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Kalanag – das schillernde Leben des weltberühmten Illusionskünstlers Helmut Schreiber

Er war der größte Showstar der jungen Bundesrepublik, als Magier machte er nach dem Krieg eine Weltkarriere, Helmut Schreiber alias Kalanag. Seine Zaubervorführungen waren aufwendig, brillant, exotisch und schlugen die Zuschauer in ihren Bann. Doch sein größtes Kunststück war es, seine zwielichtige Vergangenheit in der NS-Diktatur verschwinden zu lassen. Als Filmproduzent und Präsident des Magischen Zirkels pflegte er enge Verbindungen zu Nazigrößen wie Hitler, Göring und Goebbels, stellte seine Arbeit in den Dienst der nationalsozialistischen Sache, produzierte das einzige antisemitische Musical der Zeit und sorgte für die Gleichschaltung der deutschen Zauberkünstler. Auf der Grundlage von ausführlichen Archivrecherchen und Interviews erzählt Malte Herwig erstmals das wendungsreiche Leben dieses Mannes, der die ganzen Widersprüche der Kriegs- und Nachkriegszeit verkörpert.

Malte Herwig, geboren 1972 in Kassel, studierte Literatur, Geschichte und Politik und promovierte an der Universität Oxford. Er arbeitete als Autor für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, Spiegel und Stern und veröffentlichte mehrere Bestseller, darunter Die Flakhelfer (2013), Die Frau, die Nein sagt (2015) und Meister der Dämmerung (2020). 2019 erfand Herwig den preisgekrönten Podcast »Faking Hitler« über die gefälschten Hitler-Tagebücher.

@malteherwig

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MALTE HERWIG

DER GROSSE
KALANAG

Wie Hitlers Zauberer die
Vergangenheit verschwinden ließ
und die Welt eroberte

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Wir danken der Stiftung Zauberkunst in Coesfeld für freundliche Genehmigung zur Nutzung von Abbildungen aus dem Archiv der Stiftung.





Copyright © 2021 Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Nadine Lipp
Bildbearbeitung: Helio Repro GmbH, München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagabbildung: Kalanag-Programm Schauspielhaus Hamburg 1950 (Ausschnitt), Sammlung Wittus Witt, www.zauber-pedia.de
Abbildungen auf dem Vorsatz: Kalanag-Bar, Sammlung Wittus Witt (vorne); Helmut Schreiber zaubert auf der Feier anlässlich des Tages der Deutschen Kunst im Führerbau in München, 1939, Archiv Stiftung Zauberkunst (hinten)
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-19765-0
V003


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Obgleich alles, was man im Laufe einer Vorstellung sagt, nichts als ein Lügengewebe ist, so muss der Vorführende doch ausreichend in die Rolle schlüpfen, die er spielt, und selbst seine fiktiven Feststellungen glauben. Dieser Glaube an seine eigene Rolle wird sich auf den Zuschauer übertragen.

Jean Eugène Robert-Houdin

Große Lügner sind auch große Zauberer.

Adolf Hitler

Wenn Sie glauben, ich mache etwas, dann mach ich nichts; aber wenn Sie glauben, ich mache nichts, dann – habe ich schon gemacht.

Kalanag

Inhalt

Vorhang auf

Ein Magier aus Deutschland

Du sollst nicht zaubern

Tausendkünstler

Null und Neun

Der talentierte Herr Schreiber

Bei Papa Benz

Okkulte Erlebnisse

Geheimrat Moll

Die merkwürdigste aller Organisationen

Bruder Hanussen

In der Albtraumfabrik

Der Österreicher

Stets zeitgemäß

Erklären verboten

Weihnachten in Carinhall

Marvelli

Duell der Magier

Der größte Lump im ganzen Land

Zauberei an allen Fronten

Der Untergang

Nazi-Gold

Eine Karteikarte erscheint

Ein Parteiabzeichen verschwindet

Ein Freund, ein guter Freund

Widerstand

Persilscheine aus dem Nichts

Marvellis Rache

Das Unmögliche wird möglich

Simsalabim, da bin ich wieder

Der Herr Direktor

Die doppelte Brigitte

Der Geheimagent

Die Verzauberung der Welt

Vergib uns unsere Sünden

Freies Fernsehen

Ehrlicher Schwindel

Das Herz des Zauberers

Die sieben Schlüssel

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis

Bildteil

Vorhang auf

Schauen Sie genau hin, meine Damen und Herren: Lassen Sie sich nicht in die Irre führen. Sehen Sie diesen Stapel mit Spielkarten? Ziehen Sie bitte eine der Karten, ja, Sie sind gemeint, nur nicht so schüchtern! Das ist alles kein Hexenwerk, nur ein bisschen Zauberei. Haben Sie sich die Karte gemerkt, ja? Dann geben Sie sie mir bitte zurück, aber ohne dass ich sie sehen kann. Sie erinnern sich noch an das Blatt, ja? Und Sie sind sicher, dass ich die Karte nicht gesehen habe? Gut, dann brauche ich jetzt einen Freiwilligen, um das Spiel neu zu mischen. Sie sehen, meine Damen und Herren, es geht alles mit rechten Dingen zu. Trauen Sie Ihren Augen, schauen Sie genau hin, lassen Sie sich nicht hinters Licht führen. Denken Sie bitte daran: Es ist alles nur ein Trick, eine Illusion. Und ist nicht das ganze Leben eine Illusion? Hier, das Herzass! War es das, ja? Sehen Sie?!

Zufrieden blickte er in den Spiegel und legte den Kartenstapel beiseite. Der Trick saß, und wie auch nicht? Es war ein Routinestück, das er schon seit Kindertagen beherrschte, ein Aufwärmer fürs Publikum. Er übte nur deshalb vor dem Spiegel des ländlich eingerichteten Gästezimmers, weil er sich auch nach Jahrzehnten immer noch gern beim Zaubern selbst zusah. Ja, sein Leibesumfang hatte zugenommen und sein Haar war bereits mit Mitte zwanzig schütter geworden. Aber welche Rolle spielte das schon, wenn er zauberte? Wer achtete auf Halbglatze oder Bauch eines Mannes im besten Alter, der es verstand, die Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf seine Hände zu konzentrieren und seine Zuschauer um den kleinen Finger zu wickeln – wenn nicht gleich um alle zehn?

Die Leute sahen nur das, was sie sehen sollten. Dazu bedurfte es nicht einmal einer besonderen Fingerfertigkeit des Vorführenden. Es war immer wieder verblüffend, wie einfach die Menschen sich täuschen ließen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie dumm oder intelligent waren, zum einfachen Volk gehörten oder aus gehobenen Schichten kamen, ob sie Kinder waren oder Erwachsene. Dem Reiz einer gelungenen Illusion konnte sich niemand entziehen – denn die Menschen wollten getäuscht werden. Es bereitete ihnen ein unbeschreibliches Vergnügen, wenn man sie in die Irre führte, ihre Sinne überlistete und ihnen für einen kurzen Moment das Gefühl gab, dass das Unmögliche möglich war.

Und doch war er diesmal nervös – ein Gefühl, das er kaum kannte. Bei ihm war alles immer bis ins kleinste Detail vorbereitet, und wenn mal etwas Unvorhergesehenes geschah, konnte er blitzschnell reagieren.

Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und zupfte an der schwarzen Fliege. Der Smoking saß, das war es nicht. Alles war vorbereitet. Neben ihm stand sein Zauberkoffer, den man eigens aus Berlin eingeflogen hatte. Keine Frage, sein Gastgeber hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, als er ihn kurzfristig einlud, das Abendprogramm durch seine Illusionskünste zu bereichern.

Da ein solcher Auftritt eine Ehre war, der er sich weder entziehen konnte noch wollte, hatte er sofort zugesagt. Wer weiß, wozu es diesmal nutzen konnte? Das halbstündige Programm für diesen Abend schüttelte er aus dem Handgelenk, und er hätte dafür nicht einmal Zauberkoffer und Smoking gebraucht, wenn diese nicht zu den selbstverständlichen Attributen eines Zauberkünstlers gezählt hätten.

Warum also war er nervös? Lampenfieber war es nicht. Das kannte er gar nicht, seit er im Alter von fünfzehn Jahren das erste Mal öffentlich aufgetreten war. Aber wie würde die Stimmung im Publikum sein, nach den schlimmen Ereignissen der letzten Monate? Auch ein Zauberkünstler kann den Lauf der Welt nicht ändern. Aber er kann ihn eine Zeit lang vergessen machen.

Dazu brauchte er nicht viel. Nachdem er sein Publikum mit ein paar Kartenkunststücken aufgewärmt hatte, besorgte er sich seine Requisiten bei den Zuschauern. Nichts amüsierte die Menschen mehr, als wenn man sie vor aller Augen ihres Eigentums beraubte, um es ihnen einen Augenblick später zur allgemeinen Erheiterung wieder herbeizuzaubern. Er zerstörte goldene Taschenuhren, ließ sie verschwinden und an unerwarteter Stelle heil wiederauftauchen. Auf diese Weise konnte er die Zeit wenigstens für einen Augenblick anhalten.

Er warf einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel, da ging die Tür hinter ihm auf. Sein Freund, der Adjutant, trat ein und gab das Signal, dass die Zaubervorführung beginnen konnte: »Der Führer erwartet dich jetzt.«

Ein Magier aus Deutschland

London, im Januar 1951. Das Stoll Theatre am Kingsway füllte sich langsam. Das prächtige Gebäude war wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg mit viel Stuck, Gold und Kristall im Stil der französischen Beaux-Arts-Architektur erbaut worden. Mit zwei Dutzend Logen und fast 3000 Plätzen auf vier Etagen war der ehemalige Opernpalast noch immer eines der größten Theater der britischen Metropole und seit vielen Jahren mit Varieté-Aufführungen und populärem Entertainment erfolgreich. Doch eine Vorstellung wie an diesem Abend hatte es noch nie gegeben. Seit Tagen kündigten riesige Plakate »das achte Weltwunder« und »Europas führenden Zauberkünstler« an.1

Gedankenverloren schlenderte Val Andrews zu seinem Platz im Parkett, von dem aus er die Bühne genau einsehen konnte. Der vierundzwanzigjährige Brite war nicht gekommen, um sich zu amüsieren – jedenfalls nicht nur. Seit ihm der Vater seinen ersten Zaubertrick gezeigt hatte, faszinierte ihn die Kunst der Täuschung und der Illusion, und er war für einen anständigen Beruf verloren. Er trat als Bauchredner in Varietés auf und schrieb über Zauberkunst. Der heutige Abend war Recherche, Konkurrenzbeobachtung und eine gute Gelegenheit, den jüngsten Gerüchten auf den Grund zu gehen.

Im Publikum saßen Magiefachleute, Theaterkritiker, Varieté-Agenten und Dutzende seiner Kollegen. Bekannte Zauberkünstler wie Cecil Lyle, Francis White, Oswald Rae, Billy McComb und Robert Harbin waren in Begleitung ihrer Partnerinnen erschienen. Man konnte sie auf den ersten Blick erkennen, weil sie keinen Anzug trugen, sondern die Arbeitskluft der Magier, einen Smoking, und weil sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten.

Was war von diesem neuen Zauberer aus Deutschland zu halten? Würde er wirklich ein echtes Automobil vor aller Augen auf der Bühne verschwinden lassen? »Ein Spielzeugauto vielleicht«, höhnte einer der Anwesenden. »Selbst wenn es der schwächste Teil der Show werden sollte«, entgegnete der Zauberhändler und Verleger Charles Goodliffe Neale und deutete auf das Programm, »ist es immer noch ein genialer Werbe-Trick.«2 Wer immer dieser Magier war, er hatte offensichtlich einen guten Sinn fürs Geschäft und es nicht versäumt, prominent auf Fabrikat und Hersteller des verschwindenden Hillman-Minx-Tourenwagens hinzuweisen, wofür er zweifellos ein üppiges Honorar kassierte.

Auch Andrews war skeptisch, zumal es ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, eine Karte für die Premiere zu bekommen. Jahrelang hatte es in England keine abendfüllende Zauberrevue mehr gegeben. Die Zauberkunst galt als verstaubt, ein altmodischer Zeitvertreib für Amateure, Kinder und Hinterwäldler.

So traurig das war, in einem waren sich Andrews und seine Kollegen einig: Was heutzutage als Zauberkunst präsentiert wurde, war für gewöhnlich eher fauler Zauber als echte Kunst. Die Tricks, die man in kleinen Varietés und in Nachtclubs zu sehen bekam, waren immer die gleichen, die Darstellung lieblos und langweilig. Alter Wein in neuen Schläuchen, keine Innovation, kein Witz. Das »achte Weltwunder« der Magie, so viel schien klar, war ein großmäuliges Versprechen, das diesem mysteriösen Magier nur auf die Füße fallen konnte.

Wer war dieser Mann mit dem klingenden Namen »Kalanag« überhaupt? Immerhin, das Rätsel seines Namens hatten sie schnell gelöst. »Dschungelbuch«, hatte einer der Kollegen im Foyer nur gesagt, und alle wussten Bescheid, denn die Geschichten des Schriftstellers Rudyard Kipling kannte in England jedes Kind. Andrews erinnerte sich, dass darin ein Elefant mit dem Namen Kala Nag vorkam, was so viel bedeutete wie schwarze Schlange. »Fragt sich bloß, ob er nachher einen Schlangenbeschwörer auf die Bühne bringt oder gleich einen ganzen Elefanten verschwinden lässt«, witzelte einer der englischen Experten und sorgte für allgemeine Erheiterung.

Aber der junge Andrews ließ sich von der Skepsis seiner abgebrühten Kollegen nicht abschrecken. Er liebte Premierenabende, und noch mehr liebte er Geheimnisse. Auch er hatte die Gerüchte gehört. Hinter dem Künstlernamen Kalanag sollte sich ein Zauberkünstler aus Deutschland verstecken, dem Land, mit dem Großbritannien wenige Jahre zuvor noch im Krieg gestanden hatte. Angeblich sogar jener Helmut Schreiber, der Anführer des Magischen Zirkels im »Dritten Reich« gewesen war und ein enger Freund von Goebbels und Göring. Im Hauptberuf sei dieser Schreiber Filmproduzent gewesen und habe Propagandafilme für die Nazis gemacht. Ein einflussreicher Mann, von dem gesagt wurde, er habe seine Zauberkünste sogar Adolf Hitler persönlich vorgeführt. »Macht euch auf eine Kostümschlacht gefasst«, hatte einer von Andrews’ Kollegen im Foyer geraunt. Die Show werde mehr Spektakel als echte Zauberkunst bieten.

Doch davon war jetzt noch nichts zu sehen. Nur ein indischer Tonkrug stand vor dem schweren, roten Vorhang des Stoll Theatre. Ein undefinierbarer, bitterer Geruch stieg Andrews in die Nase und erschien ihm wie ein Omen für das, was da kommen würde. Aus dem Orchestergraben schwollen die ersten Klänge. Auch das war ungewöhnlich. Welcher Zauberkünstler konnte sich schon ein eigenes Orchester leisten?

Dann öffnete sich der Vorhang. Mit dem Wort »Simsalabim« betrat Kalanag zusammen mit seiner platinblonden Partnerin Gloria de Vos die Bühne und schlug ein gewaltiges Zauberbuch auf, das, wie er sein Publikum mit einem Augenzwinkern wissen ließ, »die Wunder von Pharao bis heute« enthalte.

Dann präsentierte er im atemberaubenden Tempo ein Kunststück nach dem anderen und tat das so präzise, dass ein Kritiker die Show später mit der Uhr des Observatoriums in Greenwich verglich. Auf offener Bühne verschwand ein Auto mitsamt dem Bürgermeister von London, nachdem der Zauberer ihn gebeten hatte, im Wagen Platz zu nehmen. Der Tonkrug erwies sich als unversiegbare Quelle, aus der Kalanag zwischen den Szenen immer wieder »Wasser aus Indien« in eine Schale goss. Eine junge Frau wurde in drei Teile zersägt. Dann erschien eine riesige Buddhastatue auf der Bühne, und Tempeltänzerinnen rangen mit lebenden Pythonschlangen, während das Orchester geheimnisvolle Melodien spielte und Kalanag seine Partnerin Gloria bis unter den Bühnenhimmel in die Höhe schweben ließ.

Tauben flogen aus Schalen, in denen eben noch Flammen gelodert hatten. Schlangenbeschwörer, Ballett-Girls und Zwerge traten in ständig wechselnden Bühnenbildern und Kostümen auf, schwebten und lösten sich auf offener Bühne in Luft auf – und mittendrin Kalanag, immer mit einem harmlosen Lächeln, einer freundlichen Aufforderung, als ob das alles selbstverständlich wäre.

Andrews traute seinen Augen kaum. Viele der Tricks waren ihm bekannt, aber noch nie hatte er eine so einfallsreiche und prächtige Darbietung gesehen. Kalanag begnügte sich zum Beispiel nicht damit, eine Öllampe einfach verschwinden zu lassen. Er ließ gleich ein Dutzend Tänzerinnen in Lampenschirm-Kostümen antreten. »Den Schirm würde ich mir gerne mal genauer anschauen«, flüsterte ein Zuschauer – eine Bemerkung, die Andrews als zynisch empfand, da sie auf das Gerücht anspielte, die Nazis hätten aus der Haut ihrer Opfer in den Konzentrationslagern Lampenschirme gefertigt.

Gewiss, Andrews verstand die Vorbehalte seiner Kollegen. Kalanags magische Truppe war das erste deutsche Ensemble, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs in England gastierte. Der Krieg lag gerade einmal ein halbes Jahrzehnt zurück. England hatte ihn zwar gewonnen, litt aber unter den wirtschaftlichen Folgen und dem Verlust seines Empires. Schwang in den gehässigen Bemerkungen nicht auch ein wenig Neid mit dem wiedererstarkenden Westdeutschland mit, das inzwischen nicht nur ein politischer Bündnispartner war, sondern auch wirtschaftlich für einen in Grund und Boden Besiegten schon wieder erstaunliche Fortschritte machte?

Einem britischen Publikum musste dies alles übertreffende Spektakel wie der Inbegriff des deutschen Wiederaufstiegs nach 1945 erscheinen. Opulente Bühnenbilder, Dutzende Mitwirkende, der offensiv zur Schau gestellte Reichtum des korpulenten, eine dicke Zigarre rauchenden Magiers und seiner in teure Pelze und Kostüme gehüllten Partnerin Gloria wirkten wie Vorboten des beginnenden Wirtschaftswunders in Westdeutschland.

Keines von Kalanags Kunststücken machte das deutlicher als seine »Kalanag-Bar«. Mit einem durchsichtigen Glaskrug in der Hand wandte sich der in einen Barkeeper mit schwarzer Fliege verwandelte Magier dem Publikum zu und nahm Bestellungen entgegen. »Bitte, was wünschen die Ladies und Gentlemen? Einen Sherry? Sofort, meine Dame, einen trockenen oder süßen?« Und mit schwungvoller Geste goss er einen Schwall Wasser aus dem Krug in das Glas, das ihm eine seiner Assistentinnen auf einem Tablett entgegenhielt. Der Effekt war verblüffend, deutlich sichtbar füllte sich das Glas mit dem gelben Getränk und wurde der Bestellerin sofort serviert. »Bitte sehr, meine Dame«, rief der magische Barkeeper, »probieren Sie diesen köstlichen Sherry. Es ist wirklich Sherry, das können Sie bestätigen?« Die Angesprochene nickte erstaunt, nachdem sie einen Schluck gekostet hatte. »Sehen Sie, Ladies und Gentlemen! Hier bekommen Sie jeden Drink, den Sie wünschen.«

Das Publikum jauchzte vor Vergnügen, und schon hatte Kalanag alle Hände voll zu tun. Er verwandelte Wasser in Wein, Bier, Gin und Whisky und ließ die Getränke auch noch in passenden Gläsern servieren. Kein Wunsch blieb unerfüllt. Es war nicht das erste Mal, dass Andrews diesen Trick gesehen hatte, aber noch nie war er so raffiniert inszeniert worden wie von Kalanag. Als ein Scherzbold »Tinte« bestellte, bekam er auch die serviert – mit einem Federkiel als Cocktailstab. Selbst dampfenden Kaffee und gefrorenes Eis schüttete er im Handumdrehen aus seinem Glaskrug. Dann war er schon bei der nächsten Bestellung. Es schien kein Getränk zu geben, das Kalanag nicht herbeizaubern konnte. Die Wirkung auf ein Publikum, das sich noch an Rationierung und Kriegswirtschaft erinnerte, war unerhört. Wenn die Nummer schon in England solches Aufsehen erregte, wie begeistert musste sie dann erst im zerstörten Deutschland aufgenommen worden sein? Die »Kalanag-Bar« war – wie die ganze glitzernde Revue – ein Versprechen auf bessere Zeiten, auf Vergnügen, Rausch und Vergessen.

Nur einmal kam es zu einem Zwischenfall. Als Kalanag die Frau des britischen Zauberers Cecil Lyle fragte, ob sie auch einen Drink aus seinem magischen Wasserkrug nehmen würde, rief sie laut hörbar in den Zuschauerraum: »Ich trinke nicht mit Nazis.«

Es erschien Andrews unfair, diesen zweifellos beeindruckenden Zauberkünstler als Nazi zu schmähen, nur weil er Englisch mit starkem deutschem Akzent sprach. Gloria mochte dem Typ der arischen Blondine entsprechen, den sich deutsche Wehrmachtssoldaten als Pin-up vorstellten, und das große Finale mit Flaggenparade und blonden Tänzerinnen erinnerte das Londoner Publikum daran, dass es sich um eine sehr deutsche Show handelte.

Nein, es war zu billig, sich über den wohlgenährten Mann mit der Hornbrille lustig zu machen, von dem zweifellos eine unbeschreibliche Faszination auf sein Publikum ausging. Die größte Überraschung aber war, dass dieser Deutsche Humor und Selbstironie besaß und eine entwaffnende Liebenswürdigkeit – Eigenschaften, die so gar nicht zum Vorurteil des herrischen Teutonen passten, das man in England gerne pflegte.

Als nach fast drei Stunden und dem letzten Simsalabim schließlich der Vorhang fiel, war der Beifall groß. Val Andrews stand auf und bahnte sich den Weg in die Künstlergarderobe. Als er endlich dort ankam, fand er Kalanag bereits von seinen angelsächsischen Kollegen umringt, die ihn mit Fragen und Komplimenten überhäuften. Dann trat Robert Harbin auf den Deutschen zu: »Sie haben einen Trick aus meinem Zauberbuch geklaut!« Plötzlich herrschte betretenes Schweigen.

Jeder der Anwesenden kannte Harbins Demon Magic von 1938, ein Standardwerk der Zauberkunst, das sich mal nicht im Aufwärmen altbekannter Karten- und Seiltricks erging, sondern erfindungsreiche Konstruktionszeichnungen und Trickapparate präsentierte. Kalanag ergriff lächelnd und ohne zu zögern die Hand seines britischen Kollegen, schüttelte sie energisch und verkündete: »Und ich darf sagen, lieber Kollege, dass dieser Trick eine der besten Erfindungen ist, die ich je gesehen habe.«3 Alle Augen ruhten auf Harbin, der nun auch lächelte und antwortete: »Glückwunsch, ich habe die Idee eigentlich für ein Hirngespinst gehalten und nie daran geglaubt, dass man sie wirklich aufführen kann.«

Auch die britische Fachpresse überschlug sich mit Lob für die »großartige Unterhaltungsshow« und bedauerte lediglich, »dass sich keiner unserer eigenen Landsleute so ein Spektakel einfallen ließ«. Die Zeitungen druckten große Bilder der hinreißenden Gloria. Immer wieder versuchten englische Pressefotografen, hinter die Bühne des Stoll Theatre zu schleichen, um Kalanags Tricks zu enthüllen.

Während seines vierwöchigen Gastspiels in London hielt Kalanag in einem Luxushotel Hof, täglich empfing er Zauberkollegen und Journalisten zum Tee. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass hinter dem »fabulous Kalanag«, wie ihn die englische Fachpresse längst titulierte, tatsächlich jener Helmut Schreiber steckte, der vor 1945 Präsident des Magischen Zirkels in Deutschland gewesen war.

Ende Januar 1951 besuchte ihn ein Mitarbeiter der magischen Wochenschrift Abracadabra und fragte den Zauberer direkt, ob er früher ein Anhänger der Nazis gewesen sei. Sein Aufenthalt in Großbritannien, entgegnete Kalanag, sei doch der beste Beweis, dass an den Nazi-Gerüchten nichts dran sei, die in diversen englischen Zauberzeitschriften kolportiert worden waren. Im Übrigen habe er bereits einen Prozess gegen den deutschen Zauberer gewonnen, der diese Gerüchte verbreitet hatte, und wenn dieser Zauberer damit nicht aufhöre, werde er ihn für sechs Monate verschwinden lassen – und zwar ins Gefängnis.

Val Andrews würde nie vergessen, was er an diesem Abend im Stoll Theatre gesehen hatte. Aber wenn Kalanag tatsächlich Helmut Schreiber war, wie hatte er überhaupt eine Arbeitserlaubnis in Großbritannien erhalten? Noch rätselhafter erschien dem jungen Engländer, dass ein ehemaliger Produzent von Nazi-Propagandafilmen es geschafft hatte, ausgerechnet von einem jüdischen Theaterunternehmer wie Bernard Delfont für das Londoner Westend gebucht zu werden. Tat man Kalanag, der ohne Zweifel ein großartiger Unterhaltungskünstler war, etwa Unrecht? Oder hatte dieser Magier aus Deutschland, der nach dem Krieg die berühmteste Zauberrevue der Welt scheinbar aus dem Nichts aufgebaut hatte, ein dunkleres Geheimnis als seine verblüffenden Zaubertricks? Wie hatte er es geschafft, in einem vollkommen zerstörten Land innerhalb von nur fünf Jahren eine so großartige Revue aus dem Boden zu stampfen?

Du sollst nicht zaubern

Alle waren dagegen: der Vater, die Mutter und natürlich auch der Pfarrer. Der Geistliche wählte die Auslegung des zweiten Gebots aus Dr. Martin Luthers kleinem Katechismus, als er einen Konfirmationsspruch für den jungen Helmut Ewald Schreiber suchte: »Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen.«

Nicht dass Wilhelm Schreiber abergläubisch gewesen wäre. Er glaubte wohl an Gott, aber nicht an Geister. Seine Bedenken gegen den Berufswunsch des Sohnes waren anderer Art. Der Textilkaufmann hatte es mit schwäbischer Nüchternheit zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Sein ältester Sohn Otto war bereits Leutnant in der kaiserlichen Armee, die Mutter seiner Frau Martha entstammte einer bekannten rheinischen Kaufmannsfamilie.1

Aber nun hatte sein Jüngster verkündet, dass er »Zauberer« werden wollte. Ein Varietékünstler! Ein Zirkusmensch!, schoss es dem Vater durch den Kopf. Sein Sohn als Vertreter einer brotlosen und dazu noch fragwürdigen Kunst, die auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen beruhte und schon deshalb schädlich für den Charakter sein musste. Der Vater hatte nichts gegen Unterhaltung, wie viele Kaufleute liebte er die leichte Muse sogar und auch die Lieder von Schubert. Ein Besuch im Varieté, ein vergnüglicher Nachmittag im Theater mochten angehen. Aber der Platz für einen Mann von seinem Stande war vor der Bühne, nicht auf ihr, und das hatte natürlich auch für seinen Sohn zu gelten.

Schuld war sein Schwager Ewald gewesen, nach dem der kleine Helmut seinen zweiten Vornamen bekommen hatte. Der Onkel hatte seine Fürsorgepflicht leider etwas zu locker genommen. Er hatte dem achtjährigen Neffen, als der mit einer Mittelohrentzündung im Marienkrankenhaus von Stuttgart lag, ein besonderes Buch geschenkt, ohne sich über die Konsequenzen dieses Geschenks im Klaren zu sein. Gegen einen Abenteuerroman von Karl May oder Jules Verne hätte der Vater nichts einzuwenden gehabt, er wäre mit jedem anderen Buch einverstanden gewesen. Doch der Onkel hatte dem Jungen ausgerechnet Das Goldene Buch der Magie geschenkt, das ihm in der Schwabacherschen Verlagsbuchhandlung in Stuttgart in die Hände gefallen war.2

Auf dem blaugrün schimmernden Einband sah man einen alten Magier mit weißem Bart und rotem Talar. Kapuze und Kragen waren mit geheimnisvollen Symbolen versehen, und hinter ihm schimmerten goldene Strahlen. Umgeben von Totenschädel, Fledermaus und Taube erhob der weise Magier gebieterisch den Zauberstab in seiner rechten Hand. Der Untertitel versprach neue und überraschende Zauberkunststücke »für Dilettanten« – ein Wort, das durchaus als Kompliment aufgefasst werden konnte, richtete es sich doch an die Angehörigen gut situierter bürgerlicher oder adeliger Schichten, die es sich leisten konnten, Liebhabereien nachzugehen.

Doch davon wollte Wilhelm Schreiber nichts wissen. Es war schlimm genug, dass der Junge im Krankenhaus genug Zeit gehabt hatte, sich von den Eltern unbeaufsichtigt der fragwürdigen Lektüre hinzugeben. Kaum hatte Helmut das Krankenhaus wieder verlassen, machte er sich daran, die dort beschriebenen Kunststücke in der elterlichen Wohnung aufzuführen. Der Herr Papa musste beim Frühstück mit ansehen, wie sich sein Ei in Luft auflöste, um wenig später zerquetscht in seiner Schreibmappe aufzutauchen.3 Beim Mittagessen erging es der Familie nicht besser, wenn der Sohn einen Suppenlöffel im Dekolleté der Mutter verschwinden ließ, um ihn im nächsten Moment dem erschrockenen Dienstmädchen aus der Nase zu ziehen.

Es waren primitive Scherze, die er sich tagein, tagaus von seinem begeisterten Sohn vorführen lassen musste. Er schlug ein Glas durch eine Tischplatte, färbte rote Rosen grün, zauberte aus zwei Würfeln drei oder trieb sich einen Nagel durch den Daumen. Irgendwann hatte Wilhelm Schreiber genug: Er nahm seinem Sohn das Buch wieder ab und verbrannte den Zauberkasten, den der Junge sich inzwischen von seinem Taschengeld zusammengespart hatte – was den Sohn nur darin bestärkte, seiner Leidenschaft im Geheimen umso eifriger nachzugehen.4

Der Junge durchsuchte Zeitungen nach Anzeigen von Zauberapparaten und ließ sich Kataloge postlagernd schicken. Er beschaffte sich das Goldene Buch der Magie wieder und richtete auf dem Dachboden, versteckt hinter den Schrankkoffern des Vaters, seine Zauberwerkstatt ein. Hier probte er die neuesten Kunststücke. Münzen, Karten, Seidentücher: Man musste die Griffe täglich trainieren wie ein Pianist seine Tonleitern. Die »magische Wasserschale des Zauberers Ching Ling Foo« und das »Pythagoras-Wunder« hatten es ihm besonders angetan. Waren die Eltern aus dem Haus, schlich er in ihr Schlafzimmer und übte stundenlang vor dem Spiegel, bis ihm die Täuschungen so verblüffend schnell von der Hand gingen, dass nicht einmal er selbst etwas gemerkt hatte.

Sogar während des Schulunterrichts übte er unter seiner Bank das Schlagen der Volte, bei der ein Kartenspiel unsichtbar abgehoben wurde. Da ihm die Karten manchmal entglitten und auf den Fußboden fielen, war der Zwölfjährige unter den Lehrern als fürchterlicher Skatbruder verschrien. Er ließ sich nicht davon abhalten, dass im Laufe seiner Schulzeit rund drei Dutzend Kartenspiele konfisziert wurden, sondern besorgte sich zu Hause oder bei Verwandten neue.

In der Wohnung eines Schulfreundes gab er seine ersten Vorführungen. Eintritt: fünf Pfennig pro Person. Die Einnahmen investierte er in neue Geräte und Literatur. Er vernachlässigte seine Klavierstunden und dachte nicht daran, je die von den Eltern gewünschte Laufbahn als Zahnarzt einzuschlagen. Er konnte nicht anders, er musste zaubern, am Morgen wie am Abend, ob er krank war oder gesund, glücklich oder betrübt. Er musste es tun, es war seine Bestimmung.5 »Das Geheimnis jeden Erfolges«, hatte sein Idol, der berühmte Zauberkünstler Ernest Thorn, verkündet, »ist der Fleiß, ohne den selbst das größte Talent in unserem Fache nichts erreichen wird.«6

Allerdings: Der Fleiß wollte richtig eingesetzt werden, und manches Ziel im Leben war schneller zu erreichen, wenn man sich einiger Tricks bedienen konnte. Er ließ sich vom Vater bestechen, der sich wünschte, dass der Sohn zu Weihnachten ein Klavierstück vorspielte. Da der junge Zauberer längst keine Zeit mehr hatte, um auch noch auf dem Klavier zu üben, behalf er sich mit einem Trick. Mithilfe eines Zahlenstreifens über der Tastatur spielte er Schuberts »Am Meer«. Die Eltern durften im Nebenzimmer lauschen, das Hilfsmittel ließ er verschwinden und kassierte die vom Vater versprochenen zwanzig Mark.

Als er zwölf Jahre alt war, kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall. Er hatte in die Rückwand des prächtigen Schrankkoffers seines Vaters ein Loch geschnitten, durch das ein Schulfreund heimlich hineinkriechen konnte. Was für Augen machte sein Publikum, wenn Helmut einen Anzug in den leeren Koffer steckte, ihn dann sorgfältig verschloss, seinen Zauberstab einige Male darüber kreisen ließ und plötzlich zum allgemeinen Erstaunen der Freund samt Anzug dem Koffer entstieg. Auch der Vater machte Augen, als sein bereits für den Sommerurlaub gepackter Schrankkoffer explodierte und der Inhalt sich auf den Fußboden ergoss. So konnte es nicht weitergehen. Wilhelm Schreiber hatte eine Idee. Er wandte sich hilfesuchend an den einzigen Mann, der seinen Sohn davon überzeugen könnte, dass die Zauberkunst kein erstrebenswerter Beruf war: an Chevalier Ernest Thorn.

Moses Abraham Thorn, 1853 als Untertan des österreichischen Kaisers in der Provinz Galizien geboren, war um die Jahrhundertwende einer der bedeutendsten Magier und Illusionisten seiner Zeit. Als »Chevalier Ernest Thorn« gastierte er in aller Welt, seine Reisen führten ihn bis nach Ägypten, China und Indien. Seine Bühnenshow trug den Titel »Ein Abend im Traumland«. Thorn war nicht nur weltgewandt und konnte seine Vorstellungen auch auf Spanisch, Englisch oder Französisch geben. Er wusste auch, wie er sein Publikum erreichen konnte, egal ob er am Hof des Königs Norodon in Kambodscha zauberte oder in Amerika mit einem verschwindenden Pferd Aufsehen erregte.7

Privat ein ruhiger und ausgeglichener Mann, konnte Thorn mit seinen Assistenten grob werden, wenn sie seine kunstvoll konstruierten Zauberapparate falsch behandelten. Seine Frau Julia war auch seine Bühnenpartnerin und musste einiges mitmachen. Mal verschwand die schöne Julia inmitten heftig lodernder Flammen, geschützt nur durch einen für das Publikum unsichtbaren Asbestvorhang. Mal entstieg sie als Höhepunkt von Thorns Arche-Noah-Illusion einem Modell des biblischen Schiffes, aus dem ihr Mann zuvor bereits allerlei Tiere hervorgezaubert hatte. Sintflut und Feuersbrunst auf der Bühne: Chevalier Ernest Thorn verstand sich darauf, seinen Vorführungen eine dramatische Note zu geben. Sein Wahlspruch lautete: »Das Leben ist eine Illusion, der Tod ein unlösbares Rätsel!«8

Thorn war – wie es der österreichische Zauberkünstler Hans Trunk formulierte – »einer jener Illusionisten, die wohl nicht durch besondere Neuheiten hervorstachen, es jedoch verstanden, ihren Darbietungen eine persönliche Note zu geben, aus jedem Kunststück das Letzte herauszuholen und Feinheiten darin einzubauen, so dass man mit Recht annehmen konnte, es handle sich um eine Neuheit.«9 1918 wurde er das erste Ehrenmitglied des Magischen Zirkels. Sein Wahlspruch wurde auch zu Kalanags Maxime: »Nie still zu stehen, immer weiter zu arbeiten und Neues hinzuzulernen.«

Wilhelm Schreiber konnte nicht ahnen, dass dieser Ernest Thorn einmal Vorbild und Mentor seines Sohnes werden würde, der aus Thorns Likörtrick Kalanags »Wunderbar« und aus dem verschwindenden Pferd – ganz im Sinne Henry Fords – ein verschwindendes Automobil machen und sich als ebenso einfallsreich wie sein Meister erweisen würde.

In einem aber lag der Vater mit seinen Befürchtungen richtig: Ernest Thorn würde die letzten Lebensjahre nach dem Tod seiner Frau in Armut verbringen und am 21. Mai 1928 völlig mittellos in Leipzig sterben. In seiner Wohnung fand man ein Kissen, in das Julias Juwelen eingenäht waren. Der Verkauf ihres Schmucks hätte ihm ermöglicht, seine letzten Jahre in Würde zu verbringen. Doch Thorn hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von den letzten Erinnerungen an seine geliebte Frau zu trennen.10

Als Thorn im Stuttgarter Friedrichsbau gastierte, war er auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Wilhelm Schreiber war nicht entgangen, dass sein Sohn sich heimlich in das Theater geschlichen hatte, um sich Notizen über die Vorstellung seines Idols zu machen.11 Dabei hatte er vor lauter Aufregung das Bier seines Nachbarn verschüttet, der sich zu allem Übel als Freund seines Vaters herausstellte. Er war aufgeflogen. Aber das väterliche Donnerwetter fand nicht statt. Stattdessen sollte Helmut den Eltern Gesellschaft leisten, die am Samstagabend einen Gast zum Essen erwarteten.

Die Mutter hatte Pasteten und Klößchensuppe vorbereitet. Für den Nachtisch stand eine Eisbombe bereit. Dann ließ man die beiden allein. Pflichtschuldig wandte sich Ernest Thorn an Helmut.

»Ich höre, du möchtest Zauberkünstler werden, mein Junge?! Dazu beglückwünsche ich dich nicht. Magier zu sein ist kein guter Beruf. Und ich wünschte, ich wäre jung genug, um noch einmal wählen zu können.«

Helmut war entsetzt. »Sie sagen das, Chevalier Thorn?«

»Ja, ich, mein Junge, Chevalier Thorn, den die Menschen umjubeln. Ich habe dreimal in meinem Leben Schiffbruch erlitten. Es war schwerer, als du dir vorstellen kannst, immer wieder neu anzufangen. Nur wenigen gelingt es, viele gehen dabei zugrunde. Sei vernünftig, mein Junge, besuch erst einmal die Schule fertig, ehe du dich entscheidest. Auch für einen Zauberer ist es gut, das Reifezeugnis zu haben. Gib mir dein Ehrenwort, dass du es machst.«

Es war nicht das, was Helmut von seinem Vorbild hören wollte, und doch nickte er pflichtschuldig in der Hoffnung, dass ihm der Meister im Gegenzug noch einige seiner Kunststücke vorführen würde. Er hatte nicht umsonst gehofft. Thorn zeigte die Wanderung von vier Assen unter einem Zeitungsblatt, ließ sechs Münzen den Tisch durchdringen und Punkte von einer Kelle auf eine andere springen.

Dann sah er seinen Zuschauer auffordernd an: »Was kannst du denn überhaupt schon? Zeig mir was!«

Helmut zitterte vor Nervosität. Er begann mit dem Becherspiel, einer klassischen Fingerübung, die schon von Gauklern auf mittelalterlichen Marktplätzen vorgeführt worden war. Um sein Idol nicht zu langweilen, hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht. Ein Rezept seiner Heimat, das er dem großen Ernest Thorn servieren wollte. Nachdem er die Kugel mehrmals hin- und herwandern ließ, verschwand sie auf einmal, und stattdessen erschienen eine Kartoffel, eine Zwiebel und eine Knoblauchknolle unter den drei Bechern. Thorn blickte den Jungen erstaunt an, der im breiten Dialekt seiner Heimatstadt verkündete: »Und da habe Se de Zutate für schwäbische Kartoffelsuppe!« Der Chevalier sagte nichts, aber ein Lächeln huschte über seine Lippen und gab Helmut das Gefühl, dass er den Meister für sich gewonnen hatte.

Als die Eltern eine halbe Stunde später wieder hereinkamen, trauten sie ihren Augen nicht. Da führte ausgerechnet ihr Sohn dem Großmeister der Illusionen seine Tricks vor, und der schien nicht nur angetan von der Vorführung, er gab dem Jungen auch noch Ratschläge. Es war alles umsonst gewesen. Der Vater warf Thorn einen ratlosen Blick zu. Der Chevalier zuckte hilflos mit dem Schultern. »Sie werden Ihren Sohn niemals mit Gewalt daran hindern, eine Kunst auszuüben, für die er geboren ist. Ich habe etwas Ähnliches noch nie gesehen.«12

Dann wandte er sich erneut dem jungen Helmut zu und sagte mit ernster Stimme: »Falls du der Zauberkunst dann immer noch dein Leben widmen willst, denk daran: Entweder du gehst an der Magie zugrunde oder du schaffst es!«13

Kalanag würde ihm darin später recht geben und in seinen Memoiren schreiben: »Ich habe viele meiner Kollegen straucheln sehen, und manche endeten durch Selbstmord. Nur wer diesen Beruf als eine Lebensaufgabe betrachtet statt als Verdienstmöglichkeit, wird die Menschen mit seiner Kunst beglücken.«14

Tausendkünstler

Helmut Ewald Schreiber – nicht gerade ein klingender Name. Erst recht nicht für einen Lehrling jener geheimnisvollen Künste, deren führende Vertreter zu Beginn des letzten Jahrhunderts gerne exotische Namen wie Houdini, Uferini, Okito oder Chung Ling Soo trugen. Aber der junge Gymnasiast hieß nun einmal Helmut Schreiber und war unter eben diesem Namen schon als Dreizehnjähriger zum ersten Mal öffentlich aufgetreten. Das war im August 1916 gewesen, der Erste Weltkrieg lag im zweiten Jahr. Die Lazarette des Deutschen Kaiserreichs füllten sich mit immer mehr Verwundeten, die, blind vom Giftgas oder halbzerfetzt von Schrapnellen, zurück in die Heimat gespült wurden. Auch nach Stuttgart, in die Geburtsstadt des Schülers Helmut Schreiber, der wie viele seiner Altersgenossen im Auftrag des Roten Kreuzes zur Betreuung der Verwundeten an der Heimatfront eingesetzt wurde.

Drei Jahre war sein Debüt im Reservelazarett XI in Stuttgart nun schon her, und es erschien ihm völlig zurecht als der Beginn einer vielversprechenden Künstlerkarriere, die er zielsicher planen und verfolgen wollte. »Helmut Schreiber hat mit drei Kameraden am 17. August 1916 abends 1 / 2 8 Uhr unsere Verwundeten und Kranken durch Zauberkunststücke angenehm unterhalten, wofür die Lazarett-Verwaltung verbindlichst dankt.« Wie freundlich, wie unvergesslich waren diese Worte des Lazarettinspektors Müller. Sie konnten nützlich sein, um zukünftigen Auftritten den Weg zu bereiten, als Referenz und Werbung für den jungen Künstler. Er hatte ein Album angelegt, in dem er mit buchhalterischer Sorgfalt sämtliche seiner Auftritte mit Nummern verzeichnete, Atteste abschrieb, Handzettel und Plakate seiner Aufführungen einklebte.

Seitdem hatte er bereits achtundfünfzig Auftritte absolviert, und seine Lazarett-Tournee hatte ihn längst über die Grenzen seiner Heimatstadt Stuttgart hinaus nach Böblingen, Waiblingen, Freudenstadt und sogar Passau geführt. Ein Honorar nahm er nie, und wenn man ihm doch einmal fünf Mark aufdrängte, gab er sie als Spende der Kriegsgefangenen-Fürsorge. Er hatte unter dem verheißungsvollen Titel »Ein Stündchen im Reiche der Wunder« bereits ein abendfüllendes Programm ausgearbeitet, das sich sehen lassen konnte. Nach einem musikalischen Vorspiel begrüßte er seine Zuschauer mit einem »feurigen Gruß Floras«, zauberte ihnen etwas mit »Kriegsersatztinte« vor und führte durch »10 Minuten im politisch-zoologischen Garten«.1 Nach einigen Karten- und Tuchzaubereien gab es eine Pause. Der zweite Teil begann vollmundig mit »Satanella, dem letzten Wunder des 20. Jahrhunderts«, gefolgt von einer »mysteriösen Verwechslung«, einer »sensationellen Enthüllung« und einer »bulgarisch-patriotischen Neuheit«, deren Ankündigung auf großen Handzetteln des Passauer Stadt-Theaters allein schon geeignet war, die Neugier des Publikums auf die Spitze zu treiben.2 Mit einer Einlage als Kriegskoch und eierlegender Hahn bewies der junge Zauberer schon damals, dass er nicht nur Sinn für Humor, sondern auch für die Alltagssorgen und Bedürfnisse seines Publikums hatte.

Trat er im Rahmen eines größeren Unterhaltungsprogramms auf, passte er seine Vorstellung an. Dabei versäumte er es nie, sich entsprechend in Szene zu setzen. Als die Veranstalter eines bunten Abends am 12. Februar 1919 in Böblingen sein »Stündchen im Reiche der Wunder« auf zwanzig Minuten kürzten, durfte er im Gegenzug mit seinen »Experimenten zur Gedankenübertragung« das große Finale des Abends bestreiten und wurde auf dem Plakat eigens als »besondere Neuheit« angekündigt.

Mittlerweile waren auch die Zeitungen auf den »jungen Hexenmeister« aufmerksam geworden, der es verstand, seine verblüffenden Kunststücke »mit der nötigen Hand- und Mundfertigkeit auszuführen«.3 Damit waren die beiden besonderen Talente des noch nicht einmal volljährigen Zauberlehrlings bereits auf den Punkt gebracht – jene Talente, die ihn nicht nur Jahrzehnte später zu einem der erfolgreichsten und berühmtesten Zauberkünstler werden lassen sollten, sondern sich als hilfreich in allen Lebenslagen erwiesen: Helmut Schreiber hatte geschickte Hände und ein flinkes Mundwerk.

So konnte bereits der Sechzehnjährige selbst abgebrühte Zeitungskritiker begeistern, die seine Zaubershow mit dem festen Vorsatz besuchten, sich über gar nichts mehr auf dieser Welt zu wundern – erst recht nicht über die Tricks eines »jungen Milchbarts aus dem Schwabenland«. Der war aber auch ein gar zu drolliges Kerlchen, lebhaft und leichtbeweglich. Er hatte den Schalk im Nacken und verstand es, im anheimelnden, gemütlichen Dialekt seiner Heimat allerliebst zu plaudern. Mit Humor und Selbstironie gewann er das Publikum für sich, wickelte es ein mit seinen schnellen Witzchen und Sprüchen, bis es empfänglich war für seine Täuschungen.

Ja, die Menschen wollten getäuscht werden. In einer von Krieg und Technologie und Wissenschaft entzauberten Welt sehnten sie sich danach, noch einmal ins Staunen zu geraten, wenigstens für einen kostbaren Augenblick. Auch der Kritiker war nicht gefeit und musste sich eingestehen, dass es ihm ging wie allen anderen Zuschauern dieses jungen Zauberers auch: »Ich warf die nüchterne stoische Weisheit einfach über den Haufen und wunderte mich und bewunderte nur so darauf los.« Keine Frage, diesem jungen Mann stand eine große Zukunft bevor. Trotz seines jugendlichen Alters und der kriegsbedingten Knappheit verfügte der schwäbische Zauberlehrling schon über eine beachtliche Anzahl magischer Apparate. Es konnte einem Hören und Sehen angesichts des Tempos vergehen, wenn er sich hinter den kleinen, mit schwarzem Samt verhängten Tisch stellte und irgendeine Geschichte erzählte, während er mit Würfelkasten, Taubenkasserolle und kostbaren Seidentüchern hantierte, die er mit Elan auf ein eisernes Gestell warf. Eine solche Darbietung, da war sich der Kritiker sicher, »dürfte auch an einer größeren Varieté-Bühne nichts von ihrem Glanz einbüßen«.

Der junge Schreiber konnte seine Erfolge auskosten, wenn er die Zeitungsausschnitte in sein Album klebte und Atteste niederschrieb. »Auf Wunsch werden auch die Originalzeugnisse vorgelegt«, stand auf der ersten Seite. Die kleine, in Pappe und Leinen gebundene Kladde war ein Poesiealbum seiner Erfolge, manchmal kamen die Atteste sogar in Reimform aus dem Mund von Chefärzten, wie jener Trinkspruch auf den Lazarettzauberer im März 1919:

In die Traum- und Zaubersphäre

Sind wir heute eingegangen.

Unserem Führer alle Ehre!

Folgten wir doch voll Verlangen

Diesem jungen Musensohn

In die Vierte Dimension.

Vielen Dank dem Zeitvertreiber,

Tausendkünstler: »Helmut Schreiber«.

Fröhlich wünschen wir ihm jetzt,

Dass er, der uns heut’ ergötzt

Auf der Bühne, auch im Leben

Stets sei vom Erfolg umgeben.

Dass er stets, wie heut’ die Geister,

Elegant das Schicksal meister’,

Flink, gewandt, erfolgreich bleib’ er,

Stoßt mit an auf Helmut Schreiber.4

Das war keine große Dichtkunst, aber nutzbare Gebrauchslyrik für den beruflichen Aufstieg des so geadelten »Tausendkünstlers«. Der dichtende Chefarzt konnte 1919 noch nicht wissen, wie elegant der so Gelobte tatsächlich die Geister seines Schicksals meistern und aus jeder misslichen Lage noch einen Ausweg finden sollte. Doch er spürte wohl, dass dieser junge Künstler ein Ausnahmetalent war, dem einmal die Welt zu Füßen liegen würde.

Der Weg zum Ruhm begann am 15. August 1919 in einem Hotel in der kleinen Ortschaft Wildbad im Schwarzwald.

Helmut Schreiber kam zu spät. Um kurz vor acht Uhr abends betrat er die Schreibstube des in ein Lazarett umfunktionierten Sommerberg-Hotels. Der Sanitätsfeldwebel schien nicht besonders erfreut, den jungen Künstler zu sehen. Er baute sich vor ihm auf und schnauzte ihn an: »Was fällt Ihnen ein? Wir warten seit einer Stunde!« Schnell schob ihn der Unteroffizier in den völlig überfüllten Saal und befahl ihm, sich neben den Kanonenofen zu stellen, der seltsamerweise auch im August auf Hochtouren lief. Es stank nach Karbol und Tabak, die Hitze war unerträglich und trieb dem jungen Zauberkünstler den Schweiß auf die Stirn, bevor er auch nur mit seiner Aufführung begonnen hatte. Er blickte sich um: Weil die Stühle nicht ausreichten, hockten die Patienten auf Leitern, Tischen, Fensterbänken und sogar oben auf den Schränken.

Über der Bühne hing ein riesiges handgemaltes Plakat: »Heute Abend: Kala Nag – Der Große Zauberer«. Also doch: eine Verwechslung. Wütend rannte er aus dem Saal und fragte den Feldwebel: »Wer ist dieser Kala Nag?«

»Das sind doch Sie.«

»Ich heiße Helmut Schreiber.«

»Unfug. Wie Sie heißen, bestimmen wir.«

Dschungelbuch

Er reichte seinem Gegenüber das Buch, auf dessen rotem Ledereinband eine goldene Swastika prangte. »Das indische Glückssymbol, möge es Ihnen Glück bringen.«

Andächtig blätterte der junge Zauberkünstler durch die Seiten und las, wie der sagenumwobene Elefant »so vollkommen lautlos durch den dichten Garowald glitt wie durch bloßen Rauch«.5

»Kala Nag«, wie geheimnisvoll das auf einmal klang, da er die Bedeutung kannte. Der Name hatte tatsächlich etwas Magisches. Der große Elefant und die schwarze Schlange in einem Wort vereint. Kein Zweifel, der Arzt hatte recht. Von diesem Tag an würde er Kala Nag heißen.

»Aber erzählen Sie«, forderte ihn der Stabsarzt auf, »wie sind Sie überhaupt zur Zauberei gekommen?«

»Das war im Jahr 1911«, antwortete Kala Nag, »und mein Vater war dagegen.«