Zum Buch
»Was ist die ›Wilde Iris‹ doch für ein erstaunliches Buch, geschrieben in der Sprache der Blumen. Es ist ein Liederzyklus mit all den entsprechenden Trauerklängen, setzt ganz auf die poetische Kraft und bewahrt doch das Bild des alten Troubadours – mit Frühling, den biblischen Lilien auf dem Felde, dem ewigen Kreislauf der Natur.« The New Republic
Die Gedichte in diesem Band besingen den unüberwindlichen Gegensatz zwischen dem ewigen Kreislauf der Natur und dem individuellen menschlichen Leben, die Diskrepanz zwischen dem Garten Eden und der Conditio humana. Louise Glück interessiert dabei nicht der Sündenfall. Mit ihrer klaren, scheinbar schlichten Sprache versetzt sie sich mal in eine Pflanze, mal in einen Gärtner, mal in Gott.
Und natürlich geht es dabei um den Menschen, der hadert und kämpft, der liebt und lacht, verzweifelt ist und sich sehnt, der Ewigkeit will und Endlichkeit hat. Konzepte wie Seele, Liebe, Bewusstsein, Vergessen, Tod und Einsamkeit erhalten eine neue Deutung, der Kontrast zwischen dem Werden und Vergehen der Natur, ihrem unendlichen Kreislauf und dem linearen Dasein, Denken und Planen des Menschen wird von allen Seiten beleuchtet, elegisch, ironisch oder auch wütend, immer von verblüffender, betörender Schönheit.
Zur Autorin
Louise Glück hat bisher zwölf Gedichtbände und zwei Essaysammlungen veröffentlicht. 2020 wurde sie mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, »für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht«. Glück erhielt u. a. den Pulitzerpreis für Wilde Iris, den Bollingen Prize und den National Book Award. Sie lehrt an der Yale und der Stanford University und lebt in Cambridge, Massachusetts.
Zur Übersetzerin
Ulrike Draesner, geb. 1962 in München, ist Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin. Nach Jahren in England lebt sie heute in Berlin und Leipzig, wo sie Professorin für literarisches Schreiben ist.
Louise Glück
WILDE IRIS
GEDICHTE
Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Draesner
Sammlung Luchterhand
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel
The Wild Iris bei The Ecco Press, New York.
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Das aktuelle Nachwort der Übersetzerin Ulrike Draesner findet sich unter www.luchterhand-verlag.de/nachwort
Leider ist es aus technischen Gründen nicht möglich, im E-Book die Gedichte der zweisprachigen Ausgabe nebeneinander zu platzieren, daher folgt hier die englische Fassung eines Gedichts stets der deutschen.
Copyright © 1992 Louise Glück
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
2008 und 2020 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: RME Roland Eschlbeck/Ruth Botzenhardt
Covermotiv © mauritius images
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-27959-2
V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.facebook.com/luchterhandverlag
Für
Kathryn Davis
Meredith Hoppin
David Langston
Für
John und Noah
WILDE IRIS
Am Ende meines Leidens
fand sich eine Pforte.
Hört mir zu: an das, was ihr Tod nennt,
erinnere ich mich.
Über mir Geräusche, schwankende Kiefernzweige.
Dann nichts. Die schwache Sonne
flirrte über der trockenen Fläche.
Es ist furchtbar, als Bewusstsein
zu überleben,
begraben in der dunklen Erde.
Dann war es vorbei: was ihr fürchtet,
eine Seele zu sein und nicht sprechen
zu können, nahm ein jähes Ende, die harte Erde
gab etwas nach. Und was ich für Vögel hielt,
huschte durch niedriges Gebüsch.
Euch, die ihr euch nicht erinnert
an den Übergang aus der anderen Welt,
sage ich, ich konnte wieder sprechen: was immer
zurückkehrt aus dem Vergessen, kehrt zurück,
um eine Stimme zu finden:
aus der Mitte meines Lebens sprang
eine hohe Fontäne, tiefblaue
Schatten auf Meeresazur.
THE WILD IRIS
At the end of my suffering
there was a door.
Hear me out: that which you call death
I remember.
Overhead, noises, branches of the pine shifting.
Then nothing. The weak sun
flickered over the dry surface.
It is terrible to survive
as consciousness
buried in the dark earth.
Then it was over: that which you fear, being
a soul and unable
to speak, ending abruptly, the stiff earth
bending a little. And what I took to be
birds darting in low shrubs.
You who do not remember
passage from the other world
I tell you I could speak again: whatever
returns from oblivion returns
to find a voice:
from the center of my life came
a great fountain, deep blue
shadows on azure seawater.
METTEN
Die Sonne scheint; neben dem Briefkasten die Blätter
der geteilten Birke, gefaltet, wie Flossen plissiert.
Darunter die Hohlstängel der weißen Narzissen, Engelstränen, Osterglocken; des wilden
Veilchens dunkles Blatt. Noah sagt,
Depressive hassen den Frühling, Ungleichgewicht
der inneren und äußeren Welt. Mein Fall
liegt anders – schwermütig ja, doch auf eine Art leidenschaftlich
dem lebendigen Baum zugetan, mein Körper
in den gespaltenen Stamm gerollt, beinah friedvoll, im Abendregen
beinah fähig zu fühlen,
wie Saft schäumt und steigt: Noah sagt, es sei
ein Fehlschluss Depressiver, sich mit einem Baum
zu identifizieren, während das glückliche Herz
durch den Garten wandere wie ein fallendes Blatt, ein Bild
für den Teil, nicht für das Ganze.
MATINS
The sun shines; by the mailbox, leaves
of the divided birch tree folded, pleated like fins.
Underneath, hollow stems of the white daffodils, Ice Wings, Cantatrice; dark
leaves of the wild violet. Noah says
depressives hate the spring, imbalance
between the inner and the outer world. I make
another case – being depressed, yes, but in a sense passionately
attached to the living tree, my body
actually curled in the split trunk, almost at peace, in the evening rain
almost able to feel
sap frothing and rising: Noah says this is
an error of depressives, identifying
with a tree, whereas the happy heart
wanders the garden like a falling leaf, a figure for
the part, not the whole.
METTEN
Unnahbarer Vater, als wir zum ersten Mal
aus dem Himmel vertrieben wurden, machtest du
eine Kopie, einen Ort, der sich vom Himmel
in einer Hinsicht unterschied, ersonnen,
um eine Lektion zu erteilen: im Übrigen
alles gleich – Schönheit hier wie dort, Schönheit,
der keiner entkam – Nur dass
wir nicht wussten, was die Lektion war. Allein gelassen
erschöpften wir einander. Jahre
der Dunkelheit folgten; abwechselnd
bestellten wir den Garten, die ersten Tränen
füllten unsere Augen, als ein Dunst
aus Blütenblättern die Erde umfing, manche
dunkelrot, manche fleischfarben –
Wir dachten nie an dich,
den anzubeten wir lernten.
Wir wussten bloß, dass es der menschlichen Natur widersprach,
nur zu lieben, was Liebe erwidert.
MATINS
Unreachable father, when we were first
exiled from heaven, you made
a replica, a place in one sense
different from heaven, being
designed to teach a lesson: otherwise
the same – beauty on either side, beauty
without alternative – Except
we didn’t know what was the lesson. Left alone,
we exhausted each other. Years
of darkness followed; we took turns
working the garden, the first tears
filling our eyes as earth
misted with petals, some
dark red, some flesh colored –
We never thought of you
whom we were learning to worship.
We merely knew it wasn’t human nature to love
only what returns love.
WALDLILIE
Als ich erwachte, war ich in einem Wald. Das Schwarz
schien natürlich, der Himmel zwischen den Kiefern
von zahllosen Lichtern übersät.
Ich kannte nichts; konnte nur schauen.
Vor meinem Blick verblassten alle
Himmelslichter, verschmolzen in eins, ein Feuer,
das durch die kühlen Föhren brannte.
Da war es nicht länger möglich,
in den Himmel zu starren, ohne vernichtet zu werden.
Gibt es Seelen, die der Gegenwart
des Todes so sehr bedürfen wie ich des Schutzes?
Ich glaube, dass ich, spreche ich lang genug,
diese Frage beantworten werde, ich werde sehen,
was auch immer sie sehen, eine Leiter,
die durch die Föhren reicht, was auch immer
sie auffordert, ihr Leben auszutauschen –
Bedenkt, was ich bereits verstehe.
Nichtsahnend erwachte ich in einem Wald;
bis eben wusste ich nicht, dass meine Stimme,
falls mir eine verliehen würde,
so voller Trauer wäre, meine Sätze
eine Abfolge von Schreien.
Ich wusste nicht einmal, dass ich Trauer fühlte,
bis dieses Wort sich einstellte, bis ich Regen
fühlte, wie er von mir strömt.
TRILLIUM
When I woke up I was in a forest. The dark
seemed natural, the sky through the pine trees
thick with many lights.
I knew nothing; I could do nothing but see.
And as I watched, all the lights of heaven
faded to make a single thing, a fire
burning through the cool firs.
Then it wasn’t possible any longer
to stare at heaven and not be destroyed.
Are there souls that need