Totengraben

Luke Arnold

Totengraben

Roman

Aus dem Englischen von
Christoph Hardebusch

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Luke Arnold

Der australische Schauspieler Luke Arnold wurde in den letzten Jahren durch einprägsame Rollen wie Long John Silver in der mit einem Emmy ausgezeichnete Serie Black Sails bekannt. Wenn er gerade nicht vor der Kamera steht, arbeitet er als Drehbuchautor, Regisseur und Schriftsteller und ist außerdem als Botschafter für Save the Children Australia tätig.

Prolog

Man sagt, solange man sich an die Wärme erinnern kann, wird die Kälte einen nicht umbringen.

Aber wann zum Teufel war es denn warm? Bevor wir die Welt zerbrochen haben: als die Straßenlaternen noch voller Feuer waren und man nicht lange suchen musste, um das Funkeln in den Augen anderer zu sehen. Jetzt herrschen dort nur noch Dunkelheit und der Tod und …

Nein. Erinnere dich.

Dicht gedrängt in einer Straßenbahn in Sunder City, zwischen pelzige Kreaturen und vom Tagwerk erschöpfte Arbeiter gezwängt. Musik und Glühwein in Kellerclubs, bevor alles verrottete und verstummte und …

Nein.

Ich bin nach Ladenschluss im Graben allein mit meinem Mopp. Es ist wärmer, als man annehmen würde. Der Pfeifenrauch längst gegangener Gäste hängt schwer in der Luft. Die Fenster sind beschlagen, und die Küche ist voll mit den Aromen von Zwiebeln, Lamm und Salbei.

Ich wische die Tische ab, die noch warm von Tellern und schweren Ellbogen sind; putze Erdnussschalen, Tabakkrümel, Knorpel und Spucke weg. Dabei arbeite ich mich vor, erst putzen, dann mit dem Mopp wischen. Ich verdünne die üble Mischung aus Essensresten, geschmolzenem Schnee und verschüttetem Bier.

Die größeren Stücke schmeiße ich in den Herd: eine gusseiserne Skulptur in der Mitte des Raums, komplett mit dickem Kamin. Ich sehe zu, wie die Flammen alles verzehren und Ruß an die Glastür lecken. Für einen Moment ist dieser Herd der wärmste Gegenstand im ganzen Gebäude. Dann öffnet sich die Eingangstür, und Eliah Hendricks tritt ein.

»Fetch, mein Junge! Das musst du probieren!«

* * *

Der Hochkanzler stolperte in den Graben, in seinen Händen eine tropfende Papiertüte. Braunes Öl troff über seine beringten Finger und auf meinen frisch gewischten Boden. Sein kupferfarbenes Haar voller Schneeflocken war in den Kragen seines Mantels gestopft. Ich fühlte mich geehrt: Der Anführer des Opus war tagelang nach Sunder City gereist, nur um mich als Ersten aufzusuchen.

Nun, als Zweiten. Er hatte sich vorher Snacks besorgt.

Ich wischte mir die Hände an der Schürze ab und streckte sie nach der Tüte aus. Hendricks zog sie vor mir weg, als wäre sie ein Säugling und ich ein hungriger Löwe.

»Denk nicht mal daran, diese schmutzigen Tentakel da reinzustecken. Mund auf.«

Er griff in die Tüte, zog ein süß duftendes, knuspriges Stückchen heraus und schob es mir in den geöffneten Mund.

»Sie heißen Schweinis. Gebratene Pflaumen, umhüllt von saftigem Speck.« Ich kaute langsam, während mir die Mischung aus fruchtigem Saft und würzigem Fett auf der Zunge zerging. »Sind sie nicht wunderbar? DAS ist das Wunder von Sunder City. Die meisten Bewohner des Kontinents können es nicht sehen. Sie stecken so tief in ihrem Denken fest, dass sie nicht verstehen, was das Besondere an unserer Stadt ist. Das«, und er wies mit dem Finger auf meine dicken Backen, »ist ein modernes Wunder. Die alte Magie hätte so etwas niemals herbeizaubern können. Nicht in einhundert Jahren. Und ich sollte das wissen: Ich war dabei.«

Wieder holte er eine rote Köstlichkeit aus der Tüte, hielt sie sich unter die Nase und sog gierig den Duft ein. Dann schüttelte er ungläubig das Haupt.

»Mizaki Winterpflaumen, die perfekte Süße durch die Kälte des Nordens, eingehüllt in Schweinespeck von mit Kakaobohnen gefütterten Ebern des Südlichen Skiros. Eine Erfindung der Küchen von Sunder City, verkauft an einer Straßenecke um Mitternacht für den schockierenden Preis einer Silbermünze.« Er schob sie in den Mund und redete weiter. »Das ist Fortschritt, Fetch! Das ist etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.«

Während er die Tüte auf einen gerade gewischten Tisch legte, zog ich einige Hocker heran. Hendricks begab sich hinter den Tresen und begann seine übliche Vorstellung, wie immer, wenn wir zusammen waren.

Zuerst legte er zwei Bronzegeldscheine in die Kasse. Mehr als genug für den Alkohol, den wir trinken würden, und zudem eine Entschädigung für Mr Tatterman, dem es so morgen leichter fallen würde, meinen Kater zu ignorieren.

Jeder Versuch zu arbeiten war, wenn Hendricks da war, sinnlos, also zog ich den Eimer nach hinten raus, legte die Schürze ab, wusch mir die Hände und holte einige Reste aus der Küche, die niemand vermissen würde: ein Stück Käse, einen Löffel Honig und etwas Brot, das noch nicht allzu trocken war. Als ich mit dem Teller in den Händen zurückkam, hatte Hendricks die Zutaten wie eine Kompanie Soldaten aufgestellt.

Burnt Milkwood war, wie so viele Cocktails, einst als Medizin erfunden worden. Der Saft des Tarixbaumes wurde über einer offenen Flamme geköchelt, bis er zu einem bitteren, karamellfarbenen Sirup eingedickt war: gut gegen Halsweh und Triefnasen, aber von ziemlich scheußlichem Geschmack. Mütter mischten ihren kranken Kindern Rübenzucker hinein, um ihn zu versüßen. Mit der Zeit waren mehr und mehr Zutaten dazugekommen, bis das Rezept derart umfangreich war, dass man, wenn man denn wollte, eine Menge Alkohol darin verstecken konnte.

Die meisten Kneipen hatten fertigen Tarixsaft in Flaschen auf Vorrat, aber Eliah zog es vor, seinen eigenen herzustellen.

»Mein Junge! Wie laufen die Abenteuer des großartigsten Kerls in Sunder City?«, erkundigte er sich, während er ein kleines Fläschchen des rohen Saftes in eine Pfanne schüttete. »Raubst du noch immer Banken aus? Und Herzen? Übertriffst alle Erwartungen?«

So redete er immer mit mir. Trotz all unserer Zuneigung füreinander war mir nie ganz klar, ob er mich wegen meiner Schwierigkeiten neckte oder wirklich glaubte, ich würde überall in der Stadt einen guten Eindruck hinterlassen.

»Ich habe eine neue Unterkunft«, berichtete ich. »Ich teile mir ein Zimmer mit einem Oger, der schnarcht wie ein Gewitter. Ich muss tagsüber schlafen, während er in den Stahlwerken arbeitet, aber ich denke, es geht aufwärts mit mir.«

»Man muss nicht unbedingt nach oben, Meister Fetch, Hauptsache, man kommt herum.« Auf dem Weg zum Kamin ließ er den Saft in der Pfanne kreisen. »Diese Stadt ist ein wunderbarer Ort zum Spielen, aber die meisten missverstehen das Spiel. Die Schönheit von Sunder liegt darin begründet, dass es kein uraltes Königreich ist, auf dem Blutlinien und Kronen lasten und in dem die Anführer die ganze Zeit versuchen, sich gegenseitig einen Kopf kürzer zu machen. Es ist ein Marktplatz. Eine Tanzhalle. Ein Labor instabiler Chemikalien, die auf unerwartete und exzellente Weise miteinander reagieren. Schau nicht hoch. Schau hinunter! Zieh deine Schuhe aus und lass den Schlamm der Stadt zwischen deinen Zehen hervorquellen. Wälze dich in ihr. Riech sie, schmeck sie, bis du alles aufgesogen hast, was sie zu bieten hat.«

Hendricks setzte sich an den Kamin, wickelte seinen Mantel um die Hand und packte den eisernen Griff der Glastür. Als er sie öffnete, wehte ihm heiße Luft entgegen. Er schob die Pfanne hinein und drehte sie langsam im Kreis, bis die Flammen den Saft erreichten. Ich setzte mich an den Tisch und tauchte eine Scheibe Brot in den Honig.

»Viel Zeit zum Wälzen bleibt mir nicht. Ich habe drei Jobs.«

Er zog die Pfanne heraus, blies die kleinen Flämmchen aus, die den Saft verbrennen wollten, und schob sie wieder hinein.

»Ich nehme an, das hängt davon ab, für wen man arbeitet«, erwiderte er.

»Jede Woche für jemand anderen. Zuletzt recht viel für Amari.«

»Ah ja. Meine Feenfreundin, die den kleinen Fetch um den Finger gewickelt hat. Was zahlt sie dir? Keusche Blicke und hingehauchte Küsse?«

Röte stieg mir ins Gesicht, aber ich ignorierte die Frage.

»Meistens bin ich hier. Manchmal mache ich Erledigungen für die Apotheke oder ihre Kunden.«

Der Saft karamellisierte schnell, also zog Hendricks die Pfanne heraus und brachte sie hinter den Tresen.

»Aber für wen arbeitest du wirklich? Für den verschlafenen Hansel, dem der Laden hier gehört?«

Dies war der Beginn einer seiner Reden. Ich hatte gelernt, dass es nichts brachte, ihn zu unterbrechen.

»Ich denke schon.«

»Oder arbeitest du eigentlich für das Geld? Falls ja, würde ich mal behaupten, dass du eigentlich für die Bank von Sunder City arbeitest. Vielleicht tun wir das alle! Aber dient die Stadt der Bank oder die Bank der Stadt?« Das war eine rhetorische Frage, also zog ich statt einer Antwort die Schultern hoch. »Vielleicht unterschätze ich dich auch. Vielleicht geht es dir gar nicht ums Geld. Sind es tief in deinem Herzen eher die Gäste hier? Wenn du den Tresen abwischst und die Gläser perfekt spülst«, er hob das Cocktailglas an und wischte grinsend einen Fleck weg, »denkst du dann an die Trinker hier? Siehst du dich in ihren Diensten?«

Er rührte langsam die anderen Zutaten in den Cocktail. Seine Aufmerksamkeit war perfekt zwischen unserem Gespräch und seinem Tun aufgeteilt.

»Na ja, umsonst würde ich es nicht machen.«

»Nein? Nehmen wir an, du hättest keine Geldsorgen und dieser Laden würde ohne dich vor die Hunde gehen, würdest du aushelfen, wenn man dich bittet?«

»Ich schätze schon.«

»Also ist das Geld doch nicht unbedingt das Einzige, was zählt. Vielleicht arbeitet es, genau wie du, zum Wohle der Stadt. Ihr erfüllt beide euren Teil. Zwei der vielen Rädchen, die diese Stadt benötigt, um weiterhin zu funktionieren, so wie die Schornsteine und die Pflastersteine und die Zeitungen und das Feuer.«

Mit diesen Worten brachte er zwei Drinks an unseren Tisch und wies mit einem Nicken auf den Kamin hinter mir.

»Für wen arbeitet das Feuer? Uns alle? Für sich? Ist es ihm egal? Es brennt hell, ganz egal, welchen Zweck wir ihm zuweisen.«

Wir stießen an, und ich trank einen Schluck. Der Cocktail war süß, aber anders als bei vielen anderen (oder diesem, wenn weniger geschickte Hände ihn mischten) erstickte diese Süße nicht die anderen Noten darunter.

»Fetch, du weißt, was Drachen sind, nicht wahr?«

»Ich habe im Museum Bilder gesehen. Große, schuppige Monster, richtig?«

»Sie können sich in allerlei Kreaturen entwickeln, aber der gewöhnliche Drache sieht genau so aus: Schuppen, Krallen, Flügel. Unfassbare Wesen, jeder einzelne. Wir bemühen uns heutzutage, sie zu beschützen, aber vor zweihundert Jahren war Drachenjäger ein angesehener Beruf.

Anders als die meisten Krieger waren Drachentöter keinem einzelnen Reich loyal verbunden. Diese Freiheit erlaubte es ihnen, überall und für jede Spezies zu arbeiten und dabei so reich wie Prinzen zu werden, wenn sie denn gut genug waren. Städte heuerten sie zum Schutz an. Oder aus Rache, falls es schon einen Angriff gegeben hatte. Dazu kommt, dass Drachenschuppen und -knochen wertvoll sind und die Drachentöter zu ihrem Sold zusätzlich Geld verdienen konnten. Aber noch viel wertvoller war der Ruhm.

Heute kann man sich das nur noch schwer vorstellen. Drachenjagd ist, wie die meiste Arbeit für Söldner, altmodisch. Dafür übernehme ich einen Teil der Verantwortung: Opus hat bewusst daran gearbeitet, diese Art der Beschäftigung zu reduzieren, damit weniger Schwerter für Geld geschwungen werden. Es gibt nur noch so wenige Drachen, dass es ein Verbrechen ist, einen zu töten, aber damals gab es nichts, was heroischer, aufregender oder profitabler war.«

Anders als Hendricks, der dreihundert Jahre lang jede Ecke von Archetellos erkundet hatte, kannte ich nur zwei Städte. Weatherly, wo ich von hohen Mauern umgeben aufgewachsen war und nichts von der Welt mitbekommen hatte, und Sunder, das dagegen offen war und wuchs und wuchs, aber eben auch nur eine Stadt war. Nach drei Jahren an einem Ort ließen mir Geschichten über die weite Welt die Füße jucken.

»Du weißt, wie Kinder über Sportler reden oder wie junge Damen von den Troubadouren im Theater schwärmen. Nun, Drachentöter waren all das gleichzeitig hoch zehn. Wir kannten ihre Namen, wir haben Geschichten ihrer Heldentaten erzählt und Lieder über sie gesungen. Straßen wurden nach ihnen benannt, und man konnte Repliken ihrer Schwerter kaufen. Nie mussten sie selbst ihr Essen oder das Dach über ihrem Kopf bezahlen, und selten gingen sie allein zu Bett. So etwas gab es nicht noch einmal in der Welt. Jede Spezies und jede Stadt hatten ihre Helden, aber Drachentöter gehörten uns allen.

Natürlich brachte das unfassbaren Wettbewerb mit sich. Als die Zahl der Drachen sank, löste jedes Gerücht über eines der Monster ein Rennen ohne Regeln aus. Wagen wurden sabotiert, Mahlzeiten vergiftet, und nachts stachen sie sich gegenseitig ab. Vielen ging es mehr darum, ihre Konkurrenz zu besiegen, als die Drachen zu jagen, wie sie es gelernt hatten.

Eines Abends kam eine Gruppe Händler nach Lopari. Sie behaupteten, in den Sunderianischen Sümpfen eine Flamme beobachtet zu haben, die den Himmel erleuchtete und die Erde beben ließ. Kaum hatten sie das ausgesprochen, da ritt schon ein junger Drachentöter namens Fintack Ro aus der Stadt. Es war ihm egal, dass niemand ihn angeheuert hatte: Seine Beute würden Schuppen und Knochen sein, aber vor allem das Prestige. Obwohl es Hunderte von Möchtegerns gab, hatte nur eine Handvoll unter ihnen bewiesen, dass sie auch das Zeug für die Jagd auf Drachen hatten. Fintack war jung und hatte erst begonnen, als die Drachen schon aus der Welt verschwanden.

Ältere Jäger konnten sich aus dem Geschäft zurückziehen: ein Buch schreiben, Adlige für lächerliche Summen unterrichten oder eine Taverne eröffnen, in der ihre Geschichten jede Menge Kunden anlockten. Fintack war noch auf dem Weg dorthin und suchte die eine, die große Jagd. Er brauchte die Art Geschichte, die selbst Flügel entwickelt und von den Zungen der Reisenden in alle Länder fliegen kann.

Fintack rüstete sich aus, schärfte seine Waffen und war der Erste, der Sunderia erreichte. Eine ganze Woche durchsuchte er mit nassen Socken und zerstochenen Armen die Sümpfe. Tagsüber reiste er langsam und vorsichtig durch das gefährliche Gelände, und abends blieb er so lange wie möglich wach und hielt nach Flammen Ausschau.

Zu seinem großen Ärger waren die ersten Anzeichen für andere Lebewesen die Spuren seiner Rivalen: andere hochgerühmte Drachentöter, die ebenso erfolglos wie er durch den Sumpf stapften. Eines Morgens endlich erwachte Fintack, weil der Boden um ihn herum bebte. Als er die Augen öffnete, sah er eine grelle Flamme aus den Mangroven in den Himmel schießen. Sofort packte er sein Schwert und stürmte los.

Während der Suche hatte er den Sumpf kennengelernt und wusste, welchen Wasserlöchern er vertrauen konnte, welcher Schlamm ihn tragen würde und welcher seine Stiefel verschlingen konnte. Seine Finger glitten über Holz, das schwarz vom Ruß war, und er spürte, dass seine Beute nicht weit entfernt lauerte.

Als er sich durch die Schlingpflanzen arbeitete, stieg vor ihm eine weitere Flamme auf, aber noch immer konnte er die Bestie nicht sehen. Er sah sich suchend um und kroch weiter, aber als er andere Drachentöter durch das Unterholz brechen hörte, blieb ihm keine Wahl, als auf die Lichtung zu treten, und dort war …«

Hendricks nahm einen langen Schluck, um die Spannung zu erhöhen.

»… nichts. Keine Bewegung, keine Drachenspuren, überhaupt kein Hinweis. Fintack suchte alle Himmelsrichtungen ab, und zwei weitere Drachentöter schlossen sich ihm an: ein Zauberer namens Prim und ein Zwerg namens Riley. Alle drei suchten zunehmend verwirrt und frustriert. Bis inmitten ihres Dreiecks eine Flammensäule in den Himmel stob.

Es gab keinen Drachen. Das Land selbst hatte sie geködert, indem es Feuer spie. Die Drachentöter waren wütend und erschöpft. Sie machten einen Burgfrieden aus und schlugen ihr Lager auf. Fintack jagte einen Wasservogel und wollte ihn auf der nächsten Flamme rösten, aber Prim warnte ihn: Als Zauberer spürte er die Macht unter ihren Füßen. Das war nicht nur ein wenig Sumpfgas, sondern etwas viel Mächtigeres.

In dieser Nacht erzählten sie sich keine Geschichten von Heldentaten oder tauschten sich über verschiedene Arten von Drachen aus. Stattdessen überlegten sie, wie man dieses Feuer beherrschen und als Brennstoff nutzen könnte. Die drei hatten ihr Leben auf Reisen durch den ganzen Kontinent verbracht. Sie hatten ganze Familien in harten Wintern erfrieren sehen. Sie hatten gesehen, wie die Satyrsklaven Kohle sammelten, um den Zentaurenpalast in den Hainen zu wärmen. Sie kannten die Schmieden der Zwerge, die mit Lava betrieben wurden und nur an den gefährlichsten Orten tief in den Bergen möglich waren.

Bis zu jener Nacht hatten die drei Krieger nur sich selbst gedient. Nirgends sonst hätte man stolzere, ambitioniertere Halsabschneider finden können. Aber als sie genau hier standen«, Hendricks stampfte mit den Füßen auf den Steinboden, »sahen sie eine Möglichkeit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Diese drei Drachenjäger nutzten ihren Einfluss, um eine Stadt zu gründen, wie niemand zuvor sie sich hätte vorstellen können. Sie gaben dafür alles auf, was sie vorher ausgemacht hatte. Setzten alles ein, was sie gewonnen hatten, und veränderten dadurch den Lauf der Geschichte.«

Das grüne Licht funkelte in Hendricks’ Augen, als er mich ansah und dabei sein leeres Glas hob.

»Bereit für den nächsten. Geschichtenerzählen macht mich immer so durstig.«

Als ich mein halb volles Glas nehmen wollte, blieb ich mit dem Ärmel an der Tischkante hängen und stieß es um. Beim Versuch, es zu fangen, bevor es auf dem Boden zersprang, kam ich mit der anderen Hand an das Eisen des Kamins. So schnell ich reagieren konnte, zog ich sie zurück, aber ein Stück meiner Haut blieb daran kleben. Es zischte und brutzelte wie Speck in der Pfanne.

Hendricks sprang auf und füllte eine Schüssel mit Wasser, packte etwas Schnee von draußen hinein und hielt sie mir hin. Ich badete meine schmerzende Hand so lange darin, wie ich es aushalten konnte. Dann trocknete er sie vorsichtig ab, nahm den Honig vom Teller und schmierte eine dünne Schicht auf die Brandwunde, wobei er mir erklärte, dass es für heilende Haut nichts Besseres als eine Schicht Honig gebe.

»Tut es noch sehr weh?«, fragte er.

»Wird besser. Zieht noch. Ich bin so dämlich.«

Er lachte, wie er immer lachte, in einer undeutbaren Mischung aus Zuneigung und herablassendem Amüsement.

»Wir alle verbrennen uns, Fetch. So lernt man am besten aus Fehlern. Nur wenn ein Teil von dir erfriert, kannst du deinen inneren Arsch loswerden.«

Er gackerte und mixte uns eine weitere Runde Cocktails. Dann noch eine.

Schon bald war ich so betrunken, dass ich weder meine Finger noch die Kälte oder überhaupt irgendetwas Schlimmes fühlen konnte.

1

Es war kalt wie eine Leiche im Schnee. So kalt wie der Händedruck eines Schuldeneintreibers. So kalt wie ein Messer, das so scharf ist, dass man das Drehen in der Wunde nicht spürt. Kalt wie die Zeit. Kalt wie ein leeres Bett an einem Sonntagabend. Kälter als eine Tasse Tee, die du vor vier Stunden gemacht und dann vergessen hast. Kälter als die Erinnerung, die du zu lange am Leben gehalten hast.

Mir war so kalt, dass ich mir sogar wünschte, jemand würde die Laterne anwerfen, in der ich saß, und mich wie eine Marone rösten. Natürlich war das nicht möglich. In diesen Laternen hatte seit sechs Jahren kein Feuer gebrannt. Die Lampe war oben offen, und einst war sie eines der hellsten Lichter von Sunder City gewesen, direkt über dem Stadion, installiert für nächtliche Spiele. Jetzt war sie nur noch ein hässlicher Mast mit einer Schale darauf.

Das Feld befand sich über der allerersten Feuergrube. Während der Bauarbeiten war es ein offenes Loch in die Hölle darunter gewesen. Als sie die Rohre und Leitungen verlegt hatten, die das Feuer in die Stadt trugen, war ihnen aufgefallen, dass ein tiefes Loch direkt am Eingang der Stadt zu gefährlich war. Also hatten sie es geschlossen und jegliches Bauen darauf verboten.

Stattdessen hatten Kinder es als Spielplatz benutzt. Zuerst einfach so, dann waren nach und nach Tribünen und Mauern hochgezogen worden, bis daraus das Stadion von Sunder City geworden war.

Als die Coda die Magie getötet hatte, waren auch die Flammen unter der Stadt erloschen. Deshalb gab es keine Heizungen mehr, keine Lichter auf der Main Street und keine Chance auf ein Feuer zwischen meinen Beinen. Ich hockte oben in der Schüssel, die Arme um den Leib geschlungen und so gut aus dem Wind geduckt, wie es eben ging.

An den Wind hatte ich nicht gedacht, als ich den Job angenommen hatte. Das war dumm gewesen, denn der Wind ruinierte alles. Er drückte mir die Kälte unter den Kragen und meine Ärmel hoch. Er ließ den Mast hin und her schwingen, sodass ich befürchtete, dass er irgendwann brechen und mich im hohen Bogen auf den Boden schleudern würde. Aber vor allem machte er die Armbrust in meinem Schoß vollkommen nutzlos.

Meine Aufgabe war, auf meinen Klienten aufzupassen und mich bereitzuhalten, damit ich einen Warnschuss abgeben konnte, sollte er mir das Zeichen geben, dass der Deal nicht sauber war. Aber in diesen Böen würde der Bolzen entweder direkt in den Schnee oder hoch in den Himmel rasen.

Mein Auftraggeber war ein Gnom namens Warren. Er befand sich unter mir, und sein Markenzeichen, ein weißer Anzug, ließ ihn mit dem Schnee verschmelzen. Die einzige Lichtquelle war eine Laterne, die er an den Mast gehängt hatte.

Seit einer halben Stunde warteten wir, ich oben in meiner Metallschüssel, er unten zwischen den Tribünen. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich mir das so vorgestellt hatte, als ich der Mann für Alles geworden war. Eigentlich hatte ich denjenigen helfen wollen, deren Leben ich zerstört hatte. Etwas für sie tun, was sie selbst nicht mehr konnten. Mir kamen aber Zweifel, dass einem Gnom während eines illegalen Treffens Rückendeckung zu geben diese hehren Ziele erfüllte.

Inzwischen hatte ich mich durch ein halbes Päckchen Clayfields gekaut, obwohl ich wusste, dass das keine gute Idee war. Es war ein Schmerzmittel, das betäubte, aber die Kälte hatte meine Finger und Zehen bereits gefühllos werden lassen, weswegen ich nicht noch mehr davon brauchen konnte.

Endlich näherte sich eine Gestalt von der anderen Seite des Spielfeldes. Sie war deutlich vernünftiger eingepackt als ich: dicker Mantel, Schal, Mütze, Stiefel und Handschuhe. Ein Metallkasten an ihrer Seite war etwa so groß wie ein Toaster.

Warren trat aus dem Schatten der Tribünen und hielt seinen Hut fest, damit er nicht weggeweht wurde.

Sie traten zueinander, und es wäre selbst ohne das Heulen des Windes unmöglich gewesen, auch nur ein Wort zu verstehen. Ich legte die Armbrust auf die Kante der Laterne und tat so, als wäre meine Anwesenheit keine kolossale Zeitverschwendung.

Als es noch Magie gab, hätte ich allerlei wunderbare Erfindungen dabeihaben können: Goblin-Granaten, verzauberte Seile und explodierende Tränke. Heute waren die einzigen Dinge, die auf Entfernung gefährlich werden konnten, ein Bolzen, ein Pfeil oder ein gut geworfener Stein.

Warren griff in sein Jackett und zog einen Umschlag hervor. Keine Ahnung, wie viele bronzene Scheine sich darin befanden. Ebenso wenig wusste ich, was in dem Metallkasten war. Eigentlich wusste ich mal wieder gar nichts.

Die Frau gab Warren den Kasten. Er überreichte den Umschlag. Dann standen sie da, während Warren den Kasten öffnete und sie das Geld zählte.

Als die Frau sich umdrehte und wegging, zog ich mich in die Laterne zurück und pustete mir in die tauben Finger.

Warren schrie.

Als ich über die Kante spähte, wedelte er mit dem Hut durch die Luft. Das war das verabredete Zeichen, aber die Frau war schon halb über das Spielfeld gegangen.

»Das ist Scheiße«, kreischte der Gnom. »Leg sie um!«

Ich muss zwei Sachen klar sagen: Erstens hatte ich niemals zugestimmt, irgendwen umzulegen; zweitens bin ich nicht der Typ, der auf Frauen schießt. Aber sollte ich nicht wenigstens den Eindruck erwecken, dass ich sie aufhalten wollte, würde sich meine Bezahlung in Wohlgefallen auflösen, und der ganze eiskalte Abend wäre umsonst gewesen. Also hob ich die Armbrust, zielte hinter die Frau und drückte ab.

Ich hatte vor, zu kurz zu schießen, sodass es wirkte, als habe ich die Entfernung falsch eingeschätzt. Zu meinem  – und ihrem – Unglück drehte der Wind genau in diesem Augenblick.

Aus der Dunkelheit gab es einen Schmerzensschrei und dann das Geräusch eines fallenden Körpers.

Scheiße.

»Ja! Du hast sie erwischt, Fetch! Sehr gut!«

Warren schnappte sich seine Laterne, lief davon und ließ mich im Dunkeln zurück. Ich hörte, wie er sie verfluchte, wie sie ihn verfluchte, und fluchte selbst auch.

Bis ich die Leiter herabgestiegen war und Warren erreicht hatte, hatte er ihr schon den Umschlag aus den Fingern gerissen und trat nach ihr. Ich zog ihn zurück, und er fiel auf seinen Hintern. Da er kaum einen Meter groß war, würde er sich nicht allzu wehtun.

»Genug. Du hast dein Geld, oder nicht?«

Mein Bolzen steckte in ihrer rechten Wade, nicht allzu tief, aber es lief einiges Blut in den Schnee. Als sie versuchte, sich umzudrehen, zuckten die Muskeln um die Wunde. Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen.

»Miss, Sie wollen nicht …«

»Nein!« Sie warf sich herum und fuhr mir über das Gesicht. Schmerz schoss durch meine Haut. Ihre Klauen waren ausgefahren, hatten Löcher in die Handschuhe gebohrt und funkelten im Laternenlicht. Eine Werkatze. Als ich mein Gesicht berührte, spürte ich warmes Blut.

»Verdammt noch mal, Lady, ich will Ihnen nur helfen.«

»Du hast auf mich geschossen!«

»Das war vor zwei ganzen Minuten. Seien Sie nicht so nachtragend.«

Ich kroch näher heran, und dieses Mal schlug sie nicht nach mir. Bis auf die Klauen und die glühenden Katzenaugen sah sie menschlich aus. Kein Pelz oder sonstige Tiermerkmale. Ihr Haar war dunkel, lang und zu dünnen Dreadlocks verflochten, die zu einem Zopf gebunden waren.

»Halten Sie einen Moment still«, bat ich und zog mein Messer. Sie ließ zu, dass ich ihre Hose bis zum Bolzen aufschnitt. Der Wind und der dicke Stoff hatten verhindert, dass er allzu tief eindringen konnte. Ich zog ein sauberes Taschentuch und meine Packung Clayfields raus.

»Hat jemand Alkohol dabei?«

Warren holte einen silbernen Flachmann aus seinem Jackett. Ich nahm einen Schluck, der meine Innereien erwärmte.

»Was ist das?«

»Brandy. Meine Frau brennt ihn.«

Ich schüttete etwas auf das blutende Bein und wischte es mit dem Taschentuch trocken. Die Werkatze bleckte die Zähne, griff mich aber zum Glück nicht noch einmal an.

Dann zog ich eine Clayfield aus der Packung und hielt sie ihr hin.

»Auf das Ende beißen und daran saugen. Ihre Zunge wird taub werden. Das bedeutet, dass es wirkt.«

Ihre Augen waren gelbgrün und voller Verachtung.

»Ich hätte nichts dagegen, meinen Hintern aus dem Schnee zu hieven«, stellte sie fest.

»Eine Sache noch.«

Ich zerquetschte den Rest der Packung in meiner Faust. Es waren noch gut ein Dutzend Zweiglein darin, die ich mit der Pappe zu einer Paste zerrieb. Ihr Saft troff unten heraus auf die Wunde, und ich verrieb ihn mit der Packung um den Bolzen herum, sorgsam darauf bedacht, nichts auf die Finger zu bekommen.

»Hilft das?«

Sie nickte.

Mit einem Arm unter ihrer Schulter half ich ihr hoch auf ihr unverletztes Bein, und wir humpelten zu den überdachten Tribünen. Dort legte sie sich auf den Bauch. Ich setzte mich eine Reihe darunter hin und versuchte, den Bolzen zu entfernen.

»Warren, was hat sie dir überhaupt verkauft?«

Der Gnom saß etwas abseits und schmollte, aber er öffnete den Kasten. Darin lag etwas, das wie eine Kristallblume aussah, deren zahlreiche dünne Blütenblätter zu einer Spitze wuchsen. Sie lag auf einem Samtkissen, und ich hatte keine Ahnung, um was es sich handeln mochte.

»Eine Art Juwel?«

»Noch nicht mal«, erwiderte Warren. »Glas.«

»Warum willst du es?«

»Ich will doch nicht das da. Ich will das Original.«

»Original?«

Frustriert klappte er den Kasten zu.

»Das Horn eines Einhorns.«

Ich hielt inne. Der Gnom und die Katze senkten beschämt ihren Blick. Zu Recht.

Den alten Geschichten nach hatte es einst einen Baum gegeben, dessen Wurzeln sich so tief in den Planeten gegraben hatten, dass sie den großen Fluss erreichten. In einem Frühjahr trugen seine Äste seltene Äpfel, die mit heiliger Macht erfüllt waren. Als eine Herde wilder Pferde von diesen Äpfeln fraß, ließ die Magie Spiralen purpurnen Nebels aus ihren Stirnen wachsen.

Nur selten hatte man sie zu Gesicht bekommen, und alle hatten sie beschützt. Die Idee, eines zu jagen, um ihm das Horn abzuschneiden, war barbarisch. Ich sah die Katzenlady an.

»Sie sind nach Sunder City gekommen, um so einen Dreck zu verkaufen?«

Da sie nicht antwortete, stupste ich gegen ihr verletztes Bein.

»Echh!« Sie bäumte sich auf und fauchte mich an. Ihre Krallen erschienen wieder, aber diesmal war es nur eine Drohgebärde.

»Woher bekommen Sie Einhorn-Horn?«, hakte ich nach. »Und legen Sie sich hin, sonst bekomme ich den Bolzen nie raus.«

Sie legte ihren Kopf auf die Hände.

»Gar nicht. Wie der Gnom schon sagte, es ist aus Glas. Eine Fälschung.«

Wenigstens war sie nicht durch die Wildnis gezogen und hatte legendäre Kreaturen für ein wenig Bronze getötet. Aber das war nur ein Teil des Problems.

»Warren, was wolltest du damit?«

Der kleine Kerl hatte sich zusammengekauert und grummelte in seiner Muttersprache vor sich hin.

»Warren?«

Er sah nicht auf, spie mir aber eine Antwort entgegen: »Ich sterbe.«

Der Wind ebbte ab.

»Wir sterben alle, Warren.«

»Aber ich sterbe bald, und es wird nicht schön sein.« Er hob seine Hände und öffnete und schloss die Finger, als würde er etwas zerquetschen. »Ich kann meine Knochen spüren. Meine Gelenke. Sie … rosten. Zerbrechen. Der Arzt sagt, man kann nichts machen. Wir Gnome hatten Magie in unseren Körpern. Ohne sie weiß ein Teil von uns nicht mehr so richtig, wie er funktionieren soll.« Er legte eine Hand auf den Metallkasten mit dem gefälschten Horn. »Ich habe einen neuen Doktor gefunden, der mir gesagt hat, dass es in manchen Sachen noch Magie gibt. Er meint, so ein Horn sei pure Magie, und falls ich ihm eins bringen kann, könnte er mir vielleicht etwas davon verabreichen.«

Es kostete mich Überwindung, nicht das Offensichtliche auszusprechen: dass er ein vertrauensseliger Tölpel war, der alles nur noch schlimmer machen würde. Das Letzte, was er in seinem Zustand brauchte, war, in einer solchen Nacht draußen auf der Suche nach etwas Unmöglichem zu sein.

Lange gelang es mir nicht.

»Warren, du weißt schon, dass das Unsinn ist, oder?«

Er antwortete nicht. Auch sie schwieg. Ich entfernte den Bolzen und verband die Wunde gut genug, sodass sie das Bein etwas belasten konnte. So gingen wir zurück in die Stadt. Die Werkatze und der Gnom schwiegen, und ich lernte endlich, es ihnen gleichzutun.

* * *

Wir kamen etwa um Mitternacht in den Eingeweiden von Sunder City an. Warren zahlte mich aus und stapfte nach Hause. Dann waren die Katze und ich allein.

»Wie geht es dem Bein?«

»Zu deinem Glück ist es übel.«

»Wieso zu meinem Glück?«

»Weil ich dir wirklich gern ins Gesicht treten möchte.«

Als wir die Main Street erreichten, sagte sie, dass sie ab jetzt allein klarkommen würde. Vermutlich wollte sie einfach nicht, dass ich wusste, wo sie wohnte. Das war für mich okay. Mir war kalt, ich hatte keine Schmerzmittel mehr, und ich wollte nur noch schlafen, bis der Effekt der letzten Clayfield abklang.

»Sorgen Sie dafür, dass ein richtiger Arzt sich das ansieht«, empfahl ich ihr.

»Ach echt? Ich könnte vermutlich Wundbrand allein von deinem Anblick bekommen.«

Das sollte wohl ein Scherz sein, aber es war leider nicht ganz falsch. Mein Zuhause hatte seit dem Verlöschen der Feuer kein heißes Wasser mehr. Im Winter hätte es einen härteren Mann als mich gebraucht, um sich jeden Tag zu waschen.

»Aber danke«, fügte sie hinzu. »Wenn ich schon angeschossen werden muss, dann wenigstens von einem, der mich nachher wieder zusammenflickt. Wie ist Ihr Name?«

»Fetch Phillips. Mann für Alles.«

Sie schüttelte meine Hand. Die Spitzen ihrer Krallen kratzten über meine Haut.

»Linda Rosemary.«

Alles in allem war der Abend gut gelaufen. Sie hatte versucht, Warren zu betrügen, war erwischt worden und hatte sich einen Bolzen als Bezahlung für unsere verschwendete Zeit eingefangen, aber am Ende gingen wir alle nach Hause in unser eigenes Bett. Irgendwie war das fair. Fairer, als wir es für gewöhnlich erwarten konnten.

Mit einer Hand stützte sie sich an den Wänden ab, als sie die Main Street hochhumpelte. Ich würde ihr den Ärger nicht nachtragen, solange ich mich nie wieder mit ihr herumschlagen musste.

Aber einige Sachen wird es in Sunder City immer geben: Hunger im Winter, Betrunkene in der Nacht und Ärger das ganze Jahr über.

2

Die Pisse in meinem Nachttopf war gefroren.

Eigentlich hatte ich nicht richtig geschlafen, sondern war nur angezogen in meinem Bett zusammengebrochen und hatte getan, als wäre ich tot, bis die Sonne wieder aufging.

Ich glitt aus dem Bett und zwang meine zweifach besockten Füße in die Stiefel. Als ich in meine Wohnung/das Büro/den Kühlschrank eingezogen war, gefiel mir die Idee, im fünften Stock zu leben. Die Aussicht gab mir das Gefühl, die ganze Stadt überblicken zu können, und der Sturz aus der Engelstür wäre tief genug für einen sicheren Tod, sofern ich Kopf voraus sprang. Es sind die kleinen Dinge, die aus einem Haus ein Heim machen.

Sunder war eine große Stadt, aber nicht sonderlich hoch gebaut. Leider hieß das, dass dieses Gebäude einen beeindruckenden Ausblick bot, aber auch den ganzen Wind abbekam. Und er fand jeden Riss im Mauerwerk, jede Lücke um die Fenster. Er wehte sogar in die Räume unter mir und stieg kalt durch die Dielen empor. Irgendwann würde ich die ganzen Löcher flicken. Genauso, wie ich auch irgendwann zum Barbier gehen, mit dem Trinken aufhören und meine Hosen nähen würde, bevor sie mir von den Beinen fielen.

Die Schnitte in meinem Gesicht waren übler, als ich gedacht hatte. Am Morgen nach unserem kleinen Ausflug ins Stadion hatte ich Georgio, den Betreiber des Cafés unten, gebeten, mich zu nähen, aber seine zitternden Hände ließen das Blut nur noch üppiger fließen, also brach ich den Versuch ab. Seitdem waren vier Tage vergangen. Jetzt waren mir vier rotbraune Linien auf der rechten Seite geblieben, von denen ich nur hoffen konnte, dass sie keine Narben zurückließen.

Ich hatte kein eigenes Badezimmer. Deshalb auch der Nachttopf. Ich nahm ihn, öffnete die Tür zum Vorzimmer und hätte beinahe die Frau umgerempelt, die dort mit großen Augen stand, als hätte ich sie bei irgendwas erwischt.

Es war Linda Rosemary.

Sie war in dieselben vernünftigen Klamotten gehüllt, die sie neulich getragen hatte: roter Mantel, Hahnentritt-Schal und eine keck zur Seite geneigte schwarze Mütze. Als ich sie nachts gesehen hatte, war mir nicht aufgefallen, wie abgenutzt und geflickt alles aussah. Ihre Hände steckten in dicken, schwarzen Handschuhen, die mehr auf Wärme als auf Fingerfertigkeit ausgelegt waren. Auf ihren Wangen zeigte sich eine Röte, die gut zu den Wölkchen aus ihrem Mund passte. Ihr Blick senkte sich auf den kalten Eisblock im Topf, den ich zwischen uns hielt.

»Machen Sie Kaffee?«

Im Bemühen, zu verbergen, um was es sich handelte, hob ich ihn hoch.

»Von gestern. Nicht mehr gut.«

Sie rümpfte die Nase. »Riecht nach Pisse.«

Mein beschämtes Grinsen bestätigte ihre Vermutung. Einen Moment lang standen wir eingefroren in peinlicher Stille dort.

»Wollen Sie … hereinkommen?«

Sie zog schmerzhaft lang die Luft ein. Ihr Blick wanderte von meinem Gesicht zum Nachttopf bis zum Büro hinter mir. Mein Bett war noch heruntergeklappt und zerwühlt. Auf dem Schreibtisch standen schmutzige Gläser, und eine Ameisenstraße trug Krümel quer durch den Raum. Keine Ahnung, was sie gefunden hatten, denn ich hatte hier seit Wochen nichts gegessen.

Linda war steif vor Unentschlossenheit, wie ein wildes Tier, das erst einmal alle Fluchtinstinkte unterdrücken muss, bevor es sich füttern lässt. Schließlich trat sie mit einem »Was zum Teufel …« ein. Sie humpelte noch immer leicht und wischte mit einem Taschentuch über den Stuhl, den ich für meine Klienten bereitgestellt hatte. Ich lief um sie herum und stopfte schmutzige Unterwäsche und anderen Kram in meine Taschen.

»Nach neulich nachts habe ich mich umgehört …«, hob sie an.

»Einen Augenblick.«

Hinter dem Schreibtisch war die Engelstür, ein Relikt jener Zeiten, als die Welt noch voller Magie gewesen war und einige glückliche Seelen fliegen konnten. Ich zog sie auf, und der Wind schlug mir wie der Knochenbrecher eines Kredithais ins Gesicht. Ich stellte den Nachttopf auf die Veranda, rieb meine Finger am Mantel ab und schloss die Tür wieder. Als ich mich umdrehte, sah ich Bedauern auf ihrer Miene.

»Entschuldigen Sie. Ich habe selten Gäste so früh am Morgen.«

Sie zog eine Taschenuhr aus dem Mantel.

»Aber es ist …«

»Ganz sicher ist es. Wie geht es Ihrem Bein?«

»So voller Nähte wie ein Segel. Und Ihr Gesicht?«

»Ich schätze, ein Teil davon steckt noch unter Ihren Fingernägeln. Ist es nicht gerade Trend, sie kurz zu feilen?«

Elegant wickelte sie sich aus dem Schal.

»Ich verabscheue das. Werkatzen schneiden ihre Krallen nur, wenn sie zusammen mit anderen Spezies leben. Meine Vorfahren lebten in den eisigen Hügeln von Weir. Wir hatten unser eigenes Königreich. Unsere eigenen Gesetze. Aber die Coda hat das alles zerstört und mich gezwungen, hierherzukommen.«

Ich konnte den Blick nicht abwenden. Ihre Haut war glatt, und jede noch so kleine Bewegung war grazil. Obwohl sie ihre Zähne kaum zeigte, schienen sie alle da zu sein.

»Nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich das sage, aber Sie scheinen die Coda ganz gut überstanden zu haben.«

Es war nicht wirklich ein Kompliment, und ihrem Blick zufolge nahm sie es auch nicht so auf.

»Meine Schwester starb mitten in der Verwandlung, als ihr Gehirn versuchte, zwei verschiedene Wesen auf einmal zu sein. Das Gesicht meines Vaters war wie umgestülpt. Er hat noch eine Woche gelebt, stumm und durch einen Strohhalm ernährt, bis irgendetwas in ihm zerbrochen ist. In unserem Haus lebten zwanzig von uns. Und ich habe mich um sie alle so lange gekümmert, wie ich konnte, bis ich als Einzige übrig war. Ich ging und fand mich schließlich hier wieder. Mir ist bewusst, dass ich zu den wenigen Glücklichen gehöre, Mr Phillips, aber ich hoffe, Sie verstehen, dass ich dennoch keine Freudensprünge mache.«

In der darauffolgenden langen Pause sank ihre Geschichte durch meinen dicken Schädel. Draußen heulte der Wind noch lauter. Der Nachttopf kratzte über den Boden und fiel von der Veranda. Es schepperte laut, dann rief jemand Verwünschungen hoch.

Ihre Miene blieb unverändert. Als der Lärm draußen erstarb, fuhr sie fort: »Ich habe mich nach Ihnen erkundigt und dabei einige interessante Anekdoten gehört.«

»Wirklich? Bislang hat mich noch niemand beschuldigt, interessant zu sein.«

Das stimmte nicht ganz. Die Geschichte des Menschen, der den Mauern von Weatherly entkommen war, um den Reihen des Opus beizutreten, hatte schon einige spannende Aspekte. Nicht so wilde wie die Fortsetzung, als derselbe Junge die gehüteten Geheimnisse der Magie an die Armee der Menschen verraten hatte, oder das große Finale, als die Menschen diese Geheimnisse nutzten, um der Welt alle Magie zu rauben, aber es gab sie.

»Was ich nicht ganz verstehe, ist, was Sie eigentlich tun«, stellte sie fest. »Sie sind kein Detektiv. Kein Leibwächter. Dann sagte jemand, Sie würden Gerüchten von zurückkehrender Magie nachgehen.«

Ich zuckte zusammen.

»Ich weiß nicht, wer Ihnen das gesagt hat, aber das stimmt nicht.«

Dieses Gerücht war nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Alle wussten, dass die Magie verschwunden war und dass wir sie nicht zurückholen konnten. Mein Job war sicherlich seltsam, aber ich lief nicht herum und verkaufte sterbenden Wesen hohle Träume, so wie sie das mit dem gefälschten Einhorn-Horn versucht hatte.

»Offenbar haben Sie vor einigen Monaten einen Vampir gefunden«, fuhr sie fort. »Einen Professor, der seine Kraft zurückgewonnen hatte.«

Diesmal wollte ich lügen, aber der Schock auf meinen Zügen hatte mich ohnehin verraten. Niemand sollte über Professor Rye Bescheid wissen, über den Vampir, der sich selbst in ein Monster verwandelt hatte, und erst recht sollte niemand bei mir nach Antworten suchen.

»Nicht ganz.«

»Ich habe gehört, dass dieser Vampir einen Weg gefunden hat, die Uhr zurückzudrehen. Er hat seine alte Macht zurückgewonnen, und Sie waren derjenige, der ihn aufgespürt hat und weiß, wie er es gemacht hat. Sie sind im Besitz eines Geheimnisses, für das der Rest der Welt töten würde.« Sie legte ihre Hände auf den Schreibtisch und tippte mit den Krallen gegen das Holz. »Und ich will wissen, was es ist.«

Mein ganzer Leib spannte sich an. Mit dieser Entschlossenheit auf ihrem Antlitz jagte sie mir Angst ein, wie ich gestehen musste.

»Es tut mir sehr leid, aber das kann ich nicht sagen.«

Wir starrten uns gegenseitig an, und ich konnte nur hoffen, dass ich nicht gegen sie kämpfen musste. Dann verstand ich, dass da keine Feindseligkeit in ihrem Blick lag. Nicht ganz. Eher Verzweiflung.

»Ich will Ihnen keine Probleme bereiten, Mr Phillips. Ich bin hier, um Sie anzuheuern. Was immer Sie auch wissen, was immer Sie herausgefunden haben. Ich will diese Informationen nutzen, um wieder stark zu sein.«

Ich war froh, keine rachsüchtige Katze an der Kehle zu haben, und lehnte ich mich zurück. Aber ich wusste nicht, wie ich das erklären konnte.

»Miss Rosemary, das ist nicht, was ich tue.«

»Warum denn nicht, zum Teufel? Worauf verwenden Sie all Ihre Energie? Alten Elfendamen über die Straße zu helfen? Ich will wieder ganz sein, und ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.«

Kopfschüttelnd knurrte ich.

»Es war keine Magie, die in den Vampir zurückkehrte. Es war etwas anderes. Er gab jener Versuchung nach, die Sie gerade empfinden, und es hat ihn vernichtet. Sie haben es besser überstanden als die meisten. Seien Sie dankbar dafür.«

Sie bog die Finger zu Klauen und kratzte acht dünne Linien in das Holz, bevor sie eine Hand vor ihr Gesicht hob.

»Das bin nicht ich. Ihre Spezies hat mich vernichtet. Alles, was mich ausmachte, alles, was ich hatte. Ich bin nicht diese Person. An diesem Ort.« Sie sah sich voller Verachtung für ihre Umgebung um. »Was für ein Ort soll das überhaupt sein?« Eine Träne rann ihre Wange herab, und ihre Spur gefror zu Eis. »Sie verstehen gar nichts, Mr Phillips, absolut gar nichts.«

Ich wollte meine Zunge im Zaum halten, aber Jahre der Übung hatten ihr ein Eigenleben beschert.

»Ich weiß, dass die Magie nicht wiederkehrt. Ich weiß, dass Leute sterben, wenn sie nach einem Ersatz suchen. Lassen Sie los, Miss Rosemary. Suchen Sie etwas anderes, an dem Sie sich festhalten können.«

Ihre Miene verriet, dass sie mir mit Freuden die Kehle herausgerissen hätte. In den alten Zeiten hätte sie das vielleicht. Mein weiches, menschliches Fleisch hätte gegen eine Lycum wie sie keine Chance gehabt. Aber diese Stärke war in jenem Moment verschwunden, als der heilige Fluss zu Glas geworden war. Stattdessen nahm sie ihren Schal, stand auf und ging zur Tür.

Ihr Blick fiel auf die Schriftzeichen auf dem Fenster in der Tür. Mann für Alles. Sie las sie leise vor, ließ die Worte wie Steine in ihren geröteten Wangen rollen.

»Mann«, stellte sie fest. »Verstehe. Sie sind ein Mensch. Sie sind männlich. Ich bin sicher, es ergab Sinn für Sie. Aber sehen Sie sich nur an, wie Sie hausen. Hören Sie, wie Sie reden.« Sie machte sich nicht die Mühe, sich zu mir umzudrehen, sondern starrte auf das Glas, als wollte sie es mit ihren Blicken zerspringen lassen. »Sie sind ein Junge, Mr Phillips. Ein dummer Junge, der mit Sachen spielt, die ihm nicht gehören. Legen Sie sie weg, bevor Sie sich noch verletzen.«

Dann war sie weg.

Ich suchte nach einer Flasche, um ihre Worte aus meinem Hirn zu spülen. Was wusste sie schon? Sie wollte nur ihre Stärke zurück, und sie hasste mich dafür, dass ich ihr im Weg stand. Was sollte ich denn tun? Sie anlügen? So tun, als könnte ich mich auf eine Queste begeben und mit der Magie zurückkehren, die sie wieder ganz machen würde? Das war unmöglich. Die Magie war weg, und je eher wir alle das akzeptierten, desto besser.

Ring.

Ich hob ab, und die müde Stimme von Sergeant Richie Kites erklang. Hinter ihm war Tumult, aber er flüsterte.

»Fetch, kannst du zur Bluebird Lounge oben an der Canvas Street kommen? Simms hätte gern deine Meinung zu einem Vorfall.«

Das wäre das erste Mal. Normalerweise warfen mich die Cops raus, wenn ich mich am Ort eines Verbrechens umsehen wollte, und riefen mich nicht an, um ihn mir anzusehen.

»Klar. Warum die Einladung?«

Richie sprach immer noch leise: »Wir haben hier einen Toten mit einem Loch im Kopf. Sieht nicht nach irgendeiner Art Waffe aus, die wir kennen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Fetch. Für mich sieht es nach Magie aus.«