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Zum Buch

Louise Glück zählt mit ihren inzwischen zwölf Gedichtbänden zu den bedeutendsten amerikanischen Lyrikerinnen. Sie gehört zu jenen Poeten, die wie Vergil die Unterwelt erforschen, um die Essenz des Menschen zu finden. Averno, der Eingang zur Unterwelt, ist zugleich die Verbindung zwischen den Welten, ermöglicht einen Austausch, aber keine Versöhnung.

Ob in kollektiven oder individuellen Mythen, Louise Glück spürt unsere ältesten, tiefsten und unergründlichsten Ängste auf: Einsamkeit, Vergessen, Liebesverlust, Nicht-Sein. Sich ihnen zu stellen bedeutet Klarheit, was wichtiger sein kann als Trost. Ihre klare, schöne Sprache, der musikalische Rhythmus und die raffiniert verwobenen Bilder und Motive zeichnen Louise Glück aus. Die achtzehn Gedichte in Averno sind Spiegelungen unseres Daseins im Hier und Jetzt.

»Die Auszeichnung für Glück ist ein Bekenntnis zu jenem Ideal von Amerika, wie es sich trotz allen politischen Verwerfungen in der Literatur dieses Landes artikuliert – repräsentiert von einer großen Dichterin.« Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Zur Autorin

Louise Glück hat bisher zwölf Gedichtbände und zwei Essaysammlungen veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, »für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht«. Glück erhielt u. a. den Pulitzerpreis für Wilde Iris, den Bollingen Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts.

Zur Übersetzerin

Ulrike Draesner, geb. 1962 in München, ist Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin. Nach Jahren in England lebt sie heute in Berlin und Leipzig, wo sie Professorin für literarisches Schreiben ist.

Louise Glück

AVERNO

GEDICHTE

Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Draesner

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Averno

bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

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Das aktuelle Nachwort der Übersetzerin Ulrike Draesner findet sich unter
www.luchterhand-verlag.de/nachwort

Leider ist es aus technischen Gründen nicht möglich, im E-Book die Gedichte der zweisprachigen Ausgabe nebeneinander zu platzieren, daher folgt hier die englische Fassung eines Gedichts stets der deutschen.

Copyright © der Originalausgabe 2006 Louise Glück

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 und 2020
Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Roland Eschlbeck RME

Covermotiv: © arktic- Images/Iconica/Getty Images

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27958-5
V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

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Für Noah

INHALT

Die nächtlichen Wanderzüge

I

Oktober

Persephone, die Wandernde

Prisma

Kratersee

Echos

Fuge

II

Der Abendstern

Landschaft

Ein Unschuldsmythos

Archaisches Fragment

Blaue Rotunde

Ein Hingabemythos

Averno

Vorzeichen

Teleskop

Drossel

Persephone, die Wandernde

Anmerkungen

Averno. Antiker Name Avernus. Ein kleiner Kratersee, zehn Meilen westlich von Neapel, der bei den alten Römern als Eingang in die Unterwelt galt.

DIE NÄCHTLICHEN WANDERZÜGE

Dies ist der Augenblick, in dem du

die roten Beeren der Eberesche wiedersiehst,

und am dunklen Himmel

die nächtlichen Wanderzüge der Vögel.

Es macht mich traurig zu denken,

dass die Toten sie nicht sehen –

die Dinge, auf die wir angewiesen sind,

sie entschwinden.

Was nimmt die Seele sich dann zum Trost?

Ich sage mir, vielleicht braucht sie

diese Freuden nicht mehr;

vielleicht ist es schlicht genug, nicht zu sein,

so schwer die Vorstellung auch fällt.

THE NIGHT MIGRATIONS

This is the moment when you see again

the red berries of the mountain ash

and in the dark sky

the birds’ night migrations.

It grieves me to think

the dead won’t see them –

these things we depend on,

they disappear.

What will the soul do for solace then?

I tell myself maybe it won’t need

these pleasures anymore;

maybe just not being is simply enough,

hard as that is to imagine.

I

OKTOBER

1.

Ist es wieder Winter, ist es wieder kalt,

rutschte Frank nicht eben aus auf dem Eis,

genas er nicht, wurden die Frühlingssamen nicht ausgebracht,

war nicht die Nacht vorbei,

flutete nicht das schmelzende

Eis die engen Rinnsteine

wurde mein Körper nicht

gerettet, war er nicht in Sicherheit

bildete sich nicht die Narbe, unsichtbar

über der Verletzung

Schrecken und Kälte,

waren sie nicht soeben vorbei, wurde der Garten hinterm Haus nicht geeggt und bepflanzt -

Ich erinnere mich, wie die Erde sich anfühlte, rot und dicht,

in steifen Reihen, wurden die Samen nicht ausgebracht,

kletterten Weinreben nicht die Südwand hinauf

ich kann deine Stimme nicht hören,

so heult der Wind, pfeift über den nackten Grund

mich kümmert nicht mehr

wie er klingt

wann wurde ich zum Schweigen gebracht, wann schien es zum ersten Mal sinnlos, diesen Klang zu beschreiben

wie es klingt, kann nicht ändern, was es ist –

war nicht die Nacht vorbei, war die Erde

nicht in Sicherheit, als sie besät wurde

brachten wir nicht die Samen aus,

hatte die Erde uns nicht nötig,

die Reben, wurden sie gelesen?

OCTOBER

1.

Is it winter again, is it cold again,

didn’t Frank just slip on the ice,

didn’t he heal, weren’t the spring seeds planted

didn’t the night end,

didn’t the melting ice

flood the narrow gutters

wasn’t my body

rescued, wasn’t it safe

didn’t the scar form, invisible

above the injury

terror and cold,

didn’t they just end, wasn’t the back garden

harrowed and planted –

I remember how the earth felt, red and dense,

in stiff rows, weren’t the seeds planted,

didn’t vines climb the south wall

I can’t hear your voice

for the wind’s cries, whistling over the bare ground

I no longer care

what sound it makes

when was I silenced, when did it first seem

pointless to describe that sound

what it sounds like can’t change what it is –

didn’t the night end, wasn’t the earth

safe when it was planted

didn’t we plant the seeds,

weren’t we necessary to the earth,

the vines, were they harvested?

2.

Sommer um Sommer ist vergangen,

Labsal nach der Gewalt:

es tut mir nicht gut,

jetzt gut zu mir zu sein;

die Gewalt hat mich verändert.

Tagesanbruch. Die flachen Hügel glänzen,

Ocker und Feuer, selbst die Felder glänzen.

Ich weiß, was ich sehe; eine Sonne, vielleicht

die Augustsonne, die alles zurückgibt,

was genommen wurde –

Du hörst diese Stimme? Es ist die Stimme meines Geistes;

meinen Körper kannst du jetzt nicht berühren.

Er hat sich einmal verändert, er ist ausgehärtet,

bitte ihn nicht, von neuem zu antworten.

Ein Tag, einem Sommertag gleich.

Ungewöhnlich still. Die langen Schatten der Ahornbäume

fast malvenfarben auf den Wegen aus Kies.

Und am Abend Wärme. Nacht, einer Sommernacht gleich.

Es tut mir nicht gut; die Gewalt hat mich verändert.

Mein Körper ist kalt geworden wie die entblößten Felder;

da ist nur mehr mein Geist, vorsichtig und wachsam,

mit dem Gefühl, auf eine Probe gestellt zu sein.

Noch einmal geht die Sonne auf, wie sie aufging im Sommer;

Geschenk, Labsal nach der Gewalt.

Labsal, nachdem die Blätter verfärbt sind, die Felder

geerntet und gepflügt.

Sag mir, dies ist die Zukunft,

ich werde dir nicht glauben.

Sag mir, ich lebe,

ich werde dir nicht glauben.

2.

Summer after summer has ended,

balm after violence:

it does me no good

to be good to me now;

violence has changed me.

Daybreak. The low hills shine

ochre and fire, even the fields shine.

I know what I see; sun that could be

the August sun, returning

everything that was taken away –

You hear this voice? This is my mind’s voice;

you can’t touch my body now.

It has changed once, it has hardened,

don’t ask it to respond again.

A day like a day in summer.

Exceptionally still. The long shadows of the maples

nearly mauve on the gravel paths.

And in the evening, warmth. Night like a night in summer.

It does me no good; violence has changed me.

My body has grown cold like the stripped fields;

now there is only my mind, cautious and wary,

with the sense it is being tested.

Once more, the sun rises as it rose in summer;

bounty, balm after violence.

Balm after the leaves have changed, after the fields

have been harvested and turned.

Tell me this is the future,

I won’t believe you.

Tell me I’m living,

I won’t believe you.

3.

Es hatte geschneit. Ich erinnere mich

an Musik aus einem offenen Fenster.

Komm zu mir, sagte die Welt.

Das will nicht heißen,

dass sie in ganzen Sätzen sprach,

sondern dass ich Schönheit wahrnahm auf diese Art.

Sonnenaufgang. Ein Hauch Feuchtigkeit

auf allem, was lebt. Pfützen kalten Lichts

bildeten sich in den Rinnsteinen.

Ich stand

an der Tür,

so lächerlich das jetzt scheint.

Was andere in der Kunst fanden,

fand ich in der Natur. Was andere

in menschlicher Liebe fanden, fand ich in der Natur.

Ganz genügsam. Doch gab es keine Stimme dort.

Der Winter war vorüber. Kleines Grün

trieb aus im geschmolzenen Dreck.

Komm zu mir, sagte die Welt. Ich stand

in meinem Wollmantel an einem hellen Portal –

endlich kann ich sagen

vor langer Zeit; es bereitet mir großes Vergnügen. Schönheit

die Heilerin, die Lehrerin –

der Tod kann mich nicht mehr

verletzen, als du mich verletzt hast,

mein geliebtes Leben.