Douglas Preston / Lincoln Child
Old Bones - Das Gift der Mumie
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Benthack
Knaur e-books
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts, geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Naturwissenschaften und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim American Museum of Natural History in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, Relic, dem viele weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der Ostküste der USA.
Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut, geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das American
Museum of Natural History in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers Relic, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon und Internet. Lincoln Child publiziert darüber hinaus auch eigene Bücher. Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
In der Reihe um Nora Kelly und Corrie Swanson ist bereits folgender Titel erschienen:
Old Bones - Tote lügen nie
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Scorpion’s Tail« bei Hachette Book Group, New York.
Knaur Taschenbuch
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage unter Verwendung von Motiven von plainpicture/Markus Renner und shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45511-1
In memoriam William Smithback jr.
IN PACE REQUIESCAT
Seit sie acht Monate zuvor ihr Studium an der FBI-Academy abgeschlossen hatte, hatte Special Agent Corrie Swanson gelernt, mit fast allem zu rechnen. Allerdings hatte sie nicht erwartet, Haftbefehle zuzustellen oder flennenden Teenagern zu begegnen. Während sie mit den anderen Mitgliedern des FBI-Teams durch die Berge zurückfuhr, war sie erleichtert, dass dieser schwierige Tag fast vorbei war.
Sie kehrten aus der Stadt Edgewood zurück, nachdem Corrie einem pickligen Hacker einen Haftbefehl zugestellt hatte. Als der Teenager an die Tür des Hauses seiner Mutter kam, war er bei Corries Anblick in Tränen ausgebrochen. Corrie hatte Mitleid mit dem Jungen gehabt – und hinterher ein schlechtes Gewissen, weil sie Mitleid gehabt hatte. Denn er hatte »ja nur so zum Spaß« ein geheimes Netzwerk der Nuklearforschungseinrichtung Los Alamos National Laboratory infiltriert. Jetzt waren seine Rechner, die externen Festplatten, das iPhone, die USB-Sticks, die Playstation, sogar das Home Security System in den schwarzen Lincoln Navigator mit getönten Scheiben verladen, der ihrem Fahrzeug mit Agentin Li Khoury am Steuer und Agent Harry Martinez auf dem Beifahrersitz folgte.
Corrie saß neben ihrem Chef, Supervisory Special Agent Hale Morwood, der das unwahrscheinlichste G-Ride fuhr, das Corrie jemals gesehen hatte: einen neuen Nissan-Pick-up, getunt, in Liebesapfelrot mit Rallyestreifen und einem chinesischen Dragon-Sticker, der schräg über die Motorhaube verlief. Der Wagen entsprach Morwoods trocken-sachlicher Persönlichkeit ganz und gar nicht. Als Corrie schließlich allen Mut zusammengenommen und Morwood gefragt hatte, wieso er so ein Auto fahre, hatte er geantwortet: »Weil ich damit inkognito reisen kann.«
»Also«, sagte Morwood jetzt und wechselte in seine Mentoren-Stimmlage, »hatten Sie genug Aufregung für heute?«
Egal, ob der Tag schwierig gewesen war oder nicht, Corrie war sich durchaus bewusst, dass er eine Art Belohnung darstellte. Sie hatte mehr Schreibtischarbeit als erforderlich geleistet, sie hatte hart gearbeitet, um Morwood zu imponieren, und es war ihr sogar gelungen, in einem neueren Fall eine größere Rolle zu spielen. Aber für Morwood kam das hier zweifellos einem Schulausflug gleich.
Trotzdem wusste sie, dass es ihm nicht gefallen würde, wenn sie sich dankbar zeigte. »Ich fand es etwas albern, dass ich bei einem solchen Einsatz eine kugelsichere Weste tragen musste.«
»Man weiß nie, was passiert. Statt nur herumzuschreien, hätte die Mutter auch eine Magnum Kaliber .357 ziehen können.«
»Was wollen Sie eigentlich mit dem ganzen Computer-Equipment machen?«
»Das Labor wird es sich ansehen, herausfinden, was genau der Junge getan hat und wie. Anschließend fahren wir zurück, nehmen ihn fest – und sein Leben ist vorbei.«
Corrie schluckte.
»Kommt Ihnen das zu harsch vor?«
»Ehrlich gesagt, hat er keiner meiner Vorstellungen eines Straftäters entsprochen.«
»Meiner auch nicht. Intelligenter Junge, stabiles Mittelschichts-Zuhause, Einser-Schüler, vielversprechende Zukunft. Auf eine gewisse Art macht es die ganze Sache schlimmer, als, sagen wir, wenn das einem Kind passiert wäre, das in einem Problemviertel in der Innenstadt aufwächst und anfängt, mit Drogen zu dealen, weil es nichts anderes kennt. Unser Junge ist achtzehn, womit er strafrechtlich als Erwachsener gilt, und er hat ein System gehackt, das Geheiminformationen über Atombomben enthält.«
»Ich teile Ihre Meinung vollkommen.«
Nach einem Moment sagte Morwood: »Es ist gut mitzufühlen. Viele Agenten verlieren das im Laufe der Zeit. Aber wägen Sie Ihr Mitgefühl mit Ihrem Sinn für Gerechtigkeit ab. Der Junge wird einen fairen Prozess bekommen, vor zwölf vernünftigen, durchschnittlichen Amerikanern. So funktioniert unser Rechtssystem nun mal – und es ist großartig.«
Corrie nickte. Morwood blickte auf einundzwanzig Jahre Erfahrung als FBI-Agent zurück, und sie staunte, wie wenig zynisch er war. Vielleicht hatte er es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, junge Agenten und Agentinnen während ihrer zweijährigen Probezeit zu betreuen. So viele der anderen Anfänger – einige davon Frauen – versuchten schon jetzt, tough zu sein, zynisch, ausgekocht und macho.
Sie fuhren durch die Stadt Tijeras, an der alten Route 66 gelegen, als Morwood die Hand nach unten ausstreckte und die Lautstärke des Polizeifunks höher stellte, der im Hintergrund gebrummelt hatte. Häusliche Gewalt, Campingplatz im Cedro Park, Berichte über Schüsse …
Corrie fokussierte ihre schweifenden Gedanken.
Die Berichte deuteten auf einen häuslichen Streit hin, die Schüsse wurden offenbar in einem Wohnwagen abgegeben, möglicherweise ein Schussopfer, womöglich eine Geiselsituation. Ort: Cedro Park Campingplatz, New Mexico 252, Ausfahrt Sabino Canyon …
»Also gut, auf geht’s«, sagte Morwood und stellte das Navi ein, »das ist praktisch um die Ecke.« Er zog das Mikro zu sich heran. »Special Agent Morwood und Agenten Swanson, Khoury und Martinez hier. Wir fahren gerade durch Tijeras, auf der Route Sechs-Sechs, und biegen auf die New Mexico Drei-Drei-Sieben Richtung Süden ab. In zehn Minuten sind wir vor Ort.«
Morwood beschleunigte, redete dabei weiter mit der Einsatzzentrale und den Agenten im folgenden Wagen. Mit quietschenden Reifen bog er von der Route 66 auf die 337 in Richtung der Ausläufer der Sandia Mountains. Gleichzeitig streckte er die Hand nach dem Armaturenbrett aus, stellte die Sirene an und aktivierte die LED-Hideaway-Lichter. Der SUV folgte seinem Beispiel.
Die Frau in der Einsatzzentrale übermittelte alle ihr zur Verfügung stehenden Informationen – was herzlich wenig war. Am wichtigsten: Leute auf dem Campingplatz hatten 911 angerufen und von einem Vorfall in einem Camper berichtet – ein lauter Streit, eine schreiende Frau, Schüsse. Ein Mann hatte gesagt, er glaube, auch ein kleines Mädchen gehört zu haben. Natürlich hatten alle auf dem Campingplatz möglichst schnell die Fliege gemacht.
»Wie’s aussieht, bekommen wir es hier gleich mit echter Action zu tun, nicht bloß mit einer Heulsuse von Hacker«, sagte Morwood. »Wir sind die Ersten am Tatort. Überprüfen Sie Ihre Waffe.«
Corrie spürte, dass ihr Herz schneller schlug. Sie zog die Glock 19M aus dem Unterarmholster, ließ das Magazin herausschnappen, checkte es, schob es wieder in die Pistole und steckte diese zurück ins Holster. Standardmäßig befand sich bereits eine Patrone in der Kammer. Corrie war froh, dass sie noch die kugelsichere Weste trug.
»Häusliche Gewalt«, Morwood wechselte erneut in den Mentoren-Modus, »kann, wie Sie vermutlich auf der Academy gelernt haben, die überhaupt gefährlichste Situation sein. Der Täter agiert mitunter völlig irrational, ist erregt, oft sogar suizidal.«
»Genau.«
Die Tachoanzeige stieg auf hundertzehn Kilometer pro Stunde – was an und für sich nicht schnell ist, auf einer Bergstraße mit steilen Abhängen und nur wenigen Leitplanken jedoch ziemlich beängstigend sein kann. In jeder Kurve quietschten die Reifen ein bisschen.
»Also, was ist der Plan?«, fragte Corrie. Gleich würden sie es nicht mehr mit einem pickligen Jugendlichen zu tun haben. Das hier war ein echter Einsatz. Ihr erster mit einem aktiven Schützen.
»Sie haben ein Sondereinsatzkommando und eine Verhandlungsgruppe losgeschickt, das FBI hat die Krisen-Interventions-Abteilung alarmiert. Wir übernehmen deshalb die defensive Position: ankündigen, einschätzen und deeskalieren. Genau genommen halten wir den Typ so lange am Reden, bis die Profis eintreffen.«
»Und wenn er eine Geisel genommen hat?«
»In dem Fall ist das Wichtigste, ihn weiter am Reden zu halten, ihn zu beruhigen und sich darauf zu konzentrieren, ihn dazu zu bringen, die Geisel freizulassen. Je weniger wir machen, desto besser – es sei denn, es kommt zu einer Krise. Am gefährlichsten ist der Augenblick, wenn wir eintreffen und der Schütze uns sieht. Wir gehen da also ganz locker rein, kein Geschrei, keine konfrontativen Sachen. Sollte ein Kinderspiel sein. Und eine gute Erfahrung für Sie.« Er hielt inne. »Aber wenn die Sache aus dem Ruder läuft … folgen Sie einfach meinen Anweisungen.«
»Verstanden.«
»Wie war noch mal gleich Ihre Punktzahl bei der Schießausbildung?«
»Hm, neunundvierzig.« Corrie errötete. Die Punktzahl lag so gerade eben über der erforderlichen Norm, und das im unmittelbaren Anschluss an wochenlanges Üben auf dem Schießstand, das derart intensiv gewesen war, dass ihr noch Tage später die Unterarme wehtaten. Schießen war einfach nicht ihre Stärke.
Morwood brummte irgendetwas Unverständliches und gab noch mehr Gas. Der Pick-up jagte die zweispurige Serpentinenstraße hinauf, die durch das von Pinyon-Kiefern und Wacholder bestandene Hügelland anstieg. Nach fünf Minuten gelangten sie zur Abzweigung zum Cedro Peak Group Campground im Cibola National Forest und nach fünf weiteren auf eine Schotterstraße. Morwood drosselte das Tempo. Nach ein paar weiteren Minuten trafen sie auf dem Campingplatz ein: ein grasbewachsenes, weites Tal mit Picknicktischen, einer Gruppenunterkunft und Feuerstellen zwischen Pinyon-Kiefern. Dahinter erhob sich das große Massiv des Sandia Crest.
Am anderen Ende einer Rundstraße sah Corrie einen allein stehenden faltbaren Wohnwagen mit einem weißen Ford-Pick-up. Der übrige Campingplatz war leer, hier und da standen Zelte.
Morwood bog mit seinem Pick-up auf die rechte Seite der Rundstraße und bedeutete Khoury und Martinez mit einer Handbewegung aus dem Autofenster, sie sollten die andere Seite nehmen und am Ende der Straße mit ihm zusammenkommen.
»Ziehen Sie den Kopf ein, es könnte sein, dass der Kerl auf uns schießt«, sagte Morwood. »Ich fahre möglichst nahe heran.«
Er fuhr mit dem Pick-up bis auf sieben Meter an den Camper heran. Kein Schuss fiel. Der Wohnwagen war einer von der Sorte, die aufklappten. Die Schlafabteile beidseits des zentralen Wohnraums wurden von Moskitonetzen und weißem Nylonstoff geschützt. Das Ganze war durchsichtig, sodass Corrie tatsächlich einen Mann sehen konnte. Er stand im Wohnraum, hielt ein kleines Mädchen im Polizeigriff und hielt ihr seine Waffe an den Kopf. Das Mädchen schluchzte vor lauter Angst.
»O Scheiße«, sagte Morwood leise, machte sich klein auf dem Sitz und zog seine Waffe.
Der Mann sagte nichts, bewegte sich nicht, hielt die Waffe weiterhin an den Kopf des Mädchens.
Auch Corrie zog ihre Waffe.
»Steigen Sie auf der anderen Seite aus und nutzen Sie den Wagen als Deckung. Bleiben Sie hinter dem Motorblock.«
»Okay.«
Sie krochen beide aus dem Pick-up und hockten sich hinter die Frontpartie. Morwood hatte die Schnur des Mikrofons gepackt und mit sich aus dem Wagen rausgezogen. Jetzt sprach er ins Mikro; seine ruhige, emotionslose Stimme schallte aus dem Lautsprecher des Pick-ups.
»Wir sind die Agenten Hale Morwood und Corinne Swanson, FBI«, sagte er. »Sir, ich möchte Sie bitten, das Mädchen freizulassen. Wir sind hier, um mit Ihnen zu sprechen. Niemand wird zu Schaden kommen.«
Eine lange Stille folgte. Weil der Mann im Gegenlicht stand, hinter dem Netz, konnte Corrie seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Doch seine Brust hob und senkte sich, und sie hörte seinen keuchenden Atem.
Und dann sah sie es: Unter der Tür des Wohnwagens drang in kleinen Rinnsalen Blut hervor, tropfte auf die Stufen und in den darunter befindlichen Sand.
»Sehen Sie das Blut?«, fragte Morwood.
»Ja.« Das Herz schlug Corrie bis zum Hals. Der Typ hatte also schon jemanden in dem Wohnwagen angeschossen.
»Sir? Wir bitten Sie, die Geisel freizulassen. Lassen Sie das Mädchen gehen. Sobald Sie das getan haben, können wir miteinander sprechen. Wir hören uns an, was Sie zu sagen haben, und bringen die Sache in Ordnung.«
Der Mann nahm die Waffe vom Kopf des Mädchens und schoss zweimal auf Morwood und Swanson. Beide Schüsse gingen weit daneben.
Man hat schon einmal auf mich geschossen, dachte Corrie. Ich komm damit klar. Außerdem ist der Typ ein schlechter Schütze.
Wieder sagte Morwood irgendetwas, seine Stimme klang dabei ganz ruhig. »Bitte, lassen Sie das Mädchen frei. Wenn es etwas gibt, was ich dafür tun muss, sagen Sie es mir.«
»Ich brauch einen Scheiß von dir!«, kreischte der Mann plötzlich derart wutentbrannt und irre hysterisch, dass seine Worte kaum zu verstehen waren. »Ich bring sie um! Ich mach sie kalt, und zwar auf der Stelle!«
Das Mädchen kreischte.
»Halt die Klappe!«
Morwood redete weiter, stetig, in bestimmtem Tonfall. »Sir, Sie werden doch nicht ein Kind töten – ist sie Ihre Tochter?«
»Sie ist die Tochter der Schlampe, und ich bring sie auf der Stelle um.«
Corrie sah, wie der Mann die Waffe hob und erneut zwei Schüsse auf sie und Morwood abgab. Eine Kugel schlug ins Heck des Pick-ups ein. Dann drückte der Mann die Waffe wieder an den Kopf des Mädchens.
»Sie wird sterben, ich zähle bis drei!«
Der spitze Angstschrei des Mädchens klang, als würde eine Metallklinge durch Blech schneiden. »Nein!«, stieß sie hervor. »Bitte, Onkel, nein!«
»Eins!«
Morwood wandte sich zu Corrie um. Leise, schnell sagte er: »Ich autorisiere tödliche Gewalt. Ich gehe nach rechts raus, um ihn von der Seite zu erwischen. Geben Sie mir Deckung. Wenn Sie freie Schussbahn haben – und ich meine völlig freie –, schießen Sie.«
Die Glock fühlte sich in ihrer zittrigen Hand wie ein Klumpen schweres, nasses Plastik an. Verdammt, beruhige dich und konzentrier dich. Sie spähte über die Motorhaube, nahm eine hockende Schusshaltung ein und streckte die Arme aus. Dadurch gab sie zwar ihre Deckung auf, doch der Kerl war ein miserabler Schütze. In Gedanken wiederholte sie den Satz: Der Typ ist ein miserabler Schütze.
Sorgfältig legte sie auf den Kopf des Mannes an, beugte den Finger ein wenig um den Abzug. Jetzt hielt der Mann das Mädchen schützend vor sich, außerdem waren zehn Meter zu weit, um einen entscheidenden Schuss anbringen zu können.
Morwood sprang hinter dem Pick-up hervor, rannte zu einer Pinyon-Kiefer zehn Meter zur Rechten, warf sich in eine liegende Schussposition.
Corrie hatte den Mann im Visier. Auf diese Entfernung einen Kopfschuss mit der Glock zu versuchen war immer noch viel zu riskant – es könnte den Tod des Mädchens bedeuten. Sie blickte nach links, sah, dass Khoury und Martinez mit vorgehaltener Waffe hinter ihrem SUV hockten. Jetzt hörte sie die leisen Sirenen der Fahrzeuge des Sondereinsatzkommandos die Straße heraufkommen.
Gott sei Dank – sie waren fast da.
»Drei!«
Morwood gab einen Schuss ab, aber Corrie begriff sofort, dass dieser den Mann ablenken, ihn davon abhalten sollte, das Mädchen zu erschießen – was tatsächlich funktionierte. Der Mann nahm die Waffe vom Kopf des Mädchens und erwiderte das Feuer mit zwei ungezielten Schüssen. Im selben Augenblick riss sich das Mädchen los und rannte auf die Tür zu, glitt jedoch aus und stürzte.
In diesem Moment war der Mann isoliert, allein und zeichnete sich deutlich hinter dem Nylonnetz ab. Das Mädchen lag auf dem Boden. Corrie hatte den Mann im Visier.
Sie drückte ab.
Sie spürte den Rückstoß, der Mann wurde von der Kugel getroffen, aber nicht am Kopf, auf den sie gezielt hatte, sondern an der rechten Schulter. Der Mann wirbelte herum, er schwenkte seine Waffe zur Seite, um das Feuer zu erwidern, geriet jedoch aus dem Gleichgewicht und gab einen völlig unkontrollierten Schuss ab. Corrie sah den Mündungsblitz und den Rückschlag der Waffe, gerade als das Mädchen sich aufrappelte und nach der wenig soliden Tür des Wohnwagens griff. Kopfüber stürzte sie die Stufen hinunter auf den Boden, die Zöpfe wirbelten durch die Luft, die Prinzessin-Leia-Haarspangen flogen zur Seite.
»Du Dreckskerl!« Ehe sie begriff, was sie da tat, stürmte Corrie auf den Camper zu. Gleichzeitig ertönte eine aus mehreren Schüssen bestehende Salve, abgegeben von Morwood und den anderen Agenten. Die Kugeln trafen ihr Ziel, es riss den Mann ruckartig nach hinten – das Ganze sah aus wie das makabre Zucken einer Lumpenpuppe –, dann wurde er ins hintere Netz des Wohnwagens geschleudert.
In Sekunden war Corrie bei dem Mädchen, sie wollte es vom Boden aufheben, wodurch sie dem Schützen den Rücken zukehrte. Das Mädchen lag regungslos da, blutüberströmt. Und dann waren da plötzlich überall die Mitglieder des Sondereinsatzkommandos. Als Corrie den Kopf hob, sah sie, wie ein Rettungswagen in einer Staubwolke und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam und die Sanitäter heraussprangen. Sie liefen auf sie zu und versammelten sich um sie, nahmen ihr sanft das Mädchen aus den Armen und legten es auf eine Trage.
Als Corrie taumelte, hielt einer der Sanitäter sie am Arm fest. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Corrie – wie gelähmt und über und über mit Blutspritzern bedeckt – sah ihn bloß entgeistert an.
»Sind Sie verletzt?«, fragte er laut und deutlich. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, nein, das ist nicht mein Blut«, sagte sie verärgert und schüttelte den Arm ab. »Kümmern Sie sich um das Mädchen.«
Plötzlich stand Morwood neben ihr, legte ihr den Arm um die Schultern, stützte sie. »Ich übernehme«, sagte er zu dem Sanitäter. Dann wandte er sich zu ihr um. »Corrie, ich bringe Sie zurück zum Pick-up.«
Sie wollte losgehen und strauchelte, aber er hielt sie fest. »Einfach einen Fuß vor den anderen.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Sanitäter sich mit aller Kraft bemühten, das Leben des Mädchens zu retten.
Sie befolgte Morwoods gebrummte Anweisungen, so gut es ging, er setzte sie behutsam auf den Beifahrersitz. Sie merkte, dass sie hyperventilierte und gleichzeitig schluchzte.
»Okay, ganz ruhig, ruhig jetzt, Corrie. Er ist weg. Atmen Sie tief durch. Ja, genau so, tief durchatmen.«
»Ich hab’s vergeigt«, sagte Corrie schluchzend. »Ich habe nicht richtig getroffen. Er hat das Mädchen getötet.«
»Atmen Sie einfach tief durch. Gut. Gut. Sie haben nichts falsch gemacht, Sie haben Ihre Chance genutzt, haben geschossen, und Sie haben ihn getroffen. Wir kennen den Zustand des Mädchens nicht.«
»Ich habe ihn nicht am Kopf getroffen. Ich hab vorbeigeschossen –«
»Corrie, nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, nicht zu grübeln, und atmen Sie. Einfach atmen.«
»Er hat das Mädchen erschossen. Sie ist –«
»Nun hören Sie mir einmal gut zu. Hören Sie auf zu reden, hören Sie auf nachzudenken, und atmen Sie einfach.«
Sie bemühte sich, seine Anweisungen zu befolgen, versuchte zu atmen, wollte nicht mehr nachdenken, doch sie sah nur eines: wie die Schulter des Mannes sich drehte und drehte, er dabei die Mündung seiner Waffe schwenkte, um auf sie zu schießen, und der verfrühte Schuss stattdessen voll das kleine Mädchen traf … und dann lag es ausgestreckt auf dem Boden, und die blutverschmierten Prinzessin-Leia-Haarspangen lagen im Sand.
Als Sheriff Homer Watts auf dem Oso-Peak-Pass ankam, hielt er kurz inne, um die Trinkflasche vom Sattelhorn zu ziehen und einen Schluck Wasser zu trinken. Der Blick vom Pass war spektakulär: Das Land fiel durch die mit Pinyon-Kiefern bedeckten Ausläufer des Gebirges bis zur mehrere Kilometer entfernten und Tausende Meter tiefer gelegenen Wüste hin ab. Jetzt im September war die Bergluft angenehm frisch und duftete nach Kiefernnadeln. Es war Watts’ erster freier Tag seit einiger Zeit, und es war ein prachtvoller Tag, ein Geschenk Gottes.
Er versetzte seinem Pferd Chaco einen liebevollen Klaps auf den Hals, hängte die Wasserflasche zurück ans Sattelhorn und berührte die Flanken des Pferdes mit den Hacken. Mühelos ging Chaco weiter, den Pfad hinunter zu den oberen Bereichen von Nick’s Creek. Watts hatte alles eingepackt, was er für einen ruhigen Angeltag benötigte: seine Fliegenrute aus Bambus in einer Aluminiumröhre, eine Schachtel mit Fliegen und Nymphen, Fischkorb, Messer, Kompass, Lunch, Flachmann mit Whiskey und die beiden alten Colt Peacemaker seines Großvaters, die in fast genauso alten Holstern steckten.
Lässig ritt er den Trail hinunter, durch Schatten und Sonne, vorbei an Gruppen von Gelbkiefern und Lichtungen voller Wildblumen, eingelullt vom sanften Schaukeln des Sattels. Auf der Bergschulter des Oso Peak wichen die Bäume einer großen Bergwiese. Auf der anderen Seite grasten drei Großohrhirsche, ein männliches Tier und zwei weibliche. Sein plötzliches Erscheinen hatte sie erschreckt, und sie liefen weg. Er hielt inne, um ihnen zuzusehen, wie sie davonsprangen.
Beim Überqueren der Bergwiese erblickte er, weit entfernt zur Linken, eine Rauchwolke über den Ausläufern des Gebirges, auf einer Mesa am Fuß der Berge. Erneut hielt er sein Pferd an, zog das Fernglas hervor und sah sich die Rauchfahne genauer an. Wenn zu dieser Zeit des Jahres, da alles knochentrocken war, ein Feuer ausbrechen würde, wäre das eine Katastrophe. Durchs Fernglas zeigte sich jedoch, dass es sich nicht um Rauch handelte, sondern um unregelmäßige, sandfarbene Staubwolken, die durch irgendeine Art Tätigkeit auf der Mesa aufgewirbelt wurden. Die Aktivität fand an einem Ort statt, den er gut kannte, eine aufgelassene Bergarbeitersiedlung namens High Lonesome, eine der entlegensten und am besten erhaltenen Geisterstädte im Südwesten der Vereinigten Staaten.
Staubwolken. Was hatte das zu bedeuten? Irgendjemand führte etwas im Schilde. Und angesichts der Staubwolke vermutlich nichts Gutes.
Watts hielt inne und überlegte. Zu seiner Rechten würde ihn der Pfad zu Nick’s Creek führen und damit einem friedlichen Tag und Angeln in einem plätschernden Gebirgsbach, dessen tiefe Becken und Wannen vor Cutthroat-Forellen nur so blitzten. Zu seiner Linken war ein Trail zu sehen, der ihn nach High Lonesome bringen würde – und womöglich einem Tag voller Ärger und Schwierigkeiten.
Verdammter Mist. Sanft dirigierte Watts sein Pferd nach links.
Das Gelände fiel steil ab, der Pfad führte in engen Spitzkehren die Flanken des Gold Ridge hinunter. Als er um die Seite des Bergrückens bog, kam die Geisterstadt in Sicht, eine Ansammlung alter Lehmstein- und Steingebäude am Rand der Mesa. Er hielt inne, um die Szenerie durchs Fernglas zu betrachten. Und tatsächlich, es war genau so, wie er vermutet hatte: ein Schatzjäger. Er sah, wie der Mann Sand aus dem Kellergeschoss eines der verfallenen Häuser schaufelte, den Pick-up hatte er in der Nähe geparkt.
Watts spürte, wie sein Puls schneller ging. Er kannte High Lonesome gut, noch aus der Zeit, als sein Dad ihn als Jungen mit hierher genommen hatte. Die Geisterstadt, entlegen und kaum bekannt, war den gelegentlichen Plünderungen und Zerstörungen weitgehend entgangen, die die meisten verlassenen Bergarbeitersiedlungen in dem Bundesstaat heimgesucht hatten. Sicher, in High Lonesome war es hin und wieder zu Vandalismus gekommen, hauptsächlich betrunkene Teenager aus Socorro, die für ein Wochenende voller Spaß in die Berge gefahren waren, aber nichts in großem Stil. Die Siedlung war nicht einmal in einem dieser Reiseführer zu den Geisterstädten New Mexicos aufgeführt. Es war zu schwierig, dort hinzukommen.
Doch hier war irgend so ein Mistkerl drauf und dran, den Ort zu verwüsten.
Watts lenkte sein Pferd von dem Pfad hinunter und ritt zwischen den Pinyon-Kiefern bergab. Er wollte nicht, dass der Schatzjäger ihn entdeckte und abhaute, bevor sich die Gelegenheit bot, ihn festzunehmen. Das Land hier gehörte dem Bund und fiel daher nicht in seine Rechtsprechung, doch er war der gewählte Sheriff des Socorro County und hatte daher das Recht, den Mistkerl zu verhaften und ihn der Polizei des Landverwaltungsamts zu übergeben.
Kurz darauf flachte der Berghang ab. Watts ließ das Pferd leichten Schritt gehen und gelangte hinter der Stadt auf die Ebene. Der Plünderer befand sich am anderen Ende, war aber jetzt wegen der dazwischenliegenden Gebäude nicht zu sehen. Watts ritt weiter so durch die Stadt, dass er gegenüber dem Ausgräber in Deckung blieb. In den Ruinen wisperte ein stetiger Wind, ein Steppenläufer wehte vorüber, genauso wie in allen Western, die je gedreht worden waren.
Je weiter sich Watts dem Mann näherte, desto besser war der Pick-up zu erkennen. Er kannte den alten Ford. Er gehörte Pick Rivers.
Pick Rivers. Wieso war der hier? Schwierige Frage. Rivers war früher mal ein kleiner Angeber gewesen, er nahm gerne Meth und war bekannt dafür, dass er Antiquitäten verkaufte, um sich den Stoff leisten zu können. Aber er hatte sich gebessert, vor ungefähr zwei Jahren – nach einem Kurzaufenthalt im Knast, der ihm eine Heidenangst eingejagt hatte –, und war seitdem nie mehr in irgendwelche Schwierigkeiten geraten.
Sobald Watts am anderen Ende der Stadt ankam, brachte er Chaco hinter einem Gebäude zum Stehen, stieg ab und band das Pferd mit dem Führstrick an einen Holzpfosten. Er gab Chaco noch einen Klaps auf den Hals, bedachte ihn mit ein paar liebevoll gemurmelten Worten. Nach kurzem Zögern hob er das Holster vom Sattelhorn, zog die Waffe heraus und überprüfte sie, steckte sie zurück ins Holster und schnallte sich den Gürtel um die Taille. Nur für den Fall. Rivers war einer dieser Typen, die darauf bestanden, Waffen offen tragen zu dürfen, und Watts wusste, dass er gern mit einer S&W .357 L-Rahmen um die Hüfte geschnallt in der Gegend rumlief.
Als Watts um die Ecke bog, sah er das Gebäude, in dem Rivers buddelte. Es stand abseits von den anderen, für sich, ein zweistöckiger Lehmsteinbau, dessen oberes Geschoss größtenteils zusammengebrochen war. Rivers befand sich im Keller, er schaufelte Sand durch einen zerbrochenen Fensterrahmen. Er schuftete. Watts fragte sich, was Rivers da wohl gefunden hatte.
Vorsichtig näherte er sich, die Hand auf dem Griff des Revolvers an der linken Hüfte ruhend. Offensichtlich hatte Rivers irgendetwas freigelegt, denn jetzt beugte er sich herunter und grub ein wenig vorsichtiger. Und während Watts ihm dabei zusah, ließ sich Rivers auf die Knie sinken und fing an, den Schmutz und den Sand mit den Händen wegzuwischen. Er war so vertieft in sein Tun, und der Keller war derart voll mit Sand und Staub, dass ihm entging, dass Watts sich ihm von hinten näherte.
Der Sheriff ging zu der Stelle, wo er durch den Kellereingang einen guten Blick auf Rivers hatte, der dort vor sich hin buddelte. Dann rief er: »Rivers!«
Rivers hielt inne, mit dem Rücken zu Watts.
»Ich bin’s, Sheriff Watts. Komm da raus, die Hände in Sicht. Sofort.«
Der Mann verharrte regungslos.
»Bist du taub? Zeig deine Hände.«
Rivers tat wie ihm geheißen, hielt Watts dabei immer noch den Rücken zugekehrt, streckte die Arme zur Seite aus. »Ich höre Sie, Sheriff.«
»Gut. Und jetzt schieb deinen Hintern da raus.«
»Ich komme.« Langsam erhob sich Rivers – und dann, urplötzlich, verschwanden seine Hände, und er wirbelte herum. Die .357 Magnum mit beiden Händen gepackt, zielte er auf Watts.
Der riss seinen Colt aus dem Holster, gerade als sich der Schuss aus Rivers’ .357er löste, laut wie eine Kanone.
Als Special Agent Swanson die Toilette verließ, verstummten die beiden jungen Agenten auf dem Flur ein klein wenig zu früh. Ohne Augenkontakt zu suchen, ging sie an ihnen vorbei, zurück zu ihrem Kabuff in der FBI-Außenstelle in Albuquerque an der Luecking Park Avenue Northeast. Dort nahm sie Platz und zog die Akte, die sie bearbeitet hatte, näher zu sich heran. Sie saß in der schummrigsten Ecke des Raumes, am weitesten entfernt von den Fenstern. Hier wurden traditionellerweise die Anfänger platziert, und wenn sie in der Hierarchie aufstiegen, wechselte ihr Arbeitsplatz näher an die Panoramafenster, durch die man einen freien Blick auf die Berge hatte. Doch Corrie war froh, nicht auf den über dreitausendzweihundert Meter hohen Sandia Crest blicken zu müssen, auf dem der erste Schnee des Jahres lag, denn das hätte sie bloß an ihr Versagen erinnert. Es war eine bittere Ironie: Noch bis vor zwei Wochen hatte der Anblick von Bergen sie an ihren größten Erfolg als junge Agentin erinnert. Mittlerweile fragte sie sich, ob sie jemals wieder auf diesen Berg schauen könnte, ohne von Scham und Bedauern überwältigt zu werden.
Nach der Schießerei hatte es eine interne Ermittlung gegeben – erwartungsgemäß und routinemäßig. Corrie hatte weder eine Rüge noch eine Disziplinarstrafe erhalten. Sie war sogar mündlich belobigt worden, weil sie das Leben der Geisel gerettet und das eigene aufs Spiel gesetzt hatte. Und gottlob – und zum Glück – hatte der Schuss das kleine Mädchen nur gestreift. Ein paar Fadenstiche, dann war es am nächsten Morgen nach Hause zu seinen Großeltern geschickt worden, mitsamt einer wahren Armada an Trauerbegleitern. Das viele Blut, das Corrie so viel Angst eingejagt hatte, gehörte zur Mutter des bedauernswerten Mädchens, die tot auf dem Boden des Wohnwagens gelegen hatte.
Dennoch: Corrie konnte sich einfach nicht verzeihen. Sie hätte den Kopfschuss anbringen müssen, auch auf eine Distanz von zehn Metern. Sie hatte den Mann im Visier, war fokussiert. Aber das Visier der Waffe war nicht richtig eingestellt; das war auf dem Schießstand festgestellt worden. Sie hatte schlichtweg danebengeschossen, danebengeschossen im entscheidenden Augenblick. Sie war nicht die beste Schützin in ihrer Referenzgruppe, aber auch nicht die schlechteste: neunundvierzig von sechzig Punkten auf einer QIT-99-Zielscheibe, das war ein Punkt oberhalb der minimal erforderlichen Punktzahl, was zwar nicht super war, aber ein Viertel der Leute aus ihrer Peergroup hatte nicht einmal bestanden. Sie hätte diesen Schuss hinbekommen müssen, denn so hätte sie die Lage gerettet, sie wäre mit einer Empfehlung aus der Sache herausgekommen, hätte ihren Lebenslauf weiter aufgebessert und ihren Ruf als Erfolg versprechende junge Agentin weiter zementiert. Stattdessen aber: Zweideutigkeiten, Seitenblicke, einmal sogar ein geflüstertes Knapp vorbei ist auch daneben, Baby.
Sie hatte die Sache vermasselt, und alle wussten es. Eine ältere Agentin hatte sie beiseitegenommen und ihr gesagt, dass man das nicht hätte tun dürfen – dass man sie in eine Lage gebracht hatte, in die sie im Grunde genommen nicht hätte geraten dürfen. Ihre Mit-Berufsanfänger dagegen benahmen sich ziemlich selbstgefällig, was Corrie an das mitleidlose Sprichwort erinnerte: Es genügt nicht, dass wir Erfolg haben; unsere Freunde müssen auch scheitern. Am schlimmsten bei alledem jedoch war: Morwood war unerwartet still, was das Thema anging, außer dass er ihr flüchtig den Ratschlag erteilte, doch mehr Stunden auf dem Schießstand zu verbringen. Er schrie sie zwar nicht an, lobte sie aber auch nicht. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, doch irgendwie wirkte er distanzierter. Und so fühlte sich der Stapel Akten zu einem weiteren ungeklärten Fall, den er ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte, jetzt wirklich wie eine Art Bestrafung an.
In den beiden Wochen seit der Schießerei war Corrie nach der Arbeit noch für eine Stunde auf den Schießstand gegangen. Bei ihrer letzten Runde hatte sie einundfünfzig von sechzig erzielt, über dem Durchschnitt, und sie glaubte auch, das mit viel Übung noch auf zweiundfünfzig oder sogar dreiundfünfzig steigern zu können. Doch als sie Morwood davon berichtete, schien er gar nicht beeindruckt zu sein. »Auf dem Schießstand kann jeder treffen. Aber wenn man sich in einer realen Situation befindet, in der geschossen wird – dann zählt’s.« Die Bemerkung fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Fast hätte sie nicht an sich gehalten und Morwood auf den Kopf zu gefragt, ob er sich auf ihre Performance am Cedro Peak beziehe, aber sie verkniff sich die Frage und sagte stattdessen nur: »Ja, Sir.«
»Corrie?«
Morwood. Er beugte sich mit dem Kopf in ihr Kabuff, wobei sein Ausweis am Band herunterbaumelte. Das Haar auf dem Kopf war ziemlich lang, wie sie sah. Sein Lächeln wirkte etwas gequält. Sie war überzeugt davon, dass er immer noch enttäuscht von ihr war.
»Hätten Sie einmal kurz Zeit?«
»Ja, Sir.«
Sie stand auf und folgte ihm aus dem Kabuff und den Flur hinunter zu seinem kleinen Büro, das ebenfalls einen Blick auf die Sandia Mountains bot.
»Bitte nehmen Sie Platz.«
Corrie setzte sich und bemühte sich, nicht aus dem Fenster zu sehen.
»Also«, sagte Morwood und legte die Hände auf dem Schreibtisch zusammen. »Ich habe einen Fall. Ist genau das Richtige für Sie.«
»Ja, danke, Sir«, sagte Corrie. Sein Tonfall kam ihr verdächtig vor, ein bisschen zu heiter. Sollte es sich um einen guten Fall handeln, würde er den sicher nicht ihr übertragen. Wahrscheinlicher war, dass er sie, im FBI-Jargon, »auf dem Strand« absetzte, soll heißen: ihre Berufslaufbahn mit irgendeinem bedeutungslosen Fall beginnen ließ, den sie nicht vermasseln konnte, wovon, selbst wenn sie das tat, niemand etwas bemerken und was keinen interessieren würde.
»Der Sheriff von Socorro hat gestern einen Schatzjäger dabei ertappt, wie er mitten im Nirgendwo irgendwelche Knochen ausgebuddelt hat. Menschliche Überreste. Zuständig ist das Landverwaltungsamt, das BLM. Es kam zu einer Schießerei, aus dem der Schatzjäger als zweiter Sieger hervorging. Er hat den Sheriff am Ohr gestreift und dafür die Kniescheibe zerschossen bekommen. Der Mann liegt im Krankenhaus, wird rund um die Uhr bewacht und wurde wegen Mordversuchs an einem Beamten der Strafermittlungsbehörden angeklagt. Die Einheimischen sind nicht besonders glücklich darüber. Vermutlich steht der Mann ebenso sehr wegen seiner eigenen Sicherheit unter Bewachung wie auch wegen des Wunschs, seine Flucht zu verhindern.«
Corrie nickte, sagte aber nichts dazu.
»Die menschlichen Überreste, die Rivers entdeckt hat, scheinen aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu stammen, jedenfalls nach dem bisschen Kleidung zu urteilen, das zu sehen ist. Die Leiche selbst ist wohl jünger, vierzig oder fünfzig Jahre alt, mindestens, so hat man mir jedenfalls gesagt. Könnte alles sein – Mord, Suizid, Unfall. Und hier kommt Ihr Studium der forensischen Anthropologie ins Spiel, vor allem, weil der Leichnam auf Land gefunden wurde, das dem Bund gehört. Der Sheriff – der ein guter Kerl zu sein scheint, wenn auch ein wenig lädiert …« Er hielt einen Augenblick inne. »Socorro ist ein verdammt großes County, und er ist der einzige Sheriff und deshalb froh, wenn wir ihm helfen.«
Der Fall war vielleicht doch nicht ganz so lausig, wie sie befürchtet hatte – schließlich ging es darin um Schüsse auf einen Beamten der Strafermittlungsbehörden. Allerdings könnte sich herausstellen, dass es sich gar nicht um einen Kriminalfall handelte, sondern einfach nur um die Gebeine eines alten Cowboys, dem in den Zeiten von J. Edgar Hoover ein Maultier in den Rücken getreten hatte. Aber sie durfte sich nicht beklagen. Denn eins war ihr völlig klar: dass sie jedweden Zweifel für sich behalten, hart arbeiten und stets die Fassade einer zuvorkommenden, fröhlichen und vielversprechenden Berufsanfängerin aufrechterhalten musste.
»Großartig. Danke, Sir. Ich würde gerne in dem Fall ermitteln. Er ist genau das Richtige für mich.« Sie lächelte etwas gezwungen. Socorro lag eine Stunde entfernt. Sie war noch nie dort gewesen, vermutete jedoch, dass es sich um eine dieser heißen, tristen Wüstenstädte handelte, die den Bundesstaat sprenkelten. »Ich werde also auf mich allein gestellt sein?«
»Ja, bis es ein echter Fall wird. Als Erstes fahren Sie heute Nachmittag hinüber ins Presbyterian und vernehmen den Schützen. Morgen haben Sie einen Termin bei Sheriff –«, Morwood blätterte in den Unterlagen, »ach ja, Homer Watts. Er soll mit Ihnen zu dem Ort rausfahren, an dem die sterblichen Überreste gefunden wurden. Anscheinend liegt der verdammt weit draußen, und es ist unmöglich, dort hinzukommen, es sei denn, man kennt sich in der Gegend aus.«
Homer Watts. Fand Morwood das witzig? »Und wann habe ich den Termin bei Sheriff Watts?«
»Acht Uhr, im Büro des Sheriffs in Socorro.«
Das hieß, um sechs Uhr aufstehen. Nein, besser um halb sechs. »Ich werde pünktlich dort sein. Und nochmals vielen Dank, Sir. Danke, dass ich diese Chance bekomme!«
Sie merkte, dass Morwood sie musterte. »Corrie? Ich weiß, was Ihnen durch den Kopf geht. Deshalb möchte ich Ihnen eines sagen: Man weiß nie, wohin ein Fall führt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Erinnern Sie sich an Frank Wills?«
»War das ein FBI-Agent?«
»Nein. Ein Wachmann in einem Hotel. Eines Nachts fiel ihm auf, dass zwei Türriegel abgeklebt worden waren, damit die Türen nicht abschließen.«
Corrie wartete, um mehr zu erfahren, und fragte sich, worauf Morwood wohl hinauswollte.
»Schien eine ziemlich unbedeutende Angelegenheit zu sein«, fuhr er fort. »Türen in Hotels werden andauernd abgeklebt – aus Gründen der Bequemlichkeit. Aber Frank dachte darüber nach und entschloss sich, die Polizei zu benachrichtigen – obwohl die Beamten ihn vermutlich auslachen würden, wenn er etwas derart Belangloses wie zwei abgeklebte Türriegel anzeigte.«
Mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht wartete er auf Corries Reaktion.
»Und? Was ist dabei herausgekommen?«
»Watergate«, sagte Morwood.
Corrie ging über einen tristen Flur im zweiten Stock des Presbyterianischen Krankenhauses in Albuquerque. Ihrer Erfahrung nach waren Krankenhäuser bestenfalls unangenehme Orte, und der Gang hier verströmte weder Effizienz noch Freundlichkeit. An den Wänden standen Rolltragen, so störend wie in zweiter Reihe geparkte Autos, auf den meisten davon lagen Patienten in verschiedenen Bewusstseinszuständen. Infusionsständer und Wäschekarren, die hier und da achtlos abgestellt worden waren, machten es noch schwerer durchzukommen. In der Schwesternstation herrschte ein einziges Tohuwabohu, jeder war entweder am Telefon oder befand sich in einem hitzigen Gespräch. Corrie wollte gerade stehen bleiben und nach dem Weg fragen, als sie sah, was ihr Ziel sein musste: eine geschlossene Tür am anderen Ende des Flurs mit Stühlen links und rechts davon. Auf einem der Stühle saß ein Polizeibeamter, auf dem Boden neben dem Stuhl eine gefaltete Zeitung und ein Becher Kaffee.
Corrie glättete ihren Blazer und bewegte sich durch das Chaos, das sich umso mehr legte, je weiter sie sich der geschlossenen Tür näherte. Der Mann auf dem Stuhl blickte in ihre Richtung, an seiner Uniform war abzulesen, dass es sich um einen Ranger des Landverwaltungsamts handelte. Das ergab Sinn. Die Schießerei hatte auf Land stattgefunden, das dem Bund gehörte, deswegen war das BLM für die Bewachung des Festgenommenen zuständig. Zwar gab es dort auch Special Agents, aber nur ein paar, und die waren auch noch weit verstreut, weshalb Beamten, die in der Hierarchie ein wenig tiefer rangierten, die Aufgabe übernehmen mussten.
»Special Agent Swanson, FBI«, sagte sie, als sie auf den Mann zutrat und ihm ihre am Halstrageband befestigte Dienstmarke zeigte. »Ich bin hier, um den Verdächtigen zu vernehmen.«
Der Ranger erhob sich und betrachtete ihren Dienstausweis gerade so lange, dass es beleidigend war. Schließlich, zufrieden, nickte er. »Viel Glück.« Er reichte ihr ein Klemmbrett mit einem Anmeldeformular.
»Was soll das heißen?«, fragte sie, während sie das Formular ausfüllte.
»Der Typ schweigt seit seiner Einlieferung, er richtet nur dann ein paar erlesene Worte an die Schwestern, wenn sein Verband überprüft wird.«
Er nahm das Klemmbrett wieder an sich, schloss die Tür auf und ließ Corrie durch, dann schloss und verschloss er die Tür hinter ihr. Corrie blieb kurz hinter der Schwelle stehen und sah sich um. Das Zimmer war noch schmuckloser als das Durchschnittskrankenhauszimmer. Keine Bilder, kein Fernseher, nicht einmal ein Schrank. Nur ein elektrisches Krankenhausbett und darin – das eine Handgelenk an das Schutzgitter gekettet – der Schütze.
Corrie trat einige Schritte vor. Zwar hatte sie Vernehmungen wie diese geübt und anderen Agenten dabei zugesehen, doch es war das erste Mal, dass sie selbst ein Verhör durchführen musste. »Mr. Rivers? Pick Rivers?«
Der Mann sah sie ausdruckslos an. Er war Ende fünfzig, durchschnittlich groß und schlank; er trug einen Dreitagebart, die Haare waren kurz geschnitten und gekämmt.
Wieder zeigte sie ihren Dienstausweis. »Ich bin Special Agent beim FBI. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
Keinerlei Reaktion. Der Mann starrte sie bloß weiter an, wobei seine Miene weder ein Gefühl noch Interesse verriet. Corrie wartete einen Augenblick und ging in Gedanken den geplanten Ablauf der Befragung durch.
»Die Anklage lautet auf versuchten Mord an einem Polizeibeamten. Außerdem haben Sie die Tat auf unserem Grund und Boden begangen, was bedeutet, es handelt sich um ein Kapitalverbrechen der Klasse B. Ein Bundeskapitalverbrechen. Sie haben die Tat mit einer tödlichen Waffe begangen – einer .357 Smith Wesson –, was einen erschwerenden Umstand darstellt, der bei der Festlegung des Strafmaßes in Erwägung gezogen wird. Kurzum: Ihnen steht eine richtig lange Gefängnisstrafe bevor. Und wie Ihnen vermutlich bekannt ist, gibt es auf Bundesebene kein Bewährungssystem, Sie werden die Strafe also voll absitzen. Ich habe mir Ihre Vorgeschichte angesehen, Mr. Rivers. Ich weiß, dass Sie einige Monate im Bezirksgefängnis abgesessen haben. Aber im Vergleich mit dem, wohin Sie jetzt kommen, wird es Ihnen wie ein Sanatorium vorkommen.«
Sie machte eine Pause, um festzustellen, welchen Effekt ihr Kurzvortrag auf den mit Handschellen ans Bett gefesselten Gefangenen hatte. Soweit sie das erkennen konnte, keinen. Der Mann hatte sie von oben bis unten gemustert, aber mehr auch nicht.
Sie trat einige Schritte näher, damit er wusste, dass sein Schweigen ihr keine Angst machte. »Aber es gibt einige Dinge, die Sie tun können, um sich selbst zu helfen. Meine Fragen beantworten, zum Beispiel. Warum haben Sie in High Lonesome diese Grabung vorgenommen?«
Keine Reaktion.
»War noch jemand daran beteiligt, oder haben Sie die Grabung aus eigenen Stücken vorgenommen?«
Immer noch Schweigen.
»Hatten Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Sie dort einen Leichnam finden würden? Oder sind Sie zufällig auf ihn gestoßen?«
Immer noch nur Schweigen.
»Sie haben sich in den letzten Jahren gebessert. Was war so wichtig an dieser Entdeckung, dass sie es wert war zu versuchen, deswegen einen Polizisten zu ermorden?«
Mit der freien Hand schnippte Rivers den Inhalt eines Nasenlochs in einen Becher auf dem Beistelltisch, rührte sich aber ansonsten nicht.
Sein dreistes Schweigen wurde langsam nervig. Corrie atmete erneut tief durch und achtete darauf, in gleichmäßigem, emotionslosem Tonfall zu sprechen und keine Miene zu verziehen. »Sie können sich selbst helfen, und zwar hier und jetzt. Andernfalls stehen Ihnen schwere, schwere Zeiten im Gefängnis bevor.«
Endlich zeigte sich im Blick des Mannes ein flüchtiges Interesse. »Schwere Zeiten?«
Corrie bemühte sich, die Freude zu verbergen, die sie empfand, weil sie zwei Wörter aus dem Verdächtigen herausbekommen hatte. Das waren zwei mehr, als andere geschafft hatten. »Ganz recht.«
»Na, dann will ich Ihnen mal was sagen«, sagte er mit rauer Stimme. »Vielleicht können wir dann ja zu einer Art … Übereinkunft kommen.«
»Das wäre klug.« Sie zog aus ihrer Handtasche einen Digitalrekorder hervor, schaltete ihn unter Rivers’ Blicken ein. »Sie sind bereits auf Ihre Rechte hingewiesen worden, deshalb nur zur Erinnerung: Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.«
Rivers wehrte das mit einer unwirschen Handbewegung ab. »Sie sprachen eben von schweren Zeiten«, wiederholte er in ruhigem, selbstbewusstem Ton.
Corrie nickte, sie warf einen kurzen Blick auf den Rekorder, um sich zu vergewissern, dass er lief.
»Was für ein Zufall! Denn auch ich mache schwere Zeiten durch. Da kommt nämlich so eine hübsche kleine Schlampe wie du hier rein, und ich lieg im Bett, aber angekettet und alles. Also, ich beantworte deine Fragen … nachdem du mir einen geblasen hast.«
Corrie sah ihn ausdruckslos an, vorübergehend sprachlos und beschämt, weil sie plötzlich knallrot geworden war. Sie strengte sich mächtig an, ihren Zorn zu verbergen, cool zu bleiben.
»Oh, und du kannst mir auch gleich die Handschellen abnehmen, damit ich deinen Kopf mit der Hand dirigieren kann.« Jetzt fing er auch noch an zu lachen – leise, provozierend.
Einige Sekunden später lachte er immer noch, während Corrie das Zimmer verließ, dem Ranger bedeutete, die Tür abzuschließen, und mit raschen Schritten den Krankenhausflur hinunterging.
Wie sich herausstellte, war Socorro nicht ganz so übel, wie Corrie erwartet hatte. Auf der einen Seite der Stadt floss der Rio Grande, daneben sah man bewässerte Felder, am anderen Ende erhoben sich irgendwelche trockenen Berge. Aber es war heiß – verdammt heiß – in den rasterförmig angelegten Straßenzügen, und als Corrie sich dem Büro des Sheriffs näherte, wirbelte der Wüstenwind einige Steppenläufer über die Straße – so, als sollte sie daran erinnert werden, wo sie sich befand. Als sie ihre Tasche in die Hand nahm und auf dem Parkplatz vor dem Büro des Sheriffs aus dem Wagen stieg, unterstrich der lange Klageton einer Zugsirene die Trostlosigkeit der Szenerie. Das hier war genau die Art Ort, an den man FBI-Agenten versetzte, die etwas vermasselt hatten. Wohl zum hundertsten Mal rief Corrie sich in Erinnerung, dass man ihr einen Fall mit Potenzial zugewiesen hatte.
Das Büro des Sheriffs befand sich in einem hübschen Lehmsteingebäude, umgeben von einem Parkplatz mit rissigem Asphalt, auf den man noch mehr Asphalt hatte tropfen lassen, wodurch sich ein Spinnwebenmuster ergab. Obwohl es Ende September war, klebte Teer unter Corries Wanderstiefeln, als sie das Gebäude betrat.