DAS BUCH
»Ein Meisterwerk.« Marlon James
Paris zu Beginn der 1980er-Jahre. Die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ist für viele vietnamesische Flüchtlinge die rettende Zuflucht nach einer langen Irrfahrt über das Meer. Auch der namenlose Ich-Erzähler, ein ehemaliger kommunistischer Spion, und sein bester Freund Bon haben es nach einer traumatisierenden Inhaftierung aus ihrer Heimat nach Europa geschafft.
Auf der Suche nach einem Job kommen die beiden mit der vietnamesischen Drogenmafia in Kontakt und machen als Dealer vor allem in linksintellektuellen Kreisen ein gutes Geschäft. Aber dieses Leben stellt unseren Erzähler auf eine harte Probe, denn er profitiert von einem Wirtschaftssystem, das er eigentlich ablehnt. Im Konflikt mit sich selbst und konfrontiert mit einer zutiefst kolonialistisch geprägten Gesellschaft, sucht er nach einem Ausweg. Dabei wird ihm der beste Freund zum größten Widersacher – und Paris zur tückischen Falle.
Die Idealisten ist ein raffiniert und mitreißend erzählter Politthriller über Freundschaft und Verrat, Trauer und Trauma und das zutiefst menschliche Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung.
DER AUTOR
Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California. Sein Romandebüt Der Sympathisant (Blessing, 2017) wurde ein weltweiter Bestseller und erhielt 2016 den Pulitzerpreis sowie den Edgar Award. 2018 erschien Nguyens Erzählband Die Geflüchteten bei Blessing. Viet Thanh Nguyen lebt in Los Angeles.
VIET THANH NGUYEN
DIE IDEALISTEN
ROMAN
AUS DEM AMERIKANISCHEN
VON WOLFGANG MÜLLER
BLESSING
Das Buch erscheint unter dem Titel
THE COMMITTED
bei Grove Atlantic, New York
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Abdruck des Fotos [>>] mit freundlicher Genehmigung von Vuong Huu Nhan,
Union Generale des Vietnamiens de France.
»Seasons in the Sun« – Written by Jacques Brel and Rod McKuen. Published by Edward B. Marks Music Company (BMI). All rights administered by Round Hill Carlin, LLC.
»Et Moi, Et Moi, Et Moi« – Words and Music by Jacques Dutronc and Jacques Lanzmann. Copyright © by Hal Leonard, LLC.
Copyright © 2021 by Viet Thanh Nguyen
Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Herstellung: Ursula Maenner
Satz: Leingärtner, Nabburg
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München
Umschlagabbildung: Shutterstock/Maryna Stamatova
ISBN 978-3-641-20718-2
V001
www.blessing-verlag.de
Für Simone
Nichts ist wirklicher als nichts.
Rithy Panh mit Christophe Bataille,
Auslöschung: Ein Überlebender der Roten Khmer berichtet
PROLOG
Wir
Wir waren die nicht Gewollten, die nicht Gebrauchten und die nicht Gesehenen, unsichtbar für alle außer uns selbst. Weniger als nichts, sahen wir auch nichts. Blind kauerten wir im dunklen Bauch unserer Arche. Einhundertfünfzig von uns schwitzend in einem Raum, der nicht für uns Säugetiere, sondern für die Fische des Meeres bestimmt war. Die Wellen schoben uns von einer Seite zur anderen. Wir sprachen in den Sprachen unserer Mütter, was für die einen hieß, dass sie beteten, für die anderen, dass sie fluchten. Als schließlich eine Veränderung der Wellenbewegung unser Schiff noch heftiger hin und her warf, flüsterte einer der wenigen Seeleute unter uns, Jetzt sind wir auf dem Meer. Nachdem wir stundenlang den Windungen von Flüssen, Mündungsarmen und Kanälen gefolgt waren, hatten wir unser Vaterland verlassen.
Der Steuermann öffnete die Luke und rief uns an Deck unserer Arche, welche die gefühllose Welt als einfaches Boot verunglimpfte. Unter dem schiefen Lächeln des Sichelmondes fanden wir uns allein auf der Oberfläche dieser Wasserwelt wieder. Einen Augenblick lang schwindelte uns vor Freude, bis uns die Wellen des Ozeans auf andere Weise schwindeln ließen. Über das gesamte Deck und jeder über den anderen stülpten wir unser Innerstes nach außen, und selbst als nichts mehr übrig war, versuchten wir weiter krampfhaft würgend zu kotzen. So verbrachten wir in der Meeresbrise zitternd unsere erste Nacht auf See.
Es dämmerte, und wir sahen in jeder Richtung nichts als den endlos zurückweichenden Horizont. Der Tag war heiß, ohne Schatten und ohne Unterbrechung, mit nur einem Mundvoll zu essen und einem Löffelvoll zu trinken, die Dauer unserer Reise unbekannt, die Vorräte begrenzt. Aber obwohl wir so wenig aßen, hinterließen wir doch unsere menschlichen Spuren, überall auf und unter Deck, und schwammen bis zum Abend in unserem eigenen Dreck. Als wir im Dämmerlicht ein Schiff am Horizont ausmachten, schrien wir uns die Hälse heiser. Aber das Schiff hielt Abstand.
Am dritten Tag sahen wir einen durch die endlose Meereswüste pflügenden Frachter, einen Dromedar, dessen Brücke über dem Heck aufragte, mit Seeleuten an Deck. Wir schrien, winkten, sprangen auf und ab. Aber der Frachter fuhr weiter, nur seine Kielwelle streifte uns. Am vierten und fünften Tag tauchten zwei weitere Frachtschiffe auf, jedes näher als das vorherige, jedes unter anderer Flagge. Die Seeleute zeigten auf uns, aber sosehr wir auch bettelten und flehten und unsere Kinder in die Höhe hielten, die Schiffe änderten weder ihre Geschwindigkeit noch ihren Kurs.
Am fünften Tag starb das erste der Kinder. Bevor wir den Leichnam der See übergaben, sprach der Priester ein Gebet. Am sechsten Tag starb ein Junge. Mancher betete noch inbrünstiger zu Gott, mancher begann, an seiner Existenz zu zweifeln, mancher Ungläubige begann, sich zu besinnen, und mancher Ungläubige glaubte nun noch weniger an Ihn. Der Vater von einem der toten Kinder schrie: Großer Gott, warum tust du uns das an?
Die Antwort kam uns allen schlagartig, die Antwort auf die ewige Menschheitsfrage des: Warum?
Sie war und ist ganz einfach: Warum nicht?
Als wir an Bord gingen, waren wir uns alle fremd, jetzt kannten wir uns inniger als Liebende – da wir uns in den eigenen Exkrementen wälzten, die Gesichter grün, die Haut voller Blasen vom Salz und zu gleicher Farbe verbrannt von der Sonne. Die meisten von uns hatten ihr Vaterland verlassen, weil die herrschenden Kommunisten uns als Marionetten, Pseudopazifisten oder bürgerliche Nationalisten, dekadente Reaktionäre oder Intellektuelle mit dem falschen Bewusstsein abstempelten – oder wir Verwandte von solchen waren. Es gab auch einen Wahrsager, einen Geomantiker, einen Mönch, den Priester und mindestens eine Prostituierte, deren chinesischer Nebenmann sie anspuckte. Warum ist diese Hure bei uns?
Sogar unter den nicht Gewollten gab es nicht Gewollte. Darüber konnten einige von uns nur lachen.
Die Prostituierte schaute uns finster an. Was wollt ihr eigentlich?
Wir, die nicht Gewollten, wollten so viel. Wir wollten Essen, Wasser und Sonnenschirme – obwohl, Regenschirme wären auch okay. Wir wollten saubere Sachen zum Anziehen, eine Badewanne und eine Toilette, und wenn auch nur die zum Hinhocken. An Land war Hinhocken sicherer und weniger peinlich, als sich an der Reling eines schlingernden Boots festzuklammern und sein Hinterteil über das Wasser zu halten. Wir wollten Regen, Wolken und Delfine. Wir wollten es an den heißen Tagen kühler und in den eiskalten Nächten wärmer. Wir wollten die ungefähre Ankunftszeit. Wir wollten bei der Ankunft nicht tot sein. Wir wollten erlöst werden von der unbarmherzigen Sonne, die uns grillte. Wir wollten Fernsehen, Filme, Musik, alles, womit man sich die Zeit vertreiben konnte. Wir wollten Liebe, Frieden und Gerechtigkeit, außer für unsere Feinde, die sollten in der Hölle schmoren, vorzugsweise bis in alle Ewigkeit. Wir wollten Unabhängigkeit und Freiheit, außer für die Kommunisten, die sollten in Umerziehungslager gesteckt werden, vorzugsweise lebenslang. Wir wollten gütige Führer, die das Volk repräsentierten, mit dem wir uns meinten und nicht sie, wer immer sie waren. Wir wollten in einer egalitären Gesellschaft leben, wenn wir uns allerdings darauf verständigen müssten, mehr als unser Nachbar zu besitzen, wäre uns das recht. Wir wollten eine Revolution, die die Revolution überwindet, die wir gerade durchlebt hatten. Kurz gesagt, wir wollten, dass es uns an nichts fehlt.
Was wir auf jeden Fall nicht wollten, war ein Sturm, aber genau den bekamen wir am siebten Tag. Die Gläubigen riefen einmal mehr, Großer Gott, steh uns bei! Die Ungläubigen riefen, Großer Gott, du Schweinehund! Gläubige hin, Ungläubige her, vor dem Sturm gab es kein Entrinnen. Er verdunkelte den Horizont, schwoll an und kam immer näher. Der bis zur Raserei aufgepeitschte Wind türmte die Wellen auf, unsere Arche stieg immer schneller immer höher. Blitze erleuchteten die dunklen Furchen der Gewitterwolken. Donner verschluckte unser kollektives Stöhnen. Eine Regenflut ergoss sich über uns, und die Wellen hoben unser Schiff in immer größere Höhen. Die Gläubigen beteten, und die Ungläubigen fluchten, aber alle weinten. Dann erreichte unsere Arche ihren Gipfelpunkt und verharrte einen ewig währenden Augenblick auf dem schneegekrönten Wellenkamm über einem steilen Abhang aus Wasser. Wir schauten hinunter in das tiefe, weinfarbene Tal und waren uns zweier Dinge sicher. Erstens, dass wir mit absoluter Sicherheit sterben würden. Und zweitens, dass wir fast sicher leben würden.
Ja, dessen waren wir uns sicher. Wir – werden – leben!
Und dann stürzten wir schreiend in den Abgrund.
ERSTER TEIL
Ich