Stefan Klein
Wie wir die Welt verändern
Eine kurze Geschichte des menschlichen Geistes
FISCHER E-Books
Stefan Klein, geboren 1965, ist der erfolgreichste Wissenschaftsautor deutscher Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg. Er wandte sich dem Schreiben zu, weil er »die Menschen begeistern wollte für eine Wirklichkeit, die aufregender ist als jeder Krimi«. Sein Buch ›Die Glücksformel‹ (2002) stand über ein Jahr auf allen deutschen Bestsellerlisten und machte den Autor auch international bekannt. In den folgenden Jahren erschienen weitere hoch gelobte Bestseller: ›Alles Zufall‹, ›Zeit‹, ›Da Vincis Vermächtnis‹ und ›Der Sinn des Gebens‹, das Wissenschaftsbuch des Jahres 2011 wurde. Zuletzt erschien ›Träume: Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit«, ausgezeichnet mit dem Deutschen Lesepreis 2016, und ›Das All und das Nichts. Von der Schönheit des Universums‹ (2017). Stefan Klein lebt als freier Schriftsteller in Berlin.
Stefanie Harjes, 1967 in Bremen geboren, studierte an der Fachhochschule Hamburg und an der Hochschule für Angewandte Künste in Prag. 36 Bücher und zahlreiche Anthologien hat sie bisher illustriert, etliche davon wurden im Ausland veröffentlicht. Seit 24 Jahren arbeitet sie als Illustratorin und Buchkünstlerin in ihrem Atelier „Überm Wind“. Auch eine Künstlertassen-Kollektion und ein Legetrickfilm sind dort entstanden. Für Ihr Werk wurde Stefanie Harjes mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen dekoriert, u. a. dem Österreichischen Staatspreis für Illustration, dem Sonderpreis des Troisdorfer Bilderbuchpreises, dem Steirischen Literaturpreis und dem 2. Preis der Stiftung Buchkunst. 2009 erhielt sie als erste Frau den Hamburger Lehrpreis. 2010 und 2015 wurde sie für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Weltweit unterrichtet sie, leitet Workshops und Seminare und hält Vorträge vor Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ihre Arbeiten werden auf internationaler Ebene in Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Grafiken: Peter Palm, Berlin
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg
Coverabbildung und Illustrationen: Stefanie Harjes
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403715-8
Janko, Stark und Zink 2012.
Sorensen, Claud und Soressi 2018.
Entscheidend ist nicht die absolute Größe des Gehirns, sondern dessen relative Masse bezogen auf die Gesamtmasse des Körpers. Als beste Voraussage für die kognitiven Fähigkeiten eines Tiers hat sich der sogenannte Encephalisierungsquotient (EQ) erwiesen, in dessen Nenner die dritte Wurzel des Quadrats der Körpermasse eingeht. Der EQ moderner Menschen beträgt mehr als 7,5, die Werte für Delfine, Schimpansen und Hunde sind 5,3, 2,5 und 1,2.
Mississippi-Alligatoren beispielsweise legen sich Stöcke auf die Schnauze, die, wenn das Tier untertaucht, wie Schwemmgut erscheinen. So locken sie Beute an. Versucht nun ein Reiher auf der Suche nach Material für seinen Nestbau sich zu bedienen, schnappt das Maul zu. Die Alligatoren sind aber nicht in der Lage, ihre Jagdstrategie der Situation anzupassen. Unabhängig davon, ob sich brütende Vögel in der Nähe befinden, dekorieren sie ihre Schnauzen mit Stöcken. (Rosenblatt und Johnson 2020)
Kandel 2012.
Whitehead 1917.
Wong 2015.
Shumaker, Walkup und Beck 2011.
Goodall 2000.
Vgl. Einleitung, Fußnote 3.
Rutz u.a. 2010. Figaro, ein Kakadu, wurde immerhin dabei gefilmt, wie er mit dem Schnabel Stücke aus einem Ast abbrach, um dann damit anders nicht erreichbare Nüsse zu sich heranzubugsieren; allerdings lebt Figaro in Gefangenschaft an der Wiener Universität und gilt als Ausnahmetalent. (Auersperg u.a. 2012)
Pruetz und Bertolani 2007; Pruetz u.a. 2015.
Kivell 2015; Stout 2016; Morgan u.a. 2015; Morgan u.a. 2015.
Roche 2016.
Zu solcher Selbstkontrolle und langfristiger Planung sind Menschen viel besser imstande als andere Tiere. Das verdanken wir unseren großen Gehirnen. Spontane Impulse in Schach zu halten und sich eine bessere Zukunft auszumalen, benötigt beachtliche geistige Ressourcen. Ganz allgemein kann ein Tier umso beharrlicher und vorausschauender sein, je größer sein Schädelvolumen ist, wie der amerikanische Anthropologe Evan MacLean durch Vergleich verschiedener Arten nachwies. (MacLean u.a. 2014)
Prüfer u.a. 2012.
Schick u.a. 1999; Toth, Schick und Semaw 2006; Savage-Rumbaugh, Toth und Schick 2007.
Stout 2010.
Lombao, Guardiola und Mosquera 2017.
Tomasello u.a. 1997; Hobaiter und Byrne 2011.
Arbib 2012.
Schenker u.a. 2010.
Henrich und Tennie 2017.
Diese Zahl ist optimistisch geschätzt. Als europäische Pioniere im späten 18. Jahrhundert nach Tasmanien vordrangen, trafen sie dort auf eine Bevölkerung von Jägern und Sammlern, die nur zwei Dutzend verschiedene Gegenstände gebrauchten. (Henrich 2017)
Keeley 1993.
Kimbel und Villmoare 2016. Für die Varianten des Homo erectus sind verschiedene Bezeichnungen üblich. Die frühen Vertreter werden häufig als Homo ergaster bezeichnet, spätere Vertreter vor allem in Europa als Homo heidelbergensis. Die Abgrenzung zwischen Homo erectus, Homo ergaster und Homo heidelbergensis ist umstritten. Es handelt sich nicht um Arten im eigentlichen biologischen Sinne, vergleiche die Ausführungen zu Homo sapiens und Neandertaler in diesem und im folgenden Kapitel. Die Einteilung erfolgt vielmehr nach dem Alter und der Herkunft der jeweiligen Fossilien. Man spricht von einer sogenannten Chronospezies. Weil die Einteilung nach Chronospezies willkürlich ist, verzichtet dieses Buch darauf. Homo erectus, Homo ergaster und Homo heidelbergensis werden unter dem Begriff Homo erectus zusammengefasst.
Lorblanchet 2017.
Roebroeks u.a. 2012.
Kozowyk u.a. 2017.
Klein 2009.
Hrvoj-Mihic u.a. 2013.
Semendeferi u.a. 2001.
Damasio 2010.
Wann genau Areal 10 seine heutige Größe annahm, ist unklar. Allerdings zeigt sich die Ausdehnung schon in einer ausgestorbenen Art kleinwüchsiger Menschen, deren Knochen bisher nur auf der indonesischen Insel Flores aufgetaucht sind. Nun sind der Zwergmensch von Flores und wir nur über den gemeinsamen Vorfahren Homo erectus miteinander verwandt. So lässt sich vermuten, dass schon Homo erectus vor 350000 Jahren ein Gehirn hatte, das ihm erlaubte, in weiten Assoziationen zu denken. (Falk u.a. 2005)
Mcbrearty und Brooks 2000.
Mcbrearty und Brooks 2000; Henshilwood u.a. 2001.
Conard, Malina, und Münzel 2009.
Hublin 2014.
Ingman u.a. 2000.
Klein 2009.
Krause u.a. 2007.
Abraham 2002.
Max-Planck-Gesellschaft, Pressemitteilung 2013.
Platon, Ion 533c-534e.
Henrich 2017.
Diese Auffassung ist auch in der Fachliteratur verbreitet. Siehe zum Beispiel Hadamard 1996; Koestler 1964.
Wolf 1996.
Paczkowski 2010.
Übersetzung von Christa Schuenke.
Stukeley 1936.
https://www.bis.org/publ/otc_hy1905.htm abgerufen am 29. Oktober 2019.
Henrich 2017.
Winawer u.a. 2007.
Berlin und Kay 1991; Kay und Regier 2006.
Majid u.a. 2004. Der kanadische Musikwissenschaftler Colin McPhee berichtete von Tanzunterricht bei einem Stammesvolk auf Bali: Die Anweisungen lauteten beispielsweise, den östlichen Fuß nordwärts zu setzen und mit der westlichen Hand eine Geste nach Süden zu machen. (Deutscher 2010)
Kline und Boyd 2010.
Bromham u.a. 2015.
Collard u.a. 2013.
Bettencourt u.a. 2007; Carlino, Chatterjee und Hunt 2007.
James 1975.
Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1994 wurden die rund 34000 Jahre alten Malereien der Chauvet-Höhle als die frühesten der Geschichte angesehen. Im Jahr 2012 allerdings datierten Dirk Hoffmann und Alistair Pike einen kreisförmigen roten Farbauftrag in der Castillo-Höhle, die der Pasiega-Höhle benachbart ist, auf ein Alter von 40000 Jahren. Im Jahr 2014 machten australische Archäologen Felszeichnungen in Höhlen der indonesischen Insel Sulawesi bekannt. Die Darstellungen von Rindern und Hirschebern und die Umrisse menschlicher Hände stammen ebenfalls aus einer Zeit von vor 40000 Jahren. (Pike u.a. 2012; Kinsley und Dosseto 2014)
Zilhão 2006.
Villa u.a. 2015.
Cassirer 1923.
Dehaene u.a. 2015.
Skeide u.a. 2017.
Boysen u.a. 1996.
Thompson, Oden und Boysen 1997.
Clark und Chalmers 1998.
Feynman und Weiner 1973.
Indem sich eines der u-Quarks, aus denen das Proton aufgebaut ist, in ein d-Quark verwandelt. Dies geschieht durch Streuung eines Elektrons (e-), unter Wirkung eines W+ Bosons das in ein Elektronen-Neutrino (νe) übergeht. Die Pfeilspitzen geben die Zeitrichtung an.
Aiken 1998.
Powell, Shennan und Thomas 2009.
Lorblanchet 2017.
Meller und Michel 2018.
Selbst die Herkunft der Metalle konnten die Chemiker bestimmen. Das Gold und das Zinn, aus dem die Bronze bestand, waren aus dem fernen Cornwall eingeführt worden. (Ehser, Borg und Pernicka 2011)
Erschienen die Plejaden in Konjunktion zu einer Mondsichel von genau der Gestalt, wie sie auf der Scheibe dargestellt ist, am Himmel, dann zeigte dies eine Abweichung von Sonnen- und Mondjahr an, die durch einen Schaltmonat auszugleichen war. (Hansen und Rink 2008)
Hershenson 2013.
Murray, Boyaci und Kersten 2006.
Weidner u.a. 2014.
Oft erscheint der aufgehende Vollmond nicht nur übergroß, sondern zugleich unwirklich nah. Doch andererseits hat die Sehrinde die am Horizont leuchtende Scheibe gerade aufgrund ihrer vermuteten großen Entfernung vergrößert. Warum wir diese Entfernung nicht wahrnehmen können, ist eine bis heute offene Frage. Wahrscheinlich liegt es daran, dass der Mond uns vertraut ist. Die Jülicher Messungen deuten auf komplizierte Vorgänge hin: Hat die Sehrinde den Lupeneffekt erst einmal erzeugt, bemerken andere Instanzen im Gehirn, dass der Mond nun größer erscheint, als wir ihn vom Nachthimmel erinnern. Um uns diese Irritation zu ersparen, wird der gefühlte Abstand in einem zweiten Schritt korrigiert: Wir sehen den Mond dann so nahe, wie es seiner wahrgenommenen Größe entspricht. Auch ist ungeklärt, warum Piloten in Düsenjets von riesigen Monden am Abendhimmel berichten, obwohl sich aus einem Flugzeug in zehn Kilometern über der Erde gar kein Anhaltspunkt für die Entfernung zum Horizont bietet, und warum wir den aufgehenden Mond viel kleiner wahrnehmen, wenn wir ihn mit nach vorne hängendem Kopf durch die gespreizten Beine betrachten.
Die zugrundeliegende Theorie der Gehirnfunktion ist als »predictive coding« bekannt. (Friston 2018; Huang und Rao 2011; Knill und Pouget 2004)
Raichle 2010.
Norris 2013; Grainger, Dufau und Ziegler 2016.
Lee und Nguyen 2001.
Diana Deutsch, persönliche Mitteilung an den Autor.
In der Spieltheorie, oft auch in der künstlichen Intelligenz, wird der Möglichkeitsraum üblicherweise als »Zustandsraum« bezeichnet.
Ahissar und Hochstein 2004.
Cicero, De re publica.
Dasen 1972; De Lemos 1969; Owens und Kaleva 2008.
So schreibt Platon in seinem siebenten Brief, 341c.
Jahn 1858.
Poincaré 1908; Hadamard 1945.
Jung-Beeman u.a. 2004; Kounios u.a. 2006; Kounios und Beeman 2014.
Stanovich 1999; Raichle und Snyder 2007; Raichle 2010.
Nielsen u.a. 2013.
Diese Hirnregion wird als dorsolateraler präfrontaler Kortex (DLPFC) bezeichnet.
Nakano u.a. 2012.
Raichle 2010.
Marron u.a. 2018.
Dijksterhuis und Meurs 2006; Baird u.a. 2012.
Liu u.a. 2012; Jung 2013; Benedek und Jauk 2018.
Beaty u.a. 2018,
Beaty u.a. 2018.
Petri u.a. 2014.
Li u.a. 2017.
Beaty, Seli und Schacter 2019.
Burckhardt 1860; Burke 1998; Burke 2014; Debus 1978; Hall 1962; Grafton, Shelford und Siraisi 1992.
Febvre und Martin 1958; Dittmar 2011.
Zitiert nach Febvre und Martin 1958.
Tatarkiewicz 1980.
Dobrzycki und Hajdukiewicz 1969.
Kopernikus, Hamel und Posch 2015.
Zermelo 1913.
Dies ist die sogenannte Entscheidungsbaum-Komplexität des Spiels.
Boden 2004.
Joseph Haydn gab der klassischen Musik nach Bach ihre Konzepte, aber Wolfgang Amadeus Mozart finden Klassikliebhaber göttlich. Niemand würde Mozarts Kreativität bestreiten, allerdings folgt seine Musik den Prinzipien, die Haydn erfand; Mozart erkannte seine Schuld gegenüber dem Kollegen und Freund auch öffentlich an. Die frühen Beatles-Songs klingen wie von Buddy Holly; Paul McCartney erklärte sogar, ihre ersten 40 Lieder hätten die Beatles unter dem Einfluss des 1959 bei einem Flugzeugabsturz verunglückten Rock ’n’ Rollers geschrieben. Heute ist Buddy Holly nur noch Kennern der Popgeschichte ein Begriff, die Beatles-Songs hingegen sind Volkslieder geworden.
Rawson 1983.
Man könnte auch eine ganze Geschichte der explorativen Kreativität in der Musik schreiben.
Pariser Handschriften BN 203722v.
Boden 2004.
Naumann 2012.
Arnason 1986.
Gammel 2003; Hustvedt 2019.
Turney 1972.
Toole 1998.
Erst Jahrzehnte nach Adas Tod sollte Charles Babbage einen kleinen Prototyp der analytischen Maschine anfertigen lassen. So erfuhr Ada nie, dass ihr Programm tatsächlich funktionierte. Heutige Computer berechnen die Bernoulli-Zahlen nach dem von ihr erdachten Prinzip.
Um die Vorgänge im Nervensystem untersuchen zu können, ließ Ada Lovelace sich von einem Ingenieur beibringen, wie man mit Elektrizität experimentiert. (Woolley 1999; Wolfram 2015)
Green 2001.
Burhan u.a. 2018.
Salk Institute 2016.
Kurzweil 1999.
Turing 1936.
Zu den Voraussetzungen gehört in Turings ursprünglichem Beweis ein unendlich langes Papierband, also unendliche Speicherkapazität. Man kann zeigen, dass reale Maschinen mit endlichem Speicher auf analoge Weise einander äquivalent sind.
Turing 1950.
Wittgenstein 1984.
Turing 1992.
Vorschläge dazu hat Roger Penrose gemacht. (Penrose 1991)
Silver 2018.
Christie’s 2018.
Jones 2016; Jones 2018.
Klein 2002; Damasio 2004; Damasio 2017.
Baudelaire 2012.
Sandom u.a. 2014.
Bar-On, Phillips und Milo 2018.
Brondizio u.a. 2019.
Bradshaw und Saltré 2019.
Bar-On, Phillips und Milo 2018.
Könnten Pflanzen nicht aus Sonnenlicht neue Biomasse aufbauen, wäre die Erde in drei Jahrzehnten vollständig verwüstet. (Burgess und Gaines 2018)
Haberl u.a. 2007.
Fleming, Thomas und Dolan 2010.
Einen guten Überblick geben Gopnik u.a. 2017.
Owens und Hofferth 2001; Burdette und Whitaker 2005; Hofferth 2009.
Gardner 2011.
Die entsprechende Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitglied einer nationalen Wissenschaftsakademie sich zugleich als Künstler betätigt, ist dreimal höher als im Durchschnitt der Bevölkerung. (Root-Bernstein u.a. 2008)
Feynman, Leighton und Sands 2011.
Für Dora, Irene und Elias
Was heute unvorstellbar ist, kann morgen Wirklichkeit sein. Als Glanzleistungen menschlicher Schaffenskraft gelten gewöhnlich spektakuläre Werke – wie die Pyramiden oder der Eiffelturm, Mozarts Symphonien oder Leonardos »Mona Lisa«, Shakespeares Sonette oder Technikwunder vom Rang der Mondraketen. Aber das schöpferische Denken manifestiert sich ebenso und vielleicht noch eindrucksvoller in den kleinen, vermeintlich alltäglichen Dingen. Die Tatsache, dass wir uns an einem Wintertag unter eine heiße Dusche stellen können, ist kein geringerer Triumph des menschlichen Einfallsreichtums als die Entdeckung der Relativitätstheorie.
Jeder, der einmal versucht hat, ein Lagerfeuer zu entfachen, weiß, was für eine Herausforderung eine solch elementare Tätigkeit darstellen kann – erst recht, wenn das Holz feucht ist. Und dabei müssen wir heute nur Streichhölzer aus der Tasche ziehen, um eine Flamme zu entzünden. Unsere Vorfahren hatten es schwerer. Einfach Feuersteine gegeneinanderzuschlagen, wie es spielende Kinder tun, bringt nicht das kleinste Flämmchen zum Lodern.
Bevor unsere Ahnen ihr erstes Feuer entfachen konnten, bedurfte es vielmehr einer ganzen Reihe von höchst unwahrscheinlichen Ideen. Zudem mussten die frühen Menschen diese Einfälle miteinander verketten: Die Lösung lag darin, Feuerstein mit einem weicheren Mineral wie Katzengold und leicht brennbarem Zunder zu paaren. Schlägt man mit dem Feuerstein in einem spitzen Winkel auf das Katzengold, erzeugt man durch Reibung glühende Späne. Gelingt es, diese Funken mit dem Zunder aufzufangen, entsteht ein kaum sichtbares Glutnest, dessen Wärme sich schließlich durch genau dosierte Atemstöße auf ein Bündel Gras übertragen lässt.
Der Zunder wurde gewöhnlich aus einem Baumpilz gewonnen, was wiederum erstaunliche Einfälle voraussetzt. So, wie man den harten Zunderschwamm von der Rinde eines sterbenden Baums ablöst, brennt er nämlich gar nicht. Wie erkannten unsere Vorfahren, dass sie das Hutfleisch, eine dünne Schicht unter der Pilzhaut, freilegen und weichklopfen mussten? Und woher kam die Einsicht, dass der Zunder leichter Feuer fängt, wenn man das Hutfleisch erst in einer Mischung aus Wasser und Asche auskocht und dann drei Wochen lang in Urin einlegt?
Mit diesem Wissen überlebten unsere Ahnen Winter, die viel kälter waren als heute. Das bezeugt der Mann, der vor 5300 Jahren das Tiroler Tisenjoch überquerte, auf dem Gletscher mit einem Pfeilschuss ermordet wurde und dessen tiefgefrorene Mumie heute als »Ötzi« im Bozener Landesmuseum ausgestellt ist.[1] In seiner Gürteltasche führte Ötzi eine schwarze Masse mit sich, die Forscher als bearbeitetes Hutfleisch eines Zunderpilzes identifizierten. In dem Zunder glitzerte Katzengoldstaub.
Unser Denken wurzelt tief in der Vergangenheit. Schon Ötzi griff auf die Erfahrung Zehntausender Generationen zurück. Mit Sicherheit die Neandertaler, höchstwahrscheinlich auch schon weit frühere Menschen schlugen mit Zunder und Katzengold Feuer.[2] Wir wissen nicht, wann genau es unseren ersten Vorfahren gelang, erstmals eine Flamme zu entzünden. Aber wir wissen, dass kein Ereignis die Geschichte der Menschheit auch nur annähernd so geprägt hat wie dieser Moment. Denn mit dem Feuer, das sie nun kontrollierten, veränderten die Menschen nicht nur die Welt, sondern zudem sich selbst. Indem sie ihre Nahrung kochten, machten sie deren Inhaltsstoffe besser verwertbar. Mehr Energie erlaubte das Wachstum immer größerer Gehirne, bis diese Dimensionen erreichten, die in der Natur einmalig waren.[3] Der Weg zu Computern und Raumfahrt begann am Kochtopf. Doch dass Menschen sich auf diesen Weg begeben konnten, verdankten sie ihrem Einfallsreichtum.
Erst unsere Ideen haben uns zu denen gemacht, die wir sind. Unsere Vorstellungskraft formt unser Wesen. Darin unterscheiden wir uns von jedem anderen Geschöpf der Natur. Über beeindruckende Technik verfügen zwar auch Tiere. Die Kunst, mit der zum Beispiel Termiten ihre gewaltigen, klimatisierten Bauten für Hunderttausende Artgenossen errichten, steht menschlichen Errungenschaften keineswegs nach. Die in der Luft schwebenden Architekturen von Fangnetzen, Wohnkammern, Baldachinen, Klebefäden, Signalschnüren und Brückenleinen, die Spinnen aus ihrer Seide weben, ringen jedem Ingenieur Bewunderung ab. Und die Jagdstrategien, mit denen manche Krokodile trotz ihrer winzigen Gehirne viel intelligentere, auch wendigere Vögel erlegen, erscheinen kaum minder raffiniert als die Kontrolle des Feuers.[4]
Aber Termiten wissen nicht, wie sie ihre Bauten erstellen, Spinnen ist unbekannt, wie man Netze aufspannt. Sie haben ihre Kunst weder selbst erfunden noch von anderen gelernt. Sie mussten es nicht, denn sie kamen als Baumeister auf die Welt. Die Pläne und die richtige Ausführung ihrer Konstruktionen sind in ihre Gene geschrieben. Auch Krokodile führen nur aus, was die Natur ihnen einprogrammiert hat.
Bei uns Menschen ist das ganz anders. Die Natur hat uns nicht beigebracht, Feuer zu schlagen. Jeder Städter, der ohne Feuerzeug und Daunenschlafsack in einer kalten Wildnis ausgesetzt wird, würde erfrieren. Selbst wenn es ihm gelänge, Feuersteine zu finden: Woher sollte er wissen, dass Funken aus Feuerstein niemals heiß genug werden, um einen Brand anzufachen? Dass er Späne von weicherem Katzengold abschlagen muss? Und wer würde denken, dass ein Pilz brennt?
Den unscheinbaren Termiten und Spinnen genügt ihr Instinkt, um sich Städte zu bauen und Luftschlösser zu weben. Der Mensch hingegen braucht eine Serie von Geistesblitzen, bevor er auch nur eine Flamme anstecken kann.
Woher kommen diese Einfälle? Die längste Zeit vermutete man, dass göttliche Kräfte dem Menschen seine Ideen eingeben. Und weil keine Erfindung so lebenspendend war wie die Zähmung des Feuers, erzählt jede Kultur ihren Mythos, nach dem ein höheres Wesen das Feuer auf die Erde gebracht hat. In der griechischen Sage muss Prometheus dafür büßen, dass er dem Göttervater Zeus die Flammen geraubt hat. Niemand konnte sich seinerzeit vorstellen, dass die Menschen aus eigener Geisteskraft Herrschaft über das Feuer erlangt hatten.
Heute sind wir weniger geneigt, übernatürliche Mächte für unsere Einfälle verantwortlich zu machen. Und doch wird das schöpferische Denken der Menschen noch immer als eines der größten Rätsel überhaupt angesehen. Gemeinsam mit dem Mysterium des Bewusstseins markiere es »den Rand unseres Wissens«, schreibt der Neurowissenschaftler Eric Kandel, der für die Entdeckung grundlegender Mechanismen des Lernens im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt.[5]
Das schöpferische Denken erscheint geheimnisvoll, weil es unberechenbar ist. Ideen gehen, oft zu unserem Leidwesen, ihre eigenen Wege. Wenn ein Problem neue Lösungen erfordert und wir um Einfälle ringen, wollen sie sich nicht einstellen, sosehr wir uns auch um sie bemühen – oder gerade deswegen? Dann aber überfallen sie uns, wenn wir am wenigsten mit ihnen rechnen: Während wir unter der Dusche stehen, mit dem Fahrrad auf einer vielbefahrenen Kreuzung abbiegen, manchmal sogar in einem Traum fängt der Verstand plötzlich an, Funken zu schlagen.
Wohl weil Menschen sie so lange göttlichen Mächten zuschrieben, hat die Fähigkeit, Ideen hervorzubringen und umzusetzen, erst seit 150 Jahren einen Namen. Genauso lange ist ungeklärt, was Kreativität – das Vermögen, Neues und Wertvolles zu schaffen – eigentlich ausmacht.
Handelt es sich um eine Gabe, die lediglich den größten Geistern der Menschheit, den Mozarts, Picassos und Einsteins zukommt? Die Verehrung von Genies erscheint nur zu verständlich: Unbestritten sind die letzten Takte der Jupitersymphonie ein Wunder, eröffneten die »Demoiselles d’Avignon« ein neues Kapitel der Malerei. Zweifellos fiel mit der Relativitätstheorie ein Schleier von unserem Bild des Universums. Menschen, die solche Werke schaffen, für Auserwählte zu halten, liegt aus demselben Grund nahe, aus dem Mythen das Feuer als göttliche Gabe beschreiben – man konnte sich die schöpferische Leistung nicht anders erklären.
Doch sowenig Prometheus eine historische Gestalt ist, so wirklichkeitsfremd ist der Geniekult. Jüngste Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen, dass Kreativität kein besonderes Talent ist, mit dem einige Auserwählte beschenkt wurden und der sogenannte Durchschnittsmensch nicht. Die folgenden Seiten wollen Sie davon überzeugen, dass Kreativität zugleich grundlegender und viel interessanter ist: Schöpferisches Denken ergibt sich aus den elementaren Funktionen des Verstands, über die jeder Mensch verfügt.
Mehr noch: Welche Früchte unser Verstand trägt, hängt weniger von den persönlichen Anlagen ab als vielmehr davon, wie wir uns mit anderen Menschen austauschen können. Denn Kreativität entfaltet sich nicht so sehr im Kopf eines Einzelnen, sondern in der fruchtbaren Auseinandersetzung mit anderen Personen und ihren Gedanken. Und weil das so ist, lässt Kreativität sich entfesseln.
Nur nach einer romantischen Vorstellung schöpfen Genies große Ideen aus sich selbst. Das Gegenteil trifft zu: Jedes schöpferische Denken entspringt dem Zusammenspiel vieler Menschen. Ideen entwickeln sich als Antworten auf Fragen, die andere Individuen oder die Umwelt uns stellen. Ohne diese Anregungen von außen wäre die stärkste Vorstellungskraft machtlos. Um Antworten zu finden, benötigt der Verstand geistige Werkzeuge und geeignetes Material – so, wie selbst der beste Zimmermann ohne Holz und Säge keinen Dachstuhl richten kann. Diese geistigen Werkzeuge und das Material, aus denen die Vorstellungskraft neue Einfälle formt, nennt man Kultur.
In der Geschichte der Menschheit erlebte das Denken drei Revolutionen. Diese Zäsuren formten den menschlichen Geist. Mit den Werkzeugen und aus dem Material, die in diesen Zeiten des Umbruchs entstanden, bringen wir heute unsere Ideen hervor. Eine vierte Revolution erschüttert die Welt heute. Alle diese Umwälzungen gehen auf eine gemeinsame Ursache zurück: Die Menschen entwickelten einen neuen Umgang mit Information.
Die erste Revolution vollzog sich vor mehr als 3,3 Millionen Jahren, als unsere Vorfahren lernten, wie man Steine zu Klingen behaut. Diese Werkzeuge verliehen ihren Körpern übermenschliche Kräfte, so dass die frühen Menschen sich ein Stück weit aus der Natur lösten. Die Kapitel eins bis drei dieses Buchs erzählen davon, wie unsere Urahnen begannen, ihre Welt zu gestalten. Weil bereits sie darauf angewiesen waren, voneinander zu lernen, benötigten sie einen neuen Weg der Verständigung. Darum entstand wohl schon in dieser ersten Wendezeit die Sprache.
Im Zuge der zweiten Revolution entdeckte der Mensch das symbolische Denken. Wann und wie genau dieser Umbruch einsetzte, wissen wir nicht. Fest steht, dass unsere Ahnen sich vor mindestens 100000 Jahren ein neues Verständnis der Welt aneigneten. Sie erkannten ihre Freiheit, den Dingen ihrer Umgebung eine Bedeutung zu geben. Plötzlich war eine Muschel nicht mehr nur der Überrest eines Meerestiers – sie konnte ein Schmuckstück sein, das seinem Besitzer Ansehen verlieh. Ein geschwungener Strich, mit einem verkohlten Ast auf eine Felswand gezogen, stand für den Rücken eines Tieres. Der farbige Abdruck einer Hand erinnerte an die Person, die ihn angebracht hatte. Zum ersten Mal speicherten Menschen Information außerhalb ihres Gehirns.
Symbole sind Werkzeuge für den Verstand. Wie wir in den Kapiteln vier bis sechs sehen werden, ermöglichten sie den Menschen das Zusammenleben in größeren Gruppen, später die Sesshaftwerdung. Aus einfachen Bildsymbolen entwickelten sich Zahlen und Schrift, die immer abstraktere Vorstellungen erlaubten. Durch den Gebrauch von Symbolen potenzierte der Mensch die Möglichkeiten seines Gehirns.
Die dritte Revolution entfesselte Information, sie führte die Menschheit in ein Zeitalter, in dem sich Gehirne auf der ganzen Welt miteinander vernetzten. Den Beginn der Massenkommunikation können wir bis auf ein paar Monate genau datieren: Um das Jahr 1450 nach Christus nahm der Goldschmied Johannes Gutenberg in Mainz ein neuartiges Gerät in Betrieb. Seine Druckerpresse mit beweglichen Lettern aus Zinn erlaubte es, Informationen schnell und massenhaft zu verbreiten. Innerhalb weniger Jahre strömten Millionen Blätter aus den Druckereien. Die Kapitel sieben bis neun untersuchen, wie Wissen zunehmend den Glauben als Orientierung ersetzte. Wissenschaft wurde eine Macht in der Welt, entfesselte die verborgenen Kräfte der Natur und verschaffte Milliarden Menschen einen nie gekannten Lebensstandard.
Die vierte Revolution wühlt uns derzeit auf. Menschen haben Maschinen geschaffen, die ihrem Verstand immer mehr Aufgaben abnehmen und selbständig lernen. In kürzester Zeit sind wir von unseren Computern abhängig geworden. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Übergang sich vollzieht, hat viele Menschen überrascht, auch erschreckt. Die Kapitel zehn und elf analysieren das Dilemma, in dem wir stecken: Einerseits werden Maschinen auf immer mehr Gebieten unsere Intelligenz übertreffen und für uns Entscheidungen fällen. Andererseits werden wir mit Hilfe der sogenannten künstlichen Intelligenz unser eigenes Denken besser verstehen – und können es dadurch weiterentwickeln.
Der Aufstieg des Menschen stelle sich als »ein ständiges Wachsen und Erweitern der menschlichen Vorstellungskraft« dar, bemerkte der britische Mathematiker und Biologe Jacob Bronowski. Der Weg unserer Art zum Herrscher über die Erde war nicht so sehr ein Triumph der Intelligenz – sondern einer der Phantasie.
Die erstaunlichste Fähigkeit des menschlichen Geistes ist, dass er immer wieder sich selbst übertrifft. Aber jede Revolution, die ihn auf eine neue Stufe hob, brachte auch eine Krise mit sich, in der eine alte Ordnung zerbrach. So beschäftigen uns heute die Fragen, die der rasante Siegeszug von Computern, Internet und künstlicher Intelligenz aufwirft. Vielleicht hilft uns ein Blick auf die Geschichte des menschlichen Geistes, sinnvolle Antworten zu finden.
Steinwerkzeug aus Lomekwi, 3,3 Millionen Jahre vor unserer Zeit
Es ist umstritten, ob die menschliche Hand das menschliche Gehirn oder das Gehirn die Hand geschaffen hat. Sicherlich ist die Verbindung intim und wechselseitig.
Alfred North Whitehead[6]
Wir würden eine Reise durch die Wüste nach Norden antreten, kündigte der Fahrer uns an, das genaue Ziel dürfe er uns nicht nennen. So fuhren wir durch die Dunkelheit, während jedes Schlagloch uns gegen die Wände des Landcruisers prallen ließ. Als die Sonne aufging, zeigte sich eine Landschaft von eigenartiger Schönheit. Links der Fahrbahn erstreckten sich endlose Schotterflächen, aus denen sich in der Ferne ein Gebirge erhob. Auf dem Geröll wuchsen ein paar Akazien, wir sahen eine Ziegenherde und ein Kamel. Im Übrigen schien die Gegend verlassen. Zu unserer Rechten aber schimmerte tiefblau und bis zum Horizont Wasser. Am Ufer wuchsen Palmen so üppig, dass ein Foto als Werbung für einen Karibikstrand hätte durchgehen können, nur die Nilkrokodile, die sich im Sand sonnten, störten. Dies war der Turkana-See, der größte Wüstensee der Welt, dessen Salzwasser auf 250 Kilometern Länge das weite Tal des afrikanischen Grabenbruchs füllt.
Gegen Mittag näherten wir uns der äthiopischen Grenze. Wir passierten ein paar aus Palmwedeln geflochtene Hütten, vor denen Menschen saßen, die es irgendwie schafften, in dieser Ödnis zu überleben. Dann bog der Fahrer plötzlich ab und steuerte, die Piste hinter uns lassend, in ein ausgetrocknetes Flussbett hinein. Über das Geröll und durch die Felsen dirigierte er den Geländewagen, bis wir schließlich auf einem Hügel ankamen, wo er uns auszusteigen bat. Das Panorama war überwältigend. Zu unseren Füßen lag ein natürliches Amphitheater, vom Wasser der Regenzeit aus dem roten und gelben Tuff gewaschen. In Richtung See zog sich das Flusstal, durch das wir gekommen waren. Die senkrechten Wände des Tals leuchteten in allen Erdfarben und trugen Gesteinssäulen, wie das Gemäuer einer Kathedrale.
Lange standen wir, der Fahrer, die Archäologin Sonia Harmand, ein Fotograf und ich selbst, auf dem Hügel, schauten in die Ferne und schwiegen. Dies sei der Ort, an dem sie die Entdeckung ihres Lebens gemacht habe, sagte endlich Harmand, eine zierliche Französin mittleren Alters. Sie deutete auf einen Haufen bräunlicher Steine vielleicht zwanzig Schritte vor uns. Hier, zu unseren Füßen liege das erste Zeichen vom Erwachen der Menschheit.
Am 9. Juli 2011 habe es sie zufällig hierherverschlagen, das Datum werde sie niemals vergessen. Mit ihrem Mann, Archäologe auch er, habe sie sich in der Wüste verirrt. Um sich zu orientieren, waren sie in der Mittagshitze auf den Hügel gestiegen, auf dem wir jetzt standen. Es war ihr fünfzehnter Sommer in dieser Wüste am Äquator, der man nachsagt, die heißeste Gegend der Erde zu sein, und in der 45 Grad im Schatten normal sind – wenn man denn Schatten findet. »Na und?«, fragte Harmand. Dies sei ihr Land.
Nach ihrem Abitur in Paris war sie nach Ostafrika gereist, angezogen von nichts weiter als einer Sehnsucht. Und dort angekommen habe sich tatsächlich eine unerklärliche und überwältigende Vertrautheit mit diesem Kontinent eingestellt, der vor Millionen von Jahren die Menschheit hervorgebracht hat. In den Savannen des großen Grabenbruchs fühlte sich Sonia Harmand nicht in der Fremde, sondern heimgekommen an einen Ort, an dem sie schon einmal, lange Zeit vor ihrer Erinnerung, war. Da sei ihr klar gewesen, sie würde zurückkehren. Harmand studierte Archäologie in Paris, trat eine Professur in New York an und brach zu den Ufern des Turkana-Sees auf, wo so viele Hinterlassenschaften der frühesten Menschen und Vormenschen entdeckt worden waren wie nirgends sonst auf der Erde.
Als sich die Verirrten an diesem heißen Julitag verorteten, stellten sie überrascht fest, dass sie die Gegend schon mehrmals besucht hatten. Nur wenige hundert Meter entfernt war zehn Jahre zuvor ein rätselhaftes Fossil aufgetaucht – der vollständige Schädel eines Hominiden. Die Knochen waren 3,5 Millionen Jahre alt, stammten also aus einer Zeit, lange bevor Homo sapiens die Erde betrat. Jeder solche Fund ist sensationell, dieser Schädel aber sah noch dazu mehr als ungewöhnlich aus: Das Gesicht des Verstorbenen besaß keine tiefen Augenhöhlen, kein fliehendes Kinn, wie man sie sonst von Vormenschen kannte. Vielmehr wirkte es so flach und ebenmäßig, dass es auf einem Gruppenfoto in heutiger Gesellschaft kaum auffallen würde. Auch sonst erinnerte wenig an die bekannten Fossilien aus dieser Epoche. Nachdem die Paläontologin Louise Leakey den Schädel untersucht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass der Tote Vertreter einer bislang unbekannten Art Mensch gewesen sein müsse, die sie Kenyanthropus platyops, »flachgesichtigen Keniamensch« nannte. Und ein Wort aus der Familie Leakey hat Gewicht. Louise ist die Enkelin des legendären Paares Louis und Mary Leakey, deren Fossilienfunden wir die Einsicht verdanken, dass der Mensch aus Afrika stammt. Als Kind war Louise dann zugegen, als ihre Eltern Richard und Meave Leakey in den 1970er Jahren am Turkana-See die ältesten Knochen der Gattung Homo ausgruben.
Barg der unscheinbare Hügel im Ödland des Turkana-Sees noch ein Geheimnis? Harmand funkte ihre Helfer herbei. Zwei Dutzend Männer schwärmten aus. In Ketten einer neben dem anderen durchkämmten sie das Gelände, darauf geschult, mit überscharfen Augen die kleinsten Auffälligkeiten am Boden wahrzunehmen. Das Land an den Ufern des Turkana-Sees ist so trocken, dass kein Humus die Fossilien längst ausgestorbener Geschöpfe bedeckt; sobald ein kräftiger Guss in der Regenzeit eine Schicht Schotter wegwäscht, liegen die Überreste aus Jahrmillionen frei.
Noch am selben Nachmittag dieses 9. Juli 2011 meldete Sammy Lokorodi, ein Fossilienjäger aus dem Volk der Turkana, über Walkie-Talkie Erfolg. An einem Abhang hatte er gut faustgroße Basaltsteine mit ungewöhnlich scharfen Kanten entdeckt. Dies konnte unmöglich Naturbruch sein, jemand musste mit großer Kraft auf die Steine eingewirkt haben. Zu erkennen waren sogar die Schlagmale, wo dieser Jemand immer wieder angesetzt hatte, um die Steine zu spalten und Schneidkanten herauszubrechen.
Die Forscher markierten die Fundstelle mit farbigen Fähnchen, blau für einen behauenen Stein, gelb für Fossilien. Nach einer halben Stunde steckten 50 Fähnchen im Boden auf einer Fläche so groß wie ein Zimmer.
Harmand ließ graben. Anhand der Lage der Gesteinsschichten konnte sie das Alter der Funde datieren. Die Steinwerkzeuge waren fast eine Million Jahre älter als alle bis dahin bekannten Artefakte von Menschen oder auch Tieren. Sie entstanden vor mindestens 3,3 Millionen Jahren, zu einer Zeit, als Kenyathropus platyops, das Flachgesicht, noch auf der Erde weilte. Harmand hielt den Ort ihrer Entdeckung geheim. Kein Plünderer und kein Konkurrent sollte sich der Lagerstätte bemächtigen können, weshalb auch wir nicht erfahren durften, wo genau wir eigentlich waren. Der Weiler aus Palmwedelhütten, den wir passiert hatten, heiße Lomekwi, sagte Harmand. Mehr wollte sie nicht preisgeben.
Ihre Männer gruben vier Sommer lang, denn das Sediment war hart wie Zement und musste vorsichtig aufgebrochen werden. Schließlich hatten die Archäologen fast 150 bearbeitete Steine beisammen. Spektakulärer noch als die Schneidgeräte waren Fundstücke, die als Spitzhämmer und Ambosse zur Herstellung der Klingen gedient haben mussten. Die größten Werkzeuge wogen 15 Kilo, und viele steckten so tief im Boden, dass sie unmöglich später an diese Stelle geraten sein konnten. Zweifellos hatte hier nicht bloß ein einzelner Handwerker Steine behauen: Dies waren die Überreste einer Industrie, so nennen Paläontologen eine Tradition der Werkzeugherstellung. Und die Industrie musste sehr lange in Betrieb gewesen sein, wie die vielen Artefakte in mehreren Geröllschichten verrieten. Jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendelang hatte Generation um Generation intelligenter Wesen hier Werkzeuge hergestellt. An diesem Hügel vor unseren Augen hatten menschenähnliche Wesen voneinander gelernt, Ideen entwickelt und weitergegeben. Die Schöpfer der Klingen, wer immer sie waren, hatten eine Kultur.
Als Harmand endlich im Jahr 2015, kurz vor meinem Besuch, in einer Fachzeitschrift über ihre Grabungen berichtete, feierten die Kollegen ihre Entdeckung als »die wichtigste der letzten 50 Jahre«. Die Funde von Lomekwi sind das Zeugnis der ältesten bekannten Kultur überhaupt, ein Schlüssel, um das Erwachen der Menschheit zu verstehen. Sie erzählen vom Aufstieg einer neuen Macht auf der Erde – einer Spezies, die mit ihrer Intelligenz ihr eigenes Schicksal zu lenken und die Welt nach ihren Vorstellungen zu verändern begann. Ideen, nicht mehr allein die Natur, bestimmten fortan das Geschehen auf dem Planeten. Und die Steine von Lomekwi geben auch Aufschluss darüber, was diese schöpferische Intelligenz auszeichnet und wie sie entstand.
Bis zu Harmands Funden vermutete man, schöpferisches Denken erfordere ein großes Gehirn. Man erzählte die Geschichte ungefähr so: Als Homo, dem Vorfahren des modernen Menschen, durch einen Klimawandel vor gut zwei Millionen Jahren die Nahrung knapp wurde, wurde er kreativ. Er nutzte seine damals schon überragende Intelligenz, um Werkzeuge herzustellen, mit denen er neue Nahrungsquellen erschloss. Aus Steinen machte er Waffen und Messer, um Fleisch zu zerteilen. So verwandelte Homo, ein von Natur aus schwächliches Geschöpf, sich in einen Jäger, der es mit den größten Tieren der Savanne aufnehmen konnte. Das Fleisch wiederum bot ihm so hochwertige Nahrung, dass Homo es sich leisten konnte, ein noch größeres Gehirn zu versorgen. Und je intelligenter er wurde, umso effizienter konnte er jagen: Homo wurde zum erfolgreichsten Raubtier auf dem Planeten, der Beherrscher der Welt. Und irgendwann, viel später, begann er zu sprechen.
Aber so kann die Geschichte unmöglich stimmen. Erstens ging die Industrie von Lomekwi schon lange vor jenem Klimawandel in Betrieb. Mindestens eine halbe Million Jahre bevor die globale Erwärmung den Urwald verdorren ließ und die afrikanische Savanne entstand, wurden hier schon Steine zu Werkzeugen behauen.[7]Kenyanthropus platyops