seinem Blick aus. „Du bist furchtbar aggressiv, Jurei, du suchst ständig Streit. Und ich persönlich finde eine blutige Nase, ausgeschlagene Zähne und eine aufgeplatzte Lippe nicht so anziehend.“
„Ich auch nicht“, er schüttelte den Kopf. „Tut zudem weh. Aber ich stehe zu meiner Meinung, ich halt‘ doch nicht die Klappe, nur, damit die Stimmung nett und gemütlich bleibt, alle gut Freund miteinander sind.“
„Jurei.“ Rebekka legte die Hand auf seine. „Nicht. Fang nicht“
„Macht der Kleine dir Ärger, Mädchen?“ Eine kratzige Stimme mischte sich in ihr Gespräch ein. Der Kerl, womöglich von der Gruppe gegenüber, musterte ihn unfreundlich.
Jurei hörte das Gelächter der anderen Männer.
„Nein, macht er“ Erschrocken sah Rebekka zu dem Fremden hoch, dessen Schatten über den Tisch fiel. „Wir reden nur, diskutieren.“
„Dann hast du bestimmt nichts dagegen, Schätzchen?“ Dreist nahm der Mann neben ihr Platz, rückte seinen Stuhl sogar noch näher heran. „Ich bin auch viel netter zu dir als dein kleiner, missmutiger Freund.“
„Würdet Ihr bitte...“
„Lass sie in Ruhe!“ Jurei stand auf und schob dabei seinen Stuhl zurück. „Sie wünscht deine Aufmerksamkeit, deine Gegenwart und aufdringliche Nähe nicht, klar?“
„Oder?“ Der Kerl, deutlich schwerer, ein ganzes Stück größer als er, richtete sich langsam und drohend auf. „Du hast wohl lange keine Dresche bezogen, was?“
„Letzte Woche jedenfalls nich‘.“ Er sah aus den Augenwinkeln hinüber zu den anderen Männern, keiner war näher gerückt. Einer war allerdings aufgestanden, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute mit breitem Grienen zu. Rebekka verließ eilig den Tisch und rannte ins Lokal. „Du?“
„Etwa von dir halber Portion?“, verhöhnte ihn der Kerl.
Jurei zuckte nur nachlässig die Schultern, die Hände locker herabhängend und nicht zur Faust geballt. „Wenn’s sonst keiner macht?“
„Ha!“ Mit einem heftigen Ruck riss der Kerl einen der zierlichen kleinen Stühle zurück, schleuderte ihn zur Seite. „Dich verspeis‘ ich doch zum Frühstück, du mickriger Zwerg!“
„Dann verschluck dich bloß nicht.“
„Schluss damit!“, ertönte Polas durchdringende, strenge Stimme. „Ich sag’s dir jetzt zum letzten Mal, Roberto, belästige meine Gäste nicht!“
Und erst jetzt bemerkte Jurei das Geraune, die besorgten Blicke der übrigen Anwesenden, ihre Unruhe. Den Knüppel in Polas Händen. Er verbiss sich das Lachen.
Schon am zweiten oder dritten Tag hatte sich ihr Begleiter einen Stock, einen kräftigen Knüppel gesucht, vorgeblich als Wanderhilfe. Unterdrückt lachend und mit wachsender Begeisterung hatte Enisa zugeschaut, wie er mit dem Ding herum hantierte, übte; er machte das nicht zum ersten Mal. Stockkampf, sie sagte nichts, fragte nicht nach.
Der Mann verstand sich sogar darauf, aus ihren kargen Vorräten und dem wenigen, was sie unterwegs fanden, etwas einigermaßen Essbares, mitunter tatsächlich Schmackhaftes zu bereiten. Es gab ja noch keine Früchte, die Kirschen unreif, bloß zarte, grüne Triebe an den Feldrainen, Sauerampfer, erste wilde Karotten und die paar Nüsse und Beeren, die den Winter überdauert hatten.
Aber es regnete, zu reichlich, zu häufig, sie waren ständig durchnässt und froren und Enisa wünschte sich ein einziges Mal eine richtig trockene, geschützte Unterkunft, ein warmes Bett. Notfalls würde sie es mit ihm teilen, biss sich auf die Lippen. Blöde Idee, es gab eh kein solches kuschliges Nachtlager, was dachte sie überhaupt daran, nur darüber nach? Ihn. Sein Gesicht war nicht mehr geschwollen, schillerte aber in allen Farben. Sie ertappte sich dabei, es gern berühren zu wollen, seine Lippen, seinen Mund. Kämpfte noch immer mit ihrem schlechten Gewissen.
„Was ist denn? Du schaust so.“ Er sah sie über ihr mickriges kleines Lagerfeuer hinweg forschend an.
„Nichts, es ist nichts.“ Sie quälte sich aus den nassen Stiefeln und rieb ihre Füße, dankbar über das bisschen Wärme. „Es tut mir leid.“
„Das sagtest du bereits. Mehrfach.“
„Ja.“ Unzufrieden schüttelte sie den Kopf, hätte zu gern ... „Warum tut Ihr das?“
„Was? Dir helfen, dich begleiten?“
Enisa sparte sich die Antwort, wich aber seinem Blick nicht aus.
„Kann dich ja schlecht allein reisen ... Die Richtung, in die du unterwegs bist, kommt mir nicht ganz ungelegen. Und in Gesellschaft ist es halt angenehmer.“
Das klang nicht ehrlich, ausweichend. „Meine Gesellschaft?“
Er grinste, zuckte die Achseln. „Warum nicht? Du bist ja nicht hässlich, jammerst nicht rum, nervst nicht.“
„Danke“, schnaubte sie. „Was führt Euch denn nach Samala Elis, Geschäfte?“
„Geschäfte ... im weitesten Sinne.“
„Geht mich nichts an?“
„So gar nichts. Willst du da auf deiner Seite des Feuers bleiben?“
„Das ...“, sie zögerte. „Klingt wie eine Einladung.“
„Bloß eine Frage. Ich hab‘ aber noch nichts zu essen für dich.“ Er wies zum Kessel auf dem Dreibein. „Braucht noch ‘ne Weile.“
„Ich hab‘ ja auch nichts für Euch.“ Hastig rutschte sie an seine Seite, unterdrückte ihr Lächeln.
„Keine alten, zerdrückten Beeren mehr in den Taschen?“
„Nee, hab‘ ich alle ...“ Sie suchte trotzdem und fand tatsächlich drei, vier nicht zu zermanschte Früchte, hielt sie ihm hin. „Hier, wenn Ihr mögt?“
„Danke dir.“ Bedachtsam nahm er zwei der Beeren, steckte sie in den Mund. „Eigentlich der Nachttisch.“
„Ich kann ja nochmal ...“
Doch er hielt sie am Arm fest, als sie aufspringen wollte. „Ist schon zu dunkel. Morgen.“
„Aber ... Wieso?“
Er zog sie wieder neben sich zu Boden. „Ich möchte nicht, dass du im dunklen Wald über Räuberbanden oder wilde Tiere stolperst.“
„Die warten ja auch nur auf mich“, spottete Enisa, obwohl seine Stimme sie erzittern ließ. Und der Mann hielt noch immer ihr Handgelenk umfasst.
„Genau.“ Er gab ihre Hand frei. „Lauern dir auf.“
„Um dann was mit mir zu ...“ Doch sie sprach nicht zu Ende, spürte ihr Herz flattern, seine Nähe, die Wärme seines Körpers. Sie roch ihn, und ihr behagte dieser Geruch, sein Körpergeruch. Das Wissen um seine Gegenwart. Wenn sie wollte, wenn sie sich traute, könnte sie jetzt die Hand an sein Gesicht legen, oder ihm die Arme um den Hals schlingen. Ihn sogar küssen.
Im Rückblick konnte Jurei sich nicht entsinnen, wie sie überhaupt auf das unschöne Thema gekommen waren: Barreck und die Tatsache, dass dieser Kerl, der Mörder des manduranischen Königs, noch am Leben war.
Dabei hatte der Abend ausgesprochen erfreulich begonnen, als er von seinem kurzen Botengang auf Remasseys Anwesen zurückkehrte. Erst durfte er diesen wirklich grandiosen Sonnenuntergang bewundern, der den Himmel über Kirjat in ein Meer aus Flammen und Feuer verwandelte, der Anblick atemberaubend. Seine Stiefel und Kleidung waren nicht durchnässt und Schlamm bespritzt und Berit hatte sogar recht passable Laune, lud ihn ein, gemeinsam ein Glas Lequeil zu trinken. Dann aber dieser Name, verbunden mit den schlechtesten Erinnerungen an den Krieg. Nicht Jureis eigenen, doch er hatte viel, im Übermaß darüber gehört. „Er wurde nie geschnappt?“
Remassey winkte wortlos ab, betrachtete starr sein Glas.
„Ich stell mir vor, der hat sich in irgend ‘nem dunklen, versifften Loch verkrochen. Ist völlig heruntergekommen, seine alten, vergammelten Klamotten zerrissen und löchrig. Unrasiert und nach altem Mann stinkend.“ Das letzte hätte er besser nicht laut ausgesprochen, auch Remassey war ein alter ... älterer Mann. Hastig trank er einen Schluck von dem hervorragenden Branntwein.
Berit ließ sich nichts anmerken. „Aber am Leben, immer noch, da hilft auch dieses wirklich eindrückliche Bild nicht, das du da gerade gemalt hast.“
„Na ja, Marok lebt ja auch noch.“, gab er zu bedenken.
„Ständig bewacht von einem halben Dutzend Wächtern und voller Argwohn und Angst, weil ihm die eigenen Leute ... ein nicht unbeträchtlicher Anteil der eigenen Leute den Tod wünscht. Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Attentatsversuche auf ihn gescheitert sind. Kein schönes Leben.“
„Wohl nicht.“ Jurei zuckte die Achseln. Er konnte den Mann, Herrscher über Kalimatan, nicht ehrlich bedauern. Letztendlich war der dafür verantwortlich, dass sein Vater in jenem Krieg umgekommen war, seine Mutter...
„Stimmt es eigentlich, dass sie ... meine Mutter ein Kopfgeld auf seine, also Barrecks, Ergreifung ausgesetzt hat?“ Er hatte das mal ... neulich erst wieder gehört.
„Aye, das ist korrekt. Sie wollte den Kerl damals vor allem aus Samala Elis fern halten, später ...“ Eindringlich musterte Remassey ihn. „Komm jetzt aber nicht auf dumme Gedanken.“
„Nee“, widersprach er, ein bisschen zu heftig. Der Branntwein zeigte langsam Wirkung. „Den überlass ich anderen.“
„So?“ Der langjährige Kommandant der Grenztruppen, seit Jahrzehnten ein erfolgreiche Kaufmann, war viel zu aufmerksam, sehr viel wacher als er. „Wer steht denn dann auf deiner Liste?“
„Ich hab‘ doch keine Liste, das ... ist bloß so ein Gedankenspiel“, versuchte er abzulenken. „Ich habe nicht wirklich vor, ihn ...“ Jetzt konnte er es auch aussprechen. „... Marok zu töten, das“ hatte halt noch immer keiner. „Gibt dort drüben ja genügend, die das wollen, und irgendwann schafft es auch einer. Oder eine.“
Remassey schien mitnichten überzeugt. „Lass es, Jurei. Es gibt sehr viel sinnvollere Aufgaben im Leben, auch in deinem Leben.“
„Ja ...“ Nur hatte er die, diese sinnvolle Aufgabe, für sich noch nicht gefunden. Andere waren in der Hinsicht erfolgreicher, vielleicht auch bloß weiter, und womöglich sollte er das allzu persönliche Thema wirklich nicht ansprechen. Obschon es auf den Straßen Kirjats, mehr noch in den Gasthäusern immer noch offen diskutiert ... durchgehechelt wurde. Was Remassey bestimmt nicht glücklicher machte. „Verzeih, wenn ich ...“
„Dann mach es doch auch nicht, Jurei“, fiel Remassey ihm harsch ins Wort. „Dann sprich das Thema, das angebliche Verschwinden meiner Tochter ... Sie ist mit dem Kerl, diesen verdammten Priester durchgebrannt! Tu mir den Gefallen und red nicht davon.“
„Aye“, betreten senkte er den Kopf. „Tut mir leid.“
„Mir tut es leid“, Remassey trank sein Glas in eins leer. „Es hätt‘ nur nichts besser gemacht, hätte ich den Kerl damals erschlagen.“
Der helle Mond, der zwischen den dicken Wolken hervorlugte, sollte Enisa etwas sagen, sie an etwas erinnern, nur wusste sie beim besten Willen nicht, was. Das Wetter hatte gewechselt, war ein wenig milder geworden, regnete und stürmte aber ohne Unterlass. Wenigstens kein Frost mehr, kalt war es trotzdem. Ihr, Enisa sehnte sich nach Wärme, dem Sommer, sehnte sich nach ihrem Bruder, jeden Tag mehr, dachte ständig, viel zu oft ... Sie sollte das nicht.
„Muss ja ein ganz besonderer Mensch sein.“ Der Mann sah nicht einmal zu ihr, nur ganz kurz.
„Wer?“
„Der, an den du immer denkst“, er lächelte, als hätte er einen Scherz gemacht. „Dein Bruder.“
„Ja“, gestand sie, überrascht, aber worüber? Das Ende ihres Widerstands oder sein Erkennen?
Jedenfalls lächelte er sie noch immer an, freundlich, richtig interessiert. „Vielleicht magst du mir ein wenig von ihm erzählen?“
Und obwohl sie, fast reflexhaft, den Kopf schüttelte, ertappte sie sich dabei, wie sie von Jurei erzählte, ihrem Halbbruder. Keine großen, großartigen Geschichten, kleine, banale Episoden und Erlebnisse. Dass er nicht so viel älter sei als sie, keine anderthalb Jahre. Dass sie immer mit ihm reden konnte und sie sich gut, richtig gut verstanden. Was für ein Schock es gewesen war, als er dann so plötzlich weg war, zuerst ja nur nach Kirjat. Ihr Gefühl des Verlustes, da er so völlig aus ihrem Alltag verschwand.
„Warum jetzt? Dein Aufbruch, oder deine Suche?“
„Es gibt nicht den einen Grund, Anlass. Eher ... ein wachsendes, immer drängender werdendes Gefühl“ Sie biss sich auf die Lippen, wandte aber nicht den Blick ab. „... der Gefahr. Ich muss zu ihm.“
„Ihn warnen?“
„Nein.“ Dazu war es längst zu spät. „Ihm helfen.“
„Lass mich raten, mal eine Vermutung aussprechen: Er is‘ ... du willst gar nicht nach Samala Elis.“
Unmerklich schüttelte sie den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an, sie wollte nicht weinen.
„Mädchen ...“ Der Mann legte den Arm fest um ihre Schultern, zog sie an sich.
Jurei blickte versonnen auf den etwas heruntergekommenen Hof fast am Grunde des Tals, wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Es hatte natürlich wieder angefangen zu regnen, kaum dass er Kirjat verlassen hatte. Zumindest war es nicht mehr kalt, der Frühling brach mit Macht herein, überall grünte, wuchs und blühte es. Wie ein Kribbeln auf der Haut, der intensive, drängende Wunsch, den alten, muffigen Pelz abzustreifen. Ein Gedanke, über den Enson, sein Großvater, zu dem er auf dem Weg war, nur den Kopf schütteln würde, dabei etwas über ... von der Ungeduld der Jugend grummelnd.
„Du bringst Regen mit, Junge“, wurde er grimmig begrüßt.
Jurei grinste, er mochte den Alten, Vater seines Vaters. „Auch nicht richtig?“
„Doch, wurde mal Zeit. Kommst du mit rein, auf eine kleine Stärkung?“
„Immer gern.“ Ensons selbstgebrautes Bier war sehr gut. „Aber wollten wir nicht zwei, drei, vier Reihen neuer Stöcke setzen?“
„Das kann warten, ist jetzt ohnehin zu nass.“ Enson nickte zu dem Schwert an Jureis Seite hin. „Hat sie ‘s dir jetzt doch übergeben ... überlassen? Deine Mutter?“
„Aye.“ Mehr gab es, seiner Meinung nach, nicht zu sagen.
„Sie hat es damals auf dem Rücken getragen.“
„Hm, täte ich das, würde Hauptmann Kev mir was Husten.“
Enson stimmte in sein Lachen ein. „Mit Recht. Bei ihr ... war das was anderes. Ganz was anderes.“
„Jepp. Schwert und Beischwert und mit einem bloßen Gedanken die Welt in Brand setzen. Meine Mutter.“ Und anders als sie, Mara, führte er nur ein Schwert, auch nicht beidhändig. Mit links war er deutlich schwächer, ungeübter. Noch, das immerhin ein kleines Ziel.
„Is‘ ... war nicht immer so einfach, was?“
„Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie mit Ivorek einen guten, einen wirklich guten Partner und Mann gefunden hat.“
„Da hängt ein lautes, anklagendes Aber im Raum, Junge.“
„Ja? Nein, ich ... Die beiden sind glücklich miteinander.“ Meistens, sie stritten auch schon mal laut und heftig, mit Türen schlagen und zerbrochenem Geschirr. „Ich gönn‘ es ihr, ihnen, wirklich. Es ist nur schade, traurig, ich hätt‘ noch ...“ Hunderte, tausende, ungezählte Fragen. „Ich hätte halt gern meinen Vater gehabt, verstehst du? Kennengelernt. In echt, als lebenden Menschen, nicht nur als ... als Legende. Als einen Namen, von damals, im Krieg.“
„Ja.“ Enson fuhr ihm etwas grob über den Kopf. „Ich könnt‘ mir vorstellen, bei den Grenztruppen wirst du allenthalben von ihm, seinen Taten hören.“
„Dass er zur Garde wollte, in meinem Alter längst ...“
„Nein“, unterbrach Enson ihn schmunzelnd. Stellte einen Krug Bier auf den Tisch, zwei Becher. „Da war er schon ein paar Jahre älter, bereits Hauptmann. Dein Hauptmann Kev hätte ihn gern länger bei den Grenzern behalten, doch Davian hatte andere Pläne. Deinen Vater zog es in die Hauptstadt. Und Domallen wollte ihn wohl gern dort haben, in der Garde.“
„Der König?“
„War er damals noch nicht“, Enson schenkte ein, schob Jurei einen Becher zu. „Noch lange nicht. Auf ihn, lang soll er regieren.“
Sie stießen miteinander an, fast schon zu ernst, zu bedeutungsschwer.
„Dann werd‘ ich dich diesen Sommer wohl häufiger sehen?“ Es klang Wehmut, aber auch Hoffnung in Ensons Frage mit.
Jurei nickte. „Wäre schön, wenn ich das ab und zu einrichten ... wir öfter mal reden könnten.“
„Und was machen die Mädchen?“
Er war irritiert. „Du meinst ...“
„Jedenfalls nicht Goldlöckchen.“ Enson musterte ihn scharf. „Ich meine ja, es wäre gut ... nein, wirklich besser, wenn ihr zwei mal eine Weile getrennt seid.“
Jurei wich seinem Blick aus, nickte knapp, unvermittelt den Tränen nahe. Spürte Ensons Hand schwer auf seiner Schulter. „Der Mann hat Recht, mein Junge, jedes Recht.“
„Wir machen doch nichts ... Ich liebe sie, Enson, ich würde ihr doch nie was Schlechtes ...“
„Natürlich nicht, aber sie ist deine Schwester, Jurei. Und das ist nun einmal falsch.“
Und auch dazu gab es nichts mehr zu sagen, nur Ausflüchte, Ausreden. Allzu weitschweifige, letztlich lahme Entschuldigungen, er wusste es ja. Senkte den Kopf, biss die Zähne zusammen.
„Manchmal helfen Zeit und andere Menschen, neue Erfahrungen, Erlebnisse, um den richtigen Weg zu finden, mein Junge. Nimm es nicht so schwer, kleine Kröte, du bist schon richtig.“
„Aye“, murmelte er, zog die Nase hoch. Kleine Kröte nannte ihn sein Großvater äußerst selten.
„Was soll ich denn sagen, Junge? Mein ältester Sohn viel zu früh umgekommen, mein zweiter ... Was weiß ich, wo Denison abgeblieben ist, irgendwo im Osten verschollen. Vielleicht, ich weiß es nicht, weiß nich‘ einmal, ob er noch lebt, was er da treibt. Von meinen fünf Kindern habe ich bereits zwei überlebt, es ist eine verdammte Schande“, grollend, sichtlich aufgewühlt leerte der alte Mann seinen Becher. „Und es hört nie auf weh zu tun, der Schmerz wird nur ... Kann deine Mutter manch‘ Lied von singen.“
„Ich könnte dir ja“, begann er. „Also, wenn du möchtest.“
„Mir ein Lied singen, von Verlust, Leid und Schmerz? Oder doch lieber etwas Tröstliches?“
„Ganz wie du willst, gerne auch zwei, drei Lieder.“
„Womöglich gar das Lied der Garde?“, überlegte sein Großvater.
„Womöglich“, stimmte Jurei zu und räusperte sich.
Kaum ein Durchkommen in dem dichten, nassen Wald, nicht einmal die Ahnung, die Hoffnung auf eine Lichtung, gar einen Weg. Dafür Dornengestrüpp, geradezu einladend aussehende üppige Heidelbeerdickichte und moosbewachsene Wurzelstränge, die einen allzu leicht ins Stolpern brachten, von altem Laub verdeckte Löcher und Rinnen im Waldboden. Es war dämmrig-düster, dabei doch mitten am Tag.
„Denk nicht mal dran“, raunte der Mann, den Mund dicht an ihrem Ohr. Ihrem Hals.
„Aber ...“, wollte Enisa aufbegehren.
Er presste er seine Lippen auf ihre, zwang seine Zunge in ihren Mund. Es war nicht unangenehm, gar nicht mal, aufregend und lustvoll, diese ... seine gierige, besitzergreifende Art zu küssen. Enisa hörte ihr eigenes Stöhnen, hastiges Ächzen, und drängte sich bloß an ihn, seiner Hand entgegen. Die von ihrer Schulter zu ihrer Brust gerutscht war, so schwer und warm, diese intensiv und nicht gerade sanft knetete, und sie wollte nur noch mehr. Bemerkte mit leisem Schauder, wie seine andere Hand, deren Finger eben ihren Nacken fest umfasst hatten, an ihrer Hose herumfummelte, ungeduldig zerrte und sie ihr endgültig von den Hüften streifte. Geschickt und so schnell, dass sie es gar nicht genau mitbekam, hatte er ihr die Füße unter dem Leib weggezogen.
Der unebene, farn- und moosbewachsene Boden unter ihr war feucht, kühl, nicht unbequem, seine Hände, die ihre Schenkel energisch öffneten, jedoch warm. Sie hörte sein Keuchen, spürte seine Finger sie liebkosen, ausgiebig erkunden, und sein heißer Atem schickte Schauer der Lust über die nackten Haut ihrer Schenkel, ihres Bauches, als er unberührtes Terrain eroberte, da sie selbst ihre Knie noch weiter spreizte. Ihn und seine Berührungen, eigentlich arg übergriffig, begeistert willkommen hieß, dem Eindringen seiner harten Finger gar entgegen kam. Spürte seine Finger, in sich, und der Gedanke war schwindelerregend, versetzte sie fast in Panik. Dieser Kerl, ein erwachsener, kräftiger Mann, der sich viel zu dicht über sie beugte, von ihrem Schoß, von ihr Besitz ergriff, ohne auch nur ... Enisa japste, keuchte laut auf, als sie seine Zunge spürte, dort, so überaus warm und weich und drängend, stöhnte hemmungslos. Seine unrasierten Wangen kratzten über ihre feuchte Haut, ihre bebenden, zitternden Schenkel; seine Hände hart und zupackend auf ihrem Körper.
In seinen Armen liegend, eng umschlungen, einen Moment verwirrt, als sie in sein Gesicht blinzelte. Ein schmerzhaftes Zwicken und Drängen in ihrem Unterleib, ein Druck, dem sie nicht nachgeben wollte, sollte ... „Aber nicht ...“
„Doch“, er küsste sie rüde und zwang seine Zunge zwischen ihre Lippen, stöhnte keuchend in ihren Mund und drang unerbittlich tiefer in sie ein. Etwas in ihr gab letztlich nach, den Weg frei, wie überwältigt, der Schmerz verblasste. Und fast war es ... angenehm, so eingenommen und völlig ausgefüllt, sein Gesicht schweißnass, verzerrt, der Mund weit offen, sein Keuchen dröhnte in ihren Ohren. Schließlich war der Druck fast ganz weg und sie bedauerte es, sehnte dieses Gefühl zurück und klammerte sich atemlos an ihn, seinen erhitzten, verschwitzten Leib. Hörte ihn heiser lachen. „Das sollte ich nicht zu oft machen.“
„Was ... wieso ...“
„Ich will dich bestimmt nicht schwängern, Mädchen, und was du da aus deiner nun nicht mehr jungfräulichen Möse sickern spürst, ist mein Samen.“
„Also ...“
„Gibt besser kein nächstes Mal.“ Eher freundschaftlich denn leidenschaftlich küsste er sie ein letztes Mal und glitt aus ihr heraus.
Enisa spürte jetzt überdeutlich, wovon er geredet hatte, drehte beschämt den Kopf weg. Sprang eilig auf, sie sollte sich waschen, sich säubern, sollte ...
„He.“ Er hielt sie am Handgelenk fest, zurück. „War wirklich dein erstes Mal?“
„Und wenn?“
„Tut mir ...“ Er wusste offenbar nicht, was er sagen wollte. „Das nächste Mal bin ich ...“
„Es gibt kein nächstes Mal“, fiel sie ihm grob ins Wort, kurz davor, ihm ins Gesicht zu schlagen. Sie war aufgewühlt und enttäuscht, fühlte sich beschmutzt. Zugleich hatte es ihr aber gefallen, so erschreckend, rabiat und erzwungen die Erfahrung auch war, und der blöde Kerl ... redete nur dumm herum, solchen Mist! Sie wollte nicht, dass es so selbstverständlich und alltäglich war. „Lasst mich!“
Sie wollte rennen, nur weg von ihm, dem Mistkerl nicht auch noch flennend in die Arme fallen. Dabei war es ein gutes Gefühl, wenn er sie tröstete, ein wenig Nähe, Geborgenheit und sogar Sicherheit. Na ja, nicht gerade jetzt, so kurz, nachdem sie ... Eigentlich er.
„Geht es dir gut?“ Er versuchte, ihre Wange zu streicheln, doch sie wich ihm aus.