Terra Alta

Javier Cercas

Terra Alta

Geschichte einer Rache

Roman

Aus dem Spanischen von Susanne Lange

FISCHER E-Books

Über Javier Cercas

Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Mit seinem Roman »Soldaten von Salamis« wurde er international bekannt. Heute ist sein Werk in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Für »Der falsche Überlebende« (S. Fischer 2017) erhielt er u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch.

 

Susanne Lange, geboren 1964 in Berlin, lebt als freie Übersetzerin bei Barcelona und in Berlin. Sie überträgt lateinamerikanische und spanische Literatur von Cervantes bis Juan Gabriel Vásquez und Javier Marías. Zuletzt wurde sie mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Er ist der Sohn einer Prostituierten, sein Zuhause ist die Unterwelt Barcelonas. Melchor Marín arbeitet für ein Drogenkartell und wird bei einer Razzia festgenommen. Als er im Gefängnis von der Ermordung seiner Mutter erfährt, beschließt er, nach dem Absitzen der Strafe Polizist zu werden.

Jahre später ist Melchor als bewährter Polizist in der kargen Landschaft der Terra Alta im Einsatz, wo er mit Frau und Tochter ein ruhiges Leben führt. Aber dann erschüttert ein Verbrechen die Region, ein altes Unternehmerpaar wird grausam ermordet. Eine Erbschaftsgeschichte? Eine alte Fehde? Als das Kommissariat den Fall ungelöst abschließt, ermittelt Melchor auf eigene Faust.

Eine packende Geschichte über die Schatten der Vergangenheit und den Wunsch nach Gerechtigkeit.

Impressum

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch die Acción Cultural Española, AC/E, gefördert.

https://www.accioncultural.es/

 

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien 2019

unter dem Titel »Terra Alta«

bei Editorial Planeta, S.A., Barcelona

© Javier Cercas, 2019

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114,

D-60596 Frankfurt am Main

 

Die Auszüge aus dem Roman »Die Elenden« von Victor Hugo

wurden von Susanne Lange übersetzt.

Covergestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung: Florence Barreau/Getty Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491355-1

Melchor ist noch im Büro und sehnt sich mit gärender Ungeduld nach dem Ende der Nachtschicht, da klingelt das Telefon. Es ist der Kollege an der Pforte des Polizeireviers: Zwei Tote im Landhaus der Adells, meldet er.

»Die von Gráficas Adell?«, fragt Melchor.

»Ebendie«, antwortet der Polizist. »Weißt du, wo sie wohnen?«

»An der Landstraße nach Vilalba dels Arcs, oder?«

»Genau.«

»Ist jemand von uns vor Ort?«

»Ruiz und Mayol. Sie haben eben angerufen.«

»Ich fahre hin.«

Bisher war die Nacht so ruhig wie immer verlaufen. In diesen frühen Morgenstunden ist fast niemand auf dem Revier, und als Melchor das Licht ausschaltet, das Büro abschließt, die verlassene Treppe hinuntergeht und dabei in sein Sakko schlüpft, kann man die Ruhe fast mit Händen fassen, und ihm kommt seine erste Zeit in Terra Alta in den Sinn, als er noch nach dem Lärm der Stadt süchtig gewesen war, das ländliche Schweigen ihn um den Schlaf gebracht und er mit Romanen und Tabletten gegen die

Im Erdgeschoss nimmt sich Melchor aus der Waffenkammer seine Walther P99, 9 mm, und eine Schachtel Munition und denkt, dass er allzu lange schon nicht mehr Die Elenden gelesen hat und dass er an diesem Morgen wohl oder übel auf das gemeinsame Frühstück mit Frau und Tochter wird verzichten müssen.

In der Garage steigt er in einen Opel Corsa, verlässt das Revier in Richtung des benachbarten Spielplatzes und ruft Sargento Blai an.

»Bete, dass es wichtig ist, Sauspanier«, knurrt der Polizist, die Stimme triefend von Schlaf. »Sonst häng ich dich an den Eiern auf.«

»Zwei Leichen im Landhaus der Adells«, sagt Melchor.

»Der Adells? Welcher Adells?«

»Die von Gráficas Adell.«

»Erzähl keinen Scheiß.«

»Kein Scheiß«, sagt Melchor. »Eben hat eine Streife angerufen. Ruiz und Mayol sind schon da. Ich bin unterwegs.«

Sargento Blai, plötzlich hellwach, legt mit Anweisungen los.

»Nein, das übernehme ich«, sagt Sargento Blai. »Gott und die Welt muss benachrichtigt werden. Du sichere den Tatort, sperr alles rund ums Haus ab …«

»Keine Sorge, Sargento«, unterbricht Melchor wieder. »In fünf Minuten bin ich da.«

»Gib mir eine halbe Stunde«, sagt Sargento Blai und murmelt wie zu sich selbst: »Die Adells, verdammte Scheiße. Das gibt einen Mordsskandal.«

Ohne die Sirene einzuschalten oder das Blaulicht auf das Dach des Opel Corsa zu setzen, rast Melchor durch Gandesas Straßen, zu dieser Zeit fast so verlassen wie die Treppen und Gänge des Reviers. Doch nur fast. Ab und an begegnet ihm ein Fahrradfahrer in Fahrradkluft, ein Jogger im Jogginganzug, ein Wagen, von dem man nicht weiß, ob er von einer langen Samstagnacht zurückkehrt oder einen langen Sonntag beginnt. Es wird Tag in Terra Alta. Ein aschgrauer Himmel läutet einen Morgen ohne Sonne ein, beim Hotel Piqué biegt Melchor links ab und verlässt Gandesa über die Landstraße Richtung Vilalba dels Arcs. Dort dreht er auf und nimmt wenige Minuten später einen unbefestigten Weg, der nach hundert Metern auf ein Landhaus trifft. Es ist von einer hohen Steinmauer umgeben, die oben mit Scherben gespickt und fast ganz von Efeu überwachsen ist. Das breite, braune Metalltor ist nur angelehnt, und davor steht ein Streifenwagen, dessen Blaulicht in der Morgendämmerung blinkt. Neben dem Wagen

Melchor steigt aus und fragt, was passiert ist.

»Ich weiß es nicht«, antwortet der Streifenpolizist und deutet auf die Frau. »Das ist die Köchin des Hauses. Sie hat uns angerufen. Sie sagt, drinnen sind zwei Tote.«

Die Frau zittert am ganzen Leib, ist in Tränen aufgelöst und presst im Schoß die Hände zusammen. Melchor versucht sie zu beruhigen und stellt ihr die gleiche Frage, die er Ruiz gestellt hat, doch die Antwort ist nur ein entsetzter Blick und unverständliches Gestammel.

»Und Mayol?«, fragt Melchor.

»Drinnen«, antwortet Ruiz.

Melchor weist ihn an, den Eingang abzusperren und zu bewachen, sich um die Frau zu kümmern und auf die anderen zu warten. Dann betritt er das Anwesen, dessen Tor von zwei Kameras überwacht wird, und nimmt mit raschem Schritt den Weg durch einen gepflegten Garten – auf der Wiese wachsen Weiden, Maulbeer- und Kirschbäume, Rosen, Fingerhut, Margeriten, Pfingstrosen, Lilien, Geranien, Veilchen und Jasmin –, nach einer Biegung präsentiert sich ihm die Fassade des dreistöckigen alten Hauses, die große Holztür, das Gitterwerk der Balkone und das ausgebaute Dachgeschoss mit Fenstern, die ein Stuckgesims verbindet. Am Türpfosten lehnt Mayol, die Knie leicht gebeugt, die Pistole mit beiden Händen gepackt – das Dunkelblau seiner Uniform hebt sich vom dunklen Ocker der Fassade ab –, er hat ihn schon gesehen und winkt ihn heran.

»Bist du schon reingegangen?«, fragt er Mayol und lehnt sich gegen den anderen Türpfosten.

»Nein«, entgegnet Mayol.

»Ist jemand drinnen?«

»Ich weiß nicht.«

Melchor sieht sich das Türschloss an, es ist nicht aufgebrochen. Dann sieht er sich Mayol an: Er schwitzt, Angst in den Augen.

»Halt dich hinter mir«, sagt er.

Mit einem Tritt öffnet Melchor die Tür und geht ins Haus. Mit höchster Vorsicht inspiziert er, hinter ihm Mayol, das düstere Erdgeschoss: eine Diele mit Garderobe, eine große Truhe, Glasschränke mit Büchern, Sesseln, ein Aufzug, ein Bad, zwei Schlafzimmer mit Kleiderschränken, unberührten Betten und Waschgeschirr aus Keramik, eine gut gefüllte Vorratskammer. Dann geht er über eine Steintreppe in den ersten Stock und steht in einem großen Wohnzimmer, das einzig von einer Deckenlampe erleuchtet wird. Was er dort sieht, überflutet ihn ein paar ewige Sekunden lang mit dem übermächtigen Gefühl des Unwirklichen, aus dem ihn schließlich das röchelnde Stöhnen Mayols reißt, der sich übergibt.

»Mein Gott!«, stammelt der Streifenpolizist und gibt immer noch einen widerlichen Brei von sich, Galle und Reste von Essen. »Was ist hier passiert?«

Zum ersten Mal, seit er in Terra Alta ist, befindet

Zwei blutige, rotviolette Fleischbündel sitzen einander gegenüber auf einem Sofa und einem Sessel, vollgesogen mit einer klumpigen Flüssigkeit – einer Mischung aus Blut, Eingeweiden, Knorpeln, Haut –, die auch die Wände, den Boden, sogar den Kaminabzug bespritzt hat. In der Luft schwebt der mächtige Geruch nach Blut, gemartertem Fleisch und Qual, dazu eine merkwürdige Stimmung, als bewahrten die Wände noch die Leidensschreie, die sie miterlebt haben. Doch zugleich spürt Melchor in der Atmosphäre des Zimmers – und das verstört ihn vielleicht am meisten – eine Art Jubel oder Euphorie, mit Worten nicht zu fassen, doch müsste er sie beschreiben, dann vielleicht als fröhlichen Nachklang eines makabren Karnevals, eines wahnsinnigen Rituals, eines freudigen Menschenopfers.

Überwältigt geht Melchor auf diese zweifache Schreckensmasse zu, versucht dabei, nicht auf Beweise zu treten (auf dem Boden liegen zwei blutgetränkte Stofffetzen, die zweifellos als Knebel gedient haben), und als er das Sofa erreicht, erkennt er auf den ersten Blick, dass die beiden blutigen Bündel die gründlich gefolterten und verstümmelten Körper eines Mannes und einer Frau sind. Ihnen wurden Augen, Fingernägel, Zähne und Ohren ausgerissen, die Brustwarzen abgeschnitten, sie wurden aufgeschlitzt und ausgeweidet. Ansonsten sieht man am hellgrauen Haar und den schlaffen, knochigen Gliedern (oder was davon übrig ist), dass es sich um zwei alte Menschen handelt.

»Sind es die Adells?«, fragt er.

Mayol, der ein paar Meter entfernt stehen geblieben ist, kommt heran und lässt sich die Frage wiederholen.

»Ich glaube schon«, antwortet er.

Melchor hat die Adells auf Fotos in der Lokalpresse und in Prospekten gesehen, aber niemals persönlich, und erkennt bei diesem Gemetzel nicht das Geringste wieder.

»Bleib hier, niemand soll etwas anfassen«, sagt er zu Mayol. »Sargento Blai muss jeden Augenblick kommen. Ich sehe mich um.«

Das Landhaus ist riesig, hat unzählige Zimmer und wirkt auf eine Art umgebaut, die Melchor nach Architekturzeitschrift aussieht: Die Grundstruktur ist beibehalten, der Rest modernisiert. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stock entdeckt Melchor in einem Zimmerchen, früher vielleicht eine Speisekammer, ein Schaltpult mit mehreren toten Bildschirmen. Es ist das Zimmer für die Alarmanlagen, allesamt ausgeschaltet.

Er geht hinauf in den zweiten Stock und tritt in einen rechteckigen Saal, von dem sechs Türen abgehen, zwei davon weit geöffnet. Hinter der ersten befindet sich ein Schlafzimmer mit allen Spuren einer brachialen Durchsuchung: Vom Doppelbett wurden Laken, Kopfkissen, Bettdecke und Matratze fortgerissen, sie liegen aufgeschlitzt auf einem Haufen in der Ecke. Nachttische, Kommoden und Schränke wurden durchwühlt oder gleich ganz entleert; auf

Er geht in das andere offene Zimmer und entdeckt einen weiteren Leichnam, den einer strohblonden Frau mit blasser Haut und groben Knochen, sie sitzt neben dem zerwühlten Bett auf dem Boden, lehnt an der Wand zum Nachbarzimmer, der Kopf auf die Schulter gesunken. Die Tote trägt ein cremefarbenes Nachthemd und einen blauen Morgenrock, die Augen sind aufgerissen, als hätte sie den Teufel gesehen, auf der Stirn ein Loch von der Größe einer Zehn-Cent-Münze, aus dem lotrecht eine getrocknete Blutspur zu Nase und Mund führt. Melchor inspiziert die übrigen vier Zimmer – ein Wohnzimmer und drei Schlafzimmer –, findet aber nichts Auffälliges. Dann geht er in den dritten Stock und untersucht den Dachboden, merkt aber gleich, dass die Eindringlinge nicht bis dahin

Sargento Blai und Caporal Salom starren gerade auf die beiden Leichen im ersten Stock, als Melchor zu ihnen tritt. Drei Kollegen von der Spurensicherung kehren ihnen den Rücken zu und packen schweigend Ausrüstung und Instrumente aus. Als Blai Melchor sieht, fragt er:

»Gibt es noch mehr Tote?«

Der Sargento ist gerade fünfundvierzig geworden, wirkt aber jünger. Er trägt enge Jeans und ein gestreiftes T-Shirt, das Bizeps und Brustmuskulatur betont; unter dem haarlosen Schädeldach mustern blaue Augen, hell und durchdringend, das Gemetzel mit einer Mischung aus Unglauben und Ekel.

»Einen«, entgegnet Melchor. »Eine Frau. Sie wurde erschossen, aber nicht gefoltert.«

»Das muss die rumänische Hausangestellte sein«, vermutet Blai. »Die Köchin sagt, sie hat im Haus geschlafen.«

»Das Schlafzimmer der beiden Alten wurde auf den Kopf gestellt«, fährt Melchor fort. »Zumindest glaube ich, dass es ihr Schlafzimmer ist. Auf dem Boden liegen die Überreste von Handys, sorgfältig zertrümmert. Habt ihr die Reifenspuren draußen gesehen?«

Sargento Blai nickt, die Augen starr auf die Adells gerichtet.

»Das ist das Einzige, was mich wundert«, sagt Melchor. »Alles Übrige riecht nach Profi.«

»Oder nach Psychopath«, sagt Blai. »Um nicht zu sagen, nach Satanist. Wem sonst könnte so was einfallen?«

»Wieso?«, fragt Blai.

Melchor zuckt mit den Schultern.

»Sie haben die Tür nicht aufgebrochen«, antwortet er. »Haben Kameras und Alarmanlage ausgeschaltet. Die Handys zertrümmert und die SIM-Karten mitgenommen, damit wir die Anrufe der beiden Alten nicht überprüfen können. Und sie haben sie in aller Gründlichkeit gefoltert. Da waren Experten am Werk. Es könnte ein Raubüberfall gewesen sein, womöglich haben sie Schmuck und Geld mitgenommen, obwohl ich keinen Safe gesehen habe. Doch passt so ein Gemetzel zu Raub? Vielleicht haben sie etwas gesucht und sie deshalb gefoltert.«

»Vielleicht«, sagt Sargento Blai. »Aber es können Profis und zugleich Psychopathen gewesen sein. Und das Ganze ein Ritual. Was meinst du, Salom?«

Der Caporal ist wie hypnotisiert von den Leichen, scheint seinen Augen noch immer nicht zu trauen. Die übliche Ruhe ist ihm abhandengekommen. Er ist blass, seine Züge sind leicht verzerrt, und er atmet durch den Mund; ein winziges Zittern erfasst die Oberlippe. Er hat einen buschigen Bart, einen beleibten Körper und eine altmodische Brille; all das lässt ihn viel älter wirken als Blai, der bloß zwei Jahre jünger ist.

»Fürs Erste würde ich auch nicht auf Profis tippen«, antwortet er. »Womöglich hast du recht, und es waren ein paar Durchgeknallte.«

»Hast du sie gekannt?«, fragt Blai.

Schweigen tritt ein, und Salom bekommt endlich das Lippenzucken unter Kontrolle. Sargento Blai seufzt resigniert.

»Gut, ich rufe in Tortosa an. Allein können wir das nicht stemmen.«

Während der Sargento mit der regionalen Ermittlungseinheit in Tortosa telefoniert, betrachten Melchor und Salom noch einen Moment lang das Massaker.

»Weißt du, woran ich denken muss?«, fragt Melchor.

Salom fasst sich allmählich. Zumindest wirkt es so.

»Woran?«, fragt er.

»An das, was du mir damals gesagt hast, als ich hergekommen bin.«

»Was habe ich gesagt?«

»Dass in Terra Alta niemals etwas passiert.«

 

Mit Hilfe zweier Kollegen des Ermittlungsteams hat Melchor gerade festgestellt, dass alle Alarmanlagen und Überwachungskameras im Haus vor eineinhalb Tagen ausgeschaltet wurden, Freitagnacht, zehn Uhr achtundvierzig, da blickt ein Streifenpolizist in die ehemalige Speisekammer, die nun eine kleine Sicherheitszentrale ist.

»Subinspector Gomà aus Tortosa ist da«, teilte er Melchor mit. »Barrera und Blai sagen, du sollst herunterkommen.«

Im ersten Stock reden Subinspector Barrera und Sargento Blai im Wohnzimmer mit einem Mann, Subinspector Gomà, wie Melchor vermutet, der neue Leiter der Ermittlungseinheit in Tortosa. Neben ihm eine dünne Frau um die dreißig mit harten Zügen und dunklem, kurzem Kraushaar, ein iPad in der Hand, unter dem Schlüsselbein ein Tattoo: ein rotes Herz durchbohrt von einem Pfeil. Sargento Pires. Melchor kennt sie von einer Besprechung in Tortosa, aber das Tattoo war ihm damals nicht aufgefallen, vielleicht ist es neu. Die vier Vorgesetzten sehen sich die beiden gefolterten Leichen an, während um sie herum mehrere Kriminaltechniker im weißen Overall

»Sie sind der Ermittler, der als Erster hier war?«

»Ja«, sagt Melchor. »Ich hatte Nachtdienst, als die Meldung eintraf.«

»Erzählen Sie, was Sie wissen.«

Während Melchor redet, wenden sie sich von den Leichen ab und gehen in die Mitte des Zimmers, die anderen folgen. Sargento Pires macht Notizen auf dem iPad, und Sargento Blai präzisiert oder erläutert hier und da Melchors Bericht, widerspricht ihm aber nicht. Als Melchor schweigt, denkt Subinspector Gomà kurz nach und weist dann Barrera und Blai an, zwei Männer an der Haustür zu postieren und das restliche Team im Erdgeschoss zu versammeln.

Fünf Minuten später hat sich im Wohnzimmer unten ein Kreis von Polizisten um Gomà und Barrera gebildet, und Gomà wendet sich an alle, doch besonders an die Spurensicherung. Der Subinspector verspricht, sich kurz zu

»Sirvent?« Blai deutet auf einen Polizisten im Overall, von dem nur ein ovales Gesicht mit Eichhörnchenaugen zu sehen ist. »Übernimmst du das?«

Sirvent ist einverstanden. Befriedigt blickt Subinspector Gomà in die Runde, als wollte er alle Mitarbeiter scannen. Er ist ein Mann mittlerer Größe mit kalten Augen und grauem Haar, penibel gekämmt, der Scheitel auf der linken Seite; er trägt einen Anzug aus beigefarbenem Jeansstoff, ein weißes Hemd und eine braune Krawatte; die kleine rechteckige Brille ohne Rahmen verleiht ihm einen intellektuellen Anstrich.

»Das ist alles«, schließt der Subinspector. »Noch einmal:

Die Gruppe verteilt sich murmelnd im Landhaus, doch Gomà hält Melchor zurück.

»Sagen Sie«, fragt Gomà, als sie mit Barrera, Pires und Blai allein geblieben sind. »Warum glauben Sie, dass hier Profis am Werk waren?«

»Weil sie keine Fehler begangen haben«, antwortet Melchor. »Zumindest nicht auf den ersten Blick. Da sind bloß die Reifenspuren.«

»Continental«, schaltet sich Blai ein. »Aber ich glaube nicht, dass wir den Wagentyp ermitteln können.«

»Vielleicht war es gar kein Fehler«, wendet Gomà ein. »Ich meine«, schickt er rasch hinterher, »der Fehler ist allzu offensichtlich, um einer zu sein. Vielleicht haben sie ihn vorsätzlich begangen, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.«

Auf die Vermutung des Subinspector folgt Schweigen. Sargento Blai bricht es.

»Ich bin mir nicht so sicher, dass es Profis waren«, widerspricht er.

»Ich auch nicht.« Barrera springt ihm zur Seite. »Außerdem gibt es überall Spuren.«

»Ich wette, die meisten stammen von den Opfern«, sagt Melchor. »Oder von ihrer Familie.«

»Apropos Familie«, schaltet sich Gomà ein. »Haben wir sie benachrichtigt?«

»Noch nicht«, sagt Blai.

»Worauf warten wir?«, fragt Gomà. »Sobald sie Bescheid

Sargento Pires notiert die Anordnungen des Subinspector auf dem iPad, und Sargento Blai blickt sich suchend nach jemandem um, findet ihn nicht und verlässt den Raum. Wortlos begibt sich Gomà nach oben, Melchor soll ihn begleiten, auch Barrera und Pires folgen. Als sie ins Zimmer mit den Leichen treten, betrachtet Gomà sie kurz und deutet dann auf eine breiige Lache auf dem Boden.

»Kann mir jemand das hier erklären?«, fragt er.

»Der Streifenpolizist, der bei mir war, hat sich übergeben«, antwortet Melchor.

»Da war er nicht der Einzige«, bemerkt Barrera. »Wir anderen waren bloß etwas diskreter.«

Gomà mustert leicht spöttisch seinen Kollegen, der verärgert den Blick abwendet.

»Man hätte mich warnen sollen«, klagt Barrera und streicht sich über den Bauch. »Ich hatte gerade gefrühstückt und habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt.«

Der Revierleiter von Terra Alta ordnet an, die Pfütze wegzuwischen, nimmt den Befehl jedoch zurück, bevor ihn Gomà daran erinnert, dass nichts im Raum verändert werden darf, bevor die Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig ist. Sargento Blai stößt wieder zu ihnen.

»Ich werde eine Ermittlungsgruppe bilden«, kündigt Gomà an. »Wir stellen, abgesehen von Sargento Pires, fünf Leute. Ihr steuert zwei weitere bei.«

Gomà deutet auf Melchor.

»Der Junge hier ist einer von ihnen«, sagt er. »Und ich will noch einen, der die Gegend gut kennt, der hier lebt.«

»Da habe ich Ihren Mann«, sagt Sargento Blai. »Er ist ein Freund der Familie.«

»Der Adells?«

»Ja.«

»Er soll herkommen.«

»Ich habe ihn gerade losgeschickt, damit er ihnen die Nachricht überbringt.«

»Er soll zurückkommen.«

Blai entfernt sich, telefoniert und kommt gleich wieder. Kurz darauf erscheint Salom. Gomà reicht ihm die Hand, deutet auf die Leichen der beiden Alten und fragt, ob er sie kenne.

»Jeder in Terra Alta kennt sie«, sagt Salom. »Die Gegend ist nicht groß.«

»Persönlich, meine ich.«

»Ja«, sagt Salom. »Ich bin in Gandesa geboren und habe fast immer hier gelebt, ebenso wie die beiden. Das heißt, wie er, sie ist nicht von hier, obwohl sie schon seit einer Ewigkeit in Terra Alta gelebt hat. Aber vor allem kenne ich die Tochter und den Schwiegersohn. Den Schwiegersohn vor allem. Wir sind gut befreundet.«

»Mehr Kinder hatten sie nicht?«

»Nein. Es gibt auch keine näheren Verwandten. Soweit ich weiß.«

»Der alte Mann war ein Topunternehmer«, sagt er. »Halb Gandesa gehört ihm. Und Gráficas Adell natürlich.«

»Sie stellen Papiererzeugnisse her«, schaltet sich Barrera ein. »Verpackungen für Muffins, Papptabletts für Konditoreien, Pralinenschachteln, Kartons, Eierschachteln, Förmchen für Mandelgebäck. Und dergleichen mehr. Es ist das umsatzstärkste Unternehmen in Terra Alta.«

»Die Stammfabrik befindet sich im Gewerbegebiet La Plana Parc, am Stadtrand von Gandesa«, fügt Salom hinzu. »Und es gibt Niederlassungen in Osteuropa und Lateinamerika.«

»Wer hat all das geleitet?«, fragt Gomà.

»Wer das Sagen hatte?«, fragt Salom zurück. Gomà nickt. »Der Alte«, antwortet der Caporal. »Es gibt noch einen Geschäftsführer, der schon immer dabei war, eine Schlüsselfigur, die alles kontrolliert. Und der Schwiegersohn ist Vorstandsvorsitzender.«

»Der Schwiegersohn ist Ihr Freund«, sagt Gomà.

»Ja«, erwidert Salom. »Albert Ferrer heißt er. Aber das Sagen hatte der Alte. Er hat immer noch alle wichtigen Entscheidungen getroffen.«

»Wie alt war er?«, fragt Gomà.

»Ich weiß nicht«, sagt Salom. »Wohl mindestens neunzig, nehme ich an.«

Der Subinspector hebt die Brauen, verzieht den Mund und wiegt den Kopf, beeindruckt von der Zahl. Dann dreht er sich zu den beiden Leichen um, als müsste er sich

»Ich will einen vollständigen Bericht über das gesamte Familienunternehmen«, ordnet Gomà an. Er wendet sich an Pires, die wieder notiert. »Bis zur Nachmittagsbesprechung. Die ist um wie viel Uhr?«

»Um fünf«, antwortet sie, ohne den Blick vom iPad zu heben.

»Klappt das bis dahin?«, fragt Gomà. Pires bejaht, und der Subinspector deutet auf Melchor und Salom und fügt hinzu: »Sie beide möchte ich auch dabeihaben. Auf dem Revier, meine ich.«

Melchor und Salom nicken.

»Noch etwas«, fährt Gomà fort und wendet sich an Salom. »Die Adells hatten wohl viele Feinde, nicht wahr?« Die Frage scheint den Caporal zu verblüffen. Der Subinspector erklärt: »Leute, die sie nicht mochten. Leute, die sie gehasst haben.«

»Eher weniger, scheint mir«, antwortet Salom. »Weshalb glauben Sie das?«

»So ist das gewöhnlich bei reichen Leuten«, erklärt Gomà. »Je reicher, desto mehr Feinde.«

»Bei den Adells bezweifle ich das«, sagt Salom mit skeptischer Miene. »Zumindest nicht hier in Terra Alta.

Barrera und Blai stützen diese Ansicht mit eigenen Informationen und Eindrücken, die Sargento Pires ebenfalls auf dem iPad notiert oder zusammenfasst. Als der Meinungsaustausch ins Stocken kommt, sagt Salom:

»Dann sollte ich wohl besser die Familie benachrichtigen.«

»Ja, gehen Sie«, ermutigt ihn Gomà. »Und vergessen Sie nicht, allen die Fingerabdrücke abzunehmen. Blai, haben Sie den Untersuchungsrichter angerufen?«

»Gleich nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte«, antwortet Blai. »Wir sollen Bescheid sagen, sobald wir fertig sind.«

»Dann tun Sie das jetzt.«

Sargento Blai geht in eine von der Spurensicherung freigegebene Ecke, wo er ungestört telefonieren kann. Ein Streifenpolizist kommt herein und sucht Subinspector Barrera, der ihn anhört, sich entschuldigt und mit ihm den Raum verlässt. Gomà gibt Pires weitere Anweisungen, und Melchor nutzt den Moment, um sich zurückzuziehen und mit der Arbeit fortzufahren. Doch Gomà hält ihn erneut zurück.

»Warten Sie«, sagt er. »Ich brauche Sie noch.«

»Einen Moment«, entschuldigt sich die Sargento. »Es ist López, von der Presse.«

Gomà nimmt Melchor beim Arm und führt ihn in eine Zimmerecke, gleich neben der Treppe zum zweiten Stock.

»Barrera und Blai haben mir erzählt, wer du bist«, sagt er und geht unvermittelt zum Du über.

Gomà lässt seinen Arm los. Hinter den Brillengläsern sind die kalten Augen nun eisig und forschend. Melchor ahnt, was der Subinspector meint, antwortet aber nicht, sondern hält nur dem Blick stand.

»Ich habe viel von dir gehört«, verrät ihm Gomà. »Wie lange liegen die Attentate schon zurück? Vier Jahre, fünf?«

Melchor antwortet, vier.

»War eine beachtliche Leistung«, fährt der Subinspector fort und wiegt wieder den Kopf. »Man muss schon ein ganzer Kerl sein, um so was zu tun. Glückwunsch.« Er nimmt die Brille ab, behaucht die Gläser, reinigt sie mit einem Taschentuchzipfel und relativiert: »Aber so gut ist nicht alles, was man über dich erzählt. Das weißt du, nicht wahr?«

Gomà lässt ein paar Sekunden verstreichen und setzt die Brille wieder auf.

»Ich will nur sagen, mach dir keine falschen Vorstellungen«, erklärt er und sieht Melchor in die Augen. »Das hier ist Teamarbeit, manch einer vergisst das. Ich nicht. Ich habe das immer im Hinterkopf. Ich hoffe, du auch, zumindest solange du mit mir arbeitest. Du weißt, du sollst mir bei dem Fall zur Hand gehen, ich habe dich ausgewählt. Das heißt, ich vertraue dir. Man kann dir vertrauen, hat man mir gesagt, ich hoffe, du enttäuschst mich nicht. Jedenfalls möchte ich, dass du einfach einer mehr im Team bist. Nichts weiter. Einer mehr. Ist das klar?«

Melchor nickt.

»Es ist wichtig, dass du das verstehst«, beharrt Gomà. »Wenn nicht, sag es gleich. Dann ziehe ich dich von dem Fall ab und Schluss. Das ist am besten. Für dich und für mich. Und für den Fall.«

Melchor nickt wieder. Ein befriedigtes Lächeln lässt die Zähne des Subinspector hervorblitzen.

Sargento Pires hat ihr Telefonat bereits beendet und wartet in diskreter Distanz auf das Ende des vertraulichen Gesprächs. Jetzt tritt sie zu den beiden, und sobald Gomà sie in Hörweite weiß, kehrt er vom Du zum Sie zurück.

»Wenn Sie Nachtdienst hatten, haben Sie sicher noch nicht geschlafen«, sagt er.

»Nein«, bestätigt Melchor.

»Warten Sie, bis der Richter da ist«, ordnet Gomà an. »Erzählen Sie ihm, was Sie mir erzählt haben. Dann gehen Sie etwas essen und ruhen sich ein wenig aus. Am Nachmittag brauche ich Sie frisch.«

Die Abordnung des Gerichts erscheint kurz vor elf im Landhaus. Ein Streifenpolizist kündigt ihr Eintreffen an, und Gomà und Barrera empfangen sie im Garten, zusammen mit Blai und Pires. Melchor und Salom beobachten sie von der Haustür aus. Die Gruppe besteht aus Gerichtsmediziner, Gerichtssekretär und Richter, ein beleibter, pausbäckiger und fast kahler Mann mit Hosenträgern, der nach einem kurzen Gespräch mit Gomà der Gruppe voran zum Tatort geht. Als sie an Melchor und Salom vorbeikommen, macht ihnen Gomà ein Zeichen, dass sie sich anschließen sollen. Sie folgen ihnen und sehen im Zimmer mit den Leichen, wie unterschiedlich die Neuankömmlinge auf das Grauenhafte reagieren, das sie dort erwartet: Während der Richter – der vom Treppensteigen noch außer Atem ist und sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht wischt – alles reglos mustert, die Augen weit

»Du liebe Scheiße«, ruft der Richter schließlich. »Was zum Teufel ist das!«

Gleich darauf, Richter und Sekretär haben sich noch kaum von dem Schrecken erholt, beginnt die Leichenschau. Versehen mit blauen Handschuhen und einem grauen Kittel, beginnt der Forensiker, die Überreste der Adells zu untersuchen, und der Richter, der sich noch immer die Schläfen mit dem Taschentuch wischt, bittet Gomà, ihm in allen Einzelheiten zu erzählen, was man weiß.

»Das überlasse ich lieber ihm.« Gomà deutet auf Melchor. »Er war als Erster hier.«

Der Richter bemerkt Melchor. Die beiden Männer haben regelmäßig bei Gericht miteinander zu tun, aber Melchor ist sich nicht sicher, ob der Richter seinen Namen kennt.

»Dann schieß los, mein Lieber«, sagt der Richter. »Ich bin ganz Ohr.«

 

Kaum hat er den Schlüssel im Schloss gedreht, hört Melchor aus der Wohnung einen Schrei. Sekunden später hat er seine Tochter auf dem Arm, sie hängt an seinem Hals, küsst ihn und keucht, als hätte sie einen Hundertmeterlauf hinter sich. Ohne ein Wort der Begrüßung versucht

»Bittebitte, Papa!«

Sie sind nun in der Küche. Melchor wirft seiner Frau einen fragenden Blick zu.

»Wir haben auf dem Markt Elisa Climent getroffen«, sagt Olga. »Sie und ihre Mutter haben sie zum Spielen eingeladen.«

Melchor täuscht Überraschung vor.

»Wirklich?«, fragt er.

»Ja!«, ruft Cosette. »Darf ich hin, Papi?«

Nun täuscht Melchor Zweifel vor.

»Na, ich weiß nicht recht, Kleines«, sagt er.

»Bittebitte, Papi!«, fleht Cosette und windet sich in seinen Armen. »Bittebittebitte!«

Melchor entschlüpft ein Lachen.

»In Ordnung«, sagt er schließlich, und im Überschwang der Dankbarkeit pflanzt ihm Cosette einen Kuss auf die Wange. »Aber unter einer Bedingung.«

Cosette legt den Kopf zurück und mustert ihn beunruhigt.

»Was denn?«, fragt sie.

»Dass du mir einen Kuss gibst.«

Cosette lächelt, ein strahlendes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellt.

»Aber ich hab dir schon einen gegeben!«

»Noch einen.«

Cosette küsst ihn.

Cosette presst mit aller Kraft den Mund gegen die Wange des Vaters.

»Noch dicker«, sagt Melchor.

Cosette verzieht ärgerlich den Mund.

»Mama, schau dir Papa an!«, protestiert sie.

Melchor setzt seine Tochter ab und gibt ihr einen Klaps. Auf dem Küchentisch stehen zwei Teller mit Nudelresten, ein leeres Glas, ein halbes Glas Rotwein und eine halbe Flasche Wasser.

»Ihr habt schon Mittag gegessen?«, fragt er.

»Natürlich«, entgegnet Olga. »Wir wussten nicht, wann du kommst, und Elisa und ihre Mutter müssen gleich da sein. Aber wir haben dir etwas übrig gelassen.«

»Zum Glück«, sagt Melchor. »Wenn es nichts zu essen gibt …«, er geht in die Knie, stößt ein Raubtiergebrüll aus, fletscht die Zähne, streckt Cosette drohend die Arme entgegen und krümmt seine Finger zu Krallen, »dann fresse ich euch beide auf.«

Cosette kreischt und versteckt sich erschrocken, aber lachend hinter der Mutter. Auch Melchor lacht, entzückt darüber, was für einen Schreck er seiner Tochter eingejagt hat, die neben den Beinen seiner Frau vorsichtig ein Auge hervorblitzen lässt.

»Du musst umfallen vor Hunger und Müdigkeit«, sagt Olga.

»So ungefähr«, sagt Melchor und richtet sich auf. »Na, dann lasst mich mal duschen.«

Während er sich unter dem Wasserstrahl einseift,

»Wie entsetzlich, das mit den Adells!«, sagt Olga als Erstes.

»Woher weißt du davon?«, fragt Melchor.

»Wie soll ich nicht davon wissen? Das Dorf ist ein Bienenstock, die Nachricht verbreitet sich überall. Seit der Ebroschlacht war nicht mehr so viel von Terra Alta die Rede. Wisst ihr schon, wer es gewesen sein kann?«

»Keine Ahnung.«

»Ihr habt keinerlei Spur?«

»Nicht eine. Aber keine Sorge. Wir kriegen sie.«

Olga sitzt seitlich vor ihm, mit dem Rücken an der Wand, die Beine übereinandergeschlagen, und erzählt, was sie am Vormittag im Radio gehört hat, während sie Schluck für Schluck ihr Weinglas austrinkt. Sie trägt eine weiße Bluse und verschlissene Jeans, ihr Haar ist glatt und dunkel, nicht sehr lang, im Nacken mit einer Klammer hochgesteckt. Melchor hört ihr zu und spült hin und wieder die Makkaroni mit großen Schlucken Cola hinunter, er mag es, wie gut sie sich ausdrückt, staunt immer noch, dass er so eine Frau für sich allein hat: hübsch, gebildet, fürsorglich.

Mit seinen fast dreißig Jahren hat Melchor oft das Gefühl, dass sein Leben, seit er Olga kennengelernt hat, nicht mehr das ist, zu dem er verurteilt zu sein schien, hat das Gefühl, dass er sich seit seiner Ankunft in Terra Alta ein

Melchor lässt Olga erzählen, mal nickt er, mal versucht er, das Grausame der Vorfälle im Landhaus – oder wie die Journalisten sie darstellen – zu bemänteln, abzuschwächen oder zu verschleiern, und schließlich fragt er, ob sie die Adells gekannt habe.

»Natürlich«, entgegnet Olga. Sie hält das Weinglas am Stiel und dreht es langsam, konzentriert. »Vor allem ihre Tochter, Rosa heißt sie, sie ist viel älter als du. In meinem Alter. Wir sind zusammen in die Schule gegangen, wir waren fast Nachbarinnen. Auch ihren Mann kenne ich.«

»Er ist mit Salom befreundet«, sagt Melchor.

»Ja, sehr gut sogar.« Olga blickt auf als Zeichen der Zustimmung, ihr Glas dreht sich nicht mehr. »Sie sind verschieden wie Tag und Nacht, haben aber während des

»Warum hatten er und dein Vater später keinen Kontakt mehr?«

Olga zuckt mit den Schultern.

»Ich weiß nicht, mein Vater hat es mir nie erklärt. Ich weiß bloß, dass er sehr speziell war. Du hast sicher gehört, dass er erzkatholisch gewesen ist.« Melchor nickt, während er Makkaroni auf die Gabel spießt. »Das mag wohl

Olga lächelt – über Adells Satz oder die Erinnerung an ihren Vater –, und ein feines Netz von Fältchen sprießt an den Mundwinkeln hervor. Melchor kaut und muss daran denken, wie er seine Frau kennengelernt hat, kurz nach seiner Ankunft in Terra Alta, und ein Schauer läuft ihm kalt den Rücken hinunter wie ein aufwallendes Begehren.

»Aber die Leute hier hatten sie gern, oder?«, fragt er. »Die Adells, meine ich.«

»Wer hat das gesagt?«

»Salom.«

Olga neigt den Kopf und senkt zweifelnd die Lider.

»Zumindest geben sie vielen Leuten Arbeit«, beharrt Melchor.

»Ja, aber was für Arbeit?«, fragt Olga, entflechtet ihre Beine, blickt Melchor ins Gesicht und stellt ihr Glas zur Seite, als dürfte sich nichts zwischen sie schieben. »Sie zahlen ein miserables Gehalt, denn sie haben sich mit den anderen Unternehmern im Umkreis abgesprochen. Ihre Fabriken haben nicht einmal einen Betriebsrat. Wer in Terra Alta bleiben will, muss sich mit dem jämmerlichen Lohn abfinden, den sie zahlen. Das weißt du besser als ich. Wie viele ausländische Arbeiter kommen in Terra Alta inzwischen auf einen Arbeiter von hier?«

»Drei oder vier«, antwortet Melchor. »Die meisten Rumänen und viele von ihnen illegal.«

»Aber die hiesigen machen sich trotzdem nicht davon.«

»Natürlich nicht. In Terra Alta sind wir konservativ, das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Wer hier geboren ist, will nicht weg, wir wollen hier leben. Und wenn wir fortgehen, kehren wir zurück, wie Salom oder ich. Oder wie die Adells, die überall leben könnten, aber immer noch hier sind. Natürlich sind die Adells reich. Doch das spielt keine Rolle, wir sind wie sie. Das hier ist eine arme Gegend, man kommt mit wenig aus.«

Olga steht auf, schenkt sich noch etwas Wein nach und trinkt ihn, gegen die Kühlschranktür gelehnt, mit einem Schluck aus.

»Sieh mal, Melchor«, fährt sie fort. »Die Adells sind wie ein Baum, der einen breiten Schatten wirft, aber nichts um sich herum wachsen lässt. Sie kontrollieren alles. Haben überall in Terra Alta Eigentum, halb Gandesa gehört ihnen, das heißt, sie geben den Leuten Arbeit in ihren Unternehmen, verkaufen ihnen die Wohnungen, in denen sie leben, sogar die Möbel, mit denen sie sie füllen, wem, meinst du, gehört das Möbelgeschäft Muebles Terra Alta? Adell war jedenfalls ein Dorfbonze. Damit mache ich ihn nicht schlecht, ich beschreibe ihn nur.«

»Du sagst also, mehr als einer freut sich über das, was geschehen ist?«

»Nein, ich sage, was ich sage. Und was ich sage, ist die Wahrheit. Salom weiß das so gut wie ich. Sprich mit den Arbeitern von Gráficas Adell, und du wirst sehen.

Melchor schüttelt den Kopf, und Olga fragt, ob sie einen Kaffee machen soll. Melchor verneint wieder.

»Ich will nur ein wenig schlafen«, sagt er und deutet auf die Wanduhr in Form eines Apfels, die halb drei anzeigt. »Um fünf muss ich auf dem Revier sein.«

Gemeinsam räumen sie den Tisch ab und stellen Teller, Besteck und Weinglas ins Spülbecken. Olga bückt sich, um die Cola-Dose in eine Tüte zu stecken, in der sich bereits ein Tetrapak und zwei Plastikflaschen befinden. Als sie sich wieder aufrichtet, umfasst Melchor ihre Taille und küsst sie auf den Hals, sucht ihren Mund, findet ihn. Olga weicht zurück und sagt:

»Na komm, sei brav und geh schlafen.«

Melchor lächelt, nimmt ihre Hand und führt sie sich zwischen die Beine.

»Man schläft doch viel besser, wenn man ordentlich gevögelt hat.«

»Mensch, Bulle«, lacht Olga. »Immer gleich losschießen.«