Das Buch
Großstadtgewächs entführt uns in die Welt von Alice Vincent: Mit Mitte zwanzig hat sie erreicht, wovon viele Millennials träumen. Sie wohnt mit ihrem Freund in einer schönen Wohnung in London und arbeitet erfolgreich als Journalistin. Im hektischen Stadtleben, zwischen Optimierungs- und Leistungsdruck im Job und dem Binge Watching von Netflix-Serien fühlt sich Alice aber zunehmend verloren. Dann macht auch noch ihr Freund Schluss. Tief verletzt sucht Alice Trost in der Natur: Das Gärtnern auf ihrem kleinen Balkon – mit Blick auf die Themse – und die Beschäftigung mit Botanik helfen ihr nach und nach, ihren Schmerz zu überwinden, sich selbst wieder zu spüren und vor allem neue Wurzeln zu schlagen. Als Alices Debüt erschien, begeisterte es ein großes Publikum. Ihr Buch entführt uns in eine Welt voller Herzschmerz und erzählt vom Weg aus der Einsamkeit mithilfe der heilenden Kraft der Pflanzen
Die Autorin
Alice Vincent arbeitet als Feature Editor bei Penguin Books. Zuvor war sie als Autorin und Redakteurin beim Telegraph tätig. Nachdem Alice sich 2014 das Gärtnern beigebracht hatte, begann sie, darüber auf ihrem Instagram-Account und in namhaften britischen Zeitungen und Magazinen zu schreiben. Online findet man sie unter: @noughticulture oder @alice_emily
Alice Vincent
Großstadtgewächs
Wie mir mein kleiner Garten aus der Lebenskrise half
Übersetzt aus dem Englischen
von Leena Flegler
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Rootbound bei Canongate Books Ltd. 14 High Street, Edinburgh EH1 1 TE.
Einige Namen und Details wurden in diesem Sachbuch geändert, um die Privatsphäre der beteiligten Personen zu schützen.
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Deutsche Erstausgabe Februar 2021
Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
ein Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2020 by Alice Vincent
Published by arrangement with Furniss Lawton.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Motivs von © FinePic®, München
Illustrationen im Innenteil: © 2020 Jo Dingley
Redaktion: Judith Mark
MP • Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-24956-4
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für all diejenigen, denen ich Erde und Samen zu verdanken habe
Kleine Pflanzenauswahl aus diesem Buch
Islandmohn
Papaver nudicaule
Adlerfarn
Pteridium aquilinum
Duftwicke
Lathyrus odoratus
Schmetterlingsflieder
Buddleja davidii
Köstliches Fensterblatt
Monstera deliciosa
Schmalblättriges Weidenröschen
Chamaenerion angustifolium
Chinesischer Geldbaum
Pilea peperomioides
Yoshino-Kirsche
Prunus x yedoensis »Somei-Yoshino«
Aurikel
Primula x pubescens
Große Kapuzinerkresse
Tropaeolum majus
Geigenfeige
Ficus lyrata
Kronen-Anemone
Anemone coronaria
Roter Dreiecksklee
Oxalis triangularis
Basilikum
Ocimum basilicum
Inhalt
Kleine Pflanzenauswahl aus diesem Buch
Einleitung
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Januar
Februar
März
April
Mai
Epilog
Danksagung
Einleitung
Wenn man nur nah genug an den Zaun heranging, konnte man so tun, als wäre er gar nicht da. Mit den Drahthäkchen zwischen den Fingerknöcheln konnte man durch die Löcher spähen, und dahinter: lauter sich wiegende weiße Blüten. Aberdutzende Gänseblümchen. Ein flüchtiger Fiebertraum inmitten von Mauern und Beton.
Zuletzt war ich hier ein paar Wochen zuvor entlanggekommen, auf dem Heimweg von einem Abendessen in einem Innenhof – unsere Version eines Sonntagabend-Society-Programms: Freunde treffen, Schalentiere knacken und mit Brot auftunken. Jemand hatte ein Selfie gemacht und es online gestellt – als Zeichen unseres guten Lebens, als Beweis für unseren Erfolg. Meiner Generation war eingebläut worden, genau solche Sachen zu wollen: am ersten milden Frühsommerabend des Jahres schlichte Genüsse mit Gleichgesinnten irgendwo in fußläufiger Entfernung – mitten in London! –, damit wir von dort wieder heimschlendern konnten.
Josh und ich waren Hand in Hand hügelaufwärts spaziert, als ich ihn abrupt zurückzog, damit wir uns die Blumen ansehen konnten. Manchmal fühlte es sich komplett irreal an, wie ein ausgeklügelter Streich, wie eine Scharade, bei der wir spielten, dass dies unser Leben sei. Es war zu gut, um wahr zu sein, und gleichzeitig nie genug; immer einen Hauch von dem entfernt, was angeblich die überwältigende Essenz des Lebens war. Vielleicht lag es ja daran, dass es so letzten Endes auch gar nicht sein sollte.
Denn nur wenig später war die Blase geplatzt und die Luft so schnell raus, dass mir davon schier der Kopf schwirrte. Hier stand ich nun wieder, ließ den Blick über diese Seltenheit, dieses unbebaute Stück Land schweifen, auf dem Wildblumen wuchsen, und fragte mich, wie es mit mir weitergehen sollte. Wie konnte es sein, dass ich im einen Moment in etwas drinsteckte, was sich im nächsten Moment einfach in Luft aufgelöst hatte? Wenn jetzt jemand diese Wiese abmähte, kämen die Blumen im Jahr darauf wieder? Vielleicht waren sie uns ja nur für die paar Tage beschert worden, die sie im Abendlicht hin und her wogten, ehe sie verblühen und die schweren Samen sie in die Knie zwingen würden?
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Als ich noch klein war, waren Wildblumen Waffen: Wir betrachteten das, was die Natur uns bot, als etwas Handfestes, als eine Macht, als mannigfaltiges Arsenal, das wir in unserer Kindheit auf dem Land bei unseren andauernden Fantasieschlachten einsetzen konnten.
Wir rollten aus Kletten-Labkraut kleine Kugeln und bewarfen einander – im besten Fall so unauffällig, dass das Opfer überhaupt nichts davon bemerkte und noch stundenlang ahnungslos weiterlief: mit leuchtend grünen Widerhaken am T-Shirt, über dem Rückgrat oder auf der Schulter oder, am allerbesten, auf der Kehrseite, bis jemand es darauf hinwies, was es sich eingehandelt hatte.
Auch Löwenzahn diente mitunter als Strafmaßnahme. Sobald im Mai die zottigen gelben Blütenstände zu den viel schöneren, filigranen Pusteblumen verblühten, wurden sie für uns zu Wahrsagern: Wer immer die Flugschirmchen wegpustete, vermochte mittels seines Atems zu orakeln – hauptsächlich ob zwei Personen, oftmals eine aufgeregte Freundin und entweder der begehrteste oder der unbeliebteste Junge in der Klasse, ineinander verliebt waren oder nicht. Wesentlich unerfreulichere Offenbarungen hielten indes die Stängel bereit: Wen immer wir überreden konnten, an einem abgerissenen Löwenzahn zu lutschen – für gewöhnlich mit dem Versprechen einer besonderen Köstlichkeit –, hatte im Handumdrehen und noch für einige Zeit den derb bitteren Milchsaft auf der Zunge und verzog unter Garantie zur diebischen Freude des Übeltäters angewidert das Gesicht.
Das Gemeinste überhaupt waren die Gräser: Je länger die Tage wurden, umso höher standen sie, wehten auf wilden Wiesen hin und her und bildeten Samenstände mit kleinen Speerspitzen und Streubomben aus. Die Namen kannten wir nicht, aber wir wussten genau, welche die besten waren – die mit jeder Menge Samen, die nicht allzu weit auseinanderstanden. Die Größenwahnsinnigen unter uns griffen gern zu den üppigen, fedrigen Gräsern; Anfänger neigten eher dazu, die glänzenden, dünneren Gräser zu wählen, allerdings waren die zu kompakt und entfalteten sich nicht so leicht. Am besten waren die Gräser dazwischen – und um die ausfindig zu machen, brauchte man ein bisschen Erfahrung. Obwohl meine Schwester die ersten Lebensjahre in der Vorstadt gelebt hatte, lernte sie schnell und profitierte überdies von meiner Leichtgläubigkeit: Sie wählte ihre Waffe, erzählte mir, dass sie sie mir quer über die Zunge legen würde und ich die Zähne zusammenbeißen und die Augen zumachen sollte, wenn ich erfahren wollte, wie es sich anfühlte zu fliegen. Sobald der Halm korrekt positioniert war und die Vorfreude aufs Fliegen hinreichend angestachelt, riss sie ihn mir seitlich aus dem Mund und lachte sich schlapp, sobald die harten, trockenen Samen an meinen Zähnen explodierten. Unter ihrem Gelächter riss ich die Augen auf, spuckte den gar nicht mehr enden wollenden Samenvorrat aus und zupfte mir die Reste von den Lippen. Anschließend hatte ich wieder ein paar ganz neue Kosenamen für meine Schwester.
Ich kenne all diese Streiche, weil ich sie als Kind oft erlitten habe und kaum je das Vergnügen hatte, sie an anderen auszuprobieren. Einmal versuchte ich, Hannah zu überreden, auf Gras zu beißen, aber sie wusste natürlich genau, was ich vorhatte. Als Jüngste in einer Familie, die ursprünglich aus der Stadt stammte, war ich nach unserem Umzug aufs Land für derlei Schülerspäße gefundenes Fressen, gerade weil ich selbst noch zu klein war, um zur Schule zu gehen.
Aber ich lernte schnell dazu und fand mich auf den Äckern und den nur unzureichend ausgeschilderten Wanderwegen rund um unser neues Zuhause immer besser zurecht, indem ich an Hecken entlangstreifte und erkannte, was sich dort im Wechsel der Jahreszeiten an Beute finden ließ. Nicht dass ich formales Wissen angehäuft, botanische Namen der Pflanzen oder deren landwirtschaftliche Bedeutung gekannt hätte – aber ich nahm es zur Kenntnis: das Auf- und Verblühen entlang der Handvoll Wege und Sackgassen. Mal landete Froschlaich in Einmachgläsern im Klassenzimmer, mal ein ungefiederter Vogel auf unserer Terrasse, wo ich ihn unter die Lupe nahm; er war aus dem Nest gefallen und riss die noch blinden Augen weit auf. Kaninchen wieselten über die Felder. Wenn wir mal einen Dachs außerhalb seines Baus zu Gesicht bekamen, dann mit dem halb komisch, halb tragisch von Verwesungsgasen aufgeblähten Bauch nach oben am Straßenrand. In der Lämmerzeit schwankten wir wochenlang zwischen Jubel und Furcht; wir hatten gelernt, dass manche Lämmer zwei Felle trugen, weil bei einer anderen Geburt der Tod eingetreten war.
Wir lernten auch die Gesetze diverser Pflanzen. Aus Eicheln wuchsen Eichen und aus den Kastanien am Boden die Rosskastanie – zumindest aus denjenigen, die wir nicht in Essig einlegten oder für unsere jährliche Kastanienschlacht sammelten und im Ofen aushärteten. Und bei allem Schabernack, den wir trieben, waren wir uns darin einig, dass Brennnesseln fies und für Späße tabu waren – allein das Brennen und der Hautausschlag, wenn man daran vorbeistreifte! Zum Glück wuchs in der Nähe oft Sauerampfer, der weich und kühlend und lindernd wirkt, wenn man ihn über die Quaddeln reibt, die uns an den Kinderbeinen emporkrochen: grüne Medizin, die zwischen den Fingerknöcheln hervorquoll und im Nagelbett kleben blieb, wenn wir die Blätter zwischen unseren verschwitzten Handflächen zerrieben.
Trotz allem spielte sich mein Leben hauptsächlich in Innenräumen ab. Auf dem Dorf mochte man die hinreißendsten und skurrilsten Traditionen beibehalten haben – Spanferkelfeste, Schafblasenballspiele und erbitterte Konkurrenz bei Obst- und Gemüseschauen –, aber ich war nun mal obendrein ein Kind der Neunziger und ließ mich wie alle anderen auch von neuen technischen Errungenschaften und dem Sirenenruf der Zukunft nur allzu leicht verführen. Ich weiß noch genau, wie im Arbeitszimmer unser erster Windows-95-Computer installiert und mir nur wenige Jahre später gezeigt wurde, wie ich ins Internet kam. Die Möglichkeiten der Online-Welt brandeten über meine Generation und die unserer Eltern hinweg wie eine Flutwelle, obwohl damals nur wenige hätten voraussehen können, wie sich das Ganze entwickeln sollte.
Als Teenager löste das Leben auf dem Land in mir klaustrophobische Zustände aus: diese Weite – und keinerlei Möglichkeit, ihr zu entkommen! Ich sehnte mich nach der Stadt, nach London, nach Bürgersteigen, Street Style, dem latenten Gefühl gefährlicher Genüsse jenseits der einzigen hiesigen Sorge: dass dich an einer unbeleuchteten Nebenstraße ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit erwischen könnte. Ich fühlte mich durch die dörfliche Stille, den weiten Himmel und den mitunter trotzdem beschränkten Horizont regelrecht erstickt. Im selben Atemzug fragten Eltern und Lehrer, was eines Tages aus uns werden sollte, und bedrängten uns, unsere Berufung und einen Beruf zu finden und Karriere zu machen. Und das verinnerlichten wir: Wir wollten und mussten uns eine Zukunft entwerfen. Ich wurde Journalistin – jemand, der aus seiner Lieblingsbeschäftigung einen Beruf machte. Ich wollte meine Texte auf gedruckten Seiten sehen. Und so zog ich aus, in diverse übervolle Städte, und dachte nicht mehr an Pflanzen oder Jahreszeiten oder Wachstumszyklen, die ich auf dem Land hinter mir ließ. Bis mir eines Tages dämmerte, wie sehr ich das alles vermisste.
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Als ich begann, mich für Pflanzen zu interessieren, war ich Mitte zwanzig, und die ersten Schritte auf dieser Reise tat ich langsam. Ich wollte sie auch nicht öffentlich zelebrieren, im Gegenteil, anfangs behielt ich all das schön für mich. Sich für das Gärtnern zu begeistern galt als schrullig, als unschick – eine Beschäftigung für Rentner oder Langweiler. Die beständige, nachhaltige Befriedigung, die sich einstellt, sobald man einen neuen Spross oder ein sich entrollendes Blatt entdeckt, sobald man entlang der Kanten eines kleinen Zimmergewächshauses das erste Dutzend Keimlinge entdeckt, kann man nun mal nicht abfotografieren und dem üblichen Futter für unsere Facebook-Seiten hinzufügen: den Schnappschüssen aus einer durchfeierten Nacht in einem Club oder den Impressionen von einem langen Wochenende in Budapest.
Und ich hätte es selbst nicht einmal erklären können. Das Gärtnern hatte in meiner Kindheit und Jugend kaum je eine Rolle gespielt; ich hatte nie das Bedürfnis gehabt, mich näher mit Botanik zu beschäftigen oder auch nur einen botanischen Garten zu besichtigen. Die Verlockungen des Gärtnerns – die eher unmoderne Optik, die Anhäufung von Wissen und die gewisse Pedanterie – ließen mich noch immer kalt. Ich wusste nur, dass mir das Gärtnern Spaß machte – und zwar mehr als alles andere, mehr als Londons glitzernde Lichter, mehr als schicke Partys und aufsehenerregende neue Alben. Mich mit Pflanzen zu beschäftigen bedeutete, mir selbst Dutzende spannender Fragen zu stellen: wie und warum diese oder jene Pflanze ausgerechnet dies oder das tat. Und diese Fragen wollte ich mir beantworten können – wie bei einer stummen, unausgesprochenen Rätselaufgabe, die ich ganz für mich allein in meinem Kopf lösen konnte. Und anders als bei anderen, eher lauten Antriebskräften in meinem bisherigen Leben (immer die besten Noten, Uniabschluss, der perfekte Job, Freunde finden, mit denen man die Art von Spaß haben konnte, der in sozialen Netzwerken gut aussah) hatte ich beim Gärtnern kein Ziel vor Augen. Die Arbeit, die man ins Gärtnern investiert, schlägt sich natürlich im Resultat nieder, aber bislang war mein Verhältnis zum Gärtnern ein eher lockeres, und Kräfte, die nicht in meiner Hand lagen, bestimmten das Ergebnis. Für jemanden, der jahrelang versucht hatte, alles in die richtige Richtung zu steuern, fühlte es sich an wie ein fortlaufender charmanter Zaubertrick.
Genau wie schon Millionen vor mir zog ich nach London, um dort Arbeit zu finden. Ich fand mich ganz gut zurecht, mochte den Lärm und die Anonymität und fand den konstanten Wandel hoch spannend. Andererseits ist die Stadt ein Gebilde, das der Mensch aus der Not heraus errichtet hat, und was dabei herausgekommen ist, wird zusehends schwer bewohnbar. Für ein Nachdenken und Hinterfragen ist hier kaum noch Platz; fernab Aberhunderter winziger Veränderungen in der Luft, in der Erde, an jedem Zweig wurden an mich in der Stadt andere Anforderungen gestellt. Die Stadt verändert unsere Prioritäten, nötigt uns, auf eine Art und Weise miteinander in Konkurrenz zu treten, von der wir nie dachten, dass sie uns wichtig wäre: Wer verdient was, wer fährt wohin in den Urlaub … In Städten leben heutzutage mehr Menschen denn je. Die Generation der Millennials – der ich selbst angehöre – strömte nur so in die Moloche aus Beton und Glas und Stahl, ließ sich auf prekäre Wohnverhältnisse ein und gierte nach Jobs in Branchen, die von der Rezession besonders betroffen waren. Wir wollten gleichzeitig die Erwartungen unserer Eltern abschütteln und neue Lebensstile erfinden. Wir wollten lieber Dinge tun als Dinge besitzen – trotzdem wünschten wir uns die eigene finanzierbare Wohnung. Wir krabbelten die Karriereleiter nach oben, die in eine Zukunft führte, die kaleidoskopisch, veränderlich und unmöglich vorhersagbar war. Wir versuchten, zig Sachen gleichzeitig zu sein, wurden immer besser darin, sie anderen vorzugaukeln, während wir zugleich das Gefühl hatten, bei alledem nicht zu genügen.
Wir entfremdeten uns von allem Lebenden, mit dem wir unseren Lebensraum teilten. Wir wurden pflanzenblind, scherten uns nicht länger um die Kraft und den Zweck von Gewächsen, die wir nicht einmal mehr hätten benennen können. Aber da waren wir nicht die Ersten: Seit Generationen verlassen Menschen die Dörfer ihrer Kindheit, um nach städtischen Reichtümern zu streben. Doch irgendwann ruft uns das Land zurück. Wir ertappen uns dabei, wie wir uns danach sehnen – nach erholsamen grünen Flächen. Wir widersetzen uns Gesetzen und Glaubenssätzen, um Dinge in Böden zu züchten, die nicht unsere sind, um aus dem Hässlichen etwas Schönes zu machen, was die Herzen aller anderen wie auch unser eigenes anrühren soll. Inmitten des Schmutzes und Smogs der Industriellen Revolution fingen viktorianische Behörden an, Räume für Parks zu definieren, damit die Bevölkerung sich zumindest in einer grünen Lunge aufhalten konnte, wenn die eigene schon rußschwarz war. Als dann die rasante Abfolge von Neuerungen in jenem Jahrhundert zur allgemeinen Erschöpfung geführt hatte, versuchten ein paar der innovativsten Vordenker, mittels Gartengestaltung neue Freiräume zu eröffnen.
Was zeichnet unsere Generationen im Vergleich dazu aus? Welche Eigenschaften unserer Indoor-Existenz haben unser Gehirn, unsere Bedürfnisse und Wünsche geprägt? Irgendwann ertappte ich mich dabei, wie ich mir den unerwarteten, spröden Geschmack der Grassamen zurückwünschte. Ich wollte das Überraschende auf meiner Zunge zurück – etwas, was mir ganz gleich wie grob von außen beschert wurde. Ich wollte die Weite zurück – nicht unbedingt im Sinne von Lebensraum, denn die Stadt ist riesig und voll von Wundern wie von Enttäuschungen. Nein: die Weite meines Denkens. Als ich mich ertappte, wie ich auf dem Gehweg minutenlang die Gänseblümchen betrachtete, während andere an mir vorübereilten, dämmerte mir, dass ich hungrig war: hungrig nach einer Form von Verständnis, nach der Art bescheidener Superkraft, die man sich aneignete, indem man Kletten-Labkraut in Spielzeug verwandelte; hungrig nach einer dicken Brombeere oder einem Sauerampferblatt, das Heilung versprach. Wenn ich nur die Funktionsweise dieser Pflanzen kennen und verstehen würde, was sie zum Blühen und Verblühen brachte, könnte ich womöglich eine ganz neue Art zu leben für mich entdecken.