Jia Tolentino
Trick Mirror
Über das inszenierte Ich
Aus dem amerikanischen Englisch
von Margarita Ruppel
FISCHER E-Books
Jia Tolentino, geboren 1988 in Toronto, wuchs in einem streng religiösen Elternhaus in Texas auf und studierte Literatur sowie Kreatives Schreiben an den Universitäten von Virginia und Michigan. Eigenen Aussagen zufolge ist sie seit ihrem zehnten Lebensjahr internetsüchtig – heute beschäftigt sie sich mit den Auswirkungen unserer Web-Besessenheit auf die Realität und den Zeitgeist. Sie schreibt als Kulturkritikerin für den »New Yorker« und lebt in Brooklyn. »Trick Mirror« ist ihr erstes, hymnisch besprochenes Buch.
Margarita Ruppel, geboren 1988, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Sie hat Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität studiert und übersetzt seitdem literarische Werke aus dem Englischen und Spanischen ins Deutsche.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Die mutige, spielerische Essaysammlung einer extrem talentierten Autorin.« The Guardian
Jia Tolentino ist die Stimme ihrer Generation. Sie setzt sich schonungslos mit den Konflikten, Widersprüchen und Veränderungen auseinander, die uns und unsere Zeit prägen. In ihrer rasanten Essaysammlung, die von Schärfe, Witz und Furchtlosigkeit getragen wird, geht sie den Kräften nach, die unseren Blick verzerren, und stellt dabei ihre unvergleichliche stilistische Brillanz und kritische Begabung unter Beweis. Ein unvergesslicher Trip durch die Selbsttäuschungen des Internetzeitalters und die Schwierigkeiten, sich in einer Kultur, die sich um das »Ich« dreht, klar zu sehen. Tolentino schreibt über den Albtraum des sozialen Internets, über den Betrug als Ethos der Millennials, über den bittersüßen Traum von der Selbstoptimierung. Ein intellektuell ungezügelter Ritt durch den Zeitgeist und schon jetzt ein Klassiker des bisher furchtbarsten Jahrzehnts – für alle, die sich fragen, wie eine internetgeschädigte Susan Sontag geschrieben hätte.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2019 im Verlag Random House, Penguin Random House, New York
unter dem Titel »Trick Mirror. Reflections on Self-Delusion«
© Jia Tolentino 2019
Für die deutsche Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491328-5
»Die Susan Sontag der Millennials, eine brillante Stimme der Kulturkritik … Sie bleibt ihren Themen verpflichtet, sogar wenn sie sich am Kopf kratzt und fragt, warum wir tun, was wir tun. Noch besser: Ihr Stil ist ein Traum.« The Washington Post
»Klug, ehrlich, unterhaltsam – I love it.« Olivia Wenzel
»Es ist einfach, so über die Dinge zu schreiben, wie man sie gerne hätte – oder so, wie andere behaupten, wie sie seien. Es ist viel schwieriger, selbst nachzudenken, und sich dabei so wenig wie möglich selbst zu täuschen … Tolentino ist es in Trick Mirror gelungen, viele unangenehme Wahrheiten zur Sprache zu bringen – und das in beneidenswertem Stil. Ein brillantes, herausforderndes Buch, dessen Lektüre vielen von uns den Spiegel vorhält. Es hat mir Hoffnung gegeben.« Zadie Smith
»Sie schreibt mit einer unnachahmlichen Mischung aus Kraft, Poesie und vom Internet geschliffenem Humor. Sie ist die einzige Autorin, die ich kenne, die Meme-Speech in ihre Prosa einflechten kann, ohne das Gesicht zu verlieren.« New York Times
»Ein ganz grandioses Buch – jedem zu empfehlen! Nach der Lektüre habe ich einmal mehr verstanden, was bei meinen Konzerten in mir vorgeht, und warum es passiert.« Igor Levit
»Jia Tolentino ist die beste junge Essayistin der USA, eine, die ich von Anfang an bewundert und von der ich stets gelernt habe, und ich war begeistert, mit Trick Mirror ganz viel von ihr auf einmal zu bekommen … Überall in diesem Buch leuchten einzelne Sätze wie Blitze, die Vertrautes auf verblüffende Weise darstellen, aber sie baut auch weitreichende Argumente auf, mit ihrer gewohnt ungewohnten Mischung aus Poesie und Skepsis.« Rebecca Solnit
»Es ist nicht hyperbolisch zu behaupten, dass die New-Yorker-Journalistin Jia Tolentino die Joan Didion unserer Zeit sein könnte. Sie schreibt mit Leichtigkeit und Klarsicht über Feminismus, Vaping, Popmusik, Religion und sexuelle Belästigung … Sie ist Expertin für den Sweet Spot, an dem sich zeitgenössische Politik und Jugendkultur treffen, um rumzumachen.« Vulture
»Es gibt nicht genug Adjektive, um zu beschreiben wie unwahrscheinlich gut Jia Tolentinos Essays sind.« Juan S. Guse
»Ich ertappe mich dabei, auf Autor*innen zu lauschen, denen es noch immer gelingt, von einem Ort eigenartiger Innerlichkeit aus zu sprechen, und die ihren Instinkten dabei ebenso folgen wie irgendwelchem Geplapper. Eine der besten von ihnen ist Jia Tolentino. Wenn etwas Abgefahrenes in der soziokulturellen Sphäre passiert, frage ich mich mittlerweile sofort, was sie darüber sagen würde.« John Jeremiah Sullivan
»Die mutige, spielerische Essaysammlung einer extrem talentierten Autorin.« The Guardian
»Trick Mirror ist ein unglaublich elektrisierendes Buch, voll weitsichtiger Beobachtungen und brillanter Reflexionen. Jeder der darin versammelten Essays kommt der Gegenwart so nahe, dass man ihn immer wieder lesen möchte. Meine Verehrung für Jia Tolentino kennt eigentlich keine Grenzen.« Daniel Schreiber
»Ich vergöttere Jia Tolentino, die zweifelsohne die schärfste, pointierteste lebende Kulturkritikerin ist. Jia ist ein echtes Genie, so verdammt witzig, dass es absurd ist, und mit der unübertroffenen Fähigkeit gesegnet, an den Störgeräuschen vorbei mitten ins Herz einer Sache zu navigieren.« Samantha Irby
»Die mutige, unerschrockene Essaysammlung der gefeierten Kulturkritikerin des New Yorker nimmt alles von der betrügerischen ›Scammer‹-Kultur bis hin zu Reality-TV unter die Lupe. Tolentino gehört zu den besten Essayist*innen unserer Zeit: Sie seziert die Schwachstellen, die unser modernes Leben antreiben, mit Witz, Scharfsinn und Empathie.« Esquire
»Es war in den letzten Jahren ein Trost zu wissen, dass, egal was passierte, Jia Tolentino darüber schreiben würde, mit klarem Auge und ruhiger Hand, mit schnellem Verstand und gewissenhaft; stilistisch eine der besten ihrer Generation.« Patricia Lockwood
»In ihren klugen Essays verknüpft Jia Tolentino einen zutiefst persönlichen Blick mit kulturkritischer Reflexion. Sie gehört zu den großen Essayistinnen unserer Gegenwart.« Berit Glanz
»Wieder und wieder präsentiert Tolentino eine befriedigend scharfsinnige Einsicht, nur um dann an ihr vorbeizuschießen und sich zu fragen, inwiefern sie so vielleicht etwas anderes verschleiert … Ihr Bewusstsein für unsere Fähigkeit zur Selbsttäuschung ist genau das, was sie zu einer hellsichtigen Beobachterin unserer Gegenwart macht.« Elle
»Jia Tolentino legt den Finger in die Wunde, welche das ursprüngliche Freiheitsversprechen des Internets aufgerissen hat. Sie spürt gekonnt der Frage nach, wie ein authentisches Selbst heutzutage eigentlich gelebt werden kann – oder ob es uns schon längst zwischen Selbstoptimierung und Klicks verlorenging.« Anne Wizorek
»Überwältigend weitreichende Essays« Vanity Fair
»Jia Tolentino lesen ist wie eine Unterhaltung mit einer sehr klugen Freundin. Erst lacht man, dann erkennt man sich in ihren Erzählungen wieder, und am Ende weiß man, dass alles anders ist, als es scheint.« Emilia von Senger
»Tolentino bietet uns eine extrem fundierte Millennial-Perspektive, die ihre relative Jugend intellektuell überflügelt. Sie lässt aktuelle Bewegungen in einem neuen Licht erscheinen, ähnlich wie eine Joan Didion in den 1960er und 1970er Jahren. Aufregende, bahnbrechende Essays, die Tolentino als die zentrale Stimme ihrer Generation etablieren sollten.« Kirkus
»Wenn Jia Tolentino über Ecstasy, überteuerten Salat und Social Media schreibt, haben wir ganz sicher etwas gelernt: über Sexismus, Kapitalismus, Klassizismus oder Rassismus zum Beispiel. Als eine der scharfsinnigsten Beobachterinnen unserer Zeit demaskiert Jia Tolentino in ihrer Essay-Sammlung nicht nur sich selbst, sondern eine ganze Gesellschaft. Dabei wechselt sie so dermaßen geschickt zwischen Persönlichem und Politischem, dass ihre Systemkritik zur reinsten Wonne wird.« Nike van Dinther
»In Trick Mirror bebt Jia Tolentinos Denken vor kraftvoller, elektrisierender Poetik. Ihr Geist ist von Präzision und Mitgefühl gleichermaßen belebt. So sehr sie von der Welt abgestoßen ist, so sehr ist sie in sie verliebt. Ihre Wahrheiten sind vertrackt, aber ihre Stimme ist klar genug, um mit ihnen fertigzuwerden. Sie steckt immer mittendrin und weiß, dass es uns genauso geht. Ihr Intellekt ist unbeugsam und lebendig – in jedem dieser Essays schlägt ein Herz.« Leslie Jamison
Für meine Eltern
Ich habe dieses Buch zwischen Frühjahr 2017 und Herbst 2018 geschrieben – in einer Zeit, in der sich die amerikanische Identität, Kultur, Technologie, Politik und ihr Diskurs in einer unerträglichen Supernova immer weiter eskalierender Konflikte vereinigten; einer Phase, in der das tägliche Leben uns zugleich wie ein feststeckender Fahrstuhl und eine endlose Achterbahnfahrt erschien; als wir alle ständig dachten, es könne nicht mehr schlimmer kommen, es aber dann, natürlich, doch noch schlimmer kam.
In dieser Zeit stellte ich fest, dass ich kaum einem meiner Gedanken trauen konnte. Zweifel, die schon immer in meinem Hinterkopf gelauert hatten, verstärkten sich: Jegliche Schlussfolgerungen, die ich über mich, mein Leben und mein Umfeld ziehe, sind mit gleicher Wahrscheinlichkeit schreiend falsch oder eben richtig. Es fällt mir schwer, diesen Verdacht genauer zu beschreiben, weil ich ihn in der Regel durchs Schreiben aus dem Weg räume. Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft vertrauenswürdig, intuitiv und klar.
Gerade wegen dieser Angewohnheit – oder dieses Zwangs – glaube ich, dass ich mir selbst etwas vormache. Wäre ich tatsächlich so mit mir im Reinen, wie es auf dem Papier scheint, warum müsste ich dann jedes Mal ein Narrativ raushauen, um dorthin zu gelangen? Ich redete mir ein, dass ich dieses Buch schrieb, weil ich nach den Wahlen verwirrt war, weil Verwirrung meinem Naturell widerstrebt, und weil das Schreiben meine einzige Strategie gegen diesen Konflikt ist. Ich bin von dieser Geschichte überzeugt, obwohl ich auch ihre Kehrseite erkenne: Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich andauernd verwirrt bin, mir keiner Sache sicher sein kann und mich von jeglichem Mechanismus angezogen fühle, der mich von dieser Wahrheit ablenkt. Das Schreiben bringt mich entweder dazu, meine Selbsttäuschungen abzuschütteln oder sie weiterzuentwickeln. Ein eingeübtes, schlüssiges Narrativ erweist sich meistens als fragwürdig: dass eine Person nicht »auf Drama steht« oder dass Amerika wieder great gemacht werden muss oder dass Amerika sowieso schon great ist.
Die Essays in diesem Band handeln von den Bereichen der öffentlichen Wahrnehmung, die mein Verständnis von mir selbst, von diesem Land und dieser Epoche geprägt haben. Einer dreht sich um das Internet. Ein anderer um Selbstoptimierung, den Aufstieg von Athleisure zum fetischisierten Lieblingsmodetrend des Spätkapitalismus und die endlos zunehmenden Anwendungsfelder der Vorstellung, weibliche Körper müssten ihre Marktperformance im Laufe der Zeit steigern. Ein Essay handelt von Drogen und Religion, und der Brücke, die Ekstase zwischen beiden schlägt; ein anderer erklärt Scamming, also Leute verarschen und abzocken, zum maßgeblichen Modus Operandi der Millennials; und ich schreibe über die Entwicklung der literarischen Heldin vom tapferen Mädchen über die depressive Jugendliche bis hin zur verbitterten Erwachsenen, die womöglich tot ist. In einem Essay geht es um meinen Auftritt in einer Reality-TV-Show als Teenie. In einem anderen um Sex, ethnische Herkunft und Macht an der University of Virginia, meiner Alma Mater, wo eine Reihe überzeugender Geschichten enorme versteckte Kosten mit sich brachte. In den beiden letzten geht es um die obsessive feministische Auseinandersetzung mit »schwierigen« Frauen und darum, wie mich die gefühlt Tausenden von Hochzeiten, auf denen ich in meinen Zwanzigern jedes Jahr war, schleichend in den Wahnsinn getrieben haben. Das sind die Prismen, durch die hindurch ich mich selbst kennengelernt habe. In diesem Buch habe ich versucht, die durch sie verursachten Brechungen aufzuheben. Ich wollte sehen, wie man beim Blick in den Spiegel sieht. Kann sein, dass ich stattdessen ein hochkompliziertes Wandgemälde erschaffen habe.
Aber das macht nichts. Die letzten Jahre haben mich gelehrt, mein Bedürfnis nach einem endgültigen Fazit zurückzustellen, nichts als gegeben hinzunehmen, alles ständig zu hinterfragen und in erster Linie zu hoffen, dass sich im Laufe der Zeit kleine Wahrheiten auftun würden. Während ich an diesem Buch schrieb, postete jemand auf Twitter einen Auszug aus einem Artikel, den ich 2015 auf Jezebel veröffentlicht hatte, und hob einen Satz hervor, in dem es darum geht, was Frauen von feministischen Webseiten zu erwarten scheinen – einen »Trickspiegel, der sowohl die Illusion von Makellosigkeit als auch die Option der Selbstgeißelung in nie endender Fehlersuche bereithält«. Ich hatte diese Formulierung nicht mehr im Kopf, als ich mir den Buchtitel ausdachte, und ich hatte, als ich den Jezebel-Artikel schrieb, noch nicht begriffen, dass in diesem Satz die Antwort auf eine persönlichere Frage steckte. Ich erkannte, dass ich mir schon mein ganzes Leben lang selbst Brotkrumen hinterließ. Es spielte keine Rolle, dass ich nicht immer genau wusste, wohin mein Weg mich führte. Der Versuch, klar zu sehen, war es an sich wert, sagte ich mir, selbst wenn es Jahre dauern sollte zu verstehen, was ich da eigentlich zu sehen versuchte.
Am Anfang schien das Internet etwas Gutes zu sein. »Ich habe mich auf Anhieb ins Internet verliebt, gleich beim ersten Mal, als ich an den Computer im Büro meines Vaters durfte und dachte, das ist das ALLERCOOLSTE«, schrieb ich mit zehn Jahren auf einer Angelfire-Seite mit dem Titel »Wie Jia internetsüchtig wurde«. In einem Textfeld, das von einem scheußlichen, violetten Hintergrund überlagert wurde, schrieb ich weiter:
Aber das war in der dritten Klasse, und ich schaute mir nichts anderes als Beanie-Baby-Seiten an. Auf unserem alten, popeligen Computer zu Hause hatten wir kein Internet. Sogar AOL schien wie ein unerreichbarer Traum. Dann bekamen wir in den Osterferien ’99 einen Computer auf dem neusten Stand, und der hatte natürlich das ganze Demo-Zeug drauf. Also hatte ich endlich AOL und war total begeistert von meinem eigenen Profil, den Chats und Instant Messaging!!
Dann, steht da, entdeckte ich persönliche Webseiten. (»Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus!«) Ich lernte HTML und »kleine Javascript-Kniffe«. Ich bastelte beim Einsteiger-Webhoster Expage eine eigene Seite, die ich zuerst in Pastelltönen hielt und später doch lieber in ein »Sternenhimmelmotiv« kleidete. Dann ging mir der Speicherplatz aus, also »beschloss ich, zu Angelfire zu wechseln. Wow.« Ich lernte, eigene Graphiken zu erstellen. »Das alles passierte in vier Monaten«, schrieb ich, begeistert, wie schnell ich mich als zehnjährige Internetbürgerin weiterentwickelte. Ich hatte kurz zuvor die Seiten besucht, die mich anfangs inspiriert hatten, und festgestellt, »wie peinlich es war, auf so was abzufahren«.
Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass ich gewissermaßen schon vor zwei Jahrzehnten angefangen habe, diesen Essay zu schreiben, oder dass ich diese Angelfire-Seite erstellt habe, die ich auf der Suche nach meinen frühen Spuren im Internet fand. Jetzt ist von ihr nur noch das Skelett übrig: Auf der Startseite – betitelt mit »THE VERY BEST« – befinden sich ein sepiagetöntes Foto von Andie aus Dawson’s Creek und ein toter Link zu der neuen Seite »THE FROSTED FIELD«, die »BESSER!« sei. Da gibt es noch eine Seite, die einem blinkenden Maus-GIF namens Susie gewidmet ist, und eine »Cool Lyrics Page« zum Herunterscrollen mit den Songtexten zu Smash Mouths »All Star«, Shania Twains »Man! I Feel Like a Woman!« und dem TLC-Disstrack von Sporty Thievz, »No Pigeons«. Auf der FAQ-Seite – ja, es gab eine FAQ-Seite – erkläre ich, dass ich den Bereich mit der veränderbaren Cartoonpuppe hatte abschalten müssen, weil »die Nachfrage riesig gewesen« sei.
Anscheinend habe ich diese Angelfire-Seite nur wenige Monate im Jahr 1999 genutzt, gleich nachdem meine Eltern den Computer gekauft hatten. Auf meiner hirnrissigen FAQ-Seite steht, dass die Seite im Juni online ging, und eine als »Tagebuch« betitelte Seite – auf der verkündet wird, dass ich »völlig offen über mein Leben reden werde, wobei ich aber auch nicht zu tief in meine persönlichen Gedanken gehen will« – enthält nur Einträge vom Oktober. Einer beginnt so: »Es ist so HEIß draußen, und ich weiß nicht, wie oft mir schon Eicheln auf den Kopf gefallen sind, vielleicht aus Erschöpfung.« Weiter unten schreibe ich fast schon prophetisch: »Ich drehe noch durch! Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes süchtig nach dem Netz!«
1999 fühlte es sich noch anders an, den ganzen Tag im Internet zu verbringen. Das galt für jede und jeden, nicht nur für Zehnjährige: Es waren die Zeiten von e-m@il für Dich, in denen einer im Netz scheinbar nichts Schlimmeres passieren konnte, als sich in ihren Geschäftskonkurrenten zu verlieben. In den 1980er und 1990er Jahren tummelten sich die Leute in offenen Foren wie Schmetterlinge, angezogen von den Pfützen und Blüten der Neugier und Expertise anderer. In selbstregulierten Newsgruppen wie Usenet fanden lebendige und relativ zivilisierte Diskussionen über die Erkundung des Weltraums, Meteorologie, Rezepte oder rare Alben statt. Die Nutzer*innen gaben einander Ratschläge, beantworteten Fragen, schlossen Freundschaft und fragten sich, was aus diesem neuen Internet wohl werden würde.
Da es nur wenige Suchmaschinen und keine zentralisierten sozialen Plattformen gab, spielte sich die Entdeckung des frühen Internets hauptsächlich in den eigenen vier Wänden ab und wurde mit einsamem Vergnügen belohnt. Ein Buch von 1995 mit dem Titel You Can Surf the Net! hatte Seiten gelistet, auf denen man Filmkritiken lesen oder sich mit Kampfkunst beschäftigen konnte. Es hielt die Leser*innen dazu an, die grundlegende Etikette zu befolgen (nicht nur in Großbuchstaben schreiben; nicht die kostbare Bandbreite anderer Menschen durch überlange Beiträge verschwenden), und ermutigte sie, es sich in dieser neuen Welt bequem zu machen (»Keine Sorge«, riet der Autor, »Sie müssen es sich schon richtig verscherzen, um gegrillt zu werden.«). Etwa zu dieser Zeit trat GeoCities auf den Plan – als Hoster für persönliche Webseiten von Vätern, die ihren eigenen digitalen Golfplatz bestückten, oder Kindern, die glitzernde, blinkende Schreine für Tolkien, Ricky Martin oder Einhörner bastelten, meist mit einem primitiven Gästebuch und einem grünschwarzen Besucherzähler am unteren Ende. GeoCities war wie das Internet selbst plump, hässlich, nur halb funktionstüchtig und in Nachbarschaften organisiert: Es gab /area51/ für Sci-Fi, /westhollywood/ für die queere Community, /enchantedforest/ für Kinder oder /petsburgh/ für Haustiere. Abseits von GeoCities konnte man auch auf anderen Straßen in diesem immer weiter wachsenden Dorf der Kuriositäten wandeln. Man konnte durch Expage oder Angelfire schlendern, wie ich es tat, und auf der Durchgangsstraße bei den tanzenden, kleinen Comichamstern eine Pause einlegen. Eine neue Ästhetik entstand – blinkender Text, primitive Animationen. Fand man etwas, das einem gefiel, und wollte man mehr Zeit in einer dieser Nachbarschaften verbringen, dann konnte man sich sein eigenes Haus aus HTML-Frames bauen und es nach und nach dekorieren.
Diese Phase des Internets wird heute als Web 1.0 bezeichnet – eine retrospektive Ableitung des Begriffs Web 2.0, der von der Autorin und User-Experience-Designerin Darcy DiNucci in ihrem 1999 veröffentlichten Artikel »Fragmented Future« geprägt wurde. »Das Internet, das wir kennen«, schrieb sie, »das sich in einem vorwiegend statischen Browserfenster in Bildschirmgröße aufbaut, ist nur ein Embryo verglichen mit dem, was noch kommen wird. Die ersten Schimmer des Web 2.0 zeigen sich bereits […]. Das Internet wird nicht länger als bildschirmweise Abfolge von Text und Graphiken verstanden werden, sondern als Transportmechanismus, als Ether, durch den sich Interaktivität vollzieht.« Im Web 2.0, prophezeite sie, würden die Strukturen dynamisch sein: Anstelle von Häusern wären Webseiten Portale, durch die ein sich stetig verändernder Strom von Aktivitäten – Statusupdates, Fotos – gezeigt werden könne. Was man im Internet tat, würde sich mit dem verbinden, was alle anderen taten, und die Dinge, die anderen Menschen gefielen, würden einem selbst angezeigt. Plattformen des Webs 2.0 wie Blogger und Myspace erlaubten es auch den Menschen, die zuvor nur vom Rand aus zugesehen hatten, von nun an ihre eigene personalisierte und sich ständig wandelnde Szenerie zu gestalten. Während immer mehr Menschen ihre Existenz digital registrierten, wurde aus dem Zeitvertreib ein Zwang: Man musste sich digital registrieren, um zu existieren.
In der New-Yorker-Ausgabe vom November 2000 porträtierte Rebecca Mead die Blogger-Pionierin Meg Hourihan, bekannt unter dem Namen Megnut. In den vorangegangenen achtzehn Monaten allein sei die Zahl der »Weblogs« von fünfzig auf mehrere Tausend gestiegen, so Mead, und Blogs wie der von Megnut zögen täglich Tausende Besucher*innen an. Dieses neue Internet sei sozial (»ein Blog besteht hauptsächlich aus Links zu anderen Webseiten und Kommentaren zu diesen Links«), insofern es sich um individuelle Identität drehe (Megnuts Leser*innen wussten, dass sie sich wünschte, es würde bessere Fisch-Tacos in San Francisco geben, dass sie Feministin war und eine enge Beziehung zu ihrer Mutter hatte). Die Blogwelt sei auch voll von Gegenleistungen, die widerhallten und sich gegenseitig immer weiter verstärkten. Das »Hauptpublikum von Blogs sind andere Blogger*innen«, erklärte Mead. »[W]enn jemand den eigenen Blog bloggt«, so verlange es die Etikette, »dann bloggt man dessen Blog zurück«.
Durch den Aufstieg des Bloggens wurde aus dem persönlichen Leben ein Allgemeingut und soziale Anreize – gemocht zu werden, gesehen zu werden – verwandelten sich in wirtschaftliche. Die Mechanismen der Online-Entblößung wirkten allmählich wie eine geeignete Grundlage für eine Karriere. Hourihan gründete Blogger gemeinsam mit Evan Williams, der später Mitbegründer von Twitter wurde. JenniCam, gegründet 1996 von der Studentin Jennifer Ringley, die Webcam-Bilder aus ihrem Wohnheimzimmer postete, brachte es auf bis zu vier Millionen Besucher*innen am Tag, von denen manche ein Abonnement bezahlten, um die Bilder schneller laden zu können. Das Internet wurde mit seinem Versprechen, ein potenziell grenzenloses Publikum zu erreichen, immer mehr zum natürlichen Habitat der Selbstdarstellung. Megnuts Freund, der Blogger Jason Kottke, fragte sich in einem seiner Blogeinträge mal, warum er seine Gedanken nicht einfach nur für sich aufschrieb. »Irgendwie kommt mir das aber komisch vor«, schrieb er. »Das Netz ist der richtige Ort, um seine Gedanken und Gefühle und so was auszudrücken. Das woanders zu tun, kommt mir absurd vor.«
Mit jedem Tag waren mehr Menschen seiner Meinung. Der Lockruf der Selbstdarstellung verwandelte das Dorf Internet in eine Stadt, die sich im Zeitraffer ausbreitete, während sich soziale Verbindungen neuronenartig in alle Richtungen vernetzen konnten. Mit zehn klickte ich mich durch einen Webring, um mir andere Angelfire-Seiten voller Tier-GIFs und Fan-Trivia über Smash Mouth reinzuziehen. Mit zwölf schrieb ich täglich 500 Worte in ein öffentliches Online-Tagebuch. Mit fünfzehn lud ich Fotos von mir im Minirock auf Myspace hoch. Mit 25 war es mein Job, Posts zu schreiben, die idealerweise hunderttausend Klicks generierten. Nun bin ich dreißig, und ein Großteil meines Lebens lässt sich nicht mehr trennen vom Internet und seinem Wirrwarr unablässigen, erzwungenen Verbundenseins – dieser fieberhaften, elektronischen, unerträglichen Hölle.
Wie schon beim Übergang vom Web 1.0 zum Web 2.0 vollzog sich die Entwicklung hin zum sozialen Internet erst schleichend und dann schlagartig. Der Wendepunkt ereignete sich vermutlich 2012. Das Internet war nicht mehr so aufregend wie zu Anfang, und neue Gemeinplätze machten sich breit. Facebook war langweilig, trivial, ermüdend geworden. Instagram erschien besser, sollte sich jedoch schon bald als Affenzirkus entpuppen, in dem sich Glück, Popularität und Erfolg eine Bühne teilten. Twitter wurde, all den diskursiven Versprechungen zum Trotz, hauptsächlich genutzt, um sich über Fluggesellschaften zu beschweren oder über Artikel auszukotzen, die eigens geschrieben worden waren, damit sich Leute darüber auskotzten. Der Traum von einem besseren, wahrhaftigeren Ich im Internet glitt davon. Während wir früher die Freiheit hatten, online wir selbst zu sein, waren wir nun online an uns selbst gekettet, und das machte uns unsicher. Plattformen, die einst Kontakt versprochen hatten, führten tatsächlich zu massenhafter Entfremdung. Die Freiheit, die das Internet versprochen hatte, vermittelte immer mehr den Eindruck, vor allem Potenzial für Missbrauch in sich zu bergen.
Aber auch als wir im Internet zunehmend traurig und verbittert wurden, verlor die Illusion vom besseren Online-Ich nicht an Glanz. Als Medium zeichnet sich das Internet durch einen eingebauten Handlungsanreiz aus. Im echten Leben kann man herumlaufen, sein Leben leben und dabei von anderen gesehen werden. Man kann jedoch nicht einfach so im Internet herumlaufen und dabei von anderen gesehen werden – damit einen jemand sieht, muss man handeln. Man muss kommunizieren, um eine Internetpräsenz aufrechtzuerhalten. Und da die wichtigsten Plattformen um persönliche Profile herum organisiert sind, kann man den Eindruck gewinnen – zunächst auf einer mechanischen Ebene und später in Form eines einprogrammierten Instinkts –, dass der wesentliche Zweck dieser Kommunikation darin besteht, sich selbst gut darzustellen. Online-Belohnungsmechanismen schreien danach, als Ersatz für die der Offline-Welt zu dienen, und überlagern diese dann. Deshalb versucht jede und jeder, so sexy und weitgereist auf Instagram auszusehen; deshalb erscheint jede und jeder so selbstgefällig und erfolgreich auf Facebook; deshalb kommt eine rechtschaffene politische Aussage auf Twitter mittlerweile für viele Menschen schon einem politischen Gut an sich gleich.
Diese Praxis wird oft als virtue signaling, als »Tugendprotzerei« bezeichnet, und zwar meistens von Konservativen, um Linke zu kritisieren. Virtue signaling ist jedoch eine parteiübergreifende, ja apolitische Handlung. Twitter wird von dramatischen Treueschwüren gegenüber dem Zweiten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika überrannt, der das Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen schützt – eine Form der Tugendprotzerei unter Rechten. Eine Art virtue signaling ist es auch, wenn Menschen nach dem Tod einer berühmten Persönlichkeit die Suizidhotline posten. Nur wenige von uns sind völlig immun gegen diese Verhaltensweise, da sie sich mit dem echten Bedürfnis nach politischer Integrität überschneidet. Fotos von einer Demonstration gegen die Trennung von Familien an der Grenze zu posten, wie ich es getan habe, während ich dies schrieb, ist eine Handlung von mikroskopisch kleiner Tragweite, ein Ausdruck wahrer Prinzipien und genauso, unbestreitbar, ein Versuch, zu demonstrieren, dass ich eine von den Guten bin.
Auf die Spitze getrieben, hat die Tugendprotzerei einige Linke zu einem wirklich gestörten Verhalten bewegt. Ein legendärer Fall ereignete sich im Juni 2016, nachdem ein Zweijähriger in einem Disney-Resort getötet wurde – von einem Alligator erwischt, während er in einer Lagune spielte, in der Schwimmen verboten war. Eine Frau, die mit Posts über soziale Gerechtigkeit bereits zehntausend Twitter-Follower hinter sich versammelt hatte, erkannte ihre Chance und twitterte eindrucksvoll: »Habe die Privilegien des weißen Mannes so satt, dass ich echt nicht um einen 2-J trauere, der von einem Kroko gefressen wurde, weil sein Daddy Schilder ignoriert hat.« (Daraufhin wurde sie von Menschen an den Pranger gestellt, die ihre eigene moralische Überlegenheit durch Spott demonstrieren wollten – genauso wie ich hier.) Ein ähnlicher Tweet machte Anfang 2018 die Runde, nachdem eine niedliche Geschichte viral gegangen war: Ein großer, weißer Seevogel namens Nigel war neben einer Vogelattrappe aus Beton, die er jahrelang angeschmachtet hatte, gestorben. Eine aufgebrachte Frau twitterte: »Nicht mal Betonvögel schulden dir Zuneigung, Nigel«. In einem langen Facebook-Post erklärte sie außerdem, Nigels Werben um die Vogelattrappe veranschauliche die … Vergewaltigungskultur. »Ich stelle mich gerne zur Verfügung, aus feministischer Perspektive über den gar nicht tragischen Tod des Tölpels Nigel zu schreiben, wenn mich jemand dafür bezahlen möchte«, fügte sie unter ihrem ursprünglichen Tweet hinzu, der mehr als tausend Likes erhielt. Diese wahnwitzigen Meinungsäußerungen und ihre haarsträubende Verbindung zu Monetarisierungsformen im Internet machen deutlich, dass es in unserer Welt – digital vermittelt, gänzlich getrieben vom Kapitalismus – einfach ist, über Moral zu sprechen, während das tatsächliche moralische Handeln immer schwieriger wird. Niemand würde eine Nachrichtenmeldung über ein totes Kleinkind als Aufhänger für eine Tirade gegen die Privilegien von Weißen nutzen, würden wir nicht in einer Gesellschaft leben, in der der Diskurs über Rechtschaffenheit die öffentliche Aufmerksamkeit weitaus mehr beschäftigt als die Bedingungen, die Rechtschaffenheit überhaupt erst ermöglichen.
In der rechten Szene hat die Zurschaustellung politischer Identität im Internet noch wildere Formen angenommen. 2017 inszenierte die Social-Media-erfahrene, konservative Jugendgruppierung Turning Point USA an der Kent State University eine Protestaktion, in der ein Student in Windeln demonstrieren wollte, dass »safe spaces etwas für Babys« seien. (Es ging viral, aber anders, als TPUSA es beabsichtigt hatte – der Protest wurde von allen Seiten niedergemacht. Ein Twitter-Nutzer klatschte das Logo der Pornoseite Brazzers auf das Foto des Windeltypen und der Campus-Koordinator der Universität trat zurück.) Sie ist auch weitaus folgenreicher gewesen, beginnend mit einer Kampagne im Jahr 2014, die für rechten Netzaktivismus beispielhaft wurde. Damals fand sich eine große Gruppe junger Frauenhasser zu einem Ereignis zusammen, das heute als »Gamergate« bekannt ist.
Anlass war angeblich eine Spieldesignerin, der nachgesagt wurde, für gute Publicity mit einem Journalisten geschlafen zu haben. Sie und einige feministische Spielkritikerinnen und Journalistinnen wurden schikaniert und erhielten eine Flut von Vergewaltigungs- und Morddrohungen – all das im Dienste der Redefreiheit und der »Ethik im Spielejournalismus«. Die Gamergater – von Deadspin auf etwa zehntausend Personen geschätzt – stritten diese Angriffe größtenteils ab, sie hatten entweder böswillig Dinge nachgeplappert oder sich selbst vorgemacht, dass es beim Gamergate tatsächlich um hehre Ziele ging. Gawker Media, Deadspins Mutterkonzern, wurde selbst zur Zielscheibe, zum Teil aufgrund seiner aggressiven Verurteilung der Gamergater: Das Unternehmen büßte einen Umsatz in siebenstelliger Höhe ein, nachdem seine Werbepartner zwischen die Räder geraten waren.
2016 schaffte es ein ähnliches Fiasko als »Pizzagate« in die landesweiten Nachrichten. Ein paar übereifrige Exemplare der Spezies Internetbewohner*in hatten angeblich verschlüsselte Botschaften über Kindersexsklaverei in der Werbung eines Pizzarestaurants gefunden, das mit Hilary Clintons Kampagne in Verbindung stand. Diese Theorie verbreitete sich online im gesamten Rechtsaußenspektrum und führte zu einem großangelegten Angriff auf die Comet Ping Pong Pizzeria in Washington, D.C., und auf jeden, der mit ihr in Verbindung stand – alles im Namen des Kampfes gegen Pädophilie –, was darin gipfelte, dass ein Mann in das Restaurant spazierte und um sich schoss. (Später sprang dieselbe Fraktion dann Roy Moore zur Seite, dem republikanischen Kandidaten für den Senat, dem sexuelle Übergriffe auf Minderjährige vorgeworfen wurden.) Die politisch überbewusste Linke kann nur von der Fähigkeit träumen, den Sinn für Rechtschaffenheit so zu instrumentalisieren. Selbst die militante antifaschistische Bewegung, bekannt als Antifa, wird gemeinhin von der liberalen Mitte ausgegrenzt, obwohl sie in einer langen europäischen Tradition des Widerstands gegen die Nazis verwurzelt ist und nicht in einer neuerlichen Mischung aus radikal paranoiden Foren und YouTube-Kanälen. Die Weltanschauung der Gamergater und Pizzagater wurde durch die Wahlen 2016 in die Realität umgesetzt und zu einem Großteil bestärkt – ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die schlimmsten Seiten des Internets nun zu den schlimmsten Seiten des Offline-Lebens führen, statt sie zu reflektieren.
Die Massenmedien bestimmen schon immer die Form von Politik und Kultur. Die Bush-Ära ist untrennbar mit den Fehlern der Cable News verbunden; die Machtüberschreitungen der Exekutive in den Obama-Jahren wurden durch den Internethype um seine Persönlichkeit und sein Auftreten überschattet; Trumps Aufstieg an die Macht hängt zweifelsohne mit der Existenz sozialer Netzwerke zusammen, die ihre Nutzer*innen ständig aufstacheln müssen, um weiterhin Geld mit ihnen zu verdienen. In letzter Zeit frage ich mich jedoch, wie alles so gewohnt schrecklich werden konnte und warum genau wir da eigentlich noch mitspielen. Wie kommt es, dass eine enorme Zahl von Menschen mittlerweile einen großen Teil ihrer immer spärlicheren Freizeit in einer offenkundig sadistischen Umgebung verbringt? Wie wurde das Internet so schlecht, so einengend, so unentrinnbar persönlich, so bestimmend für das Politische – und warum meinen all diese Fragen dasselbe?
Ich gebe zu, dass ich nicht genau weiß, ob diese Untersuchung überhaupt zu einem Ergebnis führt. Das Internet führt uns täglich vor Augen, dass es sich keinesfalls lohnt, Probleme zu erkennen, die zu lösen man keine berechtigte Hoffnung hegt. Und – noch wichtiger – das Internet ist bereits, was es ist. Es ist schon zum wichtigsten Organ des zeitgenössischen Lebens geworden. Es hat die Gehirne seiner Nutzer*innen längst neu verdrahtet und uns in einen Zustand primitiver Überwahrnehmung und Ablenkung zurückversetzt, während es uns zugleich mit mehr Sinneseindrücken bombardiert, als in primitiveren Zeiten jemals möglich gewesen wäre. Es hat bereits ein Ökosystem errichtet, das auf der Ausbeutung von Aufmerksamkeit und der Monetarisierung des Ichs basiert. Selbst wenn man das Internet völlig meidet – wie mein Partner, der ewig dachte, #tbt bedeute »truth be told« –, lebt man dennoch in der Welt, die durch dieses Internet erschaffen wird, einer Welt, in der das Selbstsein die letzte Naturressource des Kapitalismus geworden ist, einer Welt, deren Bedingungen von zentralisierten Plattformen festgelegt werden, die bewusst nahezu unkontrollierbar gestaltet wurden.
Das Internet ist ebenso untrennbar mit den Freuden des Lebens verwoben: unseren Freund*innen, Familien, Communitys, unserem Streben nach Glück und – manchmal, wenn wir Glück haben – unserer Arbeit. Zum Teil aus dem Wunsch heraus, das Bewahrenswerte vom ihn umgebenden Verfall zu trennen, habe ich über fünf Probleme nachgedacht, die sich überschneiden: erstens, wie das Internet aufgrund seiner Beschaffenheit unser Identitätsgefühl aufbläht; zweitens, wie es uns dazu anstachelt, unsere eigene Meinung überzubewerten; drittens, wie es unseren Widerstandssinn maximiert; viertens, wie es unser Verständnis von Solidarität mindert; und schließlich, wie es unser Gefühl für das richtige Maß zerstört.
1959 formulierte der Soziologe Erving Goffman eine Theorie über Identität, die sich ums Theaterspielen drehte. In jeder menschlichen Interaktion, erklärte er in Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag, müsse man eine Art Darstellung im Sinne einer Performance geben, vor einem bestimmten Publikum auftreten. Diese Performance kann einstudiert sein, wie bei einem Vorstellungsgespräch, für das man jede Antwort vorbereitet hat; sie kann unterbewusst sein, wie bei jemandem, der schon so viele Vorstellungsgespräche hinter sich hat, dass er sich natürlicherweise den Erwartungen gemäß präsentiert; sie kann automatisch sein, wie bei jemandem, der den richtigen Eindruck vor allem deshalb erweckt, weil er aus der oberen Mittelschicht stammt und einen MBA-Abschluss hat. Ein Darsteller kann von seinem eigenen Schauspiel völlig überzeugt sein – er glaubt womöglich wirklich, seine größte Schwäche sei »Perfektionismus« – oder sich dessen bewusst sein, dass seine Inszenierung ein Schwindel ist. Doch egal, was er glaubt, es bleibt eine Performance. Selbst wenn er versucht, nicht mehr zu spielen, hat er noch immer ein Publikum, seine Handlungen noch immer eine Wirkung. »Natürlich ist nicht die ganze Welt eine Bühne, aber die entscheidenden Punkte, in denen sie es nicht ist, sind nicht leicht zu finden«, schreibt Goffman.
Eine Identität zu kommunizieren erfordert ein gewisses Maß an Selbsttäuschung. Um überzeugend zu sein, ist ein Darsteller gezwungen, »die diskreditierenden Tatsachen, die er über die Darstellung in Erfahrung bringen mußte, vor sich selbst zu verbergen. Umgangssprachlich ausgedrückt: Es wird Dinge geben, die er weiß oder gewußt hat und die er vor sich selbst nicht zugeben darf.« Der Bewerber beispielsweise verdrängt die Tatsache, dass seine größte Schwäche eigentlich mit Alkohol am Arbeitsplatz zu tun hat. Eine Freundin, die dir beim Abendessen gegenübersitzt und angesichts deiner trivialen Liebespleiten Therapeutin spielen soll, muss sich selbst einreden, dass sie nicht viel lieber nach Hause gehen und im Bett Barbara Pym lesen würde. Es braucht kein physisch anwesendes Publikum, damit der Darsteller dieses selektive Versteckspiel treibt: Eine Frau mag am Wochenende alleine zu Hause die Fußbodenleisten schrubben und Naturdokus schauen, obwohl sie eigentlich lieber die Wohnung verwüsten, Koks kaufen und eine Craigslist-Orgie feiern würde. Menschen posieren, wenn sie alleine sind, oft vor dem Badezimmerspiegel, um sich selbst von ihrer Attraktivität zu überzeugen. Goffman erklärt, dass der Einzelne so handelt, »weil er die Strafe des unsichtbaren Publikums fürchtet«.
In der Offline-Welt gibt es in diesem Prozess Phasen der Erholung. Das Publikum wechselt – die Performance bei einem Vorstellungsgespräch unterscheidet sich von der Inszenierung, die man später im Restaurant beim Geburtstag eines Freundes vorführt, und die wiederum unterscheidet sich von der, die man für den Partner zu Hause aufführt. Zu Hause mag man sich vielleicht so fühlen, als könne man das Schauspielen ganz sein lassen; innerhalb von Goffmans dramaturgischem Rahmen mag man das Gefühl haben, man hätte es hinter die Bühne geschafft. Goffman hält fest, dass wir sowohl ein Publikum für unsere Darstellungen brauchen als auch einen Backstagebereich, wo wir uns ausruhen können, häufig in Gesellschaft eines »Ensembles«, das an unserer Seite aufgetreten ist. Man denke an Kolleg*innen in einer Bar nach einer wichtigen Verkaufspräsentation oder Braut und Bräutigam im Hotelzimmer nach dem Hochzeitsempfang: Sie alle mögen noch immer schauspielern, aber sie fühlen sich wohl, unbeobachtet, allein. Im besten Fall hat das außenstehende Publikum die abgelieferte Performance glaubhaft gefunden. Die Hochzeitsgäste sind sicher, soeben ein perfektes, glückseliges frischvermähltes Paar gesehen zu haben, und die potenziellen Investor*innen glauben, sie hätten gerade einen Haufen Genies kennengelernt, der sie alle verdammt reich machen wird. »[A]ber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache«, schreibt Goffman. Das Selbst ist also kein festes, organisches Ding, sondern eine dramatische Wirkung, die aus einer Performance hervorgeht. Diese Wirkung kann nach beliebigem Ermessen glaubwürdig oder unglaubwürdig sein.
Online – vorausgesetzt man nimmt dieses Modell für voll – bildet das System zerstörerische Geschwüre. Die tägliche Darstellung des Selbst im Internet entspricht Goffmans Theatermetapher genau: Es gibt Bühnen, es gibt ein Publikum. Das Internet birgt jedoch noch etliche weitere albtraumhafte metaphorische Strukturen: den Spiegel, das Echo, das Panoptikum. Während wir uns im Internet bewegen, werden unsere persönlichen Daten von einer ganzen Reihe Unternehmen getrackt, gespeichert und verkauft – ein Regime unfreiwilliger technologischer Überwachung, das unseren Widerstand gegen die freiwillige Selbstüberwachung in den sozialen Medien unterbewusst lockert. Wenn wir über eine neue Anschaffung nachdenken, verfolgt sie uns überall. Wir können unsere Online-Aktivitäten auf Webseiten beschränken, die uns in unserem eigenen Identitätsbild bestärken, und tun das womöglich auch – wir lesen Texte, die genau für Menschen wie uns geschrieben wurden. Alles, was wir in den sozialen Medien zu Gesicht bekommen, entspricht unseren bewussten Entscheidungen und algorithmisch bestimmten Vorlieben, und alle Informationen zum aktuellen Geschehen oder kulturellen Leben und alle zwischenmenschlichen Interaktionen werden auf Basis des Profils gefiltert. Der tägliche Wahnsinn, der sich im Internet fortsetzt, ist der Wahnsinn dieser Architektur, die die persönliche Identität im Zentrum des Universums verortet. Es ist, als hätte man uns auf einen Aussichtspunkt gestellt, von dem aus die ganze Welt zu sehen ist, und uns ein Fernglas gegeben, mit dem alles wie unser eigenes Spiegelbild aussieht. Durch die sozialen Medien sind viele Menschen schnell zu der Ansicht gelangt, alle neuen Informationen seien eine Art direkter Kommentar darüber, wer sie sind.
Dieses System wird aufrechterhalten, weil es profitabel ist. Wie Tim Wu in The Attention Merchants (Die Aufmerksamkeitshändler) beschreibt, hat der Kommerz schleichend das menschliche Dasein durchdrungen – zunächst im 19. Jahrhundert auf den Straßen unserer Städte in Form von Reklametafeln und Plakaten, dann im 20. Jahrhundert in unserem Zuhause durch Radio und Fernsehen. Heute, im 21. Jahrhundert, das wie eine Endstufe erscheint, hat der Kommerz unsere Identitäten und Beziehungen infiltriert. Wir haben den sozialen Medien durch unseren Wunsch – und infolge einer immer weiter wachsenden, wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzung –, für das Internet nachzustellen, wen wir kennen, wer zu sein wir glauben, wer wir sein möchten, Milliarden Dollar generiert.
Das Selbst wankt unter der Last dieser kommerziellen Bedeutsamkeit. An physischen Orten sind das Publikum und die Dauer jeder Performance beschränkt. Online kann sich ein Publikum theoretisch ewig vergrößern, und die Darstellung muss nie aufhören. (Im Wesentlichen ist es wie ein nie endendes Vorstellungsgespräch.) Im echten Leben münden Erfolg oder Misserfolg einer jeden einzelnen Performance oft in einer konkreten, physischen Handlung – man wird zum Abendessen eingeladen, zerstört die Freundschaft oder bekommt die Stelle. Online verharrt die Darstellung meist in einem nebulösen Schleier aus Meinungsbekundungen, in einem ungebrochenen Strom aus Herzchen und Likes und Augäpfeln, aufsummiert in Zahlen, die neben dem eigenen Namen erscheinen. Das Schlimmste daran ist, dass es im Internet keinen Backstagebereich gibt; während sich offline das Publikum leert und wechselt, braucht das Online-Publikum nie zu gehen. Dieselbe Version von dir, die in Mathe Memes und Selfies mit deinen Klassenkamerad*innen teilt, könnte irgendwann gegen die Trump-Regierung in den Ring steigen, wie es den Schüler*innen in Parkland widerfahren ist – von denen manche so berühmt geworden sind, dass sie ihre Theatermaske nie wieder fallen lassen können. Das Selbst, das einmal Witze mit White Supremacists auf Twitter austauschte, ist das Selbst, das von der New York Times angeheuert und gleich wieder gefeuert wird, wie es Quinn Norton 2018 erging. (Oder, wie im Fall von Sarah Jeong, das Selbst, das Witze über Weiße gemacht hat und wenige Monate später von der Times angeheuert wurde, mag Opfer von Gamergatern werden.) Menschen, die ein öffentliches Internetprofil pflegen, erschaffen ein Selbst, das gleichzeitig von ihrer Mutter, ihrem Vorgesetzten, ihren potenziellen zukünftigen Vorgesetzten, ihrem elfjährigen Neffen, ihren ehemaligen und zukünftigen Sexualpartner*innen, Verwandten, die ihre Meinungen verabscheuen, sowie jeder und jedem, die oder den es aus irgendeinem Grund interessiert, gesehen werden kann. Identität besteht laut Goffman aus einer Reihe von Forderungen und Versprechen. Im Internet zeichnet sich eine hochfunktionale Person dadurch aus, dass sie zu jeder Zeit jede Art von Versprechen gegenüber einem unbegrenzt wachsenden Publikum machen kann.
Vorfälle wie Gamergate sind zum Teil eine Antwort auf diesen Umstand der übermäßigen Sichtbarkeit. Die Verbreitung des Trollens und des damit verbundenen Ethos der Respektlosigkeit und Anonymität ist unter anderem deshalb so durchschlagend, weil im Internet die Forderung nach einer konsistenten, zustimmungswürdigen Identität so stark ist. Speziell die in Trollbeiträgen enthaltene Misogynie spiegelt wider, dass Frauen – von denen, wie John Berger schreibt, schon immer erwartet wurde, auf die Außenwirkung ihrer Identität zu achten – besonders gewinnbringend mit diesen Bedingungen der Online-Welt umgehen. Ebendiese Selbstjustierung, die ich als kleines Mädchen, als Frau erlernt habe, hat mir dabei geholfen, Kapital daraus zu schlagen, dass ich online sein »muss«. Alle Erfahrungen, die ich auf dieser Welt gemacht habe, haben mir gezeigt, dass die persönliche Ausstrahlung von höchster Bedeutung ist und Selbstdarstellung gerne gesehen wird; genau dieses zugegebenermaßen unglückliche Paradigma, das zuerst von Frauen verinnerlicht und nun auf das ganze Internet übertragen wurde, ist es, was Trolle hassen und aktiv zurückweisen. Sie destabilisieren ein auf Transparenz und Sympathie basierendes Internet. Sie werfen uns zurück in Chaos und Ungewissheit.
Natürlich gibt es viel bessere Argumente gegen die übermäßige Sichtbarkeit als das Trollen. Wie Werner Herzog der GQ 2011 zum Thema Psychoanalyse verriet: »Wir brauchen unsere dunklen Ecken und das Unerklärliche. Sonst werden wir unbewohnbar, so wie eine Wohnung unbewohnbar wird, wenn man jede einzelne dunkle Ecke ausleuchtet, unter dem Tisch und sonst wo – in einem solchen Haus kann man nicht mehr leben.«
2013vorbildlich