Dr. med. Carsten Lekutat
Gesundheit für Faule
Mach nicht viel, mach es richtig
Knaur e-books
Dr. med. Carsten Lekutat ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Sportarzt, Buchautor und TV-Arzt. Er ist Leiter des Berliner HIT Hausarztzentrum in Tegel. Als Fernseharzt moderierte Lekutat von 2006 bis 2007 die wöchentliche Kolumne Der Gesundmacher im Sat.1 am Mittag-Magazin. 2011 bis 2014 moderierte er im WDR Fernsehen die wöchentliche Prime-Time-Sendung Der Gesundmacher und Raus aus dem Stress. Bereits 2012 übernahm Lekutat die Moderation der wöchentlichen Gesundheitssendung Fit und gesund. Zusätzlich führt er seit Sepztember 2015 wöchentlich durch die Sendung Hauptsache Gesund im MDR Fernsehen. Dr. Carsten Lekutat ist Autor mehrerer Bücher sowie als Kabarettist mit eigener Bühnenshow deutschlandweit unterwegs. Außerdem betreibt er den erfolgreichen Gesundheits-Podcast »Gute Fette, schlechte Fette«. Dr. Lekutat lebt in Berlin.
Disclaimer: Die in diesem Buch vorgestellten Empfehlungen wurden vom Autor und dem Verlag sorgfältig geprüft und haben sich in der Praxis bewährt. Dennoch kann keine Garantie für das Ergebnis übernommen werden. Der Verlag und der Autor schließen jegliche Haftung für Gesundheits- und Personenschäden aus.
Originalausgabe 2021
© 2021 Knaur Verlag
© 2021 der E-Book-Ausgabe Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Anke Schenker
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Anne Hufnagl
Abbildungen im Innenteil: S. 12, 116 Anne Hufnagl; S. 57 Natascha Römer nach Warburton DER, Bredin SSD. Reflections on Physical Activity and Health: What Should We Recommend? Can J Cardiol [Internet]. 2016;32(4):495–504.; S. 58 Natascha Römer nach Strasser B., Burtscher M. Survival of the fittest: VO2max, a key predictor of longevity. Front Biosci Landmark Ed. 2018; 23:1505–1516. Published 2018 Mar 1. doi:10.2741/4657; S. 126 Natascha Römer nach https://www.nature.com/articles/s41598-018-36269-4; S. 138 Natascha Römer nach https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/?term=mindfullnes; S. 140 Natascha Römer
Alle Übungs-Illustrationen von Natascha Römer
ISBN 978-3-426-46142-6
Moderate Belastungen mit 3–5 MET
Quelle: TU-München. Zentrum für Prävention und Sportmedizin: »Prävention: die richtige Dosis Alltagsaktivität und körperliches Training«. In: Gesundheitssport; https://www.sport.mri.tum.de/de/downloads.html?file=files/content/ downloads/Sportmedizin%20TUM_ Broschuere%20Gesundheitssport.pdf (abgerufen am 9. November 2020)
Ebd.
Gebel K, Ding D, Chey T, Stamatakis E, Brown WJ, Bauman AE: »Effect of Moderate to Vigorous Physical Activity on All-Cause Mortality in Middle-aged and Older Australians«. In: JAMA Intern Med. 2015;175(6):970–977. doi:10.1001/jamainternmed.2015.0541 (abgerufen am 9. November 2020)
Vgl. Warburton DE, Bredin S: »Reflections on Physical Activity and Health: What Should We Recommend?« In: Can J Cardiol. 2016;32(4):495–504. doi.org/10.1016/j.cjca.2016.01.024 (abgerufen am 9. November 2020)
Ebd.
Vgl. Warburton DE, Charlesworth S, Ivey A, Nettlefold L, Bredin SS: »A systematic review of the evidence for Canada’s Physical Activity Guidelines for Adults«. In: Int J Behav Nutr Phys Act 2010;7:39. doi: 10.1186/1479- 5868-7-39 (abgerufen am 9. November 2020)
https://www.scinexx.de/businessnews/muskelabbau-im-alter-ist-eine-deutlich-unterschaetzte-gefahr/ (abgerufen am 10. November 2020)
Vgl. Slettaløkken G, Rønnestad BR: »High-intensity interval training every second week maintains VO2max in soccer players during off-season«. In: J Strength Cond Res. 2014;28(7):1946-1951. doi: 10.1519/JSC.0000000000000356 (abgerufen am 13. November 2020)
Klika, B., Jordan, C: HIGH-INTENSITY CIRCUIT TRAINING USING BODY WEIGHT: Maximum Results With Minimal Investment. In: ACSM’s Health & Fitness Journal (2013). doi: 10.1249/FIT.0b013e31828cb1e8 (abgerufen am 13. November 2020)
Killingsworth, M. A.; Gilbert, D. T.: »A wandering mind is an unhappy mind«. In: Science, 330(6006), 932 (2010). https://doi.org/10.1126/science.1192439 (abgerufen am 14. November 2020)
McCormick, E. M.; Telzer, E. H.: »Contributions of default mode network stability and deactivation to adolescent task engagement«. In: Scientific Reports 8, (18049) (2018). https://www.nature.com/articles/s41598-018-36269-4 (abgerufen am 14. November 2020)
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/ ?term=mindfulness (abgerufen am 17. November 2020)
Vgl. Schmidt, S.: »Was ist Achtsamkeit? Herkunft, Praxis und Konzeption«. In: Sucht, 60 (1), 13–19 (2014). https://doi.org/10.1024/0939-5911.a000287
Apfel, P.: »Alle paar Jahre erneuert sich der Körper. Der Sieben-Jahres-Mythos: Sie sind viel jünger als Sie glauben«. In: FOCUS Online. https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/verdauung/alle- paar-jahre-erneuert-sich-der-koerper-der-sieben-jahres-mythos-sie-sind-viel-juenger-als-sie-glauben_id_5238290.html (abgerufen am 15. November 2020)
Hallo, lieber fauler Mensch, schön, dass Sie dieses Buch in die Hand genommen haben. So faul sind Sie dann anscheinend doch nicht. Jetzt sind wir also schon mal zwei Menschen, die sich als faul bekennen – Sie und ich. Das ist schön – damit lässt sich arbeiten.
Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Dr. Carsten Lekutat und ich bin nicht nur Arzt und Autor dieses Buches, sondern auch der Typ auf dem Cover. Und wer sind Sie? Ich glaube, ich habe Sie bereits jetzt schon ein wenig durchschaut. Geben Sie es ruhig zu: Eigentlich haben Sie dieses Buch nur in die Hand genommen, weil es Sie interessiert, wieso dieser Typ im Arztkittel süffisant grinsend auf einer Wiese liegt und gleichzeitig behauptet, man könnte beides sein: faul und gesund! Oder Sie fanden das Buch interessant, weil Sie mich aus dem Fernsehen kennen und nun verblüfft sind, dass ich nicht nur Gesundheitssendungen moderiere, sondern anscheinend auch die Sonne genieße.
Und nun fragen Sie sich sicherlich, ob das auch nur wieder so ein Marketing-Gag ist, um Ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ob Sie auf den nächsten Seiten nur wieder alte Wahrheiten in neuen Worten zu lesen bekommen. So etwas wie: Nehmen Sie die Treppe statt den Fahrstuhl. Oder: Atmen Sie einmal am Tag gut durch, das tut der Lunge doch so gut.
Nein, ich verspreche Ihnen, es geht nicht um Kuschel-Wohlfühl-Ponyhof-Medizin.
»Bleib so, wie du bist, aber Hauptsache du stehst zu dir selbst!« – diese und andere »Wahrheiten« wollten uns die Talkshows der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts verkaufen. Wahrheiten, die eins nicht sind: wahr! Es ist nicht gesund, wenn man übergewichtig ist, auch nicht, wenn man sich dabei noch wohlfühlen will.
Gesundheit für Faule heißt nicht, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Dafür bräuchten Sie kein Buch. Um Ihre eigene Meinung bestätigt zu bekommen, gehen Sie lieber auf Instagram oder schauen sich YouTube-Videos von Katzen an. Das tut vielleicht gut, hält uns aber leider nicht gesund. Gesundheit für Faule beschreibt den Weg, unser Verhalten so zu gestalten, dass in unserem Körper positive Veränderungen stattfinden, dabei aber nicht mehr Aufwand zu betreiben, als unbedingt notwendig ist.
Wir alle haben viel zu tun, aber nur begrenzt Zeit. Diese Tatsache ist in den letzten Jahren des Optimierungswahns ein wenig aus unserem Blick geraten. Die Begeisterung, was in der heutigen Zeit alles möglich ist, hat uns einfach mitgerissen, aber allerdings auch vergessen lassen, dass Selbstoptimierung vor allem eins bedeuten kann: puren Stress! Wenn ich aussehen möchte wie Social-Media-Influencer, aber in meinem Alltag ungephotoshopt und ohne Instagram-Filter zur Arbeit gehen muss, kann ich nur enttäuscht werden. Wenn ich auf meiner abendlichen Joggingrunde durch den Park von einem anderen Läufer spielend überholt werde, während ich mir schwer atmend die Schweißperlen von der Stirn wische, dann führt das zu Frust. Ganz gleich, ob der andere vielleicht zwanzig Jahre jünger ist als ich und nur einen Kilometer hinter sich hat, während ich schon seit einer Stunde meine Runden um den Teich drehe.
Wer vergleicht, verliert. Und heutzutage vergleichen wir uns nicht nur mit anderen. Wir vergleichen uns auch mit virtuellen Gegnern und – das Allerschlimmste – wir vergleichen uns mit uns selbst. Mit unserem früheren Ich und damit, wie wir gerne wären.
Optimieren ist gut, Optimierungswahn ist hingegen schlecht. Denn in unserem Leben geht es nicht nur darum, alles richtig zu machen. Im Gegenteil: Leben bedeutet, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Leben bedeutet, nicht nur den geraden Weg zu gehen, sondern auch Umwege, wenn sie interessanter erscheinen. Das Ziel kann nicht lauten, die gesündeste Leiche auf dem Friedhof zu sein, sondern unser Leben selbstbestimmt und voller Kraft aktiv zu führen.
Für Kraft und Aktivität brauchen wir sie halt, unsere Gesundheit. Aber ich habe gute Nachrichten für Sie: Vieles an unserer Gesundheit haben wir selbst in der Hand. Und wir brauchen gar nicht mal so viel dafür zu tun, wie Sie vielleicht glauben. Es geht nämlich nicht um mehr und immer mehr davon, sondern darum, genau das Richtige zu tun. In der richtigen Menge. Statt größer, weiter und höher geht es eher um richtiger, gezielter und individueller. Vorbei sind endlose Trainingseinheiten im Fitnessstudio. Vorbei die mehrtägigen Entspannungsseminare für Hunderte von Euros. Ab heute gilt es, gezielt und klug zu handeln, denn wir Faulen wissen: Wir wollen faul bleiben. Und das Schöne ist: Wir dürfen es sogar.
Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick werfen auf das, was unsere Gesundheit am meisten beeinflussen kann, nämlich die richtige Balance zwischen Anspannung und Entspannung. Lassen Sie uns unseren Körper ein wenig aus der Balance bringen, damit er sich anzupassen lernt und sein eigenes individuelles Gleichgewicht findet. Lassen Sie uns gemeinsam faul sein und nur das machen, was wirklich nötig ist.
Vorweg aber einige kurze Bemerkungen: Zum einen ist die Medizin eine Wissenschaft im Fluss und ändert sich ständig. Auch wenn ich sehr sorgfältig recherchiert habe, kann es sein, dass bereits einen Tag nach Druck dieses Buches schon wieder alles anders ist. Zum anderen gibt es endlos viele schlauere Experten, als ich es bin, und die haben auch andere Meinungen. Deshalb eine Bitte an Sie: Lassen Sie sich von mir inspirieren, aber glauben Sie mir nicht alles – das mache ich nicht mal selber. Wir sollten nämlich nicht alles glauben, was wir denken.
Wenn Sie Übungen aus diesem Buch durchführen wollen, dann sprechen Sie zunächst erst mal mit Ihrem Hausarzt. Der kennt Sie nämlich besser als ich und weiß, was Sie sich zumuten dürfen. Gerade wenn es ans Eingemachte geht und ich Sie außer Atem bringen möchte, sollten Sie sich vorher ärztlich durchchecken lassen. Dieses Buch ist zwar von einem Arzt geschrieben, ersetzt aber keinen Arzt und keine individuelle Beratung.
Und zu guter Letzt: Aus Gedanken werden Worte und aus Worten werden Taten. Gedanken und Worte gestalten unser Gehirn und unsere Persönlichkeit. Daher verzeihen Sie mir bitte, dass ich in diesem Buch ständig die männliche Form der Sprache verwende, aber sonst wäre vieles unlesbar geworden. Ich habe alle anderen Geschlechter genauso im Blick und hoffe, dass sich alle gleichermaßen angesprochen fühlen. Denn uns Faule gibt es in allen Geschlechtern und Persönlichkeiten. Überall auf der Welt.
Und nun lassen Sie uns endlich einsteigen in Gesundheit für Faule.
Ihr Dr. Carsten Lekutat
Teil 1
Mit wenigen, aber gezielten Übungen halten Sie Ihren Körper in Form. Sie bekämpfen nicht nur Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht, Gelenk- und Rückenschmerzen, sondern senken auch Ihr Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Infektionskrankheiten und verlängern sogar Ihr Leben. Und ganz nebenbei werden Sie merken, dass Sie weniger müde und dafür leistungsfähiger sind.
Und wenn andere Sie fragen: »Warum siehst du in letzter Zeit so gesund aus?«, dann antworten Sie einfach: »Ich habe die Lizenz zum Faulsein!«
Es fing mit einem leichten Schmerz im rechten Oberschenkel an. So etwas hatte ich seit Jahren nicht mehr in dieser Form gespürt. Also einfach ignorieren, dachte ich mir. Als Läufer ist man es gewohnt, dass beim Laufen immer mal wieder etwas wehtut. Ich blieb kurz am Rand der Straße stehen und tat so, als würde ich mir meine Schnürsenkel zubinden. Bloß keine Schwäche zeigen. Die anderen Läufer nahmen mich aber nicht einmal zur Kenntnis. Gerade einmal 15 km hatte ich hinter mich gebracht, weitere 27 km lagen noch vor mir. Es war mein zweiter Marathon und ich musste zugeben: Ich fühlte mich dabei nicht gut.
Während ich meine Schuhe zuband, dachte ich an all die motivierenden Sprüche, die ich in so vielen Lauf- und Fitnessbüchern gelesen hatte. »Der Schmerz geht, der Erfolg bleibt« war einer dieser Sprüche, »Schweiß ist Schwäche, die den Körper verlässt« ein anderer. Heute fiel es mir aber schwer, mich von diesen leeren Worthülsen antreiben zu lassen.
Mit dem Laufen hatte ich bereits vor vielen Jahren begonnen. Ich muss so Mitte zwanzig gewesen sein, ein junger Assistenzarzt an der Berliner Charité, als ich mir vornahm, etwas für meine eigene Gesundheit tun und mich nicht nur um die Gesundheit meiner Patienten zu kümmern. Also begann ich damals mit dem Laufen. Laufen ist ein preiswerter Sport, mehr als ein paar gute Schuhe benötigt man nicht. Und vor allem konnte ich es alleine machen, ohne mich mit anderen verabreden oder Termine einhalten zu müssen, was mir in meinem Schichtdienst damals sehr schwergefallen wäre.
Ich erinnere mich: Auch damals fiel mir das Laufen schwer. Unglaublich, wie anstrengend es ist, sich zügig auf den eigenen Beinen fortzubewegen. Irgendwann, nach nur wenigen Monaten, holte mich der Arbeitsalltag ein und meine Läufe wurden immer weniger. Ich wechselte als Assistenzarzt von der Klinik in eine Praxis und fing an, langsam an Gewicht zuzunehmen. Je schwerer ich wurde, desto weniger Lust hatte ich auf meine tägliche Joggingrunde. Und auch auf andere Sportarten hatte ich keine Lust. Hier und da ein wenig Tennis oder ein bisschen Planschen im Freibad – Sport konnte man das wirklich nicht nennen. Viele Jahre später und 23 kg schwerer habe ich dann langsam wieder mit dem Lauftraining begonnen. Zunächst gehend, dann mit Nordic-Walking-Stöcken und später dann sogar leicht trabend.
Laufen ist anstrengend – das musste ich mehr als einmal spüren. Aber heute, beim Berlin-Marathon, war das anders. Das war nicht nur anstrengend, das war extrem erschöpfend. Der leichte Schmerz in meinem Oberschenkel wurde von Minute zu Minute stärker und breitete sich aus. Meine Muskeln fühlten sich leer an und nach einiger Zeit merkte ich sogar, dass ich mehr atmete als sonst beim Training. Was war los? Warum lief dieser Marathon nicht wie der Marathon im letzten Jahr? Den konnte ich relativ beschwerdefrei absolvieren. 42 km sind zwar lang, wenn man sie aber langsam läuft, sind sie mit etwas Training auch als mittelmäßiger »ambitionierter Fauler« durchaus machbar.
Ich lief also weiter und versuchte meine zunehmende Schwäche zu ignorieren. Bei der Halbmarathonmarke kam mir das erste Mal der Gedanke, den Lauf abzubrechen. Beim Berlin-Marathon stehen allerdings über die ganze Strecke verteilt Tausende Zuschauer, die einen anfeuern und schamlos belügen: »Carsten, du siehst gut aus! Weiter so!«, riefen sie mir zu. Den Gedanken, dass sie mich als TV-Arzt aus dem Fernsehen erkannt hätten, verwarf ich sofort. So berühmt bin ich nicht. Aber mein Vorname stand in großen Buchstaben auf meiner Startnummer, wie bei allen anderen Teilnehmern, gut sichtbar für die Zuschauer. Ich wusste, dass ich nicht gut aussah, wollte aber trotzdem die Lüge der Zuschauer glauben.
Jetzt abbrechen? Nein, das kam nicht infrage. Bei der nächsten Versorgungsstation griff ich in die Schale mit den Bananen und nahm gleich mehrere Becher gesüßten Tee zu mir. Zucker! Ich brauchte Zucker! Zucker ist Energie, und die fehlte mir jetzt. Meine Sportuhr am Handgelenk zeigte, dass ich viel zu langsam unterwegs war. Aber egal, Hauptsache vorwärts, dachte ich.
Die Kilometer schlichen dahin. Es dauerte ewig, bis die nächste Versorgungsstation kam. Wieder Bananen, wieder Tee. Irgendwie kam der Zucker aber weder in meinen Muskeln noch in meinem Gehirn an. Was war los? Die sogenannte »Wand«, gegen die ein Marathonläufer stößt, tritt erst nach ungefähr 30 km auf. Ich hatte gerade einmal 25 km hinter mich gebracht. Die »Wand« – auch »der Mann mit dem Hammer« genannt – ist die spürbare Umstellung des Stoffwechsels von Kohlenhydratverbrennung auf die Verbrennung von Fetten. Bei einer längeren Belastung sind die Kohlenhydratspeicher irgendwann verbraucht und der Körper muss auf andere Energiequellen zurückgreifen. Dann werden unsere Fettreserven genutzt, die nahezu unerschöpflich sind. Der Langstreckenläufer spürt das allerdings als Leistungseinbruch, da der Stoffwechsel aus den Fettsäuren anders funktioniert als der Stoffwechsel aus Kohlenhydraten. Dieser Prozess setzt nach ungefähr 30 km Langstreckenlauf ein und es fühlt sich an, als werde mit einem Mal die gesamte Kraft aus dem Körper gezogen. Nach einem guten Marathontraining weiß man allerdings, wie sich so etwas anfühlt, und erwartet diese Wand – und macht dann einfach weiter.
Auch ich hatte mit der Wand gerechnet, aber erst nach 30 km. Heute hatte ich das Gefühl der Wand bereits nach 15 km! Und auch das Auffüllen der Kohlenhydrate mit Tee und Bananen schien nichts zu bewirken. Hatte ich mich einfach überschätzt?
Die Dosis macht das Gift, so ist es auch bei Sport und Bewegung. Menschen, die ihr halbes Leben auf der Couch verbringen, sterben früher als Menschen, die einen aktiven Lebensstil führen. Das einfache Aufstehen und einige Schritte gehen hat eine unglaubliche Wirkung auf unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden und auf unsere Lebenserwartung. Wenn es eine Pille gäbe, die Sport und Bewegung simulieren könnte, wären viele Probleme der westlichen Gesellschaft auf einmal gelöst. Die meisten Alltagserkrankungen könnten mit der richtigen Menge an Bewegung verbessert oder sogar geheilt werden. Und ich spreche nicht nur von der Zuckerkrankheit oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Arthrose, Osteoporose, viele Krebserkrankungen, aber auch Depressionen, Immunsystemstörungen und sogar Hauterkrankungen lassen sich durch das richtige Maß an Aktivität beeinflussen.
Das richtige Maß! War dieser Marathon einfach zu viel für mich? Wollte ich zu viel des Guten und alles auf einmal? Letztes Jahr lief es doch so gut, was war dieses Jahr anders? Meine Schritte wurden immer schwerer und standen im krassen Gegensatz zu den Rufen der Zuschauer. »Jawoll, Carsten! Bald hast du’s geschafft! Weiter so!« Auch gut gemeinte Lügen sind letztendlich Lügen. Ich hatte noch weitere 10 km vor mir und das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, ich müsste sterben.
Abbrechen wäre die einzig vernünftige Entscheidung in dieser Situation gewesen, aber mein Gehirn funktionierte nicht mehr so, wie man es von einem rational denkenden Menschen erwarten würde. Auch dort kam einfach zu wenig Energie an, um klare Gedanken fassen zu können. Also lief ich weiter wie ein schlecht geölter Roboter, dessen Solarzelle schon seit Tagen keine Sonne mehr gesehen hatte.
Metformin. Dieses Wort tauchte plötzlich vor meinem geistigen Auge auf. Metformin, ein Medikament zur Behandlung der Zuckerkrankheit. Aber diese Pille ist wahrscheinlich nicht nur bei Diabetes sinnvoll. In den letzten Jahren haben mehrere wissenschaftliche Studien herausgefunden, dass Metformin unser Leben verlängern könnte. Zumindest wenn man eine Maus ist. Mäuse leben nämlich länger und sind insgesamt gesünder, wenn man ihrem Futter dieses Zuckermedikament beifügt – auch wenn sie nicht zuckerkrank sind. Bei Menschen fand man ähnliche hoffnungsvolle Hinweise. Diabetiker, die Metformin einnehmen, haben verglichen mit Menschen, die kein Metformin einnehmen, weniger häufig bösartige Tumore.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Mensch mit einer chronischen Erkrankung wie Diabetes hat durch die Behandlung dieser Erkrankung einen Vorteil gegenüber gesunden Menschen. Man senkt durch die Medikamenteneinnahme sein Risiko nicht nur auf das Niveau von Menschen ohne Zuckerkrankheit, sondern stellt ihn sogar besser als gesunde Vergleichspersonen. Und das betrifft eine Krankheit, die gar nichts mit der Entwicklung des Medikamentes zu tun hat: Krebs!
Könnte es sein, dass Menschen durch die Einnahme von Metformin, ebenso wie Labormäuse, länger leben? Anti-Aging-Mediziner glauben genau das und haben angefangen, Metformin genauer zu untersuchen. Zunächst an Mäusen, dann an Hunden und zuletzt auch an Menschen. Endgültige Ergebnisse stehen noch aus, aber die ersten Erfolge sind bereits deutlich: Es wirkt!
Als Mensch, der sich gerne selbst optimieren möchte, fasste ich vor einigen Wochen einen Entschluss: Ich wollte nicht auf die endgültigen Studienergebnisse warten, also begann ich mit der vorsichtigen Einnahme von Metformin, obwohl ich nicht an Diabetes litt. Ich vertrug es hervorragend. Keine Blähungen, keine übermäßigen Schwankungen meines Blutzuckerstoffwechsels. Ich verlor sogar 2 kg Körpergewicht, was mir sehr gefiel. Nun, bei Kilometer 35 des Marathons fiel es mir aber wie Schuppen von den Augen: Ich hatte heute Morgen Metformin genommen, wie jeden Tag. Da dieses Medikament tief in den Energie-Stoffwechsel des Menschen eingreift, könnte es durchaus dafür verantwortlich sein, wie ich mich gerade fühle, dachte ich mir.
Metformin behindert die Aufnahme von Kohlenhydraten durch den Magen-Darm-Trakt. Mein getrunkener süßer Tee und die gegessenen Bananen kamen also gar nicht in meinem Stoffwechsel an! Und Metformin verhindert die Energiebereitstellung aus der Milchsäure unserer Muskulatur. Ich konnte also auf die gespeicherte Energie in meinem Körper nicht mehr vernünftig zugreifen. Daher die Muskelschwäche bereits nach einigen Kilometern, daher die Luftnot, daher mein Gefühl zu sterben.
Aber so kurz vor dem Ziel abzubrechen, kam für mich dann doch nicht infrage. Ich schleifte mich mehr, als ich rannte, in Richtung Brandenburger Tor. Ich wurde mehrfach von laufenden Würstchen, Bären und einem Menschen, der eine Ananas auf dem Kopf balancierte, überholt. Nein, ich halluzinierte nicht. Der Berlin-Marathon ist wie eine Party, und die Läufer lassen sich viele witzige und verrückte Sachen einfallen, um aufzufallen. Wenn man aber einmal im Leben von einem laufenden Hotdog überholt wurde, weiß man, dass man ganz unten in seiner Läuferkarriere angekommen ist. Aber das war mir egal, Hauptsache, auf den eigenen Füßen in das Ziel kommen.
Ich brauchte an diesem Tag deutlich länger als sechs Stunden, um den Marathon zu beenden. Vier Stunden hatte ich mir vorgenommen. Ich verbrachte den gesamten Nachmittag und den Abend auf der Couch und versuchte, irgendwie Energie in mich reinzufüllen. Tee, Saft, Cola, Schokolade, Kekse, Bananen, Äpfel. Nichts half. Am Abend hatte ich zweieinhalb Kilo zugenommen – nur Wasser, das wusste ich. Aber es fühlte sich überhaupt nicht gut an. Auch wollte sich mein Atem gar nicht mehr beruhigen. Azidose! Die Übersäuerung des Körpers aufgrund einer Entgleisung des Stoffwechsels. Als Arzt hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. War ich doof! Wie kann man versuchen, einen Marathon zu laufen, während man mit einem hochwirksamen Medikament in seinem eigenen Stoffwechsel herumpfuscht?
Während ich noch schwer atmend und Cola trinkend auf der Couch lag, forschte ich im Internet über Leistungssport und Metformin nach. In der Tat beschrieb die Literatur mehrere Todesfälle in diesem Zusammenhang. Ich hatte einfach Glück gehabt. Aber an diesem Tag ist mir wieder einmal klar geworden, wie wichtig der kluge Umgang mit Sport und Bewegung ist, damit Aktivität die volle gesundheitliche Wirkung entfalten kann und nicht selbst zu einem eigenen Risiko für Krankheit wird.