Makoto Shinkai | Naruki Nagakawa
Das Geschenk eines Regentages
Roman
Roman
Aus dem Japanischen
von Heike Patzschke
FISCHER E-Books
Makoto Shinkai, 1973 in Koumi/Nagano, geboren, ist einer der erfolgreichsten Animekünstler und Filmregisseure Japans. Nach dem Literaturstudium arbeitete er als Grafikdesigner für Videospiele, bevor er seinen Durchbruch als Regisseur mit Animefilmen wie »Children Who Chase Lost Voices« und »The Garden of Words« erreichte. 2016 war sein »Your Name« der kommerziell erfolgreichste Anime aller Zeiten. Seitdem wird Shinkai als der »neue Miyazaki« gehandelt. 2018 wurde er in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die jährlich die Oscars vergibt. »Das Geschenk eines Regentages« ist Shinkais erster Roman, den er gemeinsam mit seinem Animekollegen und Drehbuchautor Naruki Nagakawa schrieb und der auf seinem ersten preisgekrönten Kurzfilm »She and Her Cat« (Kanojo to Kanojo no Neko) von 1999 basiert. Der Roman wurde über Nacht zum Bestseller in Japan.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Selbst in unseren einsamsten Momenten sind wir mit den Wundern der Welt verbunden
An einem verregneten Frühlingstag findet Miyu einen kleinen Kater am Straßenrand. Sie nimmt das ausgesetzte Tier bei sich auf und tauft es Chobi. Miyu lebt allein, der Umgang mit anderen Menschen fällt ihr schwer. Doch plötzlich ist da diese Katze, die ihre Einsamkeit lindert und ihr Trost spendet. Auch für Chobi ist die Begegnung die Chance auf ein neues Leben. Schon bald streunt er durch die neue Nachbarschaft und das Leben seiner Bewohner. Während die Menschen durch die Krisen des modernen Lebens taumeln, wissen ihre tierischen Gefährten instinktiv, dass das Glück manchmal einer streunenden Katze gleicht.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel 彼女と彼女の猫 (›Kanojo to Kanojo no Neko‹) bei KANZEN CORP., Tokyo.
© entwickelt und erzählt von Makoto Shinkai/CoMix Wave Films 2013
© erzählt von Naruki Nagakawa 2013
All rights reserved.
German language translation rights arranged with Kanzen through The English Agency (Japan) Ltd and New River Literary, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Mai
Covergestaltung: Simone Andjelković
Coverabbildung: Simone Andjelković und Depositphoto
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491351-3
Es regnete an diesem Vorfrühlingstag.
Feiner, nebelgleicher Regen fiel auf mich herab. Ich lag neben dem Fußweg.
Die Menschen, die an mir vorbeigingen, warfen nur einen kurzen Blick auf mich, um dann schnell weiterzueilen.
Bald hatte ich nicht einmal mehr die Energie, den Kopf anzuheben, und schaute nur noch mit einem Auge zum bleigrauen Himmel hinauf.
Ringsumher war es sehr still, nur das Rattern der Hochbahnen hallte wie Donnergrollen in der Ferne.
Es war regelmäßig und kraftvoll und zog mich völlig in seinen Bann.
Wenn der zarte Herzschlag in meiner Brust mich in Bewegung versetzen konnte, was für riesige Dinge vermochte dann dieses Rattern zu bewegen?
Das war bestimmt der Herzschlag der Welt. Einer starken, großen und vollkommenen Welt. Aber ich schaffte es einfach nicht, selbst auch voll und ganz dazuzugehören.
Winzige Regentropfen fielen lautlos und gleichmäßig auf mich herab. Eine Wange an den Boden des Pappkartons gepresst, gab ich mich der Illusion hin, langsam nach oben zu schweben.
Immer weiter stieg ich nach oben, bis weit über den Himmel hinaus.
Gleich würde ein Pling! zu hören sein, so als würde etwas abreißen, und dann wäre meine letzte Verbindung zu dieser Welt durchtrennt.
Alles hatte damit begonnen, dass meine Mutter mich auf die Welt gebracht hatte.
Warmherzig und liebevoll hatte sie mir alles gegeben, was mein Herz begehrte.
Jetzt aber war sie nicht mehr da.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, warum es so gekommen und warum ich nun in einem Pappkarton dem Regen ausgesetzt war.
Wir können uns nicht alles merken. Nur die wirklich wichtigen Dinge bleiben in unserem Gedächtnis. Aber es gab ohnehin überhaupt nichts, was ich mir merken wollte.
Der weiche Regen fiel und fiel.
Langsam schwebte mein leeres Ich zum grauen Himmel empor.
Mit geschlossenen Augen wartete ich auf den entscheidenden Augenblick, in dem ich für immer und ewig von der Welt abgeschnitten sein würde.
Es kam mir so vor, als sei das Rattern der Bahnen lauter geworden.
Als ich meine Lider öffnete, sah ich direkt vor mir das Gesicht einer Menschenfrau. Sie hatte einen großen Plastikregenschirm aufgespannt und spähte von oben in den Karton zu mir herunter.
Seit wann sie wohl schon da war?
Sie ging in die Hocke, legte ihr Kinn auf die Knie und blickte mich an. Ihr langes Haar fiel ihr in die Stirn. Da das Rattern der Bahn auf den Schirm prallte, klang es lauter als sonst.
Sowohl ihr Haar als auch mein Körper waren nass und schwer, und alles ringsumher war von dem wunderbaren Duft des Regens erfüllt.
Unter größter Anstrengung hob ich den Kopf und schaute sie mit beiden Augen direkt an.
Ihre Pupillen zitterten. Einen Augenblick lang wandte sie den Blick ab, aber dann, gleichsam als hätte sie einen Entschluss gefasst, fixierte sie mich prüfend. So blickten wir uns beide eine ganze Zeitlang an.
Die Erdachse rotierte ruhig und lautlos. Langsam und still verlor sich die Wärme unserer Körper im Weltenraum.
»Gehen wir? Zusammen?«
Ihre eiskalten Fingerspitzen berührten meinen Körper. Mühelos nahm sie mich auf den Arm. Von oben gesehen wirkte der Pappkarton erstaunlich klein. Sie schob mich zwischen Jacke und Pullover. Ihr Körper war unglaublich warm.
Ich konnte ihren Herzschlag hören. Sie ging los, und wir ließen das Rattern der Bahn hinter uns. Ihr Herzschlag, meiner und jener der ganzen Welt – alle setzten gleichzeitig ein.
An diesem Tag wurde ich von ihr aufgenommen. Deshalb bin ich ihr Kater.
In unserer Gesellschaft läuft fast nichts ohne Worte.
Diese Erkenntnis gewann ich, als ich selbst als Berufstätige am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen begann. Allein durch den Austausch von vagen und sich sofort wieder verflüchtigenden Worten, wie »Tun Sie dies!« oder »Geben Sie das an den Kollegen XY weiter!«, ging die Arbeit voran. Alle taten so, als wäre dies ganz selbstverständlich, aber mir kam es wie ein Wunder vor.
Ich mochte den Umgang mit Akten und Dokumenten. Sie hatten eine handfeste Form und etwas Beständiges an sich. Da ich die Arbeit mit diesen Dingen, die alle anderen um mich herum als lästig empfanden, immer sofort übernahm, wurde ich an meinem Arbeitsplatz geschätzt.
Mir fiel es leichter, mich mit Schriftstücken zu beschäftigen, als mich auf Menschen einzulassen. Im Reden war ich nicht so gut. Mir gingen immer schnell die Themen aus. Meine Freunde redeten alle viel. Wenn ich mich mit Tamaki, meiner Freundin aus der Zeit am Junior College, unterhielt, sprudelten geistreiche und witzige Worte unablässig aus ihr heraus, so dass ich oft herzlich lachen musste.
In einer Landschaft, bei deren Anblick ich überhaupt nichts empfand, entdeckte Tamaki immer wieder neue Blickwinkel. Es kam mir so vor, als könnte sie Dinge sehen, die meinen Augen verborgen blieben. Tamaki war einfach unglaublich.
Ich mochte Menschen, die viel redeten.
Mein Freund hieß Nobu. Er war ein Jahr jünger als ich und redete sehr viel.
Über seine Arbeit in einer Versicherung, über SF-Filme oder elektronische Musik. Auch über Kriege im alten China. Er erzählte mir so viele verschiedene Dinge.
Dank ihm kannte auch ich mich mittlerweile im Versicherungssystem und mit den Namen von Kriegshelden gut aus.
Tamaki vermochte ihre Umgebung treffend zu beschreiben, während Nobu es verstand, in seinem Innern abgespeichertes Wissen anschaulich mit Worten wiederzugeben. Ich hingegen konnte weder das eine noch das andere.
Im Frühling, besonders an Regentagen, erinnere ich mich immer daran, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Wohnung mietete.
Ganz allein ging ich zu verschiedenen Immobilienmaklern. Unsicher unterschrieb ich den Vertrag. Zum ersten Mal würde ich ohne Familie leben. Der Umzugstag war ein Regentag wie der heutige. Tamaki war gekommen, um mir zu helfen. Sie hatte einen jüngeren Kollegen mitgebracht. Das war Nobu.
Die beiden halfen mir beim Auspacken und Zusammenbauen der Regale. Anschließend aßen wir gemeinsam in einem Restaurant, das sich auf preiswerte Menüs spezialisiert hatte.
Einen Umzug mit Hilfe von Freunden und danach ein gemeinsames Essen erlebte ich an diesem Tag zum ersten Mal. Ich kam mir vor wie in einer Fernsehserie, so irreal fühlte es sich an. Während ich noch vergeblich nach passenden Worten dafür suchte, sagte Tamaki:
»Unsere Aktion heute erinnert mich an meine Zeit als Studentin.«
Nobu lachte.
Auch ich setzte ein Lächeln auf. Ich begriff, dass Menschen in meinem Alter solch eine Erfahrung normalerweise längst gemacht hatten.
Obwohl ich nun allein lebte, änderte sich letztendlich bei mir aber überhaupt nichts.
Einige Zeit nach meinem Umzug kam Nobu allein zu mir nach Hause.
Kurz zuvor hatte ich Tamaki davon erzählt, dass der Wasserhahn, an den meine Waschmaschine angeschlossen war, wackelte und das Schlauchanschlussstück ständig tropfte, und dabei meinem Ärger darüber ordentlich Luft gemacht. Daher hatte sie Nobu zu mir geschickt.
Ich hingegen war davon ausgegangen, dass sie selbst kommen würde, weshalb ich nun überrascht und verwirrt war. Nobu hatte vorher im Baumarkt verschiedene Dinge eingekauft. Es gelang ihm, den tropfenden Anschluss zu reparieren. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass man dafür den Hauptwasserhahn zudrehen musste.
Mit einem solchen Mann für immer an meiner Seite wäre ich wohl glücklich, ging es mir durch den Kopf. Ich war überrascht, wie leicht es mir gelang, dieses Gefühl auch ihm gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Es war das erste Mal, dass ich es schaffte, mein Inneres so offen zu zeigen.
In jener Nacht blieb Nobu bei mir.
Worte verändern die Welt, stellte ich fest und verspürte auch ein bisschen Angst.
Danach trafen wir uns jede Woche in meiner Wohnung, doch nach einer Weile hatte Nobu plötzlich beruflich sehr viel zu tun, weshalb wir uns immer seltener sahen.
Für mich war er mein Geliebter.
Auch wenn er nicht explizit sagte, was er für mich empfand, wollte ich doch gern glauben, dass wir ein Herz und eine Seele waren.
Die Mangas für Mädchen, die in meiner Grundschulzeit zirkulierten, endeten immer an der Stelle, an der sich das Liebespaar fand. Erst dann konnte das Mädchen glücklich werden. Aber jetzt merkte ich, dass das im wirklichen Leben nicht alles war.
Mit einem Geliebten konnte man sogar noch viel einsamer sein als ohne.
Heute traf ich Nobu seit langem einmal wieder. Drei Monate lang hatten wir uns nicht gesehen. Seite an Seite liefen wir durch den Frühlingsregen. Wie immer war er sehr zuvorkommend und redete viel.
Es tat gut, seinen Worten zu lauschen und sich treiben zu lassen. Aber kaum war ich dann wieder allein, wurde ich erneut von Ängsten überfallen. Es war so, wie wenn man beim Schwimmen im tiefen Meer auf einmal merkt, dass man keinen Grund mehr unter den Füßen hat.
»Wir gehen doch miteinander, oder?«
Diese Worte wollten mir einfach nicht über die Lippen. Hätte ich darauf eine Antwort erhalten, die unser Verhältnis beendete, wäre ich bestimmt ertrunken.
Auch heute umkreiste ich wieder wie ein künstlicher Satellit ein ums andere Mal die Frage, die ich eigentlich hatte stellen wollen, und gab nur hin und wieder ein »Ja« oder ein »Ach so« von mir.
Ich verhielt mich wie eine Grundschülerin, fand ich. Vielleicht passierte mir das ja auch nur, weil ich damals in meiner Schulzeit solch eine Erfahrung nicht gemacht hatte.
Letztendlich würde er die Worte, die ich so gern von ihm gehört hätte, wohl niemals sagen.
In der Nähe seines Büros verabschiedeten wir uns voneinander. ›Bis zum nächsten Treffen wird wohl wieder viel Zeit vergehen‹, schoss es mir durch den Kopf.
Am Bahnhof angekommen, ging ich auf einem anderen Weg als sonst nach Hause. Es war ein ziemlicher Umweg, aber ich verspürte den Wunsch, an diesem Vorfrühlingstag durch den kalten Regen zu laufen.
Da begegnete ich dem Kater.
Ihre Wohnung roch nach ihr, was mich enorm beruhigte.
Am ersten Morgen unseres Zusammenlebens kam ich aus dem Staunen nicht heraus, da ich noch nie an einem so warmen Ort aufgewacht war. Sie war bereits aufgestanden und gerade dabei, auf dem Gasherd Wasser zu kochen.
Während ich dem Dampf nachschaute, der aus dem Teekessel aufstieg, begrüßte sie mich mit einem »Guten Morgen!«.
Behände zog sie den Vorhang zurück. Da erblickte ich die von der Morgenröte zart gefärbten Wolken. Sie waren wunderschön.
Diese Wohnung befand sich im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses auf einer Anhöhe, von hier aus konnte ich die Hochbahn sehen. In diesem Augenblick begriff ich zum ersten Mal, dass das Rattern, das mich immer so faszinierte, von den Bahnen kam.
Tief beeindruckt wollte ich ihr das mitteilen. Ich maunzte.
»Ja. Glück gehabt, oder, Chobi?«
Sie lächelte.
Chobi?
»So heißt du jetzt: Chobi.«
Von diesem Moment an nannte sie mich so.
Chobi. Mir gefiel dieser Name. Sie hatte ihn mir gegeben. Diesen Morgen wollte ich mir für immer einprägen.
Ich mochte sie von Anfang an.
Sie war sehr hübsch und sanft. Wenn sie merkte, dass ich sie anschaute, wurden ihre Gesichtszüge ganz weich, und sie lächelte mich still an.
Bevor sie aß, bereitete sie etwas für mich zu.
Eine Schale mit Milch, dazu Dosen- und Trockenfutter, damit ich auch etwas Knuspriges zu beißen hatte.
Während ich meine Milch schleckte, hockte sie neben mir und hielt eine große weiße Tasse mit warmer Milch in ihren Händen. Seite an Seite tranken wir beide das Gleiche.
Ihre Bewegungen waren ruhig und anmutig, und immer, wenn ich neben ihr saß, kehrte Frieden in mir ein.
Nachdem ich die Hälfte meines Futters verspeist hatte (mein Instinkt sagte mir, dass ich den Rest für einen Notfall aufheben sollte), rollte ich mich neben sie und streckte ihr meinen Bauch entgegen. Während sie ihn behutsam streichelte, ließ ich wohlig meinen Schwanz über den Boden gleiten.
Ich liebte es, auf ihren Bauch zu klettern, wenn sie lang ausgestreckt auf dem Boden lag. Meist war sie gerade dabei, irgendetwas zu lesen. In solchen Momenten kraulte sie immer schweigend meinen Rücken.
Auch sah ich ihr gern beim Wäschewaschen zu. Die Kleidungsstücke, die sie ausgezogen hatte, dufteten nach ihr. Beim Hineinkuscheln geriet ich jedes Mal in Verzückung.
Ich mochte es auch, wenn sie die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Dann lief ich mit ihr auf den Balkon und betrachtete, während sie die Wäschestücke auf die Leine hängte, gemeinsam mit ihr den hohen blauen Himmel, die Menschen auf den Fußwegen und die Autos.
Auf meinem Schlafplatz lag ein Pullover von ihr, auf dem ich schlief. Es war der weiße Pullover, den sie getragen hatte, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren.
Wegen eines Traumes, an den ich mich aber danach nicht mehr erinnern konnte, kam es in der Anfangszeit, nachdem ich bei ihr eingezogen war, manchmal vor, dass ich mitten in der Nacht maunzte und wach wurde. Dann kam sie immer zu mir und streichelte mich sanft.
Sie war sehr liebevoll und warmherzig.
Ihre Mahlzeiten bereitete sie selbst zu.
Ich liebte es, wenn sie Miso-Suppe kochte. Denn dann bekam ich immer die gekochten kleinen Sardinen, aus denen sie den Fischfond für die Suppe bereitete. Ich mochte es auch, wenn sie kalten Tofu mit Bonito-Flocken aß, weil sie dann jedes Mal auch ein paar Flocken über mein Dosenfutter streute.
Während sie das Essen zubereitete, sang sie leise Lieder vor sich hin. Ihre Stimme gefiel mir ganz besonders, wenn sie sang.
Chobi – so nannte sie mich immer. Durch diesen Namen war ich mit ihr verbunden, und durch sie mit der Welt.
Jeden Morgen stand ich exakt zur selben Zeit auf, bereitete in derselben Reihenfolge das Frühstück vor, sah dieselbe Fernsehsendung und ging zur selben Zeit zur Arbeit.
Seit ich allein wohnte, erfüllte mich dieses geregelte Leben mit Freude. Zu erfahren, dass es etwas gab, das ich zu kontrollieren vermochte, schenkte mir inneren Frieden.
Auch als Chobi kam, änderte sich mein Alltag kaum. In meinem Elternhaus hatten wir einen Hund. Da man selbst an Regen- oder Schneetagen mit ihm nach draußen gehen musste, war es sehr anstrengend. Katzen hingegen machen nicht viel Arbeit.
Auch heute erwachte ich, kurz bevor der Wecker klingelte, und stellte ihn aus. Ich spürte, dass Chobi im Zimmer war. Ich nahm das Fieberthermometer vom Kopfende meines Bettes und maß meine Basaltemperatur. Seit ich mit Nobu zusammen war, trug ich die Werte in eine Tabelle ein. Da ich es mir einmal angewöhnt hatte, fühlte ich mich nicht mehr wohl in meiner Haut, wenn ich es einmal nicht tat, denn dann drohten alle bisherigen Aufzeichnungen ihren Sinn zu verlieren.
Im Licht der Morgensonne, die durch das große Fenster hereinschien, bereitete ich das Frühstück zu. Ich knetete viele kleine Reisbällchen. Was übrig blieb, nahm ich mit zur Arbeit.
Meine Milch trank ich zusammen mit Chobi, zog dann meinen Pyjama aus und mein Büro-Outfit an. Wenn ich Chobi dabei zusah, wie er mit meinem Pyjama herumbalgte, schien für mich die Zeit stehen zu bleiben.
Ich liebte es, ihr Profil zu betrachten, wenn sie sich vor dem Spiegel schminkte. Mit geübten Bewegungen breitete sie ihre Utensilien aus und benutzte eines nach dem anderen. Alles tat sie mit großer Sorgfalt. Anschließend räumte sie alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück, und wenn sie dann als letztes ihr Parfüm auftrug, verbreitete sich sein Duft im ganzen Zimmer.
Er erinnerte mich an eine regennasse Wiese.
Der Wetterbericht verkündete das Wetter des Tages.
Jeden Morgen verließ sie danach die Wohnung.
Wenn sie sich ausgehfertig machte, war ich immer völlig bezaubert von ihr. Sie sah so wunderbar aus.
Nachdem sie ihr langes Haar zusammengebunden hatte, zog sie eine Jacke in derselben Farbe wie ihr Haar an und schlüpfte in ihre High Heels.
Hier im Eingangsbereich der Wohnung ließ ich sie nicht aus den Augen.
Sie hockte sich hin, legte eine Hand auf meinen Kopf und sagte:
»Na dann, bis heute Abend!«
Dann richtete sie sich wieder auf und öffnete die schwere Eisentür.
Das Morgensonnenlicht schien herein, weshalb ich die Augen zusammenkniff.
›Komm bald wieder!‹
Sie ging hinaus in das Licht, und ihre Schritte klangen wie Musik.
Während ich noch immer ihre Hand auf meinem Kopf spürte, hörte ich, wie sich ihre Schritte entfernten und sie die Außentreppe hinunterstieg.
Nachdem ich ihr nachgeblickt hatte, sprang ich auf einen Stuhl und schaute über den Balkon hinweg auf die Hochbahn. Vielleicht saß sie ja in einem der Züge, denen ich nun hinterherschauen konnte, solange ich wollte.
Dann sprang ich wieder vom Stuhl herunter.
In der Wohnung hing noch immer ihr Duft. Darin eingehüllt legte ich mich wieder schlafen.
Während ich von der überfüllten Bahn hin und her geschaukelt wurde, dachte ich an Chobi.
Wenn er schlief oder mit irgendetwas beschäftigt war, konnte ich ihn rufen, so oft ich wollte, stets tat er einfach so, als hätte er nichts gehört. Aber wenn er wollte, dass ich mich um ihn kümmerte, rollte er sich auf den Rücken und drehte mir seinen Bauch zu.
Stieg ich dann mit ungerührter Miene über ihn hinweg, sauste er flink zwischen meinen Beinen durch und warf sich erneut vor mir auf den Rücken, um mir wieder seinen Bauch entgegenzustrecken. Das war einfach unwiderstehlich süß.
Unversehens stahl sich ein Lächeln in mein Gesicht. Schnell setzte ich wieder eine ernste Miene auf. Mit dieser Bahn fuhren auch meine Kollegen und Studierende der Fachschule. Mit solch einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen gesehen zu werden, wäre mir peinlich gewesen.
Wie schön aber, dass es ein Wesen gab, das zu Hause auf mich wartete!
Mein Blick fiel auf die Werbung einer Heiratsvermittlungsagentur, die über der Tür der Bahn angebracht war.
Vielleicht glichen ja die Freuden der Ehe dem Glücksgefühl, das mir der Kater schenkte.
Unter meinen Ex-Kommilitoninnen gab es einige, die schon verheiratet waren. Sie waren zusammen mit ihren Partnern aus der Studienzeit zeitgleich mit dem Universitätsabschluss in den Hafen der Ehe eingelaufen. Die Fotos auf den Neujahrskarten, die mir bei meinen Eltern ins Haus flatterten, zeigten sie mit ihren Ehemännern und mit Babys auf dem Arm. In meiner Fantasie versuchte ich, ihre Fotos durch Nobus und meines zu ersetzen, was sich aber ganz und gar nicht echt anfühlte, weshalb ich gequält lächelte.
Ich brachte es ja nicht einmal zustande, ihn zu fragen, ob wir nun miteinander gingen. Wie konnte ich ihn da bitten, mich zu heiraten? Ob er mich wohl zur Frau nehmen würde, wenn ich schwanger wäre?
Aber wollte ich überhaupt heiraten?
Ich stellte mir vor, wie es wäre, älter zu sein und in einer Wohnung voller Katzen zu wohnen.
Die Durchsage in der Bahn kündigte an, dass wir uns dem Bahnhof näherten, an dem ich umsteigen musste.
Energisch straffte ich den Rücken und verließ den Zug.