Der Countdown-Killer - Nur du kannst ihn finden

Amy Suiter Clarke

Der Countdown-Killer - Nur du kannst ihn finden

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Birgit Schmitz

FISCHER E-Books

Über Amy Suiter Clarke und Birgit Schmitz

Amy Suiter Clarke verschlingt True-Crime-Podcasts und liebt es, immer wieder neue zu entdecken. Was lag da näher, als eine Podcasterin zur Hauptfigur ihres Thrillers zu machen, die eine spektakuläre Mordserie aufklären will. Wenn Amy Suiter Clarke nicht gerade wahren Verbrechen auf der Spur ist, reist sie gerne. Sie wuchs in einer Kleinstadt in Minnesota auf, studierte später in Minneapolis und London und lebt heute in Melbourne. »Der Countdown-Killer – Nur du kannst ihn finden« ist ihr erster Roman.

 

Birgit Schmitz hat Theater und Literatur studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Er entführt immer drei. Im Abstand von drei Tagen. Jede ein Jahr jünger als die andere. Der Countdown hat begonnen ...

 

True-Crime-Podcasterin Elle Castillo will Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für die Opfer nie aufgeklärter Verbrechen. Jetzt wagt sie sich an einen spektakulären Fall: den des »Countdown-Killers«. Er entführte immer drei. Drei junge Frauen im Abstand von drei Tagen. Jede ein Jahr jünger als die andere, jede innerhalb von sieben Tagen tot. Bis sein elftes Opfer entkam. Die Serie brach ab, der Killer konnte nie gefasst werden.

Als Elle anfängt, die Morde neu zu beleuchten, verschwindet wieder eine junge Frau. Ein Trittbrettfahrer, dem es um Aufmerksamkeit geht? Oder der Killer von damals, der jetzt zurück ist, um sein grausames Werk zu Ende zu bringen?

 

Ein raffiniert konstruierter Pageturner mit besonderem Dreh – Mörderjagd per Podcast

 

»Kann man nicht mehr aus der Hand legen.« Wendy Walker

»Treibt den Puls beim Lesen in die Höhe.« Candice Fox

»Zum Nägelkauen spannend – Thrill in Reinform.« Amy Gentry

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Girl, 11« bei Houghton Mifflin Harcourt, New York

Copyright © 2021 by Amy Suiter Clarke

All rights reserved

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

Redaktion: Carlos Westerkamp

 

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491291-2

die Tausende Worte von mir gelesen hat,

bevor ein Satz veröffentlicht wurde.

 

Und für Dad,

der mich ermuntert hat, die Wahrheit zu sagen,

auch im Roman.

MARY OLIVER

 

Er verliert seine Macht, wenn wir sein Gesicht kennen.

MICHELLE MCNAMARA

Der Countdown

Justice Delayed-Podcast

5. Dezember 2019

Transkript: Staffel 5, Folge 1

ELLE VOICE-OVER: Minnesota ist bekannt für seine Kälte. Eisige Winter und stoische nordische Gemüter. Ich fahre an diesem strahlenden Novembermorgen in südwestlicher Richtung durch das Land der zehntausend Seen, Schnee wird über den Highway geweht, und die Flocken wirbeln herum wie Gespenster. Eben noch schlängelte ich mich durch die flachen Weiten von Prärie und Ackerland, und im nächsten Moment bin ich schon in der Stadt mit all ihrem Beton, den Lichtern und den gepflegten kleinen Grünflächen. Wie in vielen amerikanischen Staaten des Mittleren Westens verläuft auch hier eine Trennlinie entlang der unsichtbaren, aber undurchdringlichen Grenze zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Man braucht nur wenige Meilen zurückzulegen, und schon ändern sich Bevölkerungsstruktur, Ideologie, Kultur und Gebräuche.

Aber hin und wieder passiert etwas, was den gesamten Bundesstaat erschüttert: Jeder spürt die Auswirkungen, und die Menschen sind geeint in Trauer und einem gemeinsamen Ziel.

Vor knapp vierundzwanzig Jahren verschwand in Dinkytown, dem lebendigen Studentenviertel von Minneapolis, eine junge Frau namens Beverly Anderson.

 

[TITELMUSIK]

 

ELLE INTRO: Die Fälle wurden nie aufgeklärt. Die Täter wähnen sich in Sicherheit. Aber mit eurer Hilfe sorge ich dafür, dass

 

[GERÄUSCH-EINSPIELER: Knirschende Schritte im Schnee; in der Ferne spielt leise I’ll Make Love to You von Boyz II Men; das Lachen junger Erwachsener.]

 

ELLE VOICE-OVER: Im Februar 1996 verließ die zwanzigjährige Beverly spätabends zusammen mit ihrem Freund und einigen Kommilitonen von der University of Minnesota eine Party. Auf dem Weg nach draußen versuchte Beverlys Freund, sie zu überreden, noch mit den anderen auf Burger und Milchshakes in Annie’s Parlour zu gehen. Aber Beverly wollte unbedingt nach Hause, denn sie musste am nächsten Tag früh raus. Sie wollte drei Monate später ihr Psychologie-Studium abschließen und hatte bereits ein Praktikum in einer örtlichen Klinik angefangen. Zwischen ihr und ihrem Freund kam es zum Streit über das Thema – nichts Ernstes, nur ein kurzer Krach, wie er bei jungen Paaren manchmal vorkommt. Irgendwann gab er es auf und ging mit den Freunden allein ins Restaurant. Beverlys Apartment lag nur fünf Häuserblocks entfernt – ein kurzer Spaziergang, den sie schon hundert Mal allein zurückgelegt hatte. Sie zog den Reißverschluss ihres schwarzen Wollmantels zu, kuschelte sich in ihren Schal und winkte ihren Freunden zum Abschied.

Es war das letzte Mal, dass sie sie lebend sahen.

Als Beverly am nächsten Tag nicht zu ihrem Praktikum erschien, rief ihr Betreuer bei ihr zu Hause an. Ihre Mitbewohnerin, Samantha Williams, ging ans Telefon.

 

SAMANTHA: Ich weiß auch nicht wieso, aber als der Anruf kam, hatte ich sofort das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Ich hab dann oben in ihrem Zimmer nachgesehen,

 

ELLE VOICE-OVER: Ich sitze mit Samantha Williams, heute Carlsson, in ihrer Küche. Sie wohnt ungefähr eine Stunde außerhalb von Minneapolis, zusammen mit ihrem Mann und zwei Beagles, die schon angeschlagen haben, bevor ich überhaupt an der Haustür war.

 

SAMANTHA: [Über das Bellen zweier Hunde hinweg.] Aus! Ab ins Körbchen! Körbchen, hab ich gesagt! So ist es brav. Sehen Sie, die beiden sind gut erzogen – wenn sie wollen.

 

ELLE: Was passierte, nachdem Sie gesehen hatten, dass Beverly nicht nach Hause gekommen war?

 

SAMANTHA: Ich hab’s ihrem Betreuer gesagt, und der meinte, dass ich bei der Polizei anrufen soll, und das hab ich dann auch gemacht. Die wollten zuerst gar nichts unternehmen – Beverly war wohl noch nicht lang genug weg oder so. Aber als ihr Freund und ich denen erzählt haben, dass sie vor Zeugen alleine nach Hause aufgebrochen war und dass sie eine zuverlässige Studentin war, die gerade ein Praktikum machte, waren sie schon ein bisschen besorgter. Ich weiß, dass sie [Piepton] verhört haben, aber seine Freunde haben ihm ein wasserdichtes Alibi gegeben. Außer den zwei, drei Minuten, in denen er und Beverly sich darüber gestritten hatten, ob sie noch mit ins Restaurant kommt oder nicht, war er die ganze Nacht mit ihnen zusammen. Die Polizei kam am selben Tag auch zu mir und hat mit mir geredet; am Nachmittag, glaub ich. Das müsste aber in der Akte stehen, wenn Sie die haben.

 

-OVER: Die liegt mir vor. Laut Detective Harold Sykes wurde Samantha am 5. Februar 1996 vernommen, um 15 Uhr 42 – ungefähr siebzehn Stunden, nachdem Beverly zuletzt gesehen worden war.

 

ELLE: Und was passierte Ihrer Erinnerung nach dann als Nächstes?

 

SAMANTHA: Na ja, eigentlich nichts. Ihre engsten Freunde waren an dem Abend alle mit ihr auf der Party gewesen und hatten, nachdem Beverly gegangen war, noch mindestens zwei Stunden in Annie’s Parlour zusammengesessen. Ihre Familie wohnte mehrere Stunden entfernt, in Pelican Rapids. Sie gingen davon aus, dass ihr Freund auf keinen Fall dahinterstecken konnte, weil er nur wenige Minuten außer Sichtweite seiner Freunde gewesen war. Beverly war einfach … verschwunden. Alle dachten, sie hätte sich vielleicht verlaufen oder die Orientierung verloren oder vielleicht doch tiefer ins Glas geguckt, als ihre Freunde dachten, und wäre in den Mississippi gefallen und ertrunken. Das hat es alles schon gegeben. Aber das Ufer und die Schneeverwehungen wurden tagelang abgesucht, ohne dass sich eine Spur von ihr fand. Das änderte sich erst eine Woche später.

 

ELLE VOICE-OVER: Sieben Tage nach Beverlys Verschwinden fiel dem Betreiber von Annie’s Parlour, als er nachts schließen wollte, auf, dass draußen jemand an der Mauer kauerte. Er dachte, es wäre ein Obdachloser, und beugte sich über ihn, weil er ihm anbieten wollte, ihn zu einer Unterkunft zu bringen. Als er nicht reagierte, zog der Restaurantbetreiber ihm den Schal vom Kopf und blickte in das leblose Gesicht von Beverly Anderson.

 

SAMANTHA: [Unter Tränen.] Danach kreisten unsere

 

ELLE: Wissen Sie noch, wann Sie von den anderen Opfern erfahren haben?

 

SAMANTHA: In den Nachrichten haben sie erst nichts darüber gebracht. Bis sie dann rausfanden, dass das zweite Mädchen, Jillian Thompson, auf dieselbe Art gestorben war wie Beverly. Sie war auch genauso lange verschwunden gewesen, nämlich sieben Tage. Und sie haben, glaube ich, irgendwas an Jillians Leiche gefunden, wodurch sie eine Verbindung zu Beverly herstellen konnten, eine DNA-Spur oder so.

 

ELLE VOICE-OVER: Es waren Hautschuppen an ihrer Jacke. Die Polizei vermutete, dass Jillian sie Beverly geliehen haben musste, weil ihr, wo auch immer sie zusammen festgehalten wurden, kalt geworden war. Jillian Thompson war drei Tage nach Beverly von einem Parkplatz an der Bethel University verschwunden. Ihre Eltern dachten zuerst, sie wäre mit einem Freund durchgebrannt, den sie ablehnten. Er war der Hauptverdächtige, bis die Fälle schließlich miteinander in Verbindung gebracht wurden.

 

[GERÄUSCH-EINSPIELER: Das Quietschen eines Stuhls; ein Mann räuspert sich.]

 

ELLE: Darf ich dich bitten, dich den neuen Hörerinnen und Hörern kurz vorzustellen?

 

: Ähm, ja, ich bin Dr. Martín Castillo und arbeite als Rechtsmediziner in Hennepin County.

 

ELLE: Und?

 

MARTÍN: Und, um mit offenen Karten zu spielen: Ich bin Elles Ehemann.

 

ELLE: Wer hier regelmäßig zuhört, erinnert sich vermutlich aus den Staffeln eins und drei an Martín, weil er uns damals fachkundige Informationen über die Autopsien von Grace Cunningham und Jair Brown geliefert hat. Durch seine Entdeckung eines seltsam geformten Leichenflecks an Jairs Rücken konnten wir eine Verbindung zu einem Sofa im Haus von Jairs Onkel herstellen. Und das trug maßgeblich dazu bei, dass die Abteilung für Straftaten gegen Kinder der Polizei von Minneapolis diesen Fall aufklären konnte. Ich habe Martín heute erneut ins Studio eingeladen, weil ich mit ihm darüber sprechen möchte, welche weiteren Parallelen es zwischen den Morden an Beverly und Jillian gab, und zwar noch bevor der DNA-Test von Jillians Leiche überhaupt vorlag.

 

MARTÍN: Die einfachste Antwort ist, dass beide Frauen auf dieselbe Weise getötet wurden. Auf dieselbe ungewöhnliche Weise.

 

ELLE: Das musst du erläutern.

 

MARTÍN: Beverly Andersons rechte Schädelseite wies Spuren von Gewalteinwirkung auf, und ihre Autopsie ergab, dass sie einige Tage vor ihrem Tod geschlagen worden war – wahrscheinlich am Tag ihrer Entführung. Sie starb jedoch an Dehydrierung und Multiorganversagen, nachdem sie unter

 

ELLE: Woran war zu erkennen, dass die Striemen erst kurz vor ihrem Tod entstanden waren?

 

MARTÍN: Die Art der Krustenbildung ließ darauf schließen, dass die Blutzirkulation in ihrem Körper kurz nach der Zufügung dieser Wunden zum Erliegen gekommen war. Ihr Herzschlag war zum Zeitpunkt des Auspeitschens offenbar bereits verlangsamt – sprich, sie lag bereits im Sterben. Daraus folgerte der Rechtsmediziner, dass die Schläge Teil eines Rituals waren und nicht mit dem Ziel ausgeführt wurden, ihren Tod zu beschleunigen. Das bestätigte sich, als Jillians Leiche gefunden wurde, die auf genau dieselbe Weise getötet worden war. Organversagen infolge einer Vergiftung mit Rizinussamen und exakt einundzwanzig Peitschenhiebe auf den Rücken, ausgeführt mit einer Gerte.

 

ELLE: Was genau meinst du mit »Gerte«?

 

MARTÍN: Mit einem Stock oder Zweig – dünn, aber stabil. Es fanden sich Hinweise darauf, dass beide Leichen irgendwo auf dem Land oder im Wald gelegen hatten: Laub auf ihrer Kleidung und Erde unter ihren Fingernägeln. Deshalb vermutete

 

ELLE VOICE-OVER: Jillians Leiche wurde ebenfalls sieben Tage nach ihrer Entführung gefunden, aber nicht am selben Ort, an dem sie auch verschwunden war, wie in Beverlys Fall. Das wäre auch zu einfach gewesen. Stattdessen wurde sie auf dem Rasen des Northwestern College abgelegt – der heutigen University of Northwestern–St. Paul –, die mit ihrer eigenen Uni, der Bethel Christian University, konkurrierte. Doch obwohl beide Frauen Studentinnen waren, gleich lange gefangen gehalten, auf dieselbe Art ermordet und ihre Leichen jeweils an öffentlichen Plätzen abgelegt worden waren, wurden ihre Tode nicht sofort miteinander in Verbindung gebracht. Anfangs arbeiteten sogar zwei verschiedene Mordkommissionen an den Fällen, denn es gab zwar zentrale Polizeidatenbanken für solche Sachen wie DNA und Fingerabdrücke, aber so etwas wie eine Datenbank für die Vorgehensweisen von Tätern gab es nicht; es existierte keine Stelle, die Todesarten sammelte und analysierte, ob Fälle aufgrund der Tötungsmethoden zusammenhängen könnten.

Die Polizei ermittelte monatelang und verhaftete sogar Jillians Freund, aber die Anklage wurde irgendwann fallengelassen und die Fälle blieben ungelöst. Es gab keine ähnlichen Morde, keine neuen Spuren. Jedenfalls nicht bis zum Jahr darauf.

 

[GERÄUSCH-EINSPIELER: Ein rauschender Wasserfall.]

 

ELLE VOICE-OVER: Dies sind die Minnehaha Falls, sechzehn Meter hoher Kalkstein und in Kaskaden herabfallendes Wasser, das vom Lake Minnetonka zum Mississippi fließt. Das berühmte Gedicht Das Lied von Hiawatha von Henry Wadsworth Longfellow trug zur Verfestigung des Namens Minnehaha bei, den Longfellow als »lachendes Wasser«

Die Tonaufnahme, die ihr eben gehört habt, stammt aus dem letzten Frühjahr, als der Wasserspiegel wegen der Schneeschmelze stark gestiegen war. Als Isabelle entdeckt wurde, war das Wasser jedoch zu einer dicken, spröden Eismasse erstarrt – im Moment des Fallens gefroren, wie verzaubert. Die Tote wäre um ein Haar übersehen worden; eine frische Schneedecke hatte sie schon halb verhüllt, als einem Touristenpaar, das den Wasserfall besichtigen wollte, die rote Jacke auffiel, die durch das pulvrige Weiß schimmerte.

 

[GERÄUSCH-EINSPIELER: Hintergrundgeräusche aus einem Diner.]

 

ELLE: Als Isabelle Kemps Leiche im Januar 1997 gefunden wurde, stellte die Polizei schnell eine Verbindung zu den Fällen von 1996 her. Denn auch diese junge Frau war sieben Tage lang verschwunden gewesen und kurz vor ihrem Tod gepeitscht worden. Das war auch die Zeit, als Sie den Spitznamen des Killers geprägt haben, oder?

 

DETECTIVE HAROLD SYKES: Ja, allerdings indirekt. Das war ganz bestimmt nicht meine Absicht.

 

ELLE VOICE-OVER: Das ist der leitende Ermittler in dem Fall, Detective Harold Sykes. Ich habe ihn in seinem Lieblings-Diner in Minneapolis getroffen.

 

: Aber Ihnen war damals etwas aufgefallen, was bis dahin niemand bemerkt hatte. Erzählen Sie mir davon.

 

SYKES: Ja, also, wir hatten schon mitgekriegt, dass der Killer von bestimmten Zahlen besessen zu sein schien. Er hatte die ersten beiden Frauen im Abstand von drei Tagen entführt, sie sieben Tage lang gefangen gehalten und dann einundzwanzig Mal gepeitscht. Also glaubten wir, dass diese Zahlen eine besondere Bedeutung für ihn haben mussten. Er ging immer nach dem gleichen Muster vor. Was dazu führte, dass mein Team sofort die Vermisstenakten nach einer Frau durchforstete, die drei Tage nach Isabelle entführt worden war. Aber als ich die Fälle noch einmal durchging, fiel mir noch ein weiteres Muster auf. Beverly Anderson war zwanzig Jahre alt gewesen. Jillian Thompson neunzehn. Und Isabelle Kemp achtzehn.

 

ELLE: Jedes weitere Opfer war ein Jahr jünger als das vorherige.

 

SYKES: Genau. Es war erst mal nur so ein Gefühl, aber ich hielt es für möglich, dass sein nächstes Opfer siebzehn Jahre alt sein würde. Das passte zu seiner Obsession für Zahlen. Und wenn das Alter der Opfer kein Zufall war, bedeutete das nichts Gutes, das war klar. Denn das hieß, dass er wahrscheinlich einem Plan folgte. Und das hab ich auch den Reportern erzählt, die mich interviewt haben. Damals hab ich es bereut, aber inzwischen ist es wohl egal. Irgendwann wäre auch ein anderer darauf gekommen. Ich hab ihnen nur gesagt: Ich glaube, der Typ hat eine Art perversen Countdown gestartet.

 

ELLE VOICE-OVER: Das war eine simple Beobachtung, aber sie blieb bei den Leuten in ganz Minnesota hängen und vermittelte allen ein Gefühl der Bedrohung. Der Killer war noch

Elle

9. Januar 2020

Elle hielt vor Ms. Turners Haus und stellte den Podcast ab, den sie über die Anlage in ihrem Auto gehört hatte. Es war einer ihrer Lieblings-True-Crime-Podcasts, der sich mehr um verurteilte Straftäter und deren Psyche drehte als um ungelöste Fälle wie ihre eigene Show. Gerade wurde über ein spannendes Thema gesprochen, nämlich die Verhaltensanalyse eines legendären Serienvergewaltigers im Pazifischen Nordwesten. Aber das war nichts für Kinder, und die Tochter von Elles bester Freundin rannte bereits von Ms. Turners Haustür auf ihren gut aufgeheizten Wagen zu.

Die Beifahrertür wurde aufgerissen, und ein Schwall eisiger, nach Schnee riechender Luft drang herein. Natalie sprang ins Auto und zog die Tür mit einem dramatischen »Brrr!« hinter sich zu.

»Na, wie war der Klavierunterricht, Süße?«, fragte Elle und drehte die Heizung noch ein bisschen höher.

»Gut.« Natalie schnallte sich an und lockerte den Schal, den sie um den Hals gewickelt hatte. Selbst im schwachen Licht des Spätnachmittags war ihr sonst blasses Gesicht von dem kurzen Weg durch die Winterkälte gerötet. »Aber ich muss immer noch dauernd Tonleitern spielen. Langsam glaube ich, Ms. Turner kann gar nichts anderes.«

Elle fuhr los. »Du nimmst ja auch erst seit vier Monaten Unterricht«, erwiderte sie schmunzelnd.

»Ja, ich weiß, aber Tonleitern sind so langweilig! Die kann ich doch inzwischen im Schlaf.«

»Du musst Geduld haben. Tonleitern sind das Fundament.

»Heute hat sie mir allerdings auch Happy Birthday beigebracht.«

»Echt? Wieso das denn?«

Natalie lachte. »Du weißt genau warum, Tante Elle!«

An der Ampel wandte Elle ihr den Kopf zu und zuckte übertrieben mit den Schultern. »Was meinst du?«

Das Mädchen verdrehte kichernd die Augen. »Weil ich heute Geburtstag hab, du Nerd.«

»Nerd?« Elle legte eine Hand auf ihre Brust, als wäre sie tödlich beleidigt. »So nennst du sonst nur Martín.«

»Ja, weil er auch meistens der Nerd ist.«

»Schon gut, schon gut, Schluss mit den Spielchen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Süße!« Sie konnte gar nicht glauben, dass Natalie jetzt schon zehn war. Damit war sie kaum jünger als das jüngste Opfer des Countdown-Killers. Seit sie vor sechs Monaten begonnen hatte, Interviews für die neueste Staffel von Justice Delayed zu führen, nahm dieser Fall sie voll und ganz in Anspruch. Sie konnte kaum die Augen schließen, ohne die Gesichter der Mädchen vor sich zu sehen, deren Fotos an der Wand ihres Tonstudios hingen. Natalie war für Elle inzwischen fast so etwas wie eine Tochter – und wenn sie sich Natalie an der Stelle des jüngsten Opfers des Countdown-Killers vorstellte, wurde ihr geradezu schwindlig vor Wut. Wenn Natalie nicht gewesen wäre, hätte Elle den Podcast wahrscheinlich gar nicht ins Leben gerufen. Ohne die Erfahrung, ein Kind so sehr zu lieben, dass man dafür sogar töten würde, hätte sie vielleicht nie angefangen, die Monster zu jagen, die sich an Kindern vergingen.

Elle beugte sich zu Natalie hinüber und drückte ihr einen

»Die Klasse hat mir ein Ständchen gesungen, und ich durfte Kekse für alle mitbringen«, sagte Natalie, an einem ihrer dunkelblonden Zöpfe spielend. »Und ich bin Dritte im Freistil geworden.«

»Bei dem Wetter würde ich ja nicht mal für Geld in einen Badeanzug steigen.«

»Wenn wir aufhören würden, nur weil’s draußen kalt ist, würden uns gerade mal drei Monate im Jahr zum Schwimmen bleiben«, erwiderte Natalie, als sie vor Elles Haus hielten. »Außerdem sind es da drinnen fast dreißig Grad.«

»Ich bade trotzdem lieber in Seen und im Sommer, aber ich bin stolz darauf, dass du so gut bist«, sagte Elle. Der eisige Wind schnitt ihr in die Haut, als sie ausstieg und aufpasste, dass Natalie vorsichtig die spiegelglatte Auffahrt hochging. Sie nahm sich vor, Martín zu bitten, später mehr Salz auszustreuen.

»Oh, lecker!«, rief Natalie, kaum dass sie zur Tür hereinkamen. Auch Elle lief bei dem angenehmen, würzigen Duft, der durchs Haus wehte, das Wasser im Mund zusammen. Sie folgten ihm bis in die Küche, wo Martín gerade Salz aus einer Mühle in den dampfenden Topf auf dem Herd gab. Er trug seine Lieblingsschürze mit dem Blumenaufdruck und kochte seine spezielle Version von Spaghetti mit Fleischbällchen; dabei wurde das Rindfleisch mit kleingehackter Chorizo vermischt und die Sauce mit einer Prise Chili gewürzt. Es war Natalies Lieblingsgericht.

»Hallo, Geburtstagskind!« Martín ließ den Kochlöffel in den Topf fallen und fing Natalie auf, die zu ihm hinrannte und quietschte, als er sie hochhob und fest in die Arme schloss. Nachdem er sich einmal mit ihr um die eigene Achse gedreht hatte, setzte er sie auf die Arbeitsfläche, nahm den Löffel aus

Natalie kostete und riss die Augen weit auf. »Ich finde, das ist Ihr absolutes Meisterwerk, Señor.«

Martín ließ sie wieder herunter und zeigte auf die Besteckschublade. »Ich weiß, du hast Geburtstag, aber könntest du bitte trotzdem den Tisch decken? Deine Mom müsste jeden Moment hier sein.«

Sobald das Mädchen das Besteck herausgenommen und den Raum verlassen hatte, wandte Martín sich lächelnd Elle zu. Seine lockigen schwarzen Haare standen ihm wild vom Kopf ab, weil er sich ständig mit den Händen hindurchfuhr, wenn er nicht gerade bei der Arbeit war und eine OP-Haube trug. Ohne mit dem Rühren aufzuhören, beugte er sich zu Elle und gab ihr liebevoll einen Kuss.

»Riecht toll!« Elle schenkte sich ein Glas Rotwein ein.

»Danke. Wie geht’s dir, mi vida?«, fragte Martín.

Elle musste an den Tag im letzten Jahr denken, an dem er sie zum ersten Mal in Natalies Beisein so genannt hatte, nachdem ihr Spanischunterricht in der Schule begonnen hatte. Elle hatte erst in der Highschool Spanisch gelernt, und Martín konnte schon fließend Englisch, als sie sich kennenlernten, trotzdem hatte sie gleich ihr altes Spanischbuch wieder hervorgekramt, als sie ein Paar wurden. Sie wollte auf keinen Fall etwas von den Gesprächen verpassen, wenn sie seine Familie in Monterrey besuchten, und wegen der vielen Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika, die in Minnesota lebten, kamen ihr die Spanischkenntnisse auch in ihrem Job zugute. Aber in der schicken Privatschule, die Natalie besuchte, fingen die Kinder schon im dritten Schuljahr mit Spanisch an, deshalb hatte Natalie an jenem Abend bereits gewusst, was es bedeutete, als Martín Elle als mi vida bezeichnete.

»Warum nennst du sie ›dein Leben‹?«, hatte sie gefragt. »Weil du ohne sie nicht leben kannst?«

An dem Abend war er besonders romantisch gewesen, aber wenn es um Romantik ging, stellte Martín ohnehin die meisten anderen Männer in den Schatten.

»Elle?« Seine Stimme holte sie zurück in die Gegenwart.

»Mir geht’s gut«, sagte sie, doch sie wusste, dass sie ihm mit ihrem aufgesetzten Lächeln nichts vormachen konnte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass Natalie schon zehn ist. Es kommt mir so vor, als wäre sie gestern noch diese spindeldürre Vierjährige gewesen, die eines Tages aus heiterem Himmel hier vor der Tür stand.« Elle blinzelte ihre Tränen weg und nahm einen Schluck Wein.

Martín legte den Löffel beiseite und zog sie in seine Arme. »Dein Fall geht dir ganz schön an die Nieren, was?«, fragte er und rieb ihr mit kreisförmigen Bewegungen über den Rücken.

Elle verspannte sich. »Es geht mir gut«, beteuerte sie.

Er löste sich ein Stück von ihr und schaute sie an. »Ja, ich weiß.« Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, nickte dann aber nur und wandte sich wieder dem Herd zu.

Als Natalie zurückkam, um Teller zu holen, klingelte es an der Haustür. »Ich geh schon«, sagte Elle.

Sash bibberte, als Elle sie hereinließ. »Mein Gott, ist das kalt!«, rief sie, und Elle schloss die Tür hinter ihr schnell wieder. Sash klopfte ihre Stiefel auf der Matte am Eingang ab, zog sie aus und achtete sorgsam darauf, nicht versehentlich mit ihren Strümpfen in den schmelzenden Schneematsch zu treten.

Sashs große Kreolen glitzerten im Licht, als sie den Kopf in den Nacken legte und loslachte. Nachdem sie ihren Schal abgenommen hatte, zog sie sich die lila Strickmütze vom Kopf und legte beides auf die Bank neben der Tür. Sie hatte ihre Haare frisch abrasiert und nur einen kurzen Flaum stehen gelassen, der ihr elfenhaftes Aussehen betonte. Für eine Unternehmensjuristin war das ein ungewöhnlicher Look; er verführte die Leute oft dazu, sie zu unterschätzen, was es dann nur umso großartiger machte, wenn sie sie vor Gericht vernichtend schlug.

»Das ist super, das muss ich mir merken.«

Elle ging voraus zum Esszimmer. Der Spiegel im Flur erinnerte sie daran, dass sie heute weder geduscht noch einen Gedanken an ihre eigene Frisur verschwendet hatte. Sie hatte sich den ganzen Tag in ihrem Studio eingeschlossen, bis sie irgendwann losfahren musste, um Natalie abzuholen.

»Gibt’s neue Hinweise wegen CK?«, fragte Sash im Flüsterton.

Elle stockte kurz. Außer für ihre Recherchen kam sie nicht viel aus dem Haus, und die meisten Familienmitglieder und Zeugen, die sie für ihren Podcast über den Countdown-Killer interviewte, benutzten nie diesen Begriff.

»Nein, nichts Neues«, sagte sie, den Blick ihrer Freundin erwidernd. »Dazu ist es noch zu früh.«

Sash lächelte. »Ein paar Kollegen haben heute in meinem Meeting über den Fall gesprochen. Das wird bestimmt deine erfolgreichste Staffel von allen.«

Elle nickte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Aber sie schaffte das. All die Fälle, mit denen sie vorher zu tun gehabt hatte, die der Kinder aus Problemfamilien, die sie in ihrer Zeit beim Jugendamt bearbeitet hatte, und die aus den vorangegangenen vier Staffeln des Podcasts, bildeten das Fundament – die Tonleitern, die sie geübt hatte, während sie sich auf etwas Komplexeres vorbereitete. Der Countdown-Killer war ihr Meisterwerk.

»Du siehst blass aus.« Sash hielt sie sanft am Arm fest, bevor sie das Esszimmer betreten konnten. »Verdammt, tut mir leid, Elle. Du bist bestimmt eh schon nervös genug, auch ohne dass ich dir noch sage, welche Tragweite dieser Fall hat.«

»Nein, ist schon okay. Mir war von vorneherein klar, dass der Podcast dadurch mehr Beachtung finden würde. Ich hab bloß das Ausmaß unterschätzt.« Elle schaute ihre beste Freundin an und presste die Fingernägel in ihre Handfläche. »Meine Producerin und ich bekommen jede Menge Kommentare im Netz, und auf unseren Social-Media-Kanälen gehen viele Ideen ein, aber bislang gibt es nichts Konkretes. Ich weiß, ich hab erst vor ein paar Wochen angefangen, aber ich hab schon jetzt das Gefühl, sie zu enttäuschen.«

»Die Mädchen an der Wand«, sagte Sash. Neben Martín war Sash die Einzige, der Elle je erlaubt hatte, ihr Studio im oberen Stockwerk zu betreten. »Du enttäuschst sie nicht, Elle. Du erweist ihnen eine Ehre. Du erzählst ihre Geschichten und

Bevor Elle etwas erwidern konnte, schwang die Tür zum Esszimmer auf, und Natalie streckte den Kopf heraus. »Kommt ihr jetzt, oder was? Ich bin am Verhungern.«

Sash lächelte Elle an, drückte noch einmal ihren Arm und folgte Natalie dann in den Raum, in dem Martín das Essen auftrug.

 

»Wie war dein Geburtstag, mein Schatz?«, fragte Sash und umarmte ihre Tochter.

»Prima. Danke, dass du heute früher von der Arbeit gekommen bist«, sagte Natalie.

»Na klar! Denkst du, ich lasse mir das hier entgehen?« Wenn Elle Sash nicht besser gekannt hätte, wäre ihr der Schatten vielleicht entgangen, der über das Gesicht ihrer besten Freundin huschte. Dass Sash an manchen Abenden lange im Büro blieb, war ein heikles Thema zwischen ihr und Natalie. Aber zu den wichtigen Ereignissen schaffte sie es immer pünktlich, und jetzt, wo Elle ganztägig von zu Hause aus arbeitete, sprang sie gern ein. Bei Schwimmwettbewerben zum Beispiel und wenn Natalie vom Musikunterricht abgeholt werden musste. Hin und wieder begleitete sie sie sogar auf Exkursionen mit der Schule. Im Moment war sie irgendwas zwischen einer sehr engagierten Tante und einer besseren Babysitterin, auch wenn Sash darauf bestand, dass sie eher wie eine zweite Mutter war, die Natalie selbst adoptiert hatte. Aber ganz gleich, wie man ihre Rolle definierte, sie spielte sie wahnsinnig gern.

Sash zog den Stuhl neben Natalie unter dem Tisch hervor und hob die Hände wie ein Conférencier, der die nächste Nummer ansagt. »Liebe Damen, liebe Herren, liebe Gender-Ambivalente: Vor zehn Jahren geschah etwas Außergewöhnliches.« Die weiten Ärmel ihrer Bluse steiften die Tischplatte

Natalie kicherte und schlug die Hände vors Gesicht.

»Ich weiß, dass du es in den ersten Jahren deines Lebens nicht immer leicht hattest, weil wir so oft umgezogen sind. Aber ich bin froh, dass wir jetzt hier sind, und ich freue mich, dass du deinen zehnten Geburtstag heute im Kreis deiner Familie feiern kannst.« Sash schaute in ihre Richtung, aber Elle konnte ihren Gesichtsausdruck durch den Tränenschleier, der ihr plötzlich die Sicht vernebelte, nicht erkennen. Es rührte sie immer noch jedes Mal, wenn Sash ihr zu verstehen gab, dass sie sie als Familienangehörige betrachtete. Von Martín und ihren Schwiegereltern abgesehen, waren Sash und Natalie die einzige Familie, die Elle besaß.

Natalie beugte sich vor und schaute auf das kalt werdende Essen, das vor ihr stand. »Komm schon, Mama, ich hab Hunger.«

Sie lachten alle, und schließlich hob Sash ihr Glas. »Okay, okay. Es kommt noch so weit, dass man als Mutter verklagt wird, weil man am zehnten Geburtstag seiner Tochter eine Rede hält. Auf Natalie!«

»Auf Natalie!«, wiederholten Martín und Elle und erhoben ebenfalls die Weingläser. Sie stießen mit Natalies Cola an und wandten sich dann dem Essen zu.

»Wie war dein Tag, Sash?«, fragte Elle, während sie Pasta auf ihre Gabel drehte.

Sash nippte an ihrem Wein. »Nicht schlecht. Allerdings ist die Firmenfusion, an der ich gerade arbeite, ziemlich nervtötend. Die beiden CEOs tun bei ihren Vorstandssitzungen so, als wäre alles in Butter, dabei kriege ich sie momentan nicht mal mehr an den Verhandlungstisch. Der eine äußert sich irgendwie über den Golfschwung des anderen, und zack, steht

Martín lachte grunzend, weil er den Mund voll Pasta hatte.

»Und wie läuft’s bei dir, Martín?«, fragte Sash. »Was machen die Toten?« Sie betonte seinen Namen richtig, Mar-tien, auf der zweiten Silbe; ihre bequemeren Bekannten machten es sich einfach, indem sie die englische Aussprache wählten.

Er hielt seine Gabel hoch, auf die er eine Cherrytomate gespießt hatte. »Im Moment ganz schön viel Stress. Um die Jahreszeit muss ich mich immer ranhalten, sonst stapeln sich bei mir die Leichen.«

»Martín!«, sagte Elle.

Er hielt die Hände in der klassischen Unschuldspose hoch. »Sorry, aber es ist ja nicht so, als ob die beiden nicht wüssten, was ich tue.«

»Genau, Elle, es ist ja nicht so, als ob ich das nicht wüsste.« Natalie trank von ihrer Cola und grinste. »Ich will auch Leichenbeschauerin werden, wenn ich groß bin.«

Elle schüttelte den Kopf und schielte zu ihrer Freundin hin. Sash hatte ihr vor zwei Wochen anvertraut, Natalie hätte sich auf eine unschuldige Art in Martín verliebt, aber das war zu dem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr zu übersehen gewesen. Vor ungefähr einem Monat hatte Natalie von einem Tag auf den anderen aufgehört, Martín »tío« zu nennen; seither bestand sie darauf, seinen Vornamen zu benutzen, und hing ihm buchstäblich an den Lippen. Sash schob es auf die Pubertät. Elles Master in Kinderpsychologie lag zwar schon ein paar Jahre zurück, aber dass eine Zehnjährige sich in den einzigen erwachsenen Mann verliebte, der ihr nahestand, erschien auch ihr nicht weiter ungewöhnlich.

Obwohl Martín wissen musste, dass Sash und Elle ihn amüsiert beobachteten, ignorierte er die beiden und unterhielt sich angeregt mit Natalie über die Voraussetzungen, die man für seinen Beruf mitbringen musste.

Natalie schob seinen Arm weg und wurde rot. »Das ist schon zwei Jahre her, außerdem hab ich mich tausendmal dafür entschuldigt. Du bist vielleicht eine Memme.«

Martín drückte eine Hand an seine Brust und zog in gespielter Empörung einen Schmollmund. »Cómo te atreves. Aber wahrscheinlich hast du recht. In meinem Metier verblutet niemand, wenn das Skalpell mal an der falschen Stelle angesetzt wird. Ich bin sicher, du kriegst das hin.«

Elle lachte, aber wenn sie ihren Mann so mit Natalie zusammen sah, wurde sie immer auch ein wenig melancholisch. Denn wenn die beiden miteinander flachsten, fiel es schwer, nicht daran zu denken, was für ein toller Vater Martín geworden wäre. Elle hatte Sash in der Phase kennengelernt, als sie und Martín alles versuchten, um ein Baby zu bekommen. Damals waren sie gerade frisch in das neue Haus auf der anderen Straßenseite gezogen, um Platz für die mindestens zwei Kinder zu schaffen, die sie eines Tages zusammen haben wollten. All die blutjungen, fruchtbaren Frauen, mit denen Elle zur Schule gegangen war, schienen – im Gegensatz zu ihr – schon beim bloßen Gedanken an Sex schwanger zu werden. Deshalb hatte sie es als Erleichterung empfunden, dass Sash so offen mit ihren eigenen IVF-Erfahrungen umgegangen war. Sash war nie an Sex oder einer Beziehung interessiert gewesen, hatte aber immer schon Mutter werden wollen und sich deshalb entschieden, den Weg über Reagenzgläser und Injektionen zu gehen. Als Elle ihr von ihren eigenen Fruchtbarkeitsbehandlungen berichtete, hatten sie sich gegenseitig für die albtraumhafte Erfahrung bedauert, mit Hilfe der Wissenschaft

Nachdem sie und Martín es jahrelang vergeblich versucht hatten, konnte Elle ihrem Körper den Stress und die Hormone nicht länger zumuten, und sie waren schließlich übereingekommen, dass sie nicht dazu bestimmt waren, Eltern zu werden. Dass sie Natalie damals schon so nahestanden, hatte diese schmerzhafte Entscheidung zumindest ein bisschen erträglicher gemacht.

»Als angehende Medizinerin musst du aber sehr viel Physik und Chemie lernen. Ist dir das klar, Süße?«, fragte Sash. »Und deine Angst vor Spritzen musst du dann bestimmt auch ablegen.«

Natalie reckte ihr Kinn hoch. »Das kriege ich hin.«

Elle führte ihre Gabel zum Mund, um ihr Lächeln zu verbergen. Natalie gehörte zu den Kindern, die sich ständig für etwas Neues begeisterten. Vor einem halben Jahr hatte sie den Tierschutz für sich entdeckt, nachdem sie auf YouTube über ein entsprechendes Video gestolpert war, und geschworen, nie wieder Fleisch zu essen. Danach verging kein Tag, ohne dass sie über Käfighaltung und Viehtreiberstäbe wetterte. Bis sie dann auf einmal, während Elle nebenan zu Besuch war, mit großem Appetit einen Hamburger verdrückt und sich statt über Tierquälerei über den Klimawandel ereifert hatte. In der Regel ging ihr Interesse alle paar Monate auf ein anderes Thema über, aber eines der Dinge, denen sie dauerhaft treu blieb, war die Religion. Vor ein paar Jahren hatte Natalie von ihrer Schulfreundin eine Bibel geschenkt bekommen, und seitdem gingen die beiden Mädchen fast jeden Sonntag zusammen in die Kirche. Man musste Sash zugutehalten, dass sie, obwohl sie nicht gläubig war, nie versucht hatte, Natalie die Gottesdienste auszureden.

Elle liebte die Leidenschaft, mit der sich das Mädchen in

Dieser Gedanke erinnerte Elle an die Gesichter oben an der Wand ihres Studios, an all die jungen Leben, die ausgelöscht worden waren, und sie lehnte sich unvermittelt zurück. Sie blinzelte, um die Bilder zu vertreiben, die sich in ihre Netzhaut eingebrannt hatten. Dann trank sie einen Schluck Wein und ließ ihren Blick schweifen. Sash und Natalie schienen nichts bemerkt zu haben, aber Martín beobachtete sie und zog fragend eine Augenbraue hoch. Sie nickte kurz und nahm ihre Gabel wieder in die Hand.

Als sie mit dem Essen fertig waren, stand Sash auf, um die leeren Teller abzuräumen.

»Lass mal, Sash, das brauchst du nicht.« Martín stand ebenfalls auf und wollte ihr das Geschirr abnehmen.

»Entspann dich, Martín, ich hab nicht vor, zu spülen oder so. Das kann Natalie machen. Betrachtet es als Ausgleich für das Spritgeld, das ihr ausgebt, um sie überall hinzukarren, während ich bei der Arbeit bin.«

»Hey, meine Gesellschaft ist doch wohl Entschädigung genug«, rief Natalie und warf ihre Zöpfe nach hinten.

Martín brach in lautes Gelächter aus, und Sash sagte in der Küche mahnend den Namen ihrer Tochter. Elle schob die Bilder, die sie im Kopf hatte, beiseite und grinste ebenfalls.

Als sie vom Tisch aufstand, um Sash in der Küche zu helfen, vibrierte das Handy in ihrer Tasche. Elle ging in den Flur und schaute auf das Display. Es gab Dutzende von Nachrichten auf dem Mail-Account ihrer Show. Die Benachrichtigungen

Ich weiß, wer er ist.

Justice Delayed-Podcast

5. Dezember 2019