Shine - Love & K-Pop

Jessica Jung

Shine - Love & K-Pop

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Lena Kraus

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jessica Jung

JESSICA JUNG ist eine koreanisch-amerikanische Sängerin, Schauspielerin, Modedesignerin und international bekannte Influencerin. Sie wurde in San Francisco geboren und wuchs in Südkorea auf, wo sie als K-Pop-Sängerin trainierte und als Mitglied von Girls Generation berühmt wurde. 2014 begann sie eine Solokarriere und gründete das Modelabel Blanc & Eclare. Jessica war auf Magazincovern weltweit und auch in Film und Fernsehen zu sehen. »Shine« ist ihr erster Roman und wurde gleich ein »New York Times«-Bestseller.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Jessica Jung, K-Pop-Legende und frühere Leadsängerin von Girls Generation, beschreibt in ihrem ersten Roman die bunte und von hartem Wettbewerb bestimmte Welt des K-Pop. Rachel Kim trainiert seit Jahren an der Academy von DB Entertainment in Seoul, um es in eine Girl Group und ganz nach oben zu schaffen. Zusammen mit den anderen unterwirft sie sich dem strengen Regiment und knallharter Konkurrenz: Keine Freizeit, keine Dates, immer im Training. Als sich die Chance bietet, mit DBs Superstar Jason Lee zu singen, weiß Rachel: Das ist ihre Chance, um aufzufallen. Endlich auserwählt zu werden. Das Problem? Jason ist tatsächlich nett, sexy und wahnsinnig talentiert – er ist die Art von Ablenkung, die Rachel sich nicht leisten darf. Und genau die Art von Ablenkung, die sie sich nicht verkneifen kann.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491224-0

Kopf hoch, Beine überkreuzt. Bauch rein, Schultern zurück. Und lächeln, als könntest du die ganze Welt umarmen. Ich wiederhole das Mantra in meinem Kopf, während die Kamera auf mein Gesicht gerichtet wird. Meine Mundwinkel wandern nach oben, das perfekte »Du willst mir doch bestimmt all deine Geheimnisse verraten«-Lächeln in rosa Lipgloss.

Aber das wäre wohl keine gute Idee. Man sagt ja: Drei können ein Geheimnis bewahren, wenn zwei davon tot sind. Na ja, und das könnte in meiner Welt gar nicht treffender sein. Hier schauen alle ständig ganz genau hin, und deine Geheimnisse könnten dich tatsächlich umbringen. Oder zumindest deine Chance zu glänzen zerstören.

»Ihr Mädels müsst begeistert sein!« Der Moderator ist ein Mann mittleren Alters mit ölig nach hinten gekämmtem Haar und auffällig heller Haut. Er würde vielleicht ganz gut aussehen, wenn seine knallpinke Krawatte in Kombination mit dem roten Hemd nicht so ablenken würde. Er beugt sich aufgeregt nach vorne, und seine Augen glänzen, während er die neun Mädchen anlächelt, die vor

»Wir könnten gar nicht glücklicher sein«, meldet sich Mina mit einem strahlenden Lächeln zu Wort, bei dem ihre perfekten Zähne aufblitzen. Meine Gesichtsmuskeln schmerzen, während ich versuche, mit ihr mitzuhalten.

»Es ist ein wahr gewordener Traum«, stimmt Eunji zu, bevor sie laut mit ihrem Kaugummi schnalzt und eine riesige Blase macht, die nach Erdbeeren duftet.

»Wir sind so dankbar, dass wir gemeinsam diese Chance bekommen haben«, sagt Lizzie. Ihre Augen leuchten unter lagenweise silberfarbenem Lidschatten.

Der Moderator strahlt noch mehr und legt verschwörerisch den Kopf schief. »Ihr versteht euch also gut miteinander? Ich meine, neun bildhübsche Mädchen in einer Gruppe. Das kann nicht immer so leicht sein.«

Sumin spult ihr leises, müheloses Lachen ab und schürzt die perfekt konturierten, knallroten Lippen. »Nichts ist ›immer so leicht‹«, sagt sie. »Aber wir sind eine Familie. Und Familie geht immer vor.« Sie hakt sich bei Lizzie ein, die neben ihr sitzt. »Wir gehören zusammen.«

Der Moderator hält sich die Hand ans Herz. »Wie reizend! Und was mögt ihr an eurer Zusammenarbeit am liebsten?« Seine Augen wandern über uns hinweg und bleiben an mir hängen. »Rachel?«

Sofort richte ich meinen Blick auf die riesige Kamera

Sag was, Rachel. Irgendwas. Das hier ist der Moment, auf den du gewartet hast. Meine Hände sind feucht, und ich spüre, dass die anderen Mädchen besorgt auf ihren Stühlen hin und her rutschen, während mein Schweigen den Raum erfüllt. Die Kamera fühlt sich auf meiner Haut an wie ein Scheinwerfer – heiß und kratzig –, und mein Mund ist ganz trocken, sprechen so gut wie unmöglich.

Endlich seufzt der Moderator und erlöst mich aus meiner Qual. »Ihr habt zusammen so viel durchgemacht – sieben Jahre Training, bis ihr es endlich geschafft habt! Ist alles so, wie ihr es euch vorgestellt habt?« Er lächelt, während er mir diese einfache Frage zuwirft.

»Ja«, krächze ich, das Lächeln immer noch fest auf meinem Gesicht.

Er fährt fort. »Und erzähl mir doch noch ein bisschen mehr darüber, wie das Leben in der Ausbildung war, bevor du Teil der Gruppe geworden bist. Was mochtest du im Nachwuchshaus am liebsten?«

Meine Gedanken drehen sich wild im Kreis, während ich versuche, möglichst schnell eine Antwort zu finden. Unauffällig wische ich meine schweißnassen Hände an meinem Lederstuhl ab. Dann fällt mir etwas ein. »Was wohl?«, sage ich und hebe die Hand und wackle ungeschickt mit meinen perfekt manikürten Fingern, weiß mit lavendelfarbenen Streifen, in Richtung Kamera. »Acht Mädchen machen deine Fingernägel. Es ist wie im Nagelstudio, rund um die Uhr.«

Glücklicherweise hallt das Lachen des Moderators laut durch den Raum, und ich spüre, wie die Erleichterung meinen Körper durchflutet. Okay, ich schaffe das. Ich kichere gemeinsam mit ihm, und die anderen Mädels stimmen rasch ein. Er lächelt mich schmierig an. Oh, oh. »Rachel, du hast hohes Lob für deine Arbeit als Leadsängerin bekommen. Inspiriert dein Talent die anderen Mädchen dazu, ihr Bestes zu geben, noch härter zu arbeiten?«

Meine Wangen glühen, und ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht, um die aufsteigende Röte zu verdecken. Genau diese Frage habe ich tausendmal geübt, aber jedes Mal, wenn ich vor der Kamera sitze, bekomme ich einen Blackout. Die Scheinwerfer, das Wissen, dass mir da draußen Millionen von Menschen zusehen. Es ist, als würde sich mein Gehirn einfach von meinem Körper abspalten, und egal, wie viel ich übe und mich vorbereite, schaffe ich es nicht, die beiden wieder zusammenzubringen. Ein golfballgroßer Kloß steigt in meiner Kehle auf, und ich bemerke, dass das Lächeln des Moderators immer künstlicher wirkt. Mist! Wie lange wartet er schon auf meine Antwort? »Na ja, ich habe schon Talent …«, platze ich heraus. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lizzie Sumin einen Blick zuwirft. Beide runzeln die Stirn. Scheiße. »Aber ich habe nicht das meiste Talent. Ich meine, die ganze Gruppe, alle Mädchen. Wir haben alle …«

»Ich glaube, Rachel will sagen, dass wir alle lieben, was wir tun, und dass wir uns jeden Tag gegenseitig inspirieren«, wirft Mina gekonnt ein. »Als Leadtänzerin unserer Gruppe kann ich zum Beispiel sagen, dass ich

Das scharfe Klingeln der Schulglocke, das aus dem Lautsprecher schallt, unterbricht sie abrupt. Die Kameras werden ausgeschaltet, und das Lächeln des Moderators welkt auf seinem Gesicht dahin. Langsam zieht er sein Jackett aus, darunter kommen riesige dunkle Schweißflecken auf dem hellen Satin seines Hemdes zum Vorschein. Wir neun – Top-K-Pop-Trainees bei DB Entertainment – warten auf das Ergebnis unserer Probeinterviewprüfung. »Nächste Woche will ich ein bisschen mehr Energie sehen – denkt daran, der einzige Unterschied zwischen DB-Trainee und DB-Star ist, wie sehr ihr es wollt! Eunji …« Sie schaut ihn an, die Augen angstvoll aufgerissen. »Wie oft muss ich es dir noch sagen? Kein Kaugummi in Probeinterviews! Noch ein Mal, und ich schicke dich sofort wieder zurück in den Basiskurs.« Eunjis Gesicht wird blass, und sie lässt den Kopf hängen. »Sumin! Lizzie!« Beide heben ruckartig den Kopf. »Etwas mehr Persönlichkeit von euch beiden! Niemand zahlt 200000 Won für ein K-Pop-Konzert voller Stars, die mit Make-up darüber hinwegtäuschen möchten, dass sie nichts Interessantes zu sagen haben.« Lizzie sieht aus, als wäre sie den Tränen nahe, und Sumins Wangen sind so rot, dass sie fast mit ihrem Lippenstift mithalten können. Dann dreht er sich endlich zu mir um, und seine Stimme klingt fast gelangweilt, als er sagt: »Rachel, wir haben das ja schon wiederholt durchgekaut. Du kannst besser singen und tanzen als viele andere, aber das ist nur ein Teil deines Jobs. Wenn du dich nicht mal in einem Probeinterview verkaufen kannst, wie willst du denn dann jeden Abend vor großem Live-Publikum auftreten? Oder echt Interviews mit echten Zuschauern überstehen? Wir erwarten mehr

Ich sacke zusammen, massiere den Wadenkrampf, den ich meinen hohen Absätzen zu verdanken habe, und erlaube mir, mit dem Lächeln aufzuhören. Das alles habe ich schon so oft gehört. Mach es besser, Rachel. Du musst vor der Kamera gelöster sein, Rachel. K-Pop-Stars müssen liebenswert, eloquent und immer perfekt sein, Rachel. Ich stöhne auf vor Schmerz und drehe mich um, um in meine Converse zu schlüpfen. Mina starrt mich böse an.

»Was denn?«, seufze ich.

Sie hebt die Hand und zeigt mir ihre perfekten French Nails. »Acht Mädchen machen dir die Nägel? Ernsthaft? Wir sind nicht deine Bediensteten, Rachel.« Sie verdreht die Augen. Du musst es ja wissen, denke ich. Von allen bei DB ist Mina definitiv diejenige, die zu Hause am ehesten Bedienstete hat. Sie ist die älteste Tochter einer der ältesten und einflussreichsten Jaebeol-Familien Koreas, den Choos, auch bekannt als C-MART-Familie. Im ganzen Land gibt es Tausende orange-weiße C-MART-Geschäfte, die alles von Kimchi und Yakult über frischen Japchae bis hin zu neongelben Sweatshirts mit Sanrio-Figuren, die bescheuerte Sprüche von sich geben, verkaufen. Your Mom is my hamster, zum Beispiel, und ähnlich abwegige Mischungen aus Koreanisch und Englisch. Das bedeutet, dass Mina reicher als reich und unglaublich nervig ist. »Du weißt schon, dass du der Grund dafür bist, dass wir so viel von diesem bescheuerten Medienunterricht haben, oder?« Mir wird ganz heiß. Sie hat recht, das weiß ich. Aber trotzdem möchte ich es nicht von ihr hören. »Kannst du nicht wenigstens versuchen, wie ein K-Pop-Star zu antworten und nicht wie ein von

Ich erstarre. Es ist kein Geheimnis, dass ich in Amerika aufgewachsen bin (New York City, wenn man es genau nimmt), aber weil mich heute Morgen schon mein Tanzlehrer angeschrien hat, weil ich drei Minuten zu spät gekommen bin, und ich dann auch noch das Interview verhauen habe, habe ich jetzt wirklich nicht die Nerven, mich mit Minas Schwachsinn auseinanderzusetzen. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Moderator dich irgendetwas Persönliches gefragt hat, Mina. Vielleicht bist du ja doch nicht so interessant, wie du denkst.«

»Vielleicht muss ich auch einfach nicht mehr üben«, gibt Mina zurück.

Ich seufze. Ich habe heute Morgen nicht gefrühstückt, und um dieses Wortgefecht mit Mina aufrechtzuerhalten, bräuchte ich mindestens eine Mahlzeit, wenn nicht sogar zwei. Ich drehe mich um und stopfe meine High Heels in meine alte, weiße Ledertasche.

»Was, jetzt bist du dir auch noch zu schade, um mit mir zu reden? Hat deine Umma dir keine Manieren beigebracht?«, fragt Mina.

»Was erwartest du von ihr?«, fragt Lizzie, die in ihrem mit ihren Initialen gravierten Spiegel ihre Wimperntusche auffrischt. Sie lässt den Spiegel zuschnappen und wirft mir einen bösen Blick zu. »Die süße kleine Prinzessin Rachel, deren Mom sie keinen Fuß ins Nachwuchshaus setzen lässt. Vielleicht denkt sie ja deshalb, dass wir nichts anderes mit unserer Zeit anzufangen wissen, als uns gegenseitig die Nägel zu machen?«

»Es muss schön sein, Mr. Nohs Lieblingsschülerin zu sein.« Eunji seufzt lautstark. »Weißt du, manche von uns

»Ich hoffe, du zählst dich nicht selbst zu manche von uns«, schnappt Sumin und dreht sich zu Eunji um. »Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, wann du dich zuletzt genug anstrengen musstest, um einen Schweißtropfen zu produzieren.«

»Wo wir gerade von Schweißtropfen reden, du solltest dich vielleicht ein bisschen frisch machen, Liebling.« Eunji zeichnet mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft vor ihrem Gesicht. »Du glänzt ein bisschen.«

»Na ja, wenigstens sieht meine Nase nicht aus wie aus Plastik«, schießt Sumin zurück.

»Wegen euch bekomme ich noch Kopfschmerzen!«, beschwert sich Lizzie bei Mina. »Sunbae, sag ihnen, sie sollen still sein!«

Mina lächelt. »Natürlich, Lizzie-Schatz. Warum machen wir nicht einfach die Kamera wieder an? Dann halten sie ganz schnell die Klappe. Oh, Moment … Das funktioniert ja nur bei Rachel.«

Die anderen lachen haltlos, während mein Gesicht vor Scham und Wut ganz heiß wird. Ich sollte zurückschlagen, aber das tue ich nicht. Das tue ich nie. Ich tue gerne so, als wäre das so, weil ich mir die Ratschläge meiner Mutter zu Herzen nehme – die Klügere gibt nach, lass sie nie deine Angst riechen, steh einfach drüber – die Mantras der starken amerikanischen Feministinnen überall, aber der riesige Kloß, der mir schon wieder im Hals steckt, weiß genau, dass das nicht stimmt. Ich binde meine Schuhe zu und stehe auf. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet«, sage ich und schlängele mich aus dem Raum.

Der Campus von DB Entertainment ist genau so wie die K-Pop-Stars, die er regelmäßig ausspuckt: makellos und glitzernd, so sehr, dass es fast unmöglich ist, nicht hinzuschauen. Er besteht aus beeindruckender Architektur in bester Lage von Cheongdam-Dong, der Hauptstadt des K-Pop. Im Sommer versammeln sich die Trainees zu Yoga oder Pilates auf der Dachterrasse und streiten sich um die Plätze unter den Sonnenschirmen – niemand möchte Sonnenmakel davontragen. Drinnen zieren Springbrunnen mit Quellwasser, das direkt aus Seoraksan eingeflogen wird, die Lobbys in Mahagoni- und Marmoroptik. Die DB-Manager behaupten, dass die Brunnen uns helfen, unseren inneren Frieden zu finden und unser volles Potenzial zu entfalten. Aber wir wissen alle, wie lächerlich das ist. Es gibt nur wenige Orte, an denen man weiter vom inneren Frieden entfernt sein könnte.

Vor allem, weil das Jahrbuch einem jeden Tag unter die Nase gerieben wird.

Als Jahrbuch (es heißt so, weil die meisten hier nie die Gelegenheit bekommen, Teil eines echten High-School-Jahrbuchs zu sein) bezeichnen wir die Wände, die den Brunnen in der Hauptlobby umgeben. Sie sind über und über mit den gerahmten Fotos sämtlicher K-Pop-Stars dekoriert, die durch das DB-Nachwuchsprogramm bekannt geworden sind. Das perfekte Lächeln und glänzende Haar auf jedem einzelnen Foto erinnern uns

Als ich daran vorbeigehe, bleibe ich stehen und lese die Namen, die ich schon seit Jahren auswendig kann. Pyo Yeri, Kwon YoonWoo, Lee Jiyoung … und, als Letztes hinzugefügt: NEXT BOYZ. Ich fühle den wohlbekannten Druck um mein Herz herum, die dem gesamten K-Pop-Nachwuchs nur zu bekannte Mischung aus Stress, Panik und Dehydrierung, und erinnere mich schmerzlich an meine Interviewperformance. Ich verziehe das Gesicht und gehe schneller, direkt zu den Einzelübungsräumen an der Westseite des Gebäudes.

Der ganze Gang ist voller Spielsachen und anderer Requisiten, die bei den weltweiten Konzerten verwendet werden, die nur die Besten der Besten spielen dürfen. Die Hälfte des Zubehörs trägt die Initialen von Electric Flower und Kang Jina (Legende und Leadsängerin der besten K-Pop-Girlgroup aller Zeiten, längst auf der goldenen Plakette verewigt). Sie waren sofort Nummer eins und rutschten nie nach unten. Als ich zu DB kam, verehrte ich diese Mädchen – vor allem Jina. Jetzt, wo ich weiß, was sie durchmachen mussten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt sind, bewundere ich sie noch mehr. Ein Teil von mir fragt sich auch, was aus den Mädchen geworden ist, die zurückgeblieben sind. Die, die es nicht in die Band geschafft haben.

Werde ich eine von denen an der Spitze sein oder eine, die immer im Schatten zurückbleibt?

Ich spüre, wie mir heiß wird. Meine Hände krampfen sich zusammen. Lizzie hat irgendwie recht – ich bin nicht wie die anderen Trainees, die bis vier Uhr morgens in den Proberäumen singen und tanzen, im Nachwuchshaus schlafen und das Ganze am nächsten Tag wiederholen, jeden Tag. Als ich von DB angeworben wurde, hätte meine Mutter fast nicht erlaubt, dass ich hingehe. Es bedeutete, dass meine Familie von New York nach Seoul zog, meine Schwester ihre Schule und ihren Freundeskreis verlassen musste und meine Eltern neue Jobs finden mussten. Vor allem konnten sie nicht verstehen, wie K-Pop mir so viel bedeuten konnte, und schon gar nicht meinen Lifestyle als Trainee – den Druck, das jahrelange Training, die Skandale um die Schönheits-OPs. Dann, als ich schon drei Wochen lang gebettelt hatte, starb meine Halmoni. Ich weiß noch, wie traurig ich war, wie ich mit meiner Mutter und Leah stundenlang geweint habe. Ich musste daran

Die Manager von DB fanden Ummas Deal anfangs gar nicht toll, aber aus irgendeinem Grund beschloss Mr. Noh, für mich die Regeln etwas zu dehnen. Umma glaubt, dass es an ihrem »amerikanischen weiblichen Selbstbewusstsein« liegt (so nennt sie das jedenfalls), aber ich weiß, dass ich einfach eine der wenigen Glücklichen bin, die Mr. Noh am liebsten mag – eine derjenigen, die er aus der Dunkelheit des Nachwuchsprogrammes holt, um ihnen zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken. (Auch wenn im Nachwuchsprogramm mehr Aufmerksamkeit auch mehr Druck bedeutet.) Trotzdem war meine Situation so ungewöhnlich, dass es nicht lange dauerte, bis mich alle als »Prinzessin Rachel« kannten, die Koreanerin, deren amerikanischer Pass (und amerikanische Einstellung und amerikanische Abneigung gegen Dosenfleisch …) einen Abstand zwischen mich und die anderen Trainees brachte, der größer ist als der Pazifische Ozean. Jetzt, sieben Jahre

Man sollte meinen, dass sie mich danach beurteilen, wie hart ich trainiere. Wie ich jedes Wochenende schufte, wenn ich im Hauptquartier von DB bin. Danach, dass ich unter der Woche nur vier Stunden schlafe, weil ich nach den Hausaufgaben noch stundenlang trainiere. Dass ich meine Schule angefleht habe, mich in Musik alleine lernen zu lassen, damit ich jeden Tag fünfzig Minuten alleine in einem Proberaum habe, um Tonleitern zu üben, damit ich am Ball bleibe. Stattdessen verurteilen sie mich für meine sauberen Kleider, mein ordentlich gebürstetes Haar und dafür, dass ich nachts in meinem eigenen Bett schlafen darf.

Und das Schlimmste daran? Sie haben recht. Jede Einzelne von ihnen investiert vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Die meisten leben im Nachwuchshaus und können nur einmal im Monat nach Hause (wenn überhaupt). Sie essen, schlafen und atmen K-Pop. Wie man es auch dreht, da kann ich nicht mithalten. Aber genau das muss ich irgendwie schaffen.

Ich presse mir die Handballen gegen die Stirn und versuche, tief und ruhig zu atmen. Als ich langsam aber sicher alt genug für mein Debüt wurde, habe ich Mom wieder und wieder angefleht, mich Vollzeit trainieren zu lassen, allerdings habe ich dafür nie mehr bekommen als denselben leeren Blick. Wie soll ich meiner Mutter klarmachen, dass noch nie jemand in einer Girlgroup debütiert hat, wenn sie keine Teenagerin mehr war? Wie kann ich ihr erklären, dass es nur noch zwei Jahre dauert, bis ich meine besten Jahre hinter mir habe? Es ist jetzt fast sieben Jahre her, dass DB Electric Flower zusammengestellt hat, kurz vor der letzten großen DB-Family-Tour.

»Rachel!«

Ich nehme die Hände vom Gesicht und setze einen komplett neutralen Gesichtsausdruck auf, während ich mich innerlich auf eine weitere Konfrontation mit Mina vorbereite. Aber ich atme erleichtert auf und lächele, als ich sehe, wie Akari den Gang entlang auf mich zu läuft, ihr dicker, schwarzer Pferdeschwanz schwingt wild hin und her.

Akari Masuda ist mit ihren Eltern nach Seoul gezogen, als sie zehn Jahre alt war und ihr Vater, ein japanisches Technikgenie, von der Osan-Air-Force-Basis rekrutiert wurde. Sie stand damals bei L-star Records, einem riesigen J-Pop-Label in Tokyo, auf der Auswahlliste, aber ihre Eltern wollten nicht, dass sie so jung schon ganz alleine lebt. Stattdessen hat ihr Dad ein paar Kontakte eingesetzt, damit sie von DB genommen wurde. Vielleicht liegt es daran, dass wir beide wissen, wie es ist, in Seoul eine Außenseiterin zu sein, aber wir verstanden uns von Anfang an super. Es ist nicht leicht, Freundschaften zu schließen, weil hier immer alles ein Wettbewerb ist, aber Akari ist einer der wenigen Menschen bei DB, die ich wirklich mag und denen ich vertraue.

»Wo warst du denn?«, fragt sie und hakt sich bei mir unter. Sie hat die natürliche Eleganz einer Tänzerin, sie macht Ballett, seit sie vier ist.

»Na ja, ich habe dich jedenfalls überall gesucht. Ich hatte Sorge, du verpasst die Verbeugungszeremonie für die Neuen.«

Ich stöhne und bleibe wie angewurzelt stehen. »O nein, bitte schlepp mich nicht da hin. Du weißt doch, dass ich das hasse!«

»Du kannst es hassen, so viel du willst, ›die Verbeugungszeremonie steht für Familie, und Familie ist bei DB das Wichtigste‹.« Akari kichert und verzieht ihr Gesicht so, dass sie Mr. Noh, dem Eigentümer von DB Entertainment, oder, wie er sich gerne selbst bezeichnet, dem Familienoberhaupt von DB, verblüffend ähnlich sieht. Ha. Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Außerdem habe ich gehört, dass es was zu essen geben soll.«

Beim Gedanken an Essen knurrt mein Magen lautstark, und mir fällt ein, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. »Wieso sagst du das nicht gleich?« Ich lasse zu, dass sie mich mit sich zieht. »Du weißt doch: Zu kostenlosem Essen sage ich niemals nein.«

»Wer macht das schon?«, ruft Akari, als wir die Hauptlobby betreten. Es wimmelt nur so von Menschen. Trainees auf dem Weg zu ihren Unterrichtsstunden und Angestellte, die zwischen den Büros hin und her hasten und das große Girls-Forever-Konzert vorbereiten, das nächstes Wochenende in Busan stattfindet. Wir kommen an der Cafeteria vorbei, die dafür berühmt ist, die einzige Cafeteria mit Michelinsternen in ganz Asien zu sein. Selbst internationale Superstars wie Joe Jonas und Sophie Turner sind schon hergekommen, um hier zu essen. Schade nur, dass es an den meisten Trainees und den

Die Aula ist einer meiner Lieblingsplätze auf dem Campus, mit all dem glänzenden, hellen Holz und den schicken Kronleuchtern im industriellen Stil, die großzügig an der Decke verteilt sind. Die Bühne erhebt sich dramatisch in der Mitte des Raumes (um die Erfahrung einer Stadiontour so originalgetreu wie möglich nachzuempfinden, natürlich) und ist umgeben von gemütlichen, samtbezogenen Sitzen.

Mr. Noh steht schon mit den Neuen hinter sich aufgereiht auf der Bühne, als wir uns in die erste Reihe schieben. Ich schaue mir die Kinder auf der Bühne an, wie sie aufgeregt herumzappeln und nervös lächeln, wie andere Kinder vielleicht an ihrem ersten Schultag. Mr. Noh, wie gewohnt kitschig von Kopf bis Fuß in Prada gekleidet, sieht aus wie immer: gerunzelte Stirn, kritisch zusammengekniffene Augen hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille, mit denen er einen Trainee, der sich nicht genug Mühe gibt, aus einer Meile sehen kann, aber mit Händen, die er, in einem fehlgeschlagenen Versuch, väterlich zu wirken, sanft auf die Schultern der nächsten Neuen gelegt hat.

Während er über die Herausforderungen redet, die diese neue Gruppe zukünftiger K-Pop-Stars erwartet, wandert mein Blick zum Buffet am Rand des Auditoriums. Ein luxuriöses, westlich anmutendes Festmahl aus Prosciutto und Feigenbrötchen, Rosenwasserdonuts und Obstplatten mit Mango und Lychees. Eine kleine Gruppe von DB-Managern und Trainern haben sich schon an den Esstischen niedergelassen und stopfen sich voll. Ich erspähe

Ich kichere, und mein Blick fällt auf ein großes, orangeweißes Schild auf dem Tisch: »Im Namen von Suk Mina und ihrem Vater, wir sind stolz, Teil der DB-Familie zu sein. Bon Appétit!« Das wischt mir das Grinsen vom Gesicht. Vielleicht kann ich doch nein zu kostenlosem Essen sagen.

»Ich glaube, mir ist der Appetit vergangen«, sage ich tonlos.

Akari folgt meinem Blick zu dem Schild. »Oh«, sagt sie. Sie lacht und versucht, mich aufzuheitern. »Komm schon, so schlimm ist Mina nicht.«

»Weißt du noch, was bei meiner Verbeugungszeremonie passiert ist?«

Akari lächelt, um ihre Augen bilden sich kleine Fältchen. »Ooohh ja, ich liebe diese Geschichte.«

Inzwischen hat Akari die Geschichte übernommen und spielt Minas Ausraster nach. »Was glaubt diese Bitch eigentlich, wer sie ist?« Sie kräht vor Lachen. »Sie denkt, sie ist irgendeine Aufsteigerin, nur weil sie aus Amerika kommt? Dir sollte erst mal irgendwer Manieren beibringen, Newbie.« Ich verdrehe die Augen, als ich mich daran erinnere, wie sie mich sofort bei Mr. Noh verpetzt hat. Sie verlangte, dass ich für meinen mangelnden Respekt vor einer Sunbae (einfach irgendeinem Menschen mit mehr Erfahrung als ich, auch wenn diese Person gleich alt oder

»O Mann, dieses Temperament!«

»Aber du hast dich trotzdem nicht verbeugt, oder?«, fragt Akari.

»Da braucht es schon mehr als irgendeine reiche, verwöhnte Zicke mit Gottkomplex, um mich dazu zu bringen, mich vor Mina zu verbeugen.«

»So ist es richtig.« Akari klopft mir auf die Schulter. »Die junge Rachel wäre so stolz auf dich.«

Ich lächele ihr kurz zu, aber ich habe trotzdem ein komisches Gefühl. Wenn ich in der Zeit zurückreisen könnte und die Konventionen kennen würde, würde ich es wirklich genauso machen? Ich würde gerne ja sagen, dass ich Mina auf ihren Platz verwiesen hätte, aber ich weiß nicht, ob ich da ganz ehrlich zu mir selbst bin. Ich denke daran zurück, wie ich heute Morgen aus dem Proberaum geflüchtet bin, daran, wie ich jeder Auseinandersetzung mit den anderen Trainees aus dem Weg gehe – Yujin sagt mir immer, ich soll darüberstehen, mich auf mein Training konzentrieren, und ich sage mir diese Worte selbst immer wieder. Aber … wäre die elfjährige Rachel stolz auf mich? Oder würde sie mich einen Feigling schimpfen?

Akari und ich gehen auf die Bühne und stellen uns mit den anderen älteren Trainees in eine Reihe, damit die neuen sich vor uns verbeugen können.

»Entschuldigung?!«, fährt Lizzie uns an. »Stell dich hinten an, Prinzessin, und nimm deine Zofe gleich mit.« Die Mädchen um uns herum schnappen entsetzt nach Luft.

Lizzies Blick flackert kurz zu Mina hinüber, die uns mit einem selbstgefälligen Lächeln beobachtet. Aber es gibt nichts, was sie sagen könnte – sie wissen beide, dass Akari recht hat. »Macht doch, was ihr wollt«, schnaubt sie. Wir haben klar gewonnen. »Ihr seid trotzdem Ausländerinnen.« Um uns herum fangen alle an zu kichern. Mir reicht’s.

»Komm schon, Akari«, murmele ich. Meine Wangen sind ganz heiß. »Das ist es nicht wert.«

Ich weiß genau, wie wütend Akari ist, als wir losgehen. Ihr Rücken ist gerade und steif, aber sie tut, was ich sage. Es ist es nicht wert, sage ich auch mir selbst. Es ist unprofessionell, auf der Zeremonie für die Neuen eine Szene zu machen. Ich bin nicht Mina.

Stattdessen setzen wir uns an die große, festlich gedeckte Tafel. Yujin nimmt meine Hand und drückt sie fest. »Alles gut da oben?«, fragt sie. »Es sah … sehr angespannt aus.«

Ich lächele steif. »Alles gut, kein Grund zur Sorge.« Ich ignoriere ihre gerunzelte Stirn und nehme mir einen Teller. Abwesend strecke ich die Hand nach einem Sandwich aus. Es wird sich gut anfühlen, diese Spirale der Scham, die in meinem Magen ihren Anfang zu nehmen droht, einfach aufzuessen. Akari zieht meine Hand zurück und schüttelt den Kopf.

»Gurke«, sagt sie und zeigt auf das Schild.

»Ekelhaft.« Ich schaudere und nehme stattdessen eine Pizza mit Schinken und Käse. »Danke. Du hast mir das Leben gerettet.«

»Dazu sind Freunde schließlich da.« Sie lächelt.

»Ich kann nichts dafür! Gurken sind die Laufübungen der Gemüsewelt! Die Leute tun so, als würden sie sie mögen, weil sie angeblich gesund sind, dabei sind sie eigentlich das Schlimmste überhaupt. Und sie haben einen furchtbaren Nachgeschmack. Und sie gehören verboten.«

»Tut mir leid, aber ich glaube, Gurken sind streng genommen eine Frucht?« Akari lacht, und ich werfe ihr eine zusammengeknüllte Serviette ins Gesicht.

Wo man auch ist, eine K-Pop-Trainingsgruppe besteht aus den talentiertesten Teenagern der Welt – routinierte Tänzerinnen und Tänzer, perfekte Sängerinnen und Sänger und natürlich unvergleichliche Lästermäuler.

»Ich habe gehört, er hat sich die Haare orange gefärbt«, sagt Eunji.

»Nicht irgendein Orange, sondern genau denselben handgemischten Ton, den Romeo von BigM$ney trägt«, meldet sich einer aus dem ersten Jahr zu Wort. Man hört seiner Stimme an, dass er kaum die Pubertät hinter sich hat.

Sieht aus, als wäre der Unterricht in vollem Gang.

Der Tratsch dreht sich natürlich vor allem um eines: Jason Lee, der neueste K-Pop-Star von DB und der neueste Name auf der begehrten Plakette auf dem Jahrbuch, nachdem seine Gruppe NEXT BOYZ mit ihrer Single »True Love« als #1-Hit debütiert hat. Man konnte auf dem Campus keinen einzigen Schritt machen – oder eigentlich nirgendwo in Seoul –, ohne Jason in seinem

»Ich habe gehört, er hat Mr. Noh eine Schallplatte geklaut«, flüstert eine dritte Stimme, die sich hinter einem dicken, rotbraunen Pony versteckt.

»Angel Boy? Etwas gestohlen? Das würde er nie machen!«

»Würde es Mr. Noh überhaupt auffallen? Er hat bestimmt über tausend Platten.«

»Ist das dein Ernst? Er ist total verrückt nach diesen Platten.«

»Wen interessiert es, ob er klaut? Er ist viel zu süß, um rausgeschmissen zu werden.« Ein halbes Dutzend Jugendliche nickt zustimmend.

Ich schüttle ungläubig den Kopf. Geklaute Platten und gefärbtes Haar? Das ist das Schlimmste, das sich die Klatschpresse von DB ausdenken kann? Vor ein paar Monaten wurde ein Trainee, Suzy Choi, mitten in einer Trainingsrunde rausgeschmissen. Die Gerüchteküche brodelte nur so, es wurde behauptet, dass sie Drogen nahm und dass sie ihren Dealern Tausende von Dollar schuldete und dass diese sie jetzt an eines dieser koreanischen Restaurants in Kambodscha verkauft hatten. (Akari hingegen behauptete, dass sie Suzy mit einem wirklich süßen Jungen auf der Straße Händchen halten gesehen hatte, aber das glaube ich nicht. Suzy hätte die strikte »Keine Dates«-Regel von DB niemals gebrochen. In unserem Business sind illegale Drogen viel

»Wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, härter zu trainieren. Das ist wichtiger als dieser Tratsch«, sagt Mina spitz, steht auf und streckt sich, wobei sie zu Mr. Noh hinüberschaut. Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu verdrehen. Könnte sie es überhaupt noch offensichtlicher machen?

Jetzt schaut sie zu mir und lächelt überfreundlich. Sie schaut auf meinen Teller. »Rachel. Tut mir wirklich leid, dass du nicht an der Verbeugungszeremonie teilnehmen konntest. Andererseits sollte man das wohl ohnehin besser denen von uns überlassen, die wissen, was sie tun, findest du nicht auch? Aber ich hoffe, das Essen schmeckt dir wenigstens?«

Das war’s. Ich hab für heute wirklich genug von Mina. »Ja«, sage ich fröhlich, picke ein Stück Schinken von meinem Teller, stecke es mir in den Mund und kaue genüsslich. »Ich habe wirklich großes Glück, dass ich von Natur aus so dünn bin, dass ich mir keine Gedanken darum machen muss, was ich esse.« Ich schaue lange auf den Haufen Sellerie und Dotori-muk auf ihrem Teller. Eine Gruppe Anfängerinnen dreht sich kichernd zu uns um.

Mina runzelt schockiert und verärgert die Stirn. Sie ist es nicht gewohnt, dass ich zurückschlage. Dafür werde

Das Nachwuchshaus. Ja klar. Umma würde mich nie gehen lassen, und Mina weiß das ganz genau.

Bevor ich antworten kann, kommt Mr. Noh zu uns herübergeschlendert. Minas laute Stimme hat sich offensichtlich ausgezahlt. Wenigstens hat sie was von all den zusätzlichen Gesangsstunden: Sie weiß definitiv, wie sie ihre Stimme einsetzen muss.

»Was höre ich da über zusätzliche Proben spätnachts?« Seine Augen wandern über unsere Gruppe und bleiben an mir hängen. »Rachel, war das deine Idee?«, fragt er lächelnd. »Unsere fleißigste Nachwuchskünstlerin!« Er hat mich fest im Blick, während die anderen um uns herum schweigen und sich so gerade wie möglich hinsetzen. Sie sind fest entschlossen, Mr. Noh zu beeindrucken, falls sie die Chance dazu bekommen.

Neben mir kocht Mina nur so vor Wut, weil Mr. Noh mir mal wieder mehr Beachtung schenkt als ihr. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und öffne den Mund, aber Mina kommt mir zuvor. »Ich bin dabei, Sir!« Sie schreit geradezu, und ein Stück Sellerie fliegt von ihrem Teller.

Mr. Noh reißt erschrocken die Augen auf, erholt sich aber rasch. »Eine wirklich tolle Einstellung. Das freut mich wirklich für sie, Miss … ähm …«

»Choo. Choo Mina. Mein Vater ist Choo Minhee …« Mina sieht enttäuscht aus. »Sie sind alte Freunde …«

»Aber ja, aber natürlich, Minhees Tochter!« Mr. Noh kichert erleichtert. »Vielen Dank für die Erinnerung.«

Mina strahlt. »Ich danke Ihnen, Mr. Noh«, säuselt sie.

»Ja, ja, ich werde ihn anrufen.« Er lacht leise, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwendet. »Und was für einen guten Geschmack du hast, was Freundschaften angeht, Rachel! Du und Mina seid das beste Vorbild für den restlichen Nachwuchs. Ihr solltet dieser Abendprobe die höchste Priorität beimessen.« Mr. Noh schaut mir genau in die Augen, und ich sehe mein Spiegelbild in seiner Brille. »Vor allem diejenigen von euch, die bald debütieren möchten.«

Mein Inneres steht in Flammen, aber ich wende den Blick nicht ab. Ich spüre, wie Minas selbstgefälliger Blick mir geradezu ein Loch in die Schläfe brennt, aber ich trinke einfach einen weiteren Schluck Milkis und lächle.

»Ich bin dabei«, sage ich. Mr. Noh nickt zufrieden, und ich hebe meine Getränkedose, als würde ich mit ihm anstoßen. Auf die Familie, und darauf, dass ich komplett in der Tinte sitze. »Ich freue mich schon.«

Schweiß tropft mir von der Stirn, als ich wieder und wieder auf den schlaffen Boxsack einschlage, der vor mir von der Decke hängt. Wumm. Minas selbstgefälliges Lächeln. Zack. Ummas strenge Regeln. Rumms. Ich, wie ich vor den Mädchen im Medientraining fliehe, statt für mich einzustehen. Wumm. Ich schlage das alles zu Brei, alles, was mich nervt, alle, die mir im Weg stehen, selbst wenn ich es selbst bin.

Appa, der den Boxsack festhält, schnauft, während ich schlage und schlage, immer wieder. »Du musst mich wirklich bewundern«, sagt er.

»Warum sagst du das?«, frage ich. Ich keuche vor Anstrengung.

»Offensichtlich versuchst du, in meine Fußstapfen zu treten.« Er lacht leise. Appa war früher Profiboxer. »Warum sollte meine siebzehnjährige Tochter sonst diesen Boxsack so quälen?«

»Achtzehn, Appa. In Korea bin ich achtzehn.« In Korea ist man ein Jahr alt, wenn man zur Welt kommt, man ist dort also immer ein Jahr älter als in Amerika. Ein Jahr näher am Ende meiner besten Jahre. Ein Jahr näher an zu alt fürs Debüt. Ich schlage wieder zu.

»Sorry, Tochter«, seufzt Appa.

Appa schaut mich nachdenklich an. »Ist alles in Ordnung?«

Er nickt zum anderen Ende der Halle, wo Akari und die Cho-Zwillinge in Helmen und Handschuhen kämpfen. Sie begleiten mich ab und zu, wenn ich Appa in der Boxhalle besuche; Appa erzählt Geschichten aus den guten alten Zeiten, und wir bekommen das nötige Ausdauertraining.

»Ja, alles in Ordnung«, sage ich. So cool Appa auch ist, ich weiß genau, dass alles, was ich ihm erzähle, irgendwann doch bei Umma landet. Nicht, dass Appa keine Geheimnisse bewahren könnte. Im Gegenteil, er hat selbst ein ganz schön großes Geheimnis vor Umma. »Wie läuft es eigentlich mit dem Unterricht?«

Er schaut sich um, als würde er erwarten, dass Umma sich hinter dem Boxsack versteckt. Aber außer mir und meinen Freunden ist niemand da. Wie immer. »Gut … gut.« Er räuspert sich. »Du hast es immer noch nicht deiner Mutter oder Leah erzählt, oder?«

Ich schüttle den Kopf. Ich weiß sowieso nur von Appas Geheimnis, weil ich ein Jurabuch in seinem Büro entdeckt habe, als ich ihn zum Boxen besucht habe. Als ich

»Ich will ihnen keine falschen Hoffnungen machen«, sagt er, genau wie damals, als ich das Buch gefunden habe. »Wir wissen alle, dass die Boxhalle nicht besonders gut läuft. Es ist nicht mehr wie früher, als …« Er hält inne, und auch ich denke über das Leben in New York nach. Appa war nach seiner Boxkarriere halbwegs berühmt, und das Studio, das er in unserem Viertel im West Village leitete, war immer voll. Umma war kurz davor, als Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der NYU ernannt zu werden. Alle waren beschäftigt, aber irgendwie waren wir immer zusammen. Nach der Schule saßen Leah und ich hinten in Ummas Vorlesungen und malten Mandalas und machten unsere Hausaufgaben. Am Wochenende liefen wir in Appas Studio herum und reichten den Leuten Wasserbecher und Handtücher, und Umma half im Büro aus, machte die Trainingspläne und nahm Lieferungen entgegen. Danach aßen wir immer zusammen ein Eis und gingen mit Leah zu dem Mann, der im Washington Square Park riesige Seifenblasen machte.

Jetzt ist alles anders. Umma arbeitet doppelt so hart, um wieder eine befristete Professur zu bekommen, und das könnte noch Jahre dauern. Leah ist nach der Schule jeden Tag stundenlang allein, während unsere Eltern arbeiten und ich Hausaufgaben mache oder versuche, das