Kate O'Hara
Straße des Ruhms
Roman
Knaur e-books
Aufgewachsen in Deutschland, studierte Kate O'Hara Germanistik sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft. Nach dem Studium war sie als freie Journalistin für den Rundfunk sowie für Tageszeitungen und Zeitschriften tätig. Sie veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Reportagen als Reiseschriftstellerin und wanderte in den 90er Jahren in die USA aus, wo sie heiratete und die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Sie arbeitete viele Jahre als Musik- und Reisejournalistin für Printmedien und den Rundfunk, bevor sie sich dem historischen Roman widmete.
© 2021 Knaur E-Book
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
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Redaktion: Susanne Wallbaum
Covergestaltung: Alexandra Dohse / grafikkiosk.de
Coverabbildung: Collage aus mehreren Motiven von © Ildiko Neer / Trevillion Images, © akg-images / arkivi, © Underwood Archives / UIG / Bridgeman Images und Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46077-1
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Für H.,
Love of My Life
»Hollywood ist ein Ort, wo sie dir tausend Dollar für einen Kuss bezahlen und fünfzig Cent für deine Seele.«
Marilyn Monroe
»Man muss dem Leben immer um mindestens einen Whiskey voraus sein.«
Humphrey Bogart
1926
Wie flüssiges Silber glitzerte die Lagune im Licht der Mondsichel, die in den sternenübersäten Nachthimmel von Samoa aufstieg. Weit draußen brachen sich die Wellen am langen Bogen des Korallenriffs, das die Bucht vor Stürmen und Haien schützte. Die Gischt zog eine silbrig schäumende Linie über den Horizont. Zart wie Seide strich die warme Meeresbrise über den Strand und entlockte den Palmwedeln leises Rascheln und Raunen.
Für den jungen Seemann Gordon Sloan war es das süße Flüstern der Verlockung. Einer paradiesischen Verheißung, der er längst erlegen war. Sein Entschluss stand fest. Er würde hier auf der Insel bleiben und mit Hei’ura, dem zauberhaften Geschöpf, das ihm gerade den frisch tätowierten Rücken mit Kokosnussöl einrieb, ein neues Leben beginnen. Was kümmerte ihn der verdammte Heuervertrag mit Captain Whitehead? Die Dreimastbark Amelia Star, die mit schweren Sturmschäden im Hafen von Apia im Trockendock lag, hatte noch wochenlange Reparaturarbeiten vor sich, bevor der Alte wieder Segel setzen lassen konnte und die Fahrt nach Indien weiterging. Bis dahin hatten Hei’ura und er alles organisiert, damit er nicht von dem rabiaten Suchkommando erwischt wurde, das der Skipper in den Tagen vor dem Auslaufen mit Sicherheit losschickte, um seine Mannschaft vollständig an Bord zu bekommen.
Gordon Sloan lag nackt auf dem Tuch aus bunt bedrucktem Calico, das Hei’ura hinter dem Palmenhain ausgebreitet hatte. Durch das dünne Baumwollgewebe spürte er die Wärme, die der Sand den Tag über aufgenommen und gespeichert hatte. Aber das war nicht die Ursache für die Hitze, die ihm das Blut in den Unterleib trieb. Hei’ura wurde ihrem Namen mal wieder gerecht. In der Sprache der Samoaner hatte Hei’ura zwei Bedeutungen, nämlich sowohl »Krone aus Federn« als auch »Feuerkrone«. Und wie sehr seine junge Eroberung sich darauf verstand, mit ihren federzarten Händen in ihm das Feuer zu entfachen!
Er ertrug es nicht länger, ruhig liegen zu bleiben. Mit einem gequälten Stöhnen drehte er sich auf den Rücken und wollte sie auf sich ziehen. Sie war so nackt wie er. Quecksilbergleich floss das Mondlicht über ihren hinreißenden Körper, glitt wie eine zweite lebendige Haut über ihre Schultern und die herrlichen Brüste. Er wusste, dass sie bereit war für ihn.
»Warte, Tau-Tau«, flüsterte sie und stellte die Holzschale mit dem Kokosöl neben sich in den Sand.
Er lachte mit belegter Stimme. »Tau-Tau? Ist das mein neuer Name?« Ta-tau nannten die Samoaner das Stechen, das Tätowieren, und er hatte sich in den letzten Wochen Dutzende von polynesischen Tattoos stechen lassen. Selbst über seinen rasierten Schädel und sein Gesicht zogen sich heilige Symbole und Wellenmuster in blauschwarzer Farbe.
Hei’ura lächelte. »Tau-Tau kein guter Name?«, neckte sie ihn und setzte sich auf ihn.
Gordon stöhnte auf. Im selben Moment erlosch das geheimnisvolle Glitzern auf der Lagune. Die Myriaden Sterne auf dem tiefschwarzen Himmelstuch verblassten und verschwanden mit der Mondsichel hinter dunklen Wolken. Auch die Meeresbrise verlor schlagartig ihre Milde. Ein starker Wind kam auf, und plötzlich zogen Nebelschwaden über die Bucht, die alle tropische Schönheit verloren hatte und nun mit schroffen Ufern drohte. Regen setzte ein.
Verschwunden waren aber nicht nur die Palmen und der Strand, sondern auch Hei’ura. Er befand sich nicht auf Samoa, sondern auf dem schwankenden Deck der verfluchten Leviathan. Das nervöse Zischen und Raunen von anderthalb Dutzend Chinesen vermischte sich mit den rauen Flüchen und gedämpften Kommandos von Captain Caldwell und seiner Mannschaft. Zwei Chinesen glitt eine Kiste aus den Händen, und eine Flut von kostbarer Jade ergoss sich neben der Luke über die Planken. Fast augenblicklich brach wütendes Geschrei los. Die gellende Stimme des Skippers wurde übertönt von der seines jüngeren Bruders. Messer blitzten im Licht der Schiffslaterne, dann fiel der erste Revolverschuss, der dem Chef der chinesischen Sippe das halbe Gesicht wegriss und ihn tot zwischen seine Jadeschätze schleuderte.
Das Massaker begann.
Schüsse krachten in schneller Folge. Er vernahm die scharfen Detonationen eines Repetiergewehrs, aber er sah nichts mehr, war dem Gemetzel an Deck der Leviathan blind ausgeliefert. Er spürte, dass ihm jemand nach dem Leben trachtete, und rollte sich wimmernd zusammen. Vor seinen Augen wogte klebrige Schwärze. Etwas floss über sein Gesicht, sickerte zwischen seine Lippen und kroch in seinen Mund.
Kroch?
Mit einer Mischung aus Würgen und ersticktem Aufschrei fuhr Tau-Tau aus seinem Albtraum hoch. Sein richtiger Name, Gordon Sloan, war selbst ihm schon seit Jahrzehnten fremd.
Etwas Krustiges lief über seine Zunge und knirschte, als er unwillkürlich zubiss, zwischen seinen Zähnen. Angewidert spuckte er aus. Und noch bevor der letzte Rest Schläfrigkeit von ihm gewichen war, wusste er, dass er auf eine verfluchte Kakerlake gebissen hatte.
»Teufel auch!«, stieß er hervor, griff nach seiner Beinprothese und suchte nach dem Ungeziefer, das er auf den Steinboden seiner Zelle im kalifornischen Staatsgefängnis San Quentin gespuckt hatte.
Bekleidet nur mit Franks Oberhemd, das zuzuknöpfen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, stand Harriet Shaw am Fenster. Sie hatte die königsblauen Samtvorhänge nur schulterbreit aufgeschoben. Von der Suite hier oben im fünften Stockwerk des luxuriösen »Fairmont Hotel«, das sich auf dem Millionärshügel Nob Hill über das Häusergewimmel erhob und einen ganzen Straßenblock zwischen Mason und Powell Street einnahm, hatte man einen herrlichen Blick über die Stadt, den Hafen und die gewaltige San Francisco Bay. Die Sicht reichte bis hinüber nach Sausalito und zu den sanften dunkelgrünen Bergketten des Marin County auf der Nordseite der Bay. Zum Greifen nah lag der weite Bogen der Waterfront, der mit seinen zahllosen Piers von oben wie ein riesiger, an den Strand gespülter Tausendfüßler wirkte.
Es versprach ein klarer Morgen zu werden. Weit und breit keine Spur von den Nebelfeldern, die so häufig im Morgengrauen vom Pazifik herantrieben und sich im Nu über Stadt und Bay legten. Noch waren das Meer im Westen und die Landenge des Golden Gate mit ihren zerklüfteten Ufern in tiefe Dunkelheit getaucht. Der Dampfer, der gerade auf die enge Passage zuhielt, war nur anhand seiner Positionslichter und Schiffslaternen auszumachen, aber weiter im Osten fingen sich schon die ersten Sonnenstrahlen in den rechteckigen drachenblutroten Segeln zweier hochbordiger chinesischer Dschunken, die mit ihren Schleppnetzen nach Shrimps fischten. Eine Vielzahl winziger Lichtpunkte auf den dunklen, eiskalten Fluten nahm sich wie ein tanzender Schwarm Glühwürmer aus. Sie markierten die kleinen Fischerboote, die unweit von Little Italy aus der Fisherman’s Wharf ausliefen und in alle Himmelsrichtungen segelten. Besser zu erkennen waren die beiden gedrungenen Barkassen mit ihren kraftvollen Motoren und das schnittige, hell erleuchtete Lotsenboot, die Kurs auf den einlaufenden Überseefrachter nahmen und ihn an die ihm zugewiesene Landungsbrücke bugsieren würden.
Nichts davon nahm Harriet, die ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas presste, wirklich wahr. Genauso wenig bewusst sah oder hörte sie die voll besetzte Cablecar, die unter lautem Rattern und Bimmeln den steilen Hügel erklomm und an der Kreuzung Sacramento und Powell Street einen ganzen Schwung Hotelbedienstete ausspuckte. Keine vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit Frank und sie einander in die Arme gefallen waren. Mit welcher Wildheit sie sich geliebt hatten!
Keine vierundzwanzig Stunden!
Im Schlafzimmer hinter ihr herrschte noch Dunkelheit. Frank schlief tief und fest. Schlaf hatte es für sie beide wenig gegeben. Sie hatten einfach nicht genug voneinander bekommen können, als hätten sie einander immer aufs Neue versichern wollen, dass sie tatsächlich wieder zueinandergefunden hatten und nun alles gut werde.
Aber wurde es das auch?
Noch wenige Tage zuvor war Harriet sich ihrer in allem so sicher gewesen. Wie fest sie davon überzeugt gewesen war, ihr Leben im Griff zu haben! Sie war doch nicht mehr das naive Mädchen, das sich Hals über Kopf in einen verwegenen Austernräuber und Abenteurer mit zerzaustem strohblonden Haar und umwerfenden hellblauen Augen verliebte, sondern Mutter eines neunzehnjährigen Sohns und eine gestandene Geschäftsfrau von mittlerweile einundvierzig Jahren!
Und nun das!
Was hatte sie getan? Wie war es möglich, dass sie der Versuchung einfach nicht hatte widerstehen können und gestern zu ihm ins Hotel gekommen war? Hatte sie denn völlig vergessen, was sie nach dem Erdbeben von 1906, dieser entsetzlichen Katastrophe in so vieler Hinsicht, zwei Jahrzehnte lang voneinander ferngehalten hatte? Sie lebten doch in völlig verschiedenen Welten, und das nicht allein geografisch gesehen. Frank hatte sich in Hollywood ein Leben aufgebaut und führte mit den von ihm selbst gegründeten Silver Screen Studios eines der großen Unternehmen der jungen Filmindustrie. Dagegen galt ihre Leidenschaft der Caldwell Shipping Company mit ihrer Flotte aus einunddreißig Frachtern unter Dampf und den vier verbliebenen Segelschiffen, allesamt stolze Dreimaster.
Aus dem Nichts hatte ihr verstorbener Vater Arthur die Schifffahrtslinie in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgebaut, angefangen mit dem schnittigen Schoner Sansibar. Schon als Kind hatte Harriet nichts lieber getan, als sich bei ihm im Hafenkontor aufzuhalten, mit einem Buch still in der Ecke zu sitzen und alles, was besprochen wurde, wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Der Vater hatte sie dann auch nach seinem Schlaganfall trotz aller familiären Widerstände nicht nur zu seiner rechten Hand gemacht, sondern testamentarisch zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Sie hatte sich den väterlichen Respekt in langen, bitteren Jahren wahrlich hart erkämpft.
Onkel Henry aber, der achtzehn Jahre jüngere Bruder ihres Vaters und an der Firma mit einem Viertel beteiligt, hatte diese Entscheidung nicht akzeptiert. Er hatte auch nach dem Tod ihres Vaters gegen sie intrigiert und es mit seinen dreckigen Tricks tatsächlich geschafft, sie um die Anteilsmehrheit zu bringen und aus der Geschäftsleitung zu drängen. Aber was Onkel Henry und die Firmenleitung betraf, war noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Den Kampf um die Vorherrschaft über die Caldwell Shipping würde sie nicht aufgeben, ganz im Gegenteil. In wenigen Stunden würde sich zeigen, wie ihre Aussichten standen, Onkel Henry mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Ihre Gedanken kehrten zu Frank und der Frage zurück, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Sie fand keine Antwort darauf, und doch verspürte sie, wie sie zu ihrer Verwunderung feststellte, nicht den Hauch von Reue, dass sie nun hier war. Hatte das Schicksal vielleicht einfach gewollt, dass es so kam?
Was auch immer sie bewogen hatte, es zu wagen, es fühlte sich trotz aller Einwände, die ihr Verstand vorbrachte, ganz wundervoll und unausweichlich richtig an. Und dafür war nicht allein der himmlische Sex verantwortlich.
Aber was kam auf sie zu? Welche Opfer würden sie bringen, nein, zu welchen Opfern würden sie bereit sein müssen, damit ihre Liebe über gelegentlichen wundervollen Sex hinaus eine Chance hatte?
Harriet fürchtete sich vor der Antwort. Nicht nur vor seiner, sondern auch vor der, die sie finden musste.
Durch das Gitter des handtuchschmalen Fensters hoch oben in der dicken Granitwand drang das fahle Licht des Vollmonds in die Zelle. Es reichte, um zu finden, wonach Tau-Tau suchte. Die Kakerlake, fast so groß wie sein Daumen, lag auf dem gepanzerten Rücken und lebte noch. Im nächsten Moment fuhr die konisch zulaufende Fußstange der Beinprothese auf sie nieder und zerquetschte sie.
Tau-Tau wischte die eklig schmierigen Überreste des Ungeziefers mit einem Zipfel seiner kratzigen Gefängnisdecke von der Spitze. Die Prothese, wie abgenutzt und primitiv sie mit ihren Lederbändern und rostigen Schnallen auch sein mochte, war ihm heilig. Und das hatte etwas zu bedeuten, denn er hatte es weder mit der Religion, noch neigte er zu sentimentalen Gefühlsaufwallungen. Den Glauben an einen barmherzigen Gott und menschliches Mitgefühl hatte ihm nicht erst San Quentin ausgetrieben. Das Verdienst gebührte einer ganzen Reihe von brutalen Skippern, Maschinisten und anderen Befehlshabern, die ihm schon viele Jahre zuvor mit der Faust, einem Tauende oder einer Klinge beigebracht hatten, welche Gesetze im Leben galten und welche unbedeutende Rolle er in diesem gnadenlosen Universum spielte. Da hätte es der vielen anderen Schicksalsschläge, die sein Leben seit der vergeblichen Flucht auf Samoa und der Auspeitschung damals an Deck der Amelia Star geprägt hatten, gar nicht bedurft. Seine Seele war vernarbt und sein Herz nicht mehr als ein alter Klumpen Fleisch, der immer mühsamer Blut durch den abgenutzten Körper pumpte.
Einem Menschen aber hatte er ewigen Dank geschworen, nämlich dem Zimmermann Mitchell Sumner. Der hatte damals nach dem Unfall auf der Josefine sein Bestes gegeben, damit er nicht zu einem Leben als hilfloser Krüppel verdammt war. Er hatte für die Prothese nicht zu einem beliebigen Stück Schiffsholz gegriffen, das buchstäblich ein Klotz am Bein gewesen wäre, sondern teures, aber leichtes Balsaholz verwendet, sogar ein Stück »quarter grain«, das aus der Mitte eines Balsastammes kam und damit die beste Qualität aufwies. Der Captain der Josefine hatte getobt, als er davon erfuhr, aber da war die Prothese schon fertig gewesen und er hatte nicht mehr dagegen tun können, als die Kosten von Tau-Taus restlicher Heuer abzuziehen.
Obendrein hatte Sumner ihm ein perfektes Versteck für Geld und andere Wertsachen geschenkt, indem er die beiden Hälften des Holzstücks ausgehöhlt hatte, bevor er sie gut miteinander verklebte und vernagelte, ein Gewinde in das untere Ende des Hohlkörpers drechselte und das viel dünnere kurze Endstück dort anschraubte. Dieses doppelte Geschenk hatte Tau-Tau ihm nie vergessen. Deshalb begab er sich an jedem Jahrestag seines Unfalls in eine Kirche, zündete für den alten Sumner, der als Ire immer einen Psalm oder sonstigen Bibelspruch auf den Lippen gehabt hatte, eine Kerze an und murmelte ein paar Worte des Dankes – wenn auch nie, ohne eine lästerliche Verwünschung für den Captain, den zehnmal verfluchten Schinder, hinzuzufügen. Selbst in den bittersten Zeiten, als er kaum ein paar Münzen in der Tasche gehabt hatte, war er seinem Schwur treu geblieben, indem er notfalls eine Kerze gestohlen hatte.
Nachdenklich zog Tau-Tau unter dem Strohsack, der ihm auf der Eisenpritsche als Matratze diente, eine verbeulte Blechdose hervor. Den einst bunten Aufdruck »Batavia Gold – The World’s Finest Tobacco« konnte längst nur noch erahnen, wer wusste, dass es ihn einmal gegeben hatte. Er drehte sich von den letzten Krümeln Tabak, die gut zur Hälfte mit Flocken aus getrocknetem Gras und Unkraut aus dem Gefängnishof versetzt waren, eine Zigarette, riss ein Streichholz an und sog den scharfen Rauch tief in die Lungen.
Er zögerte kurz und lauschte, ob sich ein Schließer auf dem Gang vor den Zellen herumtrieb, dann legte er sich die Prothese quer über die Oberschenkel und drehte das Fußstück heraus. Vorsichtig schüttelte er seinen geheimen Schatz aus dem Hohlraum. Doch nicht die zusammengerollten Geldscheine im Wert von neun Dollar waren das Kostbarste, was sich in der Prothese verbarg.
Nein, was sich nicht einmal mit dem Hundertfachen der paar Dollar aufwiegen ließ, die er trotz so mancher Versuchung all die Zeit nicht angerührt hatte, war die gut mit Kordel verschnürte Rolle aus Wachspapier, etwa so lang wie ein Zigarrenstumpen der billigen Sorte, aber nicht ganz so dick. Unter dem Wachspapier verbargen sich das Foto der Chinesin und der Ausriss aus der Napa Gazette mit dem Bild der frisch verheirateten Tochter von Captain Arthur Caldwell sowie die Notizen, die er auf Fetzen Papier gekritzelt hatte. All die Jahre hatte er seinen Schatz, seine schäbige Prothese, dieses geheime Versprechen auf eine goldene Zukunft, gehütet. Eine Zukunft, die begann, wenn er in wenigen Stunden aus dem Gefängnistor in die Freiheit schritt. Denn dies war der Tag, auf den er fünfzehn gottverfluchte Jahre in der Hölle von San Quentin gewartet hatte.
Würde George Gillmore, mit dem er fünf Jahre lang die Zelle geteilt hatte und der sich längst wieder seiner Freiheit erfreute, Wort halten und nachher mit allem zur Stelle sein? Hatte es etwas zu bedeuten, dass er am letzten Besuchstag nicht gekommen war? Diesem mausgesichtigen Frettchen war alles zuzutrauen.
Unruhe erfasste Tau-Tau, und sein Mund wurde trocken vor Beklemmung. Plötzlich fürchtete er, einen kapitalen Fehler gemacht zu haben, indem er das Frettchen in seinen Plan eingeweiht und zu seinem Komplizen gemacht hatte. Was, wenn der kriecherische Kerl es sich anders überlegt und beschlossen hatte, das Ding auf eigene Faust zu drehen? Konnte es sein, dass er eins und eins zusammengezählt und irgendwie herausgefunden hatte, dass Caldwell der Name war, den er ihm verschwiegen hatte?
Jetzt verfluchte Tau-Tau sich dafür, dass er Gillmore von Bobby Flake und Wilbur Burke erzählt hatte, die Zeugen des Massakers gewesen waren. Was, wenn Gillmore sich mit ihnen zusammengetan und die fette Kuh längst gemolken hatte?
Kalter Schweiß brach ihm aus, als ihn die Angst beschlich, einmal mehr in seinem elenden Leben auf das falsche Pferd gesetzt zu haben und nach fünfzehn gottverfluchten Jahren geduldigen Wartens und Planens in San Quentin doch wieder mit leeren Händen dazustehen.
Das Rascheln seidiger Bettwäsche holte Harriet aus ihren Gedanken. Sie lächelte und gab ein wohliges Seufzen von sich, als Frank sich Augenblicke später an ihren Rücken schmiegte und sie seinen nackten bettwarmen Körper spürte. Seine Händen glitten unter das Oberhemd, strichen zärtlich über ihren Bauch und kamen dann mit sanftem Druck auf ihren Brüsten zu ruhen. Sein Kopf senkte sich in ihre Halskuhle.
»Bist du schon lange wach?«
»Mhm, ja, schon eine Weile«, sagte sie und schmiegte ihre Wange an seine. Das leichte Kratzen der Bartstoppeln störte sie nicht. Von seinen Armen fest und doch zärtlich umschlungen zu sein und seine Haut zu spüren beruhigte sie. Es nahm der bangen Frage, ob eine gemeinsame Zukunft vielleicht bloß eine romantische Illusion war, viel von ihrer quälenden Kraft.
»Und? Worüber hast du nachgedacht?«, fragte er und küsste sie auf die Schulter.
»Ach, über dies und das«, murmelte sie vage.
Er lachte leise. »Und was genau ist dies und das?«
»Nun, etwa dass ich mittlerweile auf die Fünfzig zugehe …«
»Was redest du denn da? Du bist gerade einundvierzig geworden! Was soll denn ich mit meinen sechsundvierzig Jahren sagen?«, fiel er ihr lachend ins Wort. »Davon abgesehen können dir in Sachen Aussehen und Ausstrahlung noch nicht einmal halb so alte Frauen das Wasser reichen, und seien sie noch so attraktiv!« Und das war nicht übertrieben. Mit den rabenschwarzen, leicht bläulich schimmernden Haaren, die ihr, dem modischen Trend zum jungenhaften Bob zum Trotz, mit herrlicher Fülle auf die Schultern fielen, und den smaragdgrünen Augen hatte Harriet noch nichts von ihrem betörenden Zauber verloren. Und dasselbe galt für ihre Figur, für ihre gesamte Erscheinung.
Ihre Augen leuchteten auf, doch sie ging nicht auf seinen Protest ein, sondern fuhr eher nüchtern als wehmütig fort: »… und dass wir so entsetzlich viel Zeit verloren haben, Frank. Zwei volle Jahrzehnte genau genommen.«
Das traf Frank wie eine kalte Dusche, und seine Stimmung verdüsterte sich schlagartig. Er musste schlucken und sich fassen, bevor er antworten konnte. Und die Antwort fiel ihm nicht leicht. »Was allein meine Schuld ist. Ich hätte damals, als du mit deiner Mutter in Boston warst, nicht an deiner Liebe zweifeln dürfen, nur weil in den Monaten deiner Abwesenheit kein Brief mehr von dir eintraf«, erklärte er, so bitter es ihn auch ankam. »Und schon gar nicht hätte ich aus verletzter Liebe und gekränktem Stolz die alte Beziehung wieder aufnehmen und mich in diese unselige Ehe mit Florence stürzen dürfen. Damit habe ich es nur noch schlimmer gemacht. Für uns alle.«
Dass Florence, als das Erdbeben halb San Francisco in ein tagelanges Flammeninferno verwandelt und eine Trümmerwüste von fünfhundert zerstörten Häuserblocks hinterlassen hatte, hochschwanger beim Einsturz ihres Hauses auf der Octavia Street umgekommen und in der Stunde der Not allein gewesen war, weil er die Nacht heimlich mit Harriet verbracht hatte, das würde er sich sein Lebtag nicht verzeihen. Er fühlte sich für ihren Tod verantwortlich, und für ihn stand fest, dass es für sein Versagen keine Entschuldigung gab. Dieses Wissen hatte ihn seelisch aus der Bahn geworfen. Deshalb war er damals Hals über Kopf aus San Francisco geflüchtet und, getrieben von Scham und Schuldgefühlen, vier Jahre lang mit seinem alten Lieferwagen sowie einem Projektor und einem halben Dutzend kurzer Stummfilme ziel- und rastlos durch die Provinzstädte und Dörfer des amerikanischen Westens gezogen. Bis er an einem heißen Sommertag des Jahres 1910 am Fuß der Santa Monica Mountains in Hollywood, einem staubigen, verschlafenen 500-Seelen-Nest von Citrusfarmern, gestrandet war, in der Bar des »Hollywood Hotel« Vergil Hall kennengelernt hatte, den Kameramann einer kleinen Filmfirma, und spontan auf dessen verrücktes Angebot eingegangen war, für die Centurio Film Company aus Philadelphia zu arbeiten und sich ins Handwerk des Filmens einweisen zu lassen. Ach, wie er seinen alten Partner und Freund Vergil doch vermisste!
»Nein, ist es nicht«, widersprach Harriet ruhig und legte besänftigend ihre Hände auf seine, die noch immer ihre Brüste umschlossen. »Mich trifft nicht weniger Schuld, also quäl dich nicht länger mit diesen Selbstvorwürfen. Was bringt es, wenn wir unsere Versäumnisse und Fehler gegeneinander aufwiegen? Wir haben eine zweite Chance bekommen, nicht wahr?«
»Ja, das haben wir. Und wir werden sie nutzen!«
»Aber wie soll es weitergehen, Frank?«, fragte sie. »Mein Leben spielt hier in San Francisco, wo ich alle Hände voll zu tun habe, um mich gegen Onkel Henry zur Wehr zu setzen und die Kontrolle über die Reederei zurückzugewinnen.«
»Was dir bestimmt gelingen wird, vielleicht sogar schon heute, bei deinem Treffen mit den Anderson-Brüdern. Mit deren sechzehn Prozent hättest du wieder die Mehrheit in der Firma. Ich bin sicher, du schaffst es, dein Plan ist einfach zu gut. Sie müssten schon reichlich dumm sein, wenn sie nicht auf dein Angebot eingehen«, sagte Frank, während sein Blick einem Doppeldecker mit zitronengelbem Anstrich folgte. Das Flugzeug tauchte über dem Häusermeer nördlich von Nob Hill auf, flog eine Schleife über das Hafenviertel, drehte ab und entschwand in Richtung Oakland.
»Ja, darauf vertraue ich, aber das heißt noch lange nicht, dass sie auch wirklich an mich verkaufen«, erwiderte sie. »Oft genug habe ich Geschäfte, die angeblich in trockenen Tüchern waren, noch im letzten Moment platzen sehen. Und selbst wenn mir die Andersons ihre Anteile verkaufen, kann es für mich noch eine Zeit lang raues Wetter mit hohem Wellengang geben.«
Frank lachte trocken. »Damit beschreibst du genau das, was mich in Hollywood erwartet. Es wird ein verdammt harter Kampf, meine Partner davon zu überzeugen, dass die Stummfilmzeit auf ihr Ende zurast und die Zukunft den Talkies gehört.«
»Bist du dir dessen so sicher?«, fragte sie.
»Absolut! Sehen und Hören, Ton und Bild gehören einfach zusammen, Harriet. Die Pantomime der Schauspieler und die erklärenden Zwischentitel, die zum Verständnis der Handlung eingeblendet werden, sind bestenfalls Krücken. Sie widersprechen den menschlichen Sinnen und der natürlichen Form der Darstellung fundamental. Sonst würden ja wohl auch Theaterstücke stumm aufgeführt.«
»Also was ich in der letzten Zeit gesehen habe, hat mich doch sehr beeindruckt, besonders die Verfilmung von Elliots Roman, den man wohl nicht bewegender auf die Leinwand hätte bringen können«, sagte sie voller Stolz auf ihren »kleinen« Bruder, der mittlerweile zweiunddreißig war, sich als Romanautor einen Namen gemacht hatte und schon seit vielen Jahren in Paris lebte, wo seine sexuelle Veranlagung wenig Beachtung fand. Er fehlte ihr.
Unweigerlich musste sie an Ashley denken. Ihre Schwester, vierzehn Jahre jünger als sie, war vor vier Jahren nach Hollywood gegangen und hatte sich der Schauspielerei verschrieben. Nun ja, mit ihrer gertenschlanken Erscheinung, dem puppenhaften Gesicht und dem honigblonden Haar brachte sie zumindest die äußerlichen Voraussetzungen mit. Und an Ehrgeiz fehlte es ihr auch nicht. Dumm nur, dass sie versucht hatte, an ihre erste Rolle zu kommen, indem sie ausgerechnet Frank erpressen wollte. Sie hatte ihm alte Liebesbriefe präsentiert, die sie bei ihr, Harriet, gefunden und heimlich entwendet hatte. Das war böse ins Auge gegangen. Was nun ihre Talente als Schauspielerin betraf, so hatten sich diese in den drei, vier belanglosen Filmen, in denen sie in Nebenrollen mitgespielt hatte, als eher bescheiden erwiesen. Ganz abgesehen davon, dass Harriet für diese Slapsticks genannten Klamauk-Filme nichts übrighatte. Aber vielleicht war sie auch zu kritisch. Es gab leider so vieles, das ihre Schwester und sie trennte, und sich das einzugestehen war schmerzlich. Manchmal quälten sie Gewissensbisse, weil sie als die Ältere den Kontakt zu Ashley so vernachlässigt hatte. Es betrübte sie, dass sie sich mit ihr so wenig verstand und noch keinen Weg gefunden hatte, ein schwesterlich-herzliches Band zu ihr zu knüpfen. Allerdings war das wohl nicht allein ihre Schuld. Ashley machte es einem mit ihrer Arroganz und Großspurigkeit wahrlich nicht leicht. Ihre berechnende Art war einfach zu verletzend. Und wann hatte Ashley sich das letzte Mal bei ihr gemeldet? Nur wenn sie dringend Geld für ein Filmprojekt brauchte, erinnerte sie sich an ihre Schwester, die ihr mit erheblichen Summen aus der Klemme helfen konnte. In weiser Voraussicht hatte ihr Vater in seinem Testament festgelegt, dass Ashley erst mit Vollendung des siebenundzwanzigsten Lebensjahrs über den ihr vererbten zehnprozentigen Anteil an der Firma verfügen konnte. Das hatte sie nicht davon abgehalten, mit ihr, Harriet, einen Vorverkaufsvertrag abzuschließen und sich einen Vorschuss von vierhunderttausend Dollar auszahlen zu lassen. Harriet wünschte, sie hätte sich nicht dazu erweichen lassen, aber Ashley hatte sie derart angefleht und sich nicht gescheut, zu sticheln, sie, Harriet, sei »dank« Jordans frühem Tod ja nun eine der reichsten Frauen Kaliforniens, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte, als nachzugeben.
»Hast du in letzter Zeit mal was von meiner Schwester gehört?«, fragte sie. »Oder bist ihr begegnet? Sie hat sich schon so lange nicht mehr gemeldet. Obwohl das ja nichts Neues ist.« In Gedanken fügte sie hinzu: und auch kein schlechtes Zeichen sein muss. Zumindest bedeutet Funkstille, dass sie nicht wieder Geld braucht! »Aber ich wüsste doch gern, wie es ihr geht.«
Frank zögerte. Begegnet war ihm Harriets Schwester in den letzten Monaten mehrfach, immer mit anderen Männern und meist ziemlich betrunken. Aber Letzteres traf ja wohl auf die Mehrzahl der Leute zu, die in Hollywood vor oder hinter der Kamera arbeiteten, ihn eingeschlossen. »Ich weiß nur, dass sie bei einem Projekt von Grand Horizon Pictures eingestiegen ist. Soll sich um einen historischen Kostümfilm handeln. Sie hat sich wohl mit einem erheblichen Beitrag an der Produktion beteiligt.«
Harriet verzog das Gesicht. »Nicht ganz ohne mein Zutun, ehrlich gesagt. Ich habe ihr einen Teil ihres Erbes auszahlen müssen. Hoffentlich hat sie da keinen Fehler begangen. Ist denn das Studio solide?«
»Grand Horizon Pictures? Na ja, gemeinhin produzieren sie solide Unterhaltungskost«, antwortete er diplomatisch. In Wirklichkeit gehörte die Firma zu den Filmproduzenten von Poverty Row, wie die abseits gelegenen und mies ausgestatteten Hinterhofstudios fern vom Sunset Boulevard und den anderen Filmzentren der Stadt abschätzig genannt wurden. Ein B-Movie für das Vorprogramm einer Vorstellung in der Provinz war schon das Höchste, was aus diesen Studios in die Kinos kam.
»Hat Ashley eine Chance, wenn der Tonfilm sich tatsächlich durchsetzt?«, fragte Harriet. »Sei ehrlich.«
Er zuckte die Achseln. »Wer kann das schon sagen? Nicht einmal bei meinen derzeitigen Stars würde ich die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie den Sprung in die neue Zeit schaffen. Was nun deine Schwester betrifft, so fürchte ich, dass ihre Begabung vielleicht nicht mit ihrem eigenen Anspruch mithalten kann. Und ihre Stimme … na ja …« Er ließ den Satz offen, schließlich kannte Harriet die etwas näselnde, snobistisch-träge Sprechmelodie ihrer Schwester.
Harriet gab einen schweren Seufzer von sich. »Vielleicht bleibt es ja doch beim Stummfilm.«
»O nein, das wird es nicht«, widersprach er mit Nachdruck. »Ich habe mich eingehend über die Produktion von Tonfilmen informiert. Und Warner Brothers sind nicht die Einzigen, die sich mit dieser neuen Technik beschäftigen. Nächstes Jahr bringen sie ›The Jazz Singer‹ heraus, und ich gehe jede Wette ein, dass die Menschen begeistert sein und mehr Filme dieser Art fordern werden.«
»Aber deine Geschäftspartner sehen das anders, wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte sie, löste sich sanft aus der Umarmung und drehte sich zu ihm um. Seine Locken, deren einstiges Weizenblond im Laufe der Jahre einen etwas dunkleren, goldbraunen Ton angenommen hatten, waren wild zerzaust, was ihm, zusammen mit der blassen sichelförmigen Narbe links auf der Stirn, etwas Verwegenes gab. Was jedoch nichts von seiner Strahlkraft verloren hatte, war das Blau seiner Augen, in dem man sich so leicht verlieren konnte.
Frank verzog das Gesicht. »Das ist leider wahr.«
»Das heißt, dass du nicht nur ein gutes Stück Überzeugungsarbeit vor dir hast, sondern danach auch schwer beschäftigt sein wirst, um deine Silver Screen Studios auf die neue Technik umzustellen.«
»Auch damit hast du den Nagel mitten auf den Kopf getroffen«, räumte er ein. Harriet hatte in zweifacher Hinsicht einen wunden Punkt berührt, und noch bevor er vom Thema ablenken konnte, formulierte sie auch schon die Frage, die sich aus alldem ergab.
»Wie also soll es mit uns weitergehen, wenn ich hier Gott weiß wie lange mit rauem Wetter zu kämpfen habe und du bis über beide Ohren mit der komplizierten und sicher teuren neuen Technik beschäftigt bist? Was bleibt dann noch für uns?« In ihrem Blick lag Beklommenheit, ja beinahe Angst.
Er lächelte gequält und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht, Harriet. Was ich jedoch weiß, ist, dass ich dich liebe und wir irgendwie einen Weg finden werden, diese schwierige Zeit zu überstehen. Und wir müssen natürlich Geduld miteinander haben.«
Einen langen Augenblick sah sie ihm forschend in die Augen, dann nickte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Ja, eine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen, haben wir wohl nicht.«
»Und das werden wir, das verspreche ich dir.«
»Gut, aber was ist mit Adrian?«
»Was soll mit ihm sein? Hatten wir das nicht gestern schon besprochen?«, fragte er leicht irritiert zurück. Adrian war ihr gemeinsamer, mittlerweile neunzehnjähriger Sohn, von dessen Existenz er viele Jahre nichts gewusst hatte. Kurz nachdem er damals kopflos aus San Francisco geflohen war, hatte sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Jordan Shaw, ihr langjähriger Verehrer und Sohn eines Bankiers, hatte sie auf der Stelle geheiratet und damit einen Skandal im Hause Caldwell verhindert. Jordan war vor einigen Jahren an der Malaria gestorben, die er sich bei seinen oft Monate währenden archäologischen Ausgrabungen in Ägypten und anderen Ländern zugezogen hatte.
»Nun, ich weiß, dass Adrian sich mit dir ausgesöhnt hat und dass es ihm viel bedeutet zu wissen, wie sehr du in den letzten Jahren heimlich an seinem Leben Anteil genommen hast. Aber er hat Jordan abgöttisch geliebt, und Jordan ist noch keine vier Jahre tot. Das mit mir und dir könnte alte Wunden aufreißen«, sagte sie besorgt. »Wann also sagen wir es ihm?«
Frank zuckte die Achseln. »Der richtige Zeitpunkt wird sich ergeben. Lassen wir es auf uns zukommen, Harriet. Er ist ja kein Kind mehr.«
»Also behalten wir es noch eine Weile für uns, auch wenn es mir widerstrebt, vor meinem Sohn Heimlichkeiten dieser Art zu haben«, sagte sie und wechselte das Thema. »Sag, wie lange kannst du überhaupt bleiben?«
»Nur ein paar Tage«, antwortete er und versuchte, die bittere Wahrheit ins Scherzhafte zu ziehen, indem er fortfuhr: »Länger kann ich es im Augenblick nicht riskieren, den Brandherden, die auf meinem Studiogelände schwelen oder bald auszubrechen drohen, fernzubleiben.«
»Dann sollten wir die kostbare Zeit nutzen.«
»Für ein frühes Frühstück?«, fragte er neckend.
»Ich denke, das kann noch ein bisschen warten. Noch fehlt mir dafür der richtige Appetit.«
»Worauf hast du dann Appetit?«
Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln, während ihre Hand über seine Brust strich und abwärts wanderte. »Auf dasselbe wie du, wie ich spüre«, flüsterte sie und streifte sich mit der anderen Hand das Oberhemd von der Schulter.
Frank nahm ihr Gesicht in beide Hände und teilte ihre Lippen mit der Zunge. Ohne voneinander zu lassen, bewegten sie sich auf das zerwühlte Bett zu.
Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte, noch bevor sie auf das Laken sinken konnten. Ohne dass sich ihre Lippen voneinander lösten, schüttelte Harriet energisch den Kopf.
Frank war versucht, das Klingeln zu ignorieren, doch dann brach er den Kuss ab und schob sie sanft, aber doch nachdrücklich von sich. »Tut mir leid, mein Schatz, aber das muss etwas Wichtiges sein!«, stieß er hervor. »Nur drei Menschen wissen überhaupt, wo ich bin. Bitte entschuldige, aber den Anruf muss ich entgegennehmen.«
»Schon gut, wenn du es sagst«, seufzte sie, zog eine Grimasse und setzte sich auf die Bettkante. »Aber mach es kurz. Du willst doch nicht, dass mir der Appetit vergeht, oder?«
»Um Gottes willen, nein!«, versicherte er, gab ihr noch schnell einen Kuss und hob den Hörer mit dem massiven Messinggriff und den Ohr- und Sprechmuscheln aus elfenbeinfarbenem Porzellan aus der doppelten Gabel.
»Mr Maynard, Sir?«
»Ja, bitte?«
»Roswell hier, Sir, Ihr Nachtmanager. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich Sie zu dieser frühen Morgenstunde aus dem Schlaf hole«, begann der Mann unten an der Rezeption hörbar zerknirscht. »Aber ich habe hier einen Anrufer in der Leitung, Sir. Einen Anrufer aus Los Angeles, Sir. Der Herr ist sehr hartnäckig, gelinde ausgedrückt, er besteht darauf, unverzüglich mit Ihnen verbunden zu werden. All meine Versuche, ihm …«
»Wie ist der Name?«, fiel Frank ihm ins Wort und warf Harriet, als er die Enttäuschung in ihren Augen las, einen flehentlichen Blick zu.
»Es ist ein gewisser Mr Tony Russo, der Sie …«
Erneut ließ Frank den Nachtmanager nicht ausreden. »Stellen Sie ihn durch!« Tony Russo war seit Jahren der Chef seiner Presse-&-PR-Abteilung. Genau genommen war er eine Menge mehr als das. Er war der unersetzliche Feuerwehrmann der Silver Screen Studios, wenn es um Brandherde ging, die zwar nichts mit tatsächlichem Feuer zu tun hatten, aber eine ebenso verheerende Wirkung haben konnten. Tony Russo war sein »Fixer« und in der schillernden Branche der Fixer einer der Besten.
Harriet blieb noch einen Augenblick auf der Bettkante sitzen, dann stand sie auf und begab sich ins Bad. Der erotische Zauber war gebrochen. Angespannt wartete Frank auf die Verbindung – und Tonys Hiobsbotschaft. Denn dass ihn eine schlechte Nachricht erwartete, lag auf der Hand. Auf das Knacken in der Leitung folgte ein atmosphärisches Rauschen, Jaulen und Zirpen. Dann legte sich ein undefinierbarer Lärm über dieses störende an- und abschwellende Grundrauschen, das noch immer so viele Ferngespräche plagte. Er hörte Musik, Gelächter und wirres Stimmengewirr, es klang nach einer wilden Party.
»Tony? … Hallo, Tony?«
»Sind Sie dran, Boss? … Hören Sie mich?«
Nur schwach setzte sich die Stimme gegen die laute Geräuschkulisse und die statischen Störungen durch, aber es war unverkennbar Tony Russo. »Nicht sehr gut. Von wo um alles in der Welt rufen Sie an, Tony? Von einer aus dem Ruder laufenden Party?«
»… vorn im … Gate …«, klang es im gut fünfhundert Meilen entfernten »Fairmont« aus dem Hörer.
»Ich versteh kein Wort, Tony! Decken Sie die Sprechmuschel mit der Hand ab!«
Anstelle einer Antwort hörte Frank ein ausgiebiges Rascheln, das alle anderen Geräusche bis auf das Hintergrundrauschen übertönte, dann erscholl wieder Tony Russos Stimme, diesmal halbwegs verständlich. »Ich bin vorn im Schankraum vom ›Hell’s Gate‹, Boss. Tut mir leid wegen dem Lärm, aber hier feiert noch immer der harte Kern einer Flapper-Hochzeit, und es kümmert kein Schwein, dass ich ein wichtiges Telefongespräch führen muss. Und ’ne schalldichte Telefonzelle gibt’s in dem Schuppen nicht.«
»Sagen Sie bloß, Sie haben bis jetzt am Pokertisch gesessen!« Das »Hell’s Gate«, in dessen Hinterzimmer regelmäßig Pokerrunden für gut betuchte Spieler aus der Filmbranche stattfanden, war die bevorzugte Flüsterkneipe seines Fixers.
»Ich weiß, Boss. Ich sollte wissen, wann Feierabend ist, und mich nicht so selbstlos für die Firma aufreiben«, spottete Tony. »Aber Sie können mir später noch dafür danken, dass ich mir die Nacht mit einer Runde durch die bevorzugten Kneipen unserer Stars und Sternchen um die Ohren geschlagen habe und am Schluss hier gelandet bin.«
»Selbstlosigkeit ist zweifellos eine Ihrer hervorstechenden charakterlichen Stärken«, gab Frank zurück. »Aber nun rücken Sie schon damit heraus. Wo brennt es?«
»Es raschelt ordentlich im wilden Gebüsch von Eden, Boss.«
Ein freudloses Lächeln flog über Franks Lippen. In ihrer Branche, in der es von Zynikern nur so wimmelte, benutzten viele Eden als Synonym für Hollywood und die Filmindustrie. Wobei sie natürlich nicht das Paradies der Unschuld meinten, sondern das Eden nach dem Sündenfall.
»Und was genau tut sich in unserem sündhaften Eden?«
»Ein paar beutegierige Schlangen, die sich bislang versteckt gehalten haben, kriechen aus dem Gebüsch, um die Gunst der Stunde zu nutzen. Und das Gift dieser Nattern gilt Ihnen, Boss!«
Der alte Schleppkahn, den nur noch der Rost und der hart gebackene Uferschlamm zusammenhielten, hatte schon im Jahr des Erdbebens in einer versandeten Bucht auf der Nordseite der San Francisco Bay seinen letzten Ruheplatz gefunden. Die schmale Pier, an der er lehnte wie ein Betrunkener mit schwerer Schlagseite, war halb eingebrochen, und ebenso brüchig waren die Taue, die den Kahn einst längsseits gehalten hatten.
Helles Morgenlicht fiel durch das nach Osten gehende Bullauge in der rissigen Wand des Wohnverschlags. Dieser Verschlag im Heck war das letzte von ehemals drei billigen Quartieren, in die der verrostete Schleppkahn für Kohle und Schotter vor zwanzig Jahren mit hastig zusammengezimmerten Brettern verwandelt worden war. Die beiden vorderen Hütten waren längst in sich zusammengefallen.
Der kalte Luftzug, der durch die Ritzen zwischen den Brettern drang, holte George Gillmore aus dem Schlaf. Er erwachte mit pelziger Zunge und pochenden Kopfschmerzen. Als er die Augen aufschlug, traf ihn der hereinflutende Sonnenschein wie Scheinwerferlicht. Fluchend kniff er die Augen zusammen und drehte sich zur Seite. Dabei stieß seine Hand auf ein weiches, warmes Hindernis.
Er stutzte, setzte sich auf und zerrte die dicke Flickendecke zur Seite. Beim Anblick des nackten knabenhaften Körpers auf seinem Matratzenlager blinzelte er verdutzt. Für einen Augenblick war sein Gehirn leer wie eine blank gewischte Tafel, dann kam, widerwillig wie ein stotternd anspringender Motor, die Erinnerung in Gang. Natürlich, er hatte sich mal wieder Shenmi ins Bett geholt. Wusste der Teufel, warum er immer wieder auf diese chinesische Hure verfiel. Gut, sie war jung und billig zu haben, für einen halben Dollar die Nacht, aber an weiblichen Reizen hatte sie nichts zu bieten. Sie war platt wie ein Bügelbrett mit zwei Erbsen drauf und konnte gut als Junge durchgehen. Aber er nahm sie ja auch nur von hinten oder ließ sich einen blasen, da konnte es ihm egal sein, ob sie Titten hatte oder nicht.
Trotzdem machte es ihn hinterher jedes Mal wütend, dass er von diesem Typ Nutte einfach nicht loskam. Und dann hieß sie auch noch Shenmi, was in der Sprache der Chinks angeblich »Geheimnis Gottes« bedeutete. Offenbar ein verdammt gut gehütetes Geheimnis, vielleicht das beste der Welt. Ach was, ein schlechter Witz!
Angewidert weckte George Gillmore sie mit einem Fußtritt. »Los, wach auf! Beweg deinen Arsch, hast du gehört? Raus mit dir! Nimm deinen Fummel und verschwinde!«
Ohne ein Wort des Protests sprang die junge Chinesin auf, zog sich an und hielt wortlos die Hand auf. »Halbes Dolla!«, sagte sie. Ihre Lippen lächelten, doch ihre dunklen Augen blickten hart und kalt.
Am liebsten hätte er sie von seinem Kahn gejagt, ohne zu bezahlen, aber das konnte er sich nicht erlauben. Das würde Ärger geben, und Ärger war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Chinese Cove, wo die Dschunken der chinesischen Shrimper ihren Ankerplatz hatten und die Hütten der Schlitzaugen sich auf Stelzen über dem Wasser erhoben, lag von seiner Unterkunft kaum mehr als einen Steinwurf entfernt. Tag und Nacht drang der Fischgestank aus der Siedlung durch die Ritzen seiner Bretterwände, aber dieser Ort war ein ideales Versteck und damals billig zu haben gewesen, zumal noch der windschiefe Schuppen neben der Pier im Preis inbegriffen gewesen war. Zurzeit verbarg er dort weder Hehlerware noch geschmuggelten illegalen Alkohol, sondern das gelb-grün lackierte Taxi, das er letzte Nacht in Oakland vom Autohof der Checker Cab Company gestohlen hatte.
»Ein halber Dollar! Schon mit ’nem Dime wärst du gut bezahlt. Ich sollte dich zum Teufel jagen«, knurrte er, griff aber zu seinem Geldbeutel und warf ihr einen halben Dollar zu, den sie in der Luft auffing. Fast ohne ein Geräusch huschte sie aus der Kabine und vom Kahn.
Gillmore bedachte sie noch mit einem halblauten Fluch, der eigentlich mehr ihm selbst galt als ihr. Den halben Dollar, so kläglich der Betrag auch war, hätte er bei der derzeitigen Ebbe in seinem Geldbeutel gar nicht ausgeben dürfen. Nur gut, dass er in den vergangenen Tagen schon alles besorgt hatte, was er für Tau-Tau benötigte.
Hastig zog er sich an, denn ihm war kalt. Dann fiel sein Blick auf die Flasche San Gabriel Brandy. Es war die letzte, die noch übrig war, und sie war für Tau-Tau gedacht. In dem Steinkrug daneben war billiger schwarzgebrannter Schnaps, etwas für wirklich bittere Notfälle, wenn er sich nichts halbwegs Ordentliches leisten konnte. Aber warum sollte Tau-Tau seinen ganzen Brandy bekommen? Zwei, drei kräftige Schlucke waren da schon noch für ihn selber drin. Die nahm er sich nun, um den ekligen Geschmack im Mund und die bohrenden Kopfschmerzen loszuwerden. Dann machte er sich daran, Kleinholz und Kohle im Kanonenofen aufzuschichten. Ein Blechbecher voll Kerosin sorgte dafür, dass das Feuer schnell brannte.
Er zog sich einen dreibeinigen Hocker heran, genehmigte sich einen weiteren Schluck aus der Flasche und rieb sich in dem Hitzeschwall, den der Kanonenofen ausstrahlte, die klammen Hände. Und erst dann wurde ihm wirklich bewusst, dass dies der Tag war, dem er seit anderthalb Jahren entgegenfieberte.
In ein paar Stunden wurde Tau-Tau entlassen. Der Mann, mit dem er fünf Jahre in San Quentin die Zelle geteilt und unter dessen Schutz er gestanden hatte. Die Erinnerung an den Preis, den er für diesen Schutz bezahlt hatte, verursachte ihm Übelkeit. Schnell spülte er den sauren Geschmack mit einem weiteren Schluck Brandy hinunter.
Gillmore zwang seine Gedanken weg von den hässlichen, nicht allein mit Tau-Tau verknüpften Bildern der Vergangenheit. Von den zweiunddreißig Jahren seines Lebens hatte er elf hinter Gittern verbracht. Mit siebzehn hatte er läppische siebenundachtzig Dollar unterschlagen, was das Ende seiner Buchhalterlehre und der Beginn einer erbärmlichen Laufbahn als Kleinkrimineller gewesen war. Auch als Scheckbetrüger hatte er versagt und dafür mit erneutem Einsitzen bezahlt. Und ebenso wenig war es ihm gelungen, als Einbrecher einen richtig fetten Coup zu landen und anständig Kasse zu machen. Ein verdammtes Hausmädchen hatte ihn nicht nur auf frischer Tat ertappt, sondern ihm auch, als er versucht hatte zu fliehen, mit einem Kerzenleuchter eins übergezogen. Der erfolglose Bruch hatte ihm die fünf Jahre in San Quentin eingebracht, aber mit Tau-Tau auch die Chance seines Lebens.
Ja, jetzt war seine Stunde gekommen. Am Nachmittag würde der alte Seemann die entscheidende Information, die er ihm bislang vorenthalten hatte, endlich herausrücken. Sie war der Schlüssel zu allem, zu Tausenden von Dollar. Diesen Schlüssel zum Reichtum würde er Tau-Tau entreißen!
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