Als wir uns die Welt versprachen

Cover

LAOTSE

Das Mädchen rannte, bis ihr die Knöchel in den schweren Schuhen brannten. Sie hatte einen erdigen Geschmack im Mund, und ihre Hände waren schweißnass vor Angst. Sie blickte sich nicht um und atmete erst auf, als sie den Kirschbaum auf dem Hügel sah und ihr Blick ihn fand, den Jungen mit den traurigen Augen, der dort oben auf sie wartete. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Nun fühlte sie sich nicht mehr allein. Doch die Zeit lief ihnen davon, das wusste sie. Bald würde der Abend kommen und die Bauersleute würden durchzählen, da durfte niemand fehlen. Aber wenn sie mit ihm zusammen war, kam es ihr vor, als bliebe die Zeit stehen. Das Mädchen holte so tief Luft, als hätte sie den ganzen Tag über den Atem angehalten, bis zu diesem Moment.

Sie setzte sich zu ihm. Ihr Herz klopfte heftig, während er so ruhig blieb, der Junge mit den traurigen Augen, der sich vor nichts fürchtete. Der Kirschbaum war ihre Zuflucht, ein geheimer Ort, an dem sie sich sicher fühlten, selbst wenn es auf dem Hof keine Sicherheit gab. Geheim konnte man den Ort eigentlich auch nicht nennen, denn der Hof war ein Ungeheuer mit vielen Augen, die alles sahen, und Ohren, die sogar ihre Gedanken hören konnten. Doch wenn sie hier unter dem Baum mit den Händen übers feuchte Gras streiften, schmerzten sogar die Schnitte darin nicht mehr so.

An der Farbe der Knospen, aus denen sich zuerst Blüten entwickelten und schließlich Früchte, an den Kerben in der rauen

»Es sind so viele«, flüsterte das Mädchen.

Sie vermisste die Stimme ihrer Mutter. Es tat weh, dass sie sich kaum noch an sie erinnern konnte. Wenn sie sich nicht mehr an ihre Stimme erinnerte, wie sollte sie dann weiter in Gedanken mit ihr reden? Wenn sie nur noch ein stummer Geist war, der langsam davonschwebte, so weit fort? Was, wenn sie auch noch die Farbe ihres Haars vergaß oder ihre warmen, zärtlichen Hände?

»Wir kommen wieder nach Hause, versprochen«, sagte der Junge, die Augen gespannt auf die dunklen Schatten gerichtet, die sich zwischen den Zweigen bewegten.

»Wir beide. Zusammen«, versicherte sie ihm.

Eins wusste sie tief in ihrem Innern: Nichts konnte sie je auseinanderbringen. Niemand würde sie je trennen.

Guten Morgen, Signora Edna

Es gab keinen verlässlicheren Kalender als ihren Garten, der sich im Laufe der Monate und Jahreszeiten veränderte, dachte Edna, während sie stolz die Luft einsog und ihre Lungen mit Melissenduft füllte. An der Farbe des Grases erkannte sie, wie die Zeit langsam und unversehens voranschritt, an der Art, wie die Zweige ihr Blätterkleid anlegten und sie vor der kräftigen Sonne schützten. Die Spuren der Wildtiere verrieten es ihr, die in der Sommerhitze den Schatten ihres Gartens suchten, oder die Schlupflöcher der Eidechsen und Igel, die in der weichen Erde vor Winterbeginn in Schlaf fielen, nur von einer dünnen Eisschicht beschützt.

Edna hatte die Vorhänge zur Seite geschoben und betrachtete den Rasen, seine harmonischen Linien, die im Ausschnitt des Fensterrahmens wie die Bildkomposition eines Malers wirkten. Jetzt in der Übergangszeit veränderte sich alles mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Zwischen den Büschen lugten die ersten Rosen hervor und sorgten für weiße Tupfer, die Klematis mit ihren hartnäckigen Kletterranken überwucherte allmählich das Spalier mit winzigen rosafarbenen Blüten. Bald würde sie etwas Eisen besorgen müssen, um das Wachstum der Hortensien zu unterstützen.

Emil hörte als Erster die Fahrradklingel von Adele, einer Nachbarin, die Edna seit vielen Jahren kannte und die einmal die Woche bei ihr nach dem Rechten sah. Der Papagei schüttelte seinen großen roten Kopf und kratzte sich unruhig mit

»Ein Glück, dass Sie zu Hause sind, Signora Edna«, sagte Adele keuchend, während sie die Einkäufe auf den Küchentisch wuchtete. »Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren. Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig ist, einen Wohnungswechsel zu organisieren. Die ganzen Papiere, die man so braucht, und dann die Behörden … Und glauben Sie bloß nicht, dass Max, dieser schrecklichste Ehemann von allen, mir irgendwie zur Hand geht«, seufzte sie und verdrehte die Augen.

Edna wusste jedoch, dass Adele diesen kleinen Mann förmlich anbetete, der nie um ein Wort verlegen war. Die Frau hielt größte Stücke auf ihn, obwohl sie selbst das nie begriffen hatte.

»Und dann ist da noch meine Tochter, die jeden Abend zur Probe muss, und mein Enkel Lukas würde am liebsten jeden Tag bei uns zu Abend essen. Ich komme mir vor wie damals, als ich dreißig war. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Lisa wieder mit dem Theaterspielen angefangen hat, oder?«, fragte Adele und blies die Strähne hoch, die sich in ihrer Augenbraue verfangen hatte.

Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte Adele nicht auf ihren auffälligen Lidschatten verzichtet – »Blau mit einem Hauch Goldschimmer«, wie sie immer sagte, wobei ihr wohl nicht klar war, dass Blau eine Unzahl sehr unterschiedlicher Nuancen umfasste. Der Farbton ihres Lidschattens hieß Ultramarin. Adele war nicht gut im Beschreiben von Dingen. Auch »Wohnungswechsel« traf es nicht genau. Schließlich wechselten sie nicht nur die Wohnung, sondern zogen in einen anderen Ort, dessen Namen Adele bisher nur zweimal erwähnt hatte, näher an die Stadt.

Umsichtig goss Edna ihr eine Tasse Melissentee ein, bevor sie Adele weiter dabei zusah, wie sie Dosen, Flaschen und anderes mehr auspackte. Die Tetrapaks mit Apfelsaft (zwei Stück, keine Schorle), eine Ausgabe des Stern (die neueste), Minzsirup und Pflanzenöl (im Blechkanister). So wie jeden Donnerstag, wie auf Rezept und ohne Abweichungen von der Regel.

»Frisches Brot für Sie, dann müssen Sie heute nicht mehr ins Geschäft kommen«, sagte Adele, während sie lächelnd die Nylontasche zusammenfaltete. »Zum Frühstück habe ich ein Stück Kuchen mitgebracht, damit Sie mal was anderes haben als Ihre Roggenbrote, und eine Mango und einen halben Granatapfel für Emil.« Sie holte eine Tüte und das Obst aus einer zweiten Tasche. »Nur die frischesten, wie immer«, sagte sie, sichtlich stolz. »Ich hab ja nie begriffen, wie dieser kleine Teufel so viel fressen kann.« Dann griff sie tief hinein in die Tasche. »Die hier sind auch für ihn, von meinem Enkel. Er weiß, wie verrückt dieser Vogel danach ist.« Sie ließ die Walnüsse auf den Tisch kullern, ehe sie sie ordentlich zu einem Häufchen zusammenschob.

Adeles Enkel war ein netter, aufgeweckter Junge. »Jedes Mal, wenn ich in den Laden gehe, bettelt er, ich solle doch nächstes Mal Emil mitbringen«, sagte Edna, während sie die Serviette einmal faltete und langsam unter die Untertasse schob. Die Keksdose stand auf dem Tisch und wartete wie immer auf Adele. Edna räumte sie nie weg: Sie stand immer genau in der Mitte des Tisches, neben der Glasvase mit den Goldknöpfchen.

»Ach, wo habe ich heute nur wieder meinen Kopf!«, sagte sie dann mit einem verlegenen Lachen und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

Edna lächelte. Das war ihr Donnerstagsspiel, das sie inzwischen nur zu gut kannte.

Adele schob das Exemplar des Stern auf den Tisch. Auf der aktuellen Titelseite hatte man Fotos zu einer Collage zusammengestellt. Im Leitartikel ging es jedes Mal um einen Skandal oder eine andere aufsehenerregende Enthüllung.

»Hier, für Ihre Sammlung!«, sagte Adele und deutete auf den wuchtigen Küchenschrank, in dem sich Dutzende Zeitschriften mit dem gleichen Schriftzug und dem weißen Sternlogo auf der Titelseite stapelten. »Eines Tages werden Sie mir verraten, warum Ihnen so viel daran liegt. Ich würde ja gern wissen, haben Sie jemals eine Ausgabe weggeworfen, nur eine einzige?«

»Ich habe die ganze Woche darauf gewartet«, bedankte sich Edna und ließ Adeles Frage unbeantwortet, während sie die Zeitschrift zur Tischkante schob, in sichere Entfernung zu den Teeflecken, die Adele in ihrer Unbeholfenheit hinterlassen hatte. Zwischen den Seiten lugte ein Prospekt hervor.

Adele räusperte sich. »Den soll ich Ihnen von Max geben. Dann können Sie sich schon mal einen Eindruck verschaffen. Keine Sorge, ich helfe Ihnen beim Packen. Wir sind ja noch ein paar Tage hier«, sagte sie lächelnd.

Max hatte ihr alles genau erklärt. Während Adele Wörter benutzte, die nie so recht passen wollten wie zu große oder zu kurze Tischtücher, verpackte Max die einfachsten Dinge in viele Lagen Blümchenstoff. Das verwirrte Edna zwar einigermaßen, aber er konnte sie nie ganz täuschen. Sie nannten es

Bei jedem ihrer Einwände hatte Max den Kopf geschüttelt, war schnell zum nächsten Punkt übergegangen und meinte, sie solle sich nicht an Kleinigkeiten stören und immer nur nach dem Haar in der Suppe suchen.

Aber wenn das Ganze so etwas wie ein Erholungsurlaub war und sie dort wirklich tun und lassen konnte, was sie wollte, warum durfte sie Emil dann nicht mitnehmen?

»Sie wissen schon, dass es nur zu Ihrem Besten ist? Denken Sie doch mal daran, wie es Ihnen geht und was neulich passiert ist …«

Vielleicht meinte Adele ihr Hüftgelenk, das heftig protestierte, sobald die Abende feuchter wurden. Oder diese dumme Geschichte, von der Edna immer noch nicht so ganz überzeugt war. »Ich bin sicher, dass da wirklich jemand eingebrochen ist, Adele. In meinem Portemonnaie hat Geld gefehlt.«

»Das hatten Sie in dem Umschlag hinter dem Bild versteckt.«

(Zweites Bild, rechte Wand. Ja gut, nicht das vierte, wie sie erst gedacht hatte. So was konnte doch mal vorkommen.)

»Und was war, als ich Sie im Bad gefunden habe und die Tür abgesperrt war? Max musste sie aufbrechen.«

»Der Schlüssel ist nie wieder aufgetaucht«, entgegnete Edna trotzig, während sie sich bemühte, ihre Erinnerungen zu unterdrücken. Das Gefühl, eingesperrt zu sein und nicht hinaus zu können, war noch zu gegenwärtig und schnürte ihr

Adele konnte das nicht verstehen. Doch in einem hatte sie recht: Edna hatte sich tatsächlich wieder schutzlos gefühlt, nach so langer Zeit. Sie hatte sich überzeugen lassen. Das Gute an der Entscheidung war, dass sie nicht endgültig war. Man hatte nur ihren Namen in eine Warteliste eingetragen. Und jedes Kind wusste, dass noch nichts entschieden war, wenn man auf einer Warteliste stand. Als sie dann am anderen Ende der Leitung die Stimme der Sekretärin gehört hatte, war sie davon ausgegangen, dass es sich nach all den Monaten um einen Irrtum handelte.

»Sie werden sich wie zu Hause fühlen. Nur dass man Sie dort mehr verwöhnt«, meinte Adele nun lächelnd. Und nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fuhr sie fort: »Edna, Sie dürfen sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, das begreifen Sie doch, oder? Es stehen noch viele andere Anwärter nach Ihnen auf der Warteliste, die diesen Platz haben wollen. Außerdem ist es keine gute Vorstellung, dass Sie hier ganz alleine wohnen, wenn Max und ich weggezogen sind.«

»Emil und ich sind immer ganz gut klargekommen«, brach es aus Edna heraus. Ihr war nicht bewusst, dass dieser Gedanke auf einmal eine Stimme bekommen hatte. Ihre Stimme. »Es ist doch danach nichts mehr vorgekommen …«

»Signora Edna …«

Edna nickte. Sicher, über das Thema hatten sie schon so oft gesprochen.

Mit einem Lächeln nahm Adele die Säcke und wollte sich von Emil verabschieden.

Der Papagei hatte die ganze Zeit auf seiner Stange neben der Tür zum Flur gesessen und sich geschäftig die Flügelfedern mit dem Schnabel geputzt. Das machte er jedes Mal, wenn er sie sah, als würde ihn ein unerträglicher Juckreiz plagen.

Adele beobachtete ihn aus respektvollem Abstand und schien zu überlegen, ob auch Papageie ähnlich wie Hunde Flöhe bekommen konnten.

»Guten Morgen, Zimperliese!«, schnarrte es Adele aus der Dunkelheit des Hausflurs entgegen.

»Das heißt ›Auf Wiedersehen‹, Emil. Haben Sie ihm das immer noch nicht beigebracht, Signora Edna?«, bemerkte Adele lachend. »Es ist nicht sehr höflich, andere Leute ›Zimperliese‹ zu nennen.«

»Emil hat seinen eigenen Kopf. Es war das erste Wort, das er gelernt hat, und er erinnert sich immer noch daran.« Edna ging durch den Garten voran und öffnete Adele das Tor.

Sie betrachtete die Berge, grimmige Riesen aus Erde und Fels, die mit den Gipfeln am Himmel kratzten. Wenn man sie aus dieser Perspektive sah, konnte man sich gar nicht vorstellen, dass sie voller Leben waren. Und wie winzig die Häuser, der Fluss und die Straße von dort oben wirkten. Edna wusste es. Aber sie hätte es beinahe vergessen.

Sie drehte sich zu ihrem Haus mit dem Dach aus roten, etwas lose sitzenden Ziegeln um. Es war in einen beruhigenden

Nimm mich mit

Obwohl der Tee nur noch lauwarm war, schmeckte er gut. Edna rührte etwas Zucker hinein und tunkte die Spitze des Kuchenstücks ein.

»Du kannst jetzt aufhören, dich zu verstecken«, sagte sie zu Emil, der den Kopf schief gelegt hatte. Nun knabberte er nicht mehr unablässig an seinem Krallenfuß, und seine Federn lagen glatt am endlich zur Ruhe gekommenen Körper an.

»Ich verstehe nicht, was du gegen Adele hast. Zugegeben, manchmal ist sie ein wenig aufdringlich, und ja, sie hat ihren eigenen Kopf. Aber sie bringt dir Walnüsse und Obst mit. Und jetzt hör auf zu schmollen.«

Edna strich sanft über das glänzende Cover der Zeitschrift, die sie neben ihre Serviette auf den Tisch gelegt hatte. Sie mochte die Struktur des Papiers, dessen Duft und die Art, wie sich die Überschriften, Artikel und Fotos zu einem Ganzen zusammenfügten. Es gab immer eine Reportage über praktische Themen, die Affäre irgendeines Stars oder den mutigen Kampf einer Schauspielerin gegen eine bösartige Krankheit, deren Verlauf bis ins kleinste Detail beschrieben wurde.

Rasch blätterte sie die Seiten durch, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Danach hatte sie eine ganze Woche Zeit, um die Artikel ausführlich zu studieren.

Der Aufmacher der Ausgabe war den Unwettern gewidmet, die über halb Europa tobten.

Betroffen betrachtete Edna die Fotos von Bauernhöfen mit

Ihr Atem beruhigte sich ein wenig, bis ihr Blick auf eine Abbildung ganz am Ende der Seite fiel, die halb von ihrem Daumen verdeckt wurde. Plötzlich spürte sie, wie sie nach Luft rang, als ob jemand den gesamten Sauerstoff aus dem Zimmer gesogen hätte.

Etwas an diesem Foto jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Aus all dem Grau, den erdig-schlammigen Farben stach das Lächeln dieses Mannes heraus.

Die abfallenden Augenwinkel bildeten einen auffälligen Gegensatz zu den nach oben gezogenen Mundwinkeln. Sie kannte diese Augen, die stets ein wenig traurig gewirkt hatten, selbst wenn ihr Blau im Licht erstrahlte. Das linke Lid (das linke, es war wirklich das linke) war von einer wellenförmigen Narbe überzogen, die es so schwer machte, dass der Augapfel fast darunter verschwand. Vor allem dieses unverwechselbare Merkmal hatte ihr den Atem verschlagen.

Nun fehlte nur noch ein Name.

 

Edna folgte mit dem Finger den Zeilen, um sicherzugehen, dass sie nicht im Text verrutschte, obwohl die Versuchung groß war, sich weiter das Foto anzusehen, und sie hin und wieder danach spähte. Das Gesicht des Mannes war zum Teil hinter Bartstoppeln verborgen und von Falten durchzogen, so tief wie Ackerfurchen.

Eine Schlammlawine hatte ihn in seinem Haus überrascht (das er mit eigener Hände Arbeit gebaut hatte) und mitgerissen.

Ihr Finger hielt an jedem Wort inne, manchmal kehrte er zum Satzanfang zurück, um bei einem Komma wieder neu zu beginnen. Oder bei einem Punkt? Dann endlich der Name, den sie suchte: Jacob.

Jacob Kneip.

Es war merkwürdig, denn seinen Nachnamen hatte sie nie erfahren.

In Ednas Brust mischten sich Freude und Angst.

Jacob

Sie sah einen Jungen vor sich, mit diesen traurigen Augen und dem Schnitt am linken Lid, rot wie eine offene Wunde. Er rannte. Sah seine Hand, die sich nach ihr ausstreckte, während die Welt um ihn, die schneebedeckten Bäume, die Steine auf dem Weg verschwammen. Wie ein Pfeil schnellte er vor in dem Versuch, sie zu erreichen, streckte den schmutzverkrusteten Arm nach ihr aus. Doch sie sah ihn nur an. Anstatt sich hinauszulehnen und ihm auf den Karren zu helfen, der immer mehr Meter voller Schlamm und Wind zwischen sie legte, saß sie einfach starr da, gelähmt vor Furcht.

 

Edna betrachtete das Foto, das sie neben die Zeitschrift gelegt hatte.

Sie hatte es von der Innenseite des alten Küchenschranks abgenommen, in dem sie alle Exemplare des Stern aufbewahrte. Ihr war immer klar gewesen, dass sie sie noch einmal brauchen würde. Genau wie das Foto, das dort mit einer Reißzwecke angeheftet war und sie jeden Tag begrüßte, während die Jahreszeiten wechselten und sie selbst, die Straße und die Welt um sie herum sich veränderten.

»Ich habe dich gefunden, Jacob«, sagte sie langsam und gewichtig.

Es hörte sich an, als sei sie zufrieden, dass sie recht behalten hatte. Fast ein wenig triumphierend.

Sie betrachtete die exakt aufgestapelten Zeitschriften. Es war

Zu Frühlingsanfang waren sie nach einer langen Reise aus ihren Heimatdörfern in der Fremde angekommen, aus ihren Dörfern, die einige von ihnen niemals wiedersehen sollten. Die es am schlimmsten traf, waren bei Einbruch des Winters nicht nach Hause zurückgekehrt. Ihr Lebensmut hatte nicht ausgereicht, um die Krankheiten und die Erschöpfung zu überstehen oder den Willen derer zu ändern, die über sie entschieden hatten. In ihren Blicken las Edna dieselbe schicksalsergebene Traurigkeit.

Jacob und sie standen auf dem Foto ganz dicht nebeneinander.

Sie betrachtete die Zeitangabe auf der Rückseite des Fotos: 1938/1939. Drehte das Bild wieder um und verglich es mit dem in der Zeitschrift. Nun ja, Jacob war nicht nur gewachsen. Er war alt geworden, ziemlich alt, genau wie sie selbst.

Doch die Jahre hatten nichts gegen die Verletzung von damals ausrichten können. Sie hatten das nach unten hängende Lid und die Trauer in seinen Augen nur noch stärker ausgeprägt, als sie sie in Erinnerung gehabt hatte.

»Ich hab dir doch gesagt, das wird niemals heilen, Jacob.«

Edna las die Bildunterschrift. Man hatte ihn zusammen mit den anderen Verletzten ins Ravensburger Krankenhaus gebracht. Jetzt musste er natürlich erst einmal gesund werden. Wenn man unter tonnenweise Schlamm und Steinen begraben wurde, brauchte es dazu schon etwas mehr als Schlaf und ein paar Ingwerpastillen.

Sie seufzte einmal tief und sah Emil an, der ihren Blick reglos erwiderte, dann klappte sie die Zeitschrift zu und sammelte, bevor sie aufstand, noch ein paar Kuchenkrümel auf.

Sie warf die Krümel in den Spülstein, ließ das Wasser laufen und scheuerte die Emaille mit dem Schwamm, bis sie glänzte. Danach schnitt sie einen Granatapfel auf und füllte die Kerne in Emils Schüsselchen. Als sie zu ihm ging, um sie ihm hinzustellen, tauchte zwischen seinen blauen Federn kurz das Bild zweier Kinder auf, die voller Angst durch den dunklen Bauch des Waldes liefen und einen Papagei im Rucksack versteckt hatten.

Edna tauschte das schmutzige Wasser gegen sauberes aus und warf die Goldknöpfchen weg, die bereits welkten. Sie trocknete die Teetassen ab und öffnete wie jeden Morgen die Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Dann ging sie in den Garten, um Blumen für ihre Vase zu schneiden. Während Emil mit schnarrender Stimme versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück, schneller, als ihr Blick über die Berge vor ihr streifen konnte.

Dann kamen die Bilder, zusammenhanglos wie einzelne Mosaikteilchen, ohne erkennbare Logik bohrten sie sich wie Splitter in ihr Fleisch. So ist das mit den Erinnerungen: Sie entscheiden selbst, wann der Moment gekommen ist, sich zu zeigen. Manchmal lenken sie die Hände schneller als der Verstand. Manchmal folgt das Herz dem Kopf oder es verliert sich in ihnen. So auch jetzt, während sie ein bisschen Unkraut

Bevor jede verfügbare Hand für die anstrengende Ernte gebraucht wurde, wurden auf dem Hof die Gänse gerupft. Die Federn mussten je nach Länge in drei verschiedene Körbe sortiert werden, die dann in große Säcke geleert wurden. Von außen betrachtet war es eigentlich ganz einfach: Man fing eine Gans ein, setzte sich auf einen Schemel und klemmte sie zwischen den Oberschenkeln fest. Dann riss man ihr die Federn aus, zuerst unter den Flügeln, und arbeitete sich langsam nach hinten, ohne zu viel an einer Stelle auszurupfen.

Doch Edna musste schnell feststellen, dass Gänse unerwartet schwer waren und sehr böse wurden, wenn sie sich gegen ihre Hände verteidigten. Sie zwickten sie so heftig mit ihren Schnäbeln, dass ihr die Tränen kamen.

Doch es war nicht nur der Schmerz, der Edna zum Weinen brachte. Die qualvollen Schreie der verängstigten, leidenden Tiere sollte sie nie mehr vergessen.

Es war die »Sonntagsmusik«, wie die Kinder es nannten. Sie blickten nicht einmal auf, während sie die Erde umgruben – darunter auch Jacob.

Edna konnte sich noch bis in jede Einzelheit an den Hof erinnern, auf dem sie einander begegnet waren. Von dort, aus jener Fremde hinter den Bergen, stammte auch Emil. Inzwischen hatte sie mit diesem aufgeplusterten Papagei ihr ganzes Leben verbracht und nach und nach gelernt, ihn zu lieben, obwohl er sie anfangs mit Schnabelhieben traktiert hatte, bis es blutete.

Im Gegensatz zu ihr blieb Jacob keine Wahl. Er lag in einem Krankenzimmer und hatte gerade sein Haus verloren so wie

In der Nische neben dem Küchenschrank lehnte ein Stock aus entrindetem Holz an der Wand. Daneben stand ein Rucksack, und über einem Bügel hing ein wollener Umhang. Alles befand sich noch am selben Platz, wo sie die Sachen damals abgelegt hatte, als sie als zehnjähriges Mädchen vom Hof zurückgekehrt war, und schien nur darauf zu warten, sie erneut auf eine Reise zu begleiten. Um Jacob endlich heimzubringen.

Während ihr Blick durch das Küchenfenster auf Rucksack und Wollumhang fiel – natürlich fehlten die schweren Schuhe von damals, doch von denen waren nach ihrer Rückkehr nur noch die Sohlen übrig geblieben – und auf Emils Transportkasten, der darunter stand, die Räder exakt zur Tür ausgerichtet, gingen ihr unzählige Fragen durch den Kopf.

Was zählten schon die Träume zweier Kinder, denen man ihre Welt genommen hatte, um sie hinter die Berge auf einen alten Bauernhof zu verbannen? Was zählten ihre Gespräche, zusammengesponnen aus vermessenen Träumen und überlagert von einer dunklen, albtraumhaften Wirklichkeit?

Und was zählte das Versprechen, das sie einander gegeben hatten? War es wirklich stark genug, die Zeit und die Entfernung zu überdauern? Nur ein Versprechen. Vielleicht hatte er es ja vergessen.

»Guten Morgen, Zimperliese!«

Edna fuhr herum. Sie war so daran gewöhnt, dass Emil sie bei diesem Spitznamen rief, dass sie normalerweise nicht mehr darauf achtete. Er hatte ihn von dem Jungen gelernt, der ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet hatte. Doch diesmal

 

Als Edna später wieder aus dem Garten ins Haus kam, steckte sie die Hortensien- und Rosenknospen, die sie gerade geschnitten hatte, in die Vase und ordnete sie so an, dass sie sich nicht gegenseitig das Licht nahmen. Sie sah auf die Notizen an der Wand: Eisen für die Hortensien, Zwiebeln für den Herbst einlagern.

Dann nahm sie die Zeitschrift mit dem Artikel über Jacob wieder zur Hand. Knickte die Seite sorgfältig um, damit kein Wort abgeschnitten wurde, und riss sie sorgfältig am Falz entlang heraus, während sie überlegte, ob in Ravensburg wohl endlich wieder die Sonne schien.

Immer wenn auf dem Hof das Glück so wild davonzustürmen schien wie ein durchgehender Gaul, der mit seinen Hufen Erde und Gras zerstampfte, musste Edna all ihre Kraft zusammennehmen, um sich nicht mit fortreißen zu lassen. Sie hielt sich stets abseits von den anderen Kindern, die sie inzwischen schief ansahen und hinter vorgehaltener Hand über sie tuschelten, seit es hieß, sie habe eine italienische Mutter. Natürlich traf das nicht nur auf Edna zu. Ihre Bettnachbarin zum Beispiel kam aus demselben Tal. Aber Deutsch war zu Hause die Sprache des Vaters gewesen, und nur das galt hier, obwohl das Deutsch in dieser Gegend so anders klang, dass alle es nur schlecht und recht verstanden. Edna konnte nicht begreifen, wie ein und dieselbe Sprache derart unterschiedliche Färbungen haben konnte. Und sie setzte alles daran, genauso zu sprechen wie die anderen. Im Grunde hatte ja auch bei ihr zu Hause der Vater das Sagen gehabt und die Regeln vorgegeben, bis Edna schließlich glaubte, sie müsse in allem so sein wie er. Auf dem Hof galten mehr oder weniger die gleichen Regeln.

Als sie weggegangen war, hatten ihr die Eltern gesagt, sie würde es dort gut haben. Dazu solle sie nur Padre Gianni auf einer langen, schönen Reise über die Berge folgen, ohne wie sonst auf die Zeit achten zu müssen. Sie würde den gesamten Frühling, Sommer und Herbst auf dem Hof verbringen.

Edna hatte den Eltern vertraut, auch wenn es ihr schwergefallen war, als sie scheinbar wie im Nichts verschwanden. Sie

Wenn ihr die Kraft fehlte, umklammerte sie ganz fest den Holzsplitter des heiligen Christophorus, den sie bei einer Rast in einer Bergkapelle aus der Statue gebrochen hatte, als sie dort gebetet hatte. Padre Gianni hatte ihr gesagt, sie würde sich gleich besser fühlen, wenn sie ihn mit den Fingern berührte. Padre Gianni hatte allerdings vieles gesagt, und nicht alles hatte gestimmt. Er hatte ihr zum Beispiel nicht gesagt, dass es so hart werden würde.

 

Weckzeit auf dem Hof war um vier Uhr in der Früh.

Edna musste sich um das Vieh kümmern. Die Kühe melken und den Stall ausmisten, aber vorher erst die Futtertröge der Schweine bis zum Rand füllen. Flachs ernten und Ähren aufklauben, abspülen, Betten machen, Böden schrubben und Getreide dreschen, das alles waren anstrengende Aufgaben.

Die Männer und Jungen kümmerten sich um die Felder, die Mädchen unter der strengen Kontrolle der Bauersfrau um den Hof. Hatte sie keine Zeit, trat deren Schwester an ihre Stelle, eine Frau, die kaum einmal lächelte und immer so wirkte, als sei sie mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden.

Einige Mädchen konnten gut nähen und stricken, Edna nicht. Sie stach sich immer in den Finger, verhedderte die Fäden oder verzählte sich beim Muster. Aber deshalb durfte sie noch lange nicht untätig sein. Neben der Stallarbeit – sie und ein Junge namens Bastian kümmerten sich um zehn Milchkühe, vier Arbeitspferde, dazu um die Hühner und Gänse –

Die Rangordnung war streng. Der Hof gehörte dem Großbauern und seiner Frau. Sie hatten zwei Söhne, die wie die deutlich älteren Knechte behandelt wurden. Die beiden genossen zwar mehr Freiheiten, aber Edna sah sie oft miteinander streiten und raufen, wie Hunde, die ihre Stellung im Rudel noch finden mussten. Und wer zu schwach war, um sich durchzusetzen, blieb auf der Strecke – so wie Edna, hätte Jacob sie nicht beschützt. Einem Hund wäre es dort auf dem Hof besser ergangen. Denn der Großbauer sorgte gut für seine Jagdhunde und respektierte sie.

Der älteste Sohn hatte die Regeln zu spüren bekommen. Er war aus irgendeiner Stadt, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnerte, nach Hause zurückgekommen, und die Mutter kochte tagelang nur für ihn, so freute sie sich, dass er nun wieder auf dem Hof war. Derart köstliche Gerichte, dass schon der Duft Edna das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Aber als er dem Großbauern gegenüber die Stimme erhob, scherte der sich nicht darum, dass es sich um seinen eigenen Sohn handelte, und jagte ihn vom Hof. Edna hatte ihn beneidet, weil er frei war und über die Felder davonging, nur den Rucksack auf dem Rücken, mit dem er gekommen war.

Sie und die anderen Kinder dagegen kamen nie vom Hof weg, obwohl sie ständig auf den Beinen waren. Ednas Bestimmung schien es zu sein, rastlos von einem Ort zum anderen zu schwirren wie eine Biene auf der Suche nach ihrem Stock, bemüht, alles gut zu machen, da sie doch zu nichts gut war.

In den Wochen der Mahd musste sie den Bauern mit einem kleinen Handkarren das Essen bringen. Jeder bekam eine

Der Großbauer und die Bauersfrau – die Herrschaften – aßen allein mit den Söhnen und der Schwester. Die Knechte blieben für sich, von den Kindern getrennt, die ihre Mahlzeiten in einem kleinen Raum neben der Stube einnahmen. Die Suppe für alle kam in einer einzigen großen Schüssel. Jedes Kind hatte seinen Holzlöffel, aber es war nicht einfach, seinen Anteil zu bekommen, denn es gab immer jemanden, der schneller war, und zwar ganz egal, ob Mädchen oder Junge.

Nachts schliefen alle in einem großen Raum, der im Winter nicht geheizt wurde, im Sommer dafür schrecklich heiß war. Als Trennwand zwischen Jungen und Mädchen dienten aufgestapelte Heuballen. Edna hatte sich ein eigenes Eckchen abstecken können, in hinreichendem Abstand zu ihrer Bettnachbarin Anja, einem Mädchen in ihrem Alter. Manchmal schlief Edna mit dem Splitter vom heiligen Christophorus in der Hand ein, nachdem sie die zwanzig Beschütze mich, Gott gesprochen hatte. Dieses Gebet hatte Padre Gianni ihnen an den Abenden der gemeinsamen Reise beigebracht. Aber nun war er weit weg und konnte sie nicht mehr ausschimpfen, wenn sie darüber einschlief oder nur unverständliche Worte murmelte. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, und der Gedanke, dass dieses Gebet sich an jemanden richtete, der ihr zuhörte und für sie da war, tröstete sie.

Tag 1 – Distanz: 1 km

Zwei Straßen, einen Tag und einen Kilometer entfernt hatte Adele noch nicht alle Fensterläden geöffnet. Der Gedanke daran, was sie noch alles zu tun hatte, bedrückte sie. Sie war so müde, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. In ihren rosafarbenen Filzpantoffeln schlängelte sie sich an Kartons vorbei, die am Abend zuvor noch nicht dort gestanden hatten.

Die Beschriftungen mit rotem Textmarker stammten von Max. Sie erkannte seine langgezogene Handschrift, die geraden, ein bisschen zittrigen Buchstaben und sah sofort ihren Ehemann vor sich, wie er Dinge in Papier einschlug und in Kisten packte und dann mit konzentriertem Blick und einer Falte mitten auf der Stirn den Textmarker zwischen seinen plumpen Fingern hielt.

Adele lächelte zärtlich bei der Vorstellung, doch ein kälteres, düsteres Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte, drängte sich in ihre Liebe. Für Max war dieser Umzug sehr wichtig, und er tat auch viel dafür. Sicher, er hatte mit seinen Modellen angefangen, während sie nichts als Möbel sah, die leergeräumt, und Kleidung, die zusammengefaltet werden musste. Alten Kram, den man aussortieren musste.

Adele warf einen letzten Blick auf die ordentlich gestapelten Kartons: Jetzt war es so weit. Sie taten es wirklich.

Sie stellte die Espressokanne auf den Gasherd und trat auf den Balkon. Ihre Wohnung lag im ersten Stock eines Neubaus. Ein zu groß geratener, unproportionierter Betonwürfel, der

Die starre Ordnung der regelmäßig angelegten Häuserreihen, die sich bis zu den Berghängen erstreckten, wurde ab und zu von den Dächern der Bauernhöfe aufgelockert. Die meisten hatte man in hübsche Frühstückspensionen mit Swimmingpools umgewandelt, deren Wasser zu blau schimmerte, als dass es seine natürliche Farbe sein konnte, mit englischem Rasen und gepflegten Blumenbeeten.

Gerade bog ein Lastwagen in die kleine Straße und wirbelte jede Menge dunklen Staub auf, der sich wie ein Rußschleier über die Beete legte. Max würde das nicht gefallen. Adele hoffte inständig, dass er nicht gerade jetzt herauskäme. Jedes Frühjahr ärgerte er sich über die Bauarbeiten seiner Nachbarn. Nach dem Tod von Bernies Schwiegermutter hatten sie das heruntergekommene Haus zu einem netten Bed&Breakfast umgebaut. Zugegeben, es war nun wirklich ein Traum. Die grünen Fensterläden, der helle, cremefarbene Anstrich. Und die vielen Blumenrabatten.

Adele ging wieder hinein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Zuvor nahm sie noch eine Zeichnung von der Wand ab, die Lisa in der Grundschule gemalt hatte. Sie stellte das Bild auf die Anrichte und betrachtete es. So aus der Entfernung sah es nicht übel aus, dachte sie mit einem Anflug von Stolz. Sie blickte sich um: Von den Küchenwänden blätterte in den Ecken der Verputz ab, die Kühlschranktür schloss nicht mehr richtig. Doch in dieser Küche hatte Lisa laufen gelernt. Es waren die Erinnerungen, die sie gemütlich machten.

Max kam herein und überraschte sie mit einem Kuss. Sein Duft nach Seife und frisch gewaschener Haut hüllte sie ein.

Max trug gestreifte Shorts wie sonst nur im Urlaub am Meer und dazu ein blaues T-Shirt. Keine langen Hosen oder eine dicke Fleecejacke. Adele fiel das auf, denn für seine Arbeit bei der Obst- und Gemüsegenossenschaft musste er sich normalerweise immer warm anziehen.

»Ich fühle mich schon wie ein ganz anderer Mensch, Adele. Und Bernie hat mir von der Solaranlage erzählt.«

Seit wann unterhielten sich Max und Bernie und gaben einander Tipps?

»Darüber sollten wir auch nachdenken, weißt du? Ein Steuervorteil von fünfzig Prozent, Abschreibungsmöglichkeiten von hundertdreißig Prozent, hohe Effizienz und mindestens dreißig Jahre Garantie.«

»Max, meinst du nicht, dass du da zu voreilig bist?«

Während er entschieden den Kopf schüttelte, fiel Adeles Blick auf die Zeitschriften und Broschüren, die ihr Mann am Vorabend auf dem Stuhl liegen gelassen hatte. Hefte für Heimwerker, Prospekte mit Gartenmöbeln und Pagodenzelten oder »Hühnerstall – schnell und einfach selbstgebaut«.

»Adele, es ist jetzt schon fast ein Jahr her, dass wir das Haus von meiner Tante geerbt haben, und nichts hat sich getan. Du bringst alten Weibern die Einkäufe mit dem Fahrrad nach Haus, und ich friere mir im Lager einen ab wie ein Kabeljaufischer in der Arktis. Es ist an der Zeit, unser Leben zu ändern, meinst du nicht auch? Weißt du eigentlich, wie viel Bernie und Clara mit der Zimmervermietung verdienen?«

Dann wandte er sich wieder Adele zu. »Warte erst mal, bis du unser Bed&Breakfast siehst, Adele«, flüsterte er ihr zu, als würde er ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Bernies wird dagegen wie ein Schuppen aussehen!«

Adele rang sich ein Lächeln ab.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte Max, als nähme er sie erst jetzt richtig wahr.

Sie nickte. »Gestern Morgen habe ich bei Signora Edna vorbeigeschaut. Ich sorge mich ein wenig um sie. Dass sie so an dem Papagei hängt … Es macht alles viel komplizierter.«

Max winkte energisch ab.

»Edna ist eine starke Frau und noch einigermaßen in Schuss, aber wenn du sie nicht hin und wieder in diesem düsteren Haus besuchen würdest … Hast du ihren Garten gesehen? Mit diesen ganzen Bäumen und Kletterranken, die die Mauern überwuchern! Da müsste man mal richtig ran!«

»Ihr gefällt es aber …«

»Ja, weiß Gott, was sie daran findet. Sie ist alt und hat ihre ganz eigene Vorstellung von der Welt. Genauso gestrig wie sie selbst«, sagte er und verzog das Gesicht. »Außerdem sollte man in ihrem Alter nicht in so engem Kontakt mit Tieren sein. Psittakose, weißt du, was das ist? Die Papageienkrankheit, eine schreckliche Infektion. Erst denkt man, es sei eine normale Grippe, dann eine Lungenentzündung, aber es handelt sich um winzige Bakterien, die sich in deinem Blut verbreiten.«

Adele erinnerte sich, wie Emil sich immer am Kopf kratzte. Max hatte recht.

»Der Tierarzt hat eine Voliere im Garten. Sogar Edna hat verstanden, wie glücklich der Papagei wäre, wenn er dort endlich

Adele dachte nach. Von ihrem Platz aus konnte sie sehen, dass auf dem Regal im Flur noch ein Teil von Max’ Sammlung stand. Wikingerschiffe.

»Empathisch zu sein bedeutet nicht, sich von seinen Gefühlen mitreißen zu lassen, Adele. Oder das Leid der Mitmenschen anzunehmen, als wäre es das eigene. Man muss vernünftig bleiben und die nötige Distanz wahren, um das Richtige zu tun. Um Gutes zu tun.« Die letzten Worte hatte er langsam und gewichtig ausgesprochen.

Von Empathie hatte Max während eines Fortbildungskurses für die Arbeiter gehört, den die Kooperative anbot. In diesem Kurs hatte er auch die Spiegelneuronen für sich entdeckt. Sie hatten sein Leben verändert. Das musst du dir merken, Adele. Spiegelneuronen waren der Schlüssel für alles.

»In ihrem Alter fällt einem das Laufen immer schwerer. Selbst die einfachsten Tätigkeiten werden zum Problem«, setzte Max nach. »Du hast ihr immer die Einkäufe gebracht. Wie soll sie das denn machen ohne Auto? Der nächste Lebensmittelladen ist über einen Kilometer weit weg. Die würde verhungern, sag ich dir. Außerdem braucht Edna festgesteckte Grenzen und sichere Räume. Sie ist doch nie über ihren Garten hinausgekommen. Glaub mir, es ist ein Riesenglück, dass sie sie dort genommen haben. Wir geben ihr das, wonach sie immer gesucht hat: Mauern, hinter denen sie sich sicher fühlt. Es hat ein wenig gedauert, aber am Ende hat sich doch alles perfekt gefügt.«

Max atmete tief aus, als hätte er während der ganzen Zeit mit Edna gelitten.