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Buch

Als Annas Großmutter Lou stirbt, reist sie mit ihren beiden Schwestern nach Neufundland, wo Lou seit vielen Jahrzehnten gelebt hat. Während die drei das Haus am Meer ausräumen, wird ihnen bewusst, wie wenig sie über die Vergangenheit und das Leben ihrer Großmutter wissen. Doch dann stoßen die Schwestern auf ein verblichenes Foto, das ihre Großmutter mit einem unbekannten Mann zeigt. Es beginnt eine Reise in das Hamburg der 1930er Jahre, wo Lou als Tochter jüdischer Eltern heranwuchs und wo die Geschichte ihrer ganz großen Liebe begann – einer schicksalhaften Liebe, die Lou in Zeiten der größten Finsternis den Weg wies wie ein leuchtender Stern …

Johanna Laurin

Die Bucht der Lupinen

Roman

Originalausgabe

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Copyright © der Originalausgabe 2021 Johanna Laurin

Copyright © dieser Ausgabe Mai 2021

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: GettyImages/UpdogDesigns; DEEPOL

by plainpicture/Roberto Moiola; FinePic®, München

CN · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter GmbH, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24986-1
V002

www.goldmann-verlag.de

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Prolog

Sea Garden House, Seaborough, Neufundland, Januar 2016

Sie stand am Fenster. Der Winter hatte sich in den letzten Tagen mit seiner ihm eigenen Macht über Land und Meer gelegt. Die Wiese vor ihrer Veranda war mit einer Frostschicht bedeckt, ein leichter Nebel hing über dem mit Eisschollen bedeckten Wasser, und die Äste der schon blätterlosen Bäume bewegten sich sachte im Wind.

Sie mochte den Winter, die Kälte, den Frost, die unbarmherzigen Stürme. Schon immer. Er war ihr lieber als das grelle Licht und die Aufregung des Sommers oder die Nässe und Müdigkeit des Herbstes.

Von ihrem Fenster aus konnte sie das Meer sehen, den Atlantik mit seinem dunkelblauen Wasser, dem man die Kälte förmlich ansehen konnte.

Ihre Finger fuhren über das Holz der Fensterrahmen. Eiskristalle hatten sich auf dem Glas gebildet, die sich langsam ausbreiteten und nur noch an einigen Stellen den Blick auf das ruhige Wasser freigaben, auf die matte, müde Sonne, die sich durch die grauen Wolken zu kämpfen versuchte.

Sie liebte dieses Haus. Sea Garden House. Ihr Zuhause, ihre Zuflucht, ihr Heim.

Sie würde es vermissen. Wie viele Jahre hatte sie hier verbracht, waren es fünfzig, sechzig? Wie viele Jahre, in denen sie so dankbar für dieses Heim gewesen war, für die Geborgenheit und Wärme, die es ihr geschenkt hatte. Einen Platz zu haben, an den man gehörte. War es nicht das, was sich jeder Mensch wünschte?

Und jetzt sagten die Ärzte, dass ihr nur noch wenige Monate blieben.

Sie würde also langsam Abschied nehmen müssen. Von ihrem Haus, von dem glitzernden Meer, den Wäldern, Klippen und Buchten Neufundlands, von ihren Freunden, ihrer Familie – und von ihren Erinnerungen.

An einem Tag wie heute fühlte sie sich dem Damals besonders nahe, fühlte sich verbunden mit dem, was sie in ihrer Jugend gefühlt und erlebt hatte. Die Jahre waren dahingeflogen, und doch hatte sie sich immer erinnert. Jeden Tag und jede Nacht. Sie hatte ihre Gefühle von einst seitdem zigmal erlebt, ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume, ihre Angst, ihre Unsicherheit, ihren unbändigen Überlebenswillen. Ihre Liebe.

Sie dachte an ihr Leben zurück wie an eine Reise. Eine lange und stetige Reise. Sie dachte an jene Momente, die sich für immer in ihr Gedächtnis eingeprägt hatten.

Aber das, an das sie sich am besten erinnerte, war er.

Er.

Seine grünen Augen, die sie herausfordernd und doch so liebevoll ansahen. Seine starken und kräftigen Arme, in denen sie sich so geborgen und sicher fühlte. Nichts und niemand konnte ihr dann etwas anhaben.

Und jetzt, als sie da am Fenster stand und sich erinnerte, war sie ihm ganz nah. Sie erinnerte sich daran, wie er seine Hände um sie gelegt und sie in seine schönen Augen gesehen hatte. Sie spürte ihn in diesen Momenten so nah, atmete seinen vertrauten Duft ein.

Ja, in ihren Gedanken war er hier, bei ihr.

Und nichts wünschte sie sich sehnlicher, als endlich wieder mit ihm vereint zu sein.

Kapitel I

Hamburg, Mai 2016

Anna legte den Kochlöffel zur Seite und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon kurz nach acht. Wo blieb er nur?

Sie stellte den Herd aus, ging ins Wohnzimmer und nahm ihr Handy von der Anrichte. Er hatte eine SMS geschrieben. Typisch. Keine Zeit für Anrufe.

»Bin noch im Büro, muss eine Präsentation fertig machen. Es wird ein bisschen später.«

Anna ließ sich aufs Sofa fallen. Sie wusste schon, was ein bisschen später bedeutete. Bestimmt nicht, dass Philipp in zehn Minuten zu Hause sein würde. In letzter Zeit machte er oft Überstunden, daran hatte sie sich schon gewöhnt. Aber gerade heute wäre es schön gewesen, wenn er zur Abwechslung mal pünktlich nach Hause gekommen wäre.

Der Geruch von saftigem Fleisch und Salbei wehte aus der Küche. Sie war nach der Arbeit noch bei Antonio’s gewesen, dem besten Laden für italienische Feinkost in der ganzen Stadt. Und nun stand sie seit zwei Stunden am Herd, hatte Kalbsschnitzel für das Saltimbocca geklopft, feine Tagliatelle in der Nudelmaschine hergestellt und unzählige Tomaten für ihre herrliche Soße püriert. Schließlich waren sogar die Schokoladenküchlein für den Nachtisch in den Ofen gewandert, und gerade wollte sie sich an die Zabaione machen.

»Hab gekocht«, tippte sie in ihr Handy, in der Hoffnung, dass ihn das dazu bringen würde, sich zu beeilen. Ein vergeblicher Versuch.

»Tut mir leid, Süße, bin im Stress. Nicht böse sein. Stell das Essen doch in den Kühlschrank.« Es folgte ein Smiley.

»Okay«, schrieb sie. Was sollte sie darauf sonst antworten, wenn sie nicht wie eine meckernde Hausfrau klingen wollte?

Seufzend lehnte sie sich in die Kissen zurück und sah aus dem Fenster. Es war ein schöner Abend. Die schon tief stehende Maisonne hatte noch immer eine enorme Kraft und tauchte das Zimmer in ein magisches dunkelrotes Licht. Auf dem Geländer des kleinen Balkons, wo sie am Nachmittag noch mit ihrem Laptop gesessen und gearbeitet hatte, saßen zwei Spatzen und tschilpten aufgeregt, als würden sie sich über die Geschehnisse des Tages austauschen.

Anna strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Beim Kochen wurde ihr immer warm, und sie vergaß dabei alles andere. Das war ihre Art der Entspannung. Und es half ihr, nicht den ganzen Tag zu grübeln.

Sie hatte so sehr gehofft, dass Philipp und sie heute endlich hätten reden können. Erst ein gemütliches Essen zu zweit. Und dann, danach, bei einem Glas Wein auf dem Balkon, hätte sie sagen können, was sie schon so lange bedrückte. Sie hatte sich ausgemalt, wie er ihr aufmerksam zuhörte, wie er ihr erklärte, dass auch er das Gefühl hatte, dass sie mehr Zeit zusammen verbringen und sich wieder einander annähern müssten.

Es war so viel schiefgelaufen zwischen ihnen, so viel war ungesagt geblieben. So konnte es nicht weitergehen. Und auch wenn sie sonst eher der Typ war, der sich in sich selbst zurückzog, hatte sie nun das Gefühl, sich alles von der Seele reden zu müssen. Nur so würde ihre Liebe noch eine Chance haben. Und vielleicht würde dann alles wieder wie früher werden, vielleicht würde da wieder dieses Feuer aufflammen, das sie früher verbunden hatte. Diese Leidenschaft, diese Lebensfreude, die Freude daran, immer wieder Neues auszuprobieren.

Philipp war anders als sie. Ganz anders. Er dachte nicht so viel nach, machte sich nicht so viele Sorgen oder grübelte über den Sinn des Lebens nach. Er war eher jemand, der die Dinge anpackte, der mitten im Leben stand, wie man so schön sagte. Und er war aufgeschlossen, hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. Man konnte ihn meist lesen wie ein aufgeschlagenes Buch. Vielleicht war es das, was sie so an ihm mochte, was sie faszinierte. Denn sie wusste, wie es war, mit Geheimnissen und Schweigen aufzuwachsen, wie es war, in der eigenen Familie mit zu vielen unbeantworteten Fragen zu leben. Doch dann, irgendwann, hatte auch Philipp sein Geheimnis gehabt, und als sie dahintergekommen war, war der Zauber verflogen.

Anna dachte in der letzten Zeit oft an früher, an die Zeit, als sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Sie wünschte, sie könnte dieses kribbelnde, wundervolle Gefühl wieder heraufbeschwören, das Gefühl des Neuanfangs, des Aufbruchs. Sie erinnerte sich daran, wie sie jedem Treffen mit ihm entgegengefiebert hatte und welches Herzklopfen sie verspürt hatte. Sie dachte daran, wie ihre Freundinnen und ihre Schwestern sie aufgezogen hatten, weil sie zu nichts mehr zu gebrauchen war und ständig nur von ihm sprach. Er war der Mittelpunkt ihres Universums. Und nun stand sie da und versuchte, die Scherben wieder zusammenzusetzen, ihre Liebe zu kitten. Doch sie allein würde die Probleme, die sie hatten, nicht lösen können, das wusste sie. Dafür brauchte sie ihn. Die Frage war nur, ob er auch so dachte wie sie. Und ob er bereit war, etwas für ihre Liebe zu tun.

Sie stand auf und ging in die Küche, um Saltimbocca, Tagliatelle und Tomatensoße in den Kühlschrank zu verfrachten. Dann schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, setzte sich an den Küchentisch und klappte ihr Buch auf. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

Sie war so vertieft, dass sie es kaum bemerkte, als Philipp in der Tür stand.

»Hey!« Er ließ seine Laptop-Tasche fallen, ging auf sie zu und umarmte sie von hinten, so ungestüm, wie er es immer getan hatte. Er roch nach frischer Luft, nach Pfefferminzbonbons und seinem herben Männerparfum, und sie spürte für einen kurzen Moment wieder die Freude und Aufregung in sich aufsteigen, die sie schon vergessen geglaubt hatte.

Philipp schälte sich aus seiner Jacke, griff nach ihrem Weinglas und nahm einen großen Schluck. »Ich bin vollkommen ausgelaugt. Der Tag war so unglaublich anstrengend, das kannst du dir nicht vorstellen. Die Präsentation für unseren wichtigsten Kunden muss Ende der Woche fertig sein, und ich bin mal wieder der Einzige, der weiß, wovon er spricht.« Er verdrehte die Augen und ließ sich neben ihr nieder.

Anna schmunzelte. »Na sicher. Ohne dich würde die Firma pleitegehen, ganz bestimmt.«

»Hey, mach dich nicht lustig!« Er knuffte sie, und für einen kurzen Moment war alles zwischen ihnen so unbeschwert wie einst.

Sie sah ihn an. Seine Wangen waren gerötet, als wäre er ein bisschen aufgeregt, und in seinen Augen blitzte es schelmisch. Früher hätte sie gedacht, dass er etwas im Schilde führte. Aber es war so lange her, dass er sie überrascht hatte. Sie rechnete kaum noch damit.

»Anna? Träumst du?« Philipp sah sie auffordernd an.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Dass wir etwas zu feiern haben.«

»Was denn? Bist du befördert worden?«

Er rollte mit den Augen. »Es geht doch nicht immer nur um die Arbeit, mein Schatz.«

Sie verkniff sich eine spitze Bemerkung. Leider ging es viel zu oft um ihn und seine Arbeit. Aber sie wollte nicht schon wieder streiten. Das taten sie ohnehin viel zu oft.

Philipp stand auf und holte eine Flasche Champagner aus seiner Tasche.

»Champagner? Dann muss es ja etwas Besonderes sein.«

»Aber sicher! Ist immerhin unser Jahrestag. Fünf Jahre mit der besten Frau der Welt! Ich liebe dich.«

»Fünf Jahre? So lange hab ich’s schon mit dir ausgehalten?« Irgendwie war ihr gerade nicht nach großen Liebesbekundungen.

»Kannst du dich noch an unser erstes Date erinnern? Ich war wahnsinnig aufgeregt. Du warst immer so unnahbar, wenn ich dich auf dem Campus oder auf Uni-Partys gesehen hab. Ich dachte, es wird ziemlich schwer, dich zu erobern.«

»Aha, ich war also eine Eroberung?«

»Ach komm, du weißt, wie ich das meine! Jedenfalls hab ich mich irgendwann getraut, dich anzusprechen, und du hast mich angeschaut, als wäre ich ein Marsmensch.«

»Ja, so was Ähnliches hab ich wirklich gedacht.« Philipp musste nicht wissen, dass ihr Herz so wild geklopft hatte, dass es fast aus ihrer Brust gesprungen wäre. Dass sie nie damit gerechnet hätte, dass er sie ansprechen würde. Dass sie ihn so toll fand, dass sie kein Wort herausgebracht hatte.

»Viel passiert seitdem«, sagte sie nachdenklich.

Er vermied es, sie anzusehen. »Ja, das stimmt. Anna …«

Sie hob abwehrend die Hände. »Du musst nichts sagen. Wirklich. Es ist lange her. Ich bin drüber hinweg.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Okay.«

Und da war er, dieser Augenaufschlag, den sie so gut kannte. Manchmal erinnerte Philipp sie dann an ihren fünfjährigen Cousin Finn, wenn er von seiner Mutter gescholten wurde, weil er Süßigkeiten aus der Dose im Schrank stibitzt hatte. Ein Dackelblick, würde ihre Schwester Greta sagen. Und eine entsprechende Handlungsempfehlung würde sie gleich mitliefern: Bei Kindern ist der Blick niedlich, wenn er allerdings bei erwachsenen Männern auftritt, sollte man lieber die Beine in die Hand nehmen und sehen, dass man Land gewinnt.

Anna seufzte. Vielleicht war jetzt doch ein guter Zeitpunkt, um über ihre Gefühle zu sprechen. Darüber, wie verunsichert sie sich fühlte und dass sie der Meinung war, dass sie sich wieder mehr miteinander beschäftigen sollten. Wie lange hatten sie sich nicht mehr richtig unterhalten? Es ging ständig nur um Alltägliches, um Philipps Arbeit, den Haushalt, Einkäufe, Familienfeiern. Vielleicht musste sie einfach den ersten Schritt machen und ihm endlich sagen, was sie dachte.

Doch Philipp hatte schon den Champagner geköpft und sah nicht danach aus, als hätte er Lust auf ein ernsthaftes Gespräch. Er schenkte ihnen ein und hob sein Glas. »Auf uns! Und auf die beste und schönste Frau der Welt!« Er gab ihr einen langen und liebevollen Kuss. Sie schloss die Augen, und für einen kurzen Augenblick waren alle Sorgen vergessen. Da gab es nur sie und ihn, und es prickelte in ihrem Bauch, obwohl sie den Champagner noch gar nicht angerührt hatte. Philipp hatte einfach diese Wirkung auf sie, so war es schon immer gewesen.

»Vielleicht sollten wir erst mal etwas essen. Sonst steigt uns der Schampus noch zu Kopf«, flüsterte sie, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten.

»Ja, ja, gleich.« Philipp schien auf einmal ziemlich nervös. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Und dann fiel er plötzlich vor ihr auf die Knie. Es passierte so schnell, dass Anna gar nicht wusste, wie ihr geschah. Doch als sie begriff, was er vorhatte, schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund. Zum Glück sah er es nicht, weil er viel zu beschäftigt damit war, ein kleines schwarzes Schmucketui aus seiner Jacketttasche zu nesteln.

Er öffnete es, und sie sah, dass seine Finger dabei leicht zitterten. Es war ein hübscher Silberring mit einem für Annas Geschmack etwas zu auffälligen glitzernden Stein in der Mitte.

Sie hatte nie verstanden, warum Menschen Panikattacken bekamen, aber in diesem Moment kam es ihr vor, als würde sich bei ihr gerade eine solche anbahnen. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, und ihr Herz raste.

»Anna, du bist meine große Liebe. Ich möchte mit dir mein Leben verbringen. Willst du meine Frau werden?«

»Ich …« Was sollte sie nur sagen?

Sie bemerkte, wie sich die fröhliche Erwartung in Philipps Gesicht von einem Moment auf den anderen in pure Enttäuschung verwandelte.

»Könntest du bitte etwas sagen? Meine Knie tun langsam weh.«

»Philipp … Das ist wirklich alles sehr romantisch … Aber zurzeit ist so viel los, du hast im Büro viel zu tun, meine Selbstständigkeit ist schwierig …«

»Du willst mich also nicht heiraten, weil gerade viel los ist?« Er stand umständlich auf, rieb sich das Knie und steckte das Etui wieder in die Tasche.

»Ich meinte doch nur …«

»Was meintest du? Also, für mich klingt das nach Ausflüchten. Wenn du mich nicht heiraten willst, dann sag es einfach.«

Doch Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Wollte sie ihn heiraten? Wollte sie mit ihm ihr Leben verbringen? Wenn Philipp sie vor drei Jahren gefragt hätte, hätte sie begeistert »Ja« geschrien. Aber heute? Hatte sie überhaupt darüber nachgedacht? Nein. Sie wäre nicht im Traum darauf gekommen, dass Philipp ihr einen Antrag machen würde. In der letzten Zeit hatten sie sich nur noch weiter voneinander entfernt. Oder hatte er vielleicht auch gemerkt, dass etwas nicht stimmte? War das seine Art, ihr zu sagen, dass er sie immer noch liebte und bereit war, an ihrer Beziehung zu arbeiten? Oder hatte er einfach nur Angst, dass sie ihn eines Tages verlassen würde? Philipp fürchtete sich vor dem Alleinsein, das wusste sie.

Aber alles Grübeln half nichts. Sie konnte schließlich nicht in seinen Kopf schauen. Sie selbst musste eine Entscheidung treffen. Das konnte ihr niemand abnehmen.

»Ich brauche Zeit.« Das war alles, was ihr einfiel, auch wenn es klang wie ein Klischee.

Philipp sagte nichts, sondern stieß nur hörbar die Luft aus. »Ich weiß schon, was los ist.«

»Ach ja?«

»Natürlich! Es ist wegen der Sache damals.«

»Der Sache? Wie schön, dass es für dich nur eine Sache war! Für mich war es etwas mehr als das.«

»Vor ein paar Minuten hast du noch gesagt, du seist drüber hinweg.«

»Bin ich ja auch. Irgendwie.«

»Irgendwie?« Philipp schüttelte den Kopf. »Was soll ich denn noch tun, um dir zu beweisen, dass ich dich liebe?«

Seine Stimme klang so verzweifelt und verletzt, dass sie für einen Moment das Bedürfnis verspürte, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten.

»Lass uns etwas essen und in Ruhe darüber reden, ja?«, schlug sie vor.

»Mir ist der Appetit vergangen!« Wütend nahm Philipp seine Jacke.

Dann fiel die Tür lautstark hinter ihm ins Schloss, und sie blieb allein zurück.

Anna setzte sich im Dunkeln aufs Sofa und kuschelte sich unter die warme Kaschmirdecke. Philipp war schon seit Stunden fort, und sie erwartete nicht, dass er bald zurückkommen würde. Er war verärgert und enttäuscht, und sie konnte es ihm nicht verübeln. Und doch wusste sie nicht, wie sie anders hätte reagieren sollen. Sie konnte seinen Antrag doch nicht einfach so annehmen. Nicht jetzt, nicht so.

Sie seufzte. Sie war müde und erschöpft, aber schlafen konnte sie sicher nicht. Kurz dachte sie darüber nach, jemanden anzurufen, eine Freundin oder eine ihrer Schwestern, verwarf den Gedanken aber wieder. Sie hatte keine Lust zu reden, und außerdem konnte ihr gerade sowieso niemand etwas raten.

Sie blieb noch eine ganze Weile sitzen, starrte auf den nächtlichen Balkon, wo die Umrisse ihres frisch angelegten Kräuterbeets im Mondschein zu erkennen waren. Der Oregano wucherte inzwischen über das Geländer. Den muss ich mal wieder abernten, dachte sie und fragte sich im gleichen Augenblick, warum das jetzt irgendwie wichtig war. Sie wünschte, sie könnte einen klaren Gedanken fassen, würde wissen, was zu tun war. Könnte auf ihren Bauch hören. Oder ihren Verstand. Ganz egal.

Als sie aufstehen wollte, um ins Bett zu gehen, leuchtete ihr Handy auf, das neben dem Stapel Post auf dem Couchtisch lag.

Eine SMS. Von ihrer Mutter.

»Bitte ruf sofort an, wenn du wach bist. Es ist dringend.«

Annas Herzschlag setzte für einen Moment aus. War etwas mit ihrem Vater, mit ihren Schwestern? Ein Unfall? Wenn ihre Mutter mitten in der Nacht eine solche Nachricht schickte, ging es kaum um eine Lappalie.

Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer ihrer Eltern.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ihre Mutter sich meldete. Ihre Stimme klang belegt, aber gefasst.

»Hallo, Anna. Es geht um deine Großmutter Lou. Sie ist gestern gestorben.«

Greta war nicht ganz pünktlich, aber das kannte Anna von ihrer kleinen Schwester. Sie hatte immer noch irgendetwas Dringendes zu erledigen, was ihr meist einfiel, wenn sie gerade aus dem Haus gehen wollte. Noch schnell die Miete überweisen. Noch schnell eine E-Mail an eine entfernte Bekannte schreiben. Noch schnell das Altpapier sortieren, das sich seit Wochen in der Küche stapelte.

Als das Taxi schließlich um die Ecke bog und direkt vor Anna und ihrem Koffer am Straßenrand hielt, stieg Greta aus und fiel ihr stürmisch in die Arme.

»Hallo, meine Kleine«, flüsterte Anna lächelnd. Gretas Haar roch nach Kokos und Orange, und Anna hörte ein paar unterdrückte Schluchzer an ihrem Hals.

»Nicht weinen«, sagte sie und strich Greta über den Kopf, so wie sie es schon früher immer getan hatte, wenn ihre kleine Schwester sich beim Spielen das Knie aufgeschlagen hatte.

Greta löste sich aus der Umarmung und sah Anna an. »Wir hätten sie öfter besuchen sollen.«

Anna nickte traurig. »Ja, das hätten wir tun sollen.« Greta war ein emotionales, aber manchmal auch etwas chaotisches Wesen, und sie trug ihr Herz auf der Zunge. Das machte sie so unglaublich liebenswert.

Anna bückte sich, um ihr Gepäck hochzuheben und es ins Taxi zu hieven. Als sie dort Gretas Koffer sah, der mit zahllosen bunten Stickern übersät war, musste sie lachen. »Was ist das denn?«

»Was denkst du, was es ist?« Greta zog eine ihrer vollen Augenbrauen in die Höhe, unmissverständlich empört über die Frage ihrer Schwester.

»Es könnte mal ein Koffer gewesen sein.«

»Es ist immer noch einer! Ich habe ihn nur ein bisschen aufgehübscht.« Greta warf mit einer schnippischen Geste ihr langes blondes Haar zurück.

»Aufgehübscht? Das Ding sieht aus wie ein Bild von Andy Warhol. Nur in hässlich.«

»Zum Glück bist nicht du die Kunstexpertin von uns beiden!«

Der Taxifahrer, der die Szene belustigt beobachtet hatte, schloss die Heckklappe mit einem lauten Knall, und Greta und Anna kletterten auf den Rücksitz. Kurz darauf setzte sich der Wagen in Bewegung.

»Wetten, dass unser geliebtes Schwesterherz zu spät kommt? Ich hab eh nicht verstanden, warum wir sie am Flughafen treffen sollen. Warum ist sie nicht mitgefahren, immerhin wohnt sie nur ein paar Straßen weiter?«, sagte Greta.

Anna zuckte mit den Schultern. »Sie hatte noch was Wichtiges zu erledigen. Wahrscheinlich irgendwas mit ihrem Job. Sie ist doch ständig im Stress.«

Sie schwiegen und sahen aus dem Fenster, sahen zu, wie die Häuserfassaden der Großstadt immer schneller an ihnen vorüberzogen.

»Anna?« Greta wandte ihr den Kopf zu. »Ich hab Lou sehr gerngehabt. Sie war einfach die tollste Großmutter der Welt, findest du nicht?«

Anna griff nach der Hand ihrer Schwester. »Ja, das war sie wirklich. Aber ich glaube, sie wusste, dass sie sterben würde. Schon in ihren letzten Briefen hatte sie oft so geklungen, als würde sie Abschied nehmen wollen. Und sie hatte zuletzt ein schönes, erfülltes Leben.«

Greta seufzte. »Ja. Eigentlich sollte man sich so was auch für sich selbst wünschen, meinst du nicht?«

Anna lächelte und drückte Gretas Hand so fest, dass es fast wehtat. Manchmal liebte sie ihre kleine Schwester sehr. »Ja, das stimmt, Gretalein, das stimmt.«

Das Taxi hielt vor dem Abflugterminal, und die Schwestern trugen, schoben und zerrten mit vereinten Kräften ihr Gepäck zum Check-in-Schalter.

»Da ist Judith!« Greta rief so laut, dass es sicher auch im letzten Winkel des Flughafens zu hören war, und winkte aufgeregt.

Judith war die älteste der Schwestern und mit ihren zweiunddreißig Jahren auch mit Abstand die erwachsenste. Das war sie aber auch schon als Sechsjährige gewesen.

Sie trug einen luxuriösen hellen Trenchcoat und schicke Stiefel, ihre Sonnenbrille mit den großen Gläsern hatte sie in ihr akkurat frisiertes Haar geschoben.

»Da seid ihr ja!«

Sie beugte sich zu ihren beiden Schwestern hinab und umarmte sie halbherzig. Obwohl sie es sich nicht anmerken ließ, war ihr anzusehen, wie sehr sie der Tod ihrer Großmutter mitnahm. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war ungewöhnlich blass. Aber Judith war nicht der Typ für emotionale Ausbrüche, ganz anders als Greta. Sie mochte es, die Kontrolle zu haben, und das in jeder Lebenslage.

»Ich hasse Flughäfen! Alles ist so voll und laut und absolut nervtötend! Lasst uns schnell einchecken.«

»Ich mag sie auch nicht!«, pflichtete Greta ihr sofort bei.

Anna schmunzelte. Seit wann waren die beiden denn einer Meinung?

Der Flug startete pünktlich. Anna hatte sich den Fensterplatz gesichert und war froh, als die Maschine in der Luft war. Vielleicht würde sie in den nächsten Stunden ein wenig abschalten können, um das, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert war, zu verarbeiten. Erst der Antrag von Philipp, dann die Nachricht vom Tod ihrer Großmutter Lou, die sie so gerngehabt hatte – und dann die Bitte ihrer Mutter an ihre Töchter, so schnell wie möglich nach Kanada aufzubrechen, um die Trauerfeier vorzubereiten.

Anna hatte zwei Bücher mitgenommen und hoffte, beim Lesen Ruhe zu finden. Vorausgesetzt sie würde mit ihren beiden Schwestern im Schlepptau überhaupt dazu kommen. Vor allem Greta gehörte zu den Menschen, die während eines Flugs kaum still sitzen konnten. Schon kurz nachdem sie die Sitzgurte öffnen durften, war sie aufgesprungen und wartete nun ungeduldig in der Schlange zu den Toiletten. Kein Wunder, wenn man am Flughafen noch einen großen Latte macchiato und eine Cola in sich reinschüttet, dachte Anna bei sich.

Judith saß auf dem Platz am Gang und tippte hoch konzentriert etwas in ihren Laptop. Judith war Anwältin. Eine sehr gute und sehr beschäftigte Anwältin. Wenn Anna es genau betrachtete, war ihre große Schwester eigentlich schon immer so etwas wie eine Anwältin gewesen. Oder eher eine Richterin. Auf jeden Fall hatte sie einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Als kleines Mädchen hatte sie Streitigkeiten zwischen ihren beiden Schwestern geschlichtet, hatte entschieden, wer wie lange mit der neuen Barbie-Puppe spielen und vorne an der Tür stehen durfte, wenn Papa nach Hause kam. Jetzt war Judith seit ein paar Jahren in einer großen Kanzlei beschäftigt, hatte ständig irgendwelche Meetings in allen Teilen der Erde und verdiente eine Menge Geld. Anna sah ihre große Schwester selten, sie hatte nie Zeit, und wenn sie sich doch mal auf einen Kaffee trafen, piepte alle fünf Minuten ihr Handy. Umso erstaunlicher, dass sie sich nun ganze zwei Wochen freigenommen hatte, um mit ihren Schwestern zur Beerdigung ihrer Großmutter zu fliegen. Aber auch Judith hatte Lou sehr gern gehabt. Wie sie alle.

»Puh. Das war ’ne Schlange … Ich musste soo dringend, es wäre fast in die Hosen gegangen«, verkündete Greta lautstark und ließ sich zwischen Anna und Judith auf den Mittelplatz fallen.

»Schön, das dürften jetzt auch die Passagiere ganz hinten mitbekommen haben. Finden die bestimmt interessant«, merkte Judith an und wandte sich kopfschüttelnd wieder ihrem Laptop zu.

Greta grinste nur. »So, Anna, was machen wir denn den ganzen Flug über? Nach Toronto sind’s immerhin noch ’n paar Stündchen. Judith wird sicher die ganze Zeit arbeiten, wie ich sie kenne. Und wir? Sollen wir was spielen?«

»Eigentlich wollte ich lesen.«

Greta knuffte ihre Schwester in die Seite. »Na, dann lies du mal, du Intelligenzbestie. Das Schwarze sind die Buchstaben!«

»Haha.«

Anna holte eines ihrer Bücher aus ihrer Handtasche, während ihre Schwester sich umständlich Kopfhörer auf die Ohren stülpte und an den in der Armlehne eingebauten Reglern herumdrückte.

Sie versuchte, sich in ihr Buch zu vertiefen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Philipp war noch immer beleidigt. Als sie ihm am Morgen nach dem Antrag erzählt hatte, dass ihre Großmutter gestorben sei, hatte er nur ein kurzes »Tut mir leid« gemurmelt und war zur Tür raus.

Auch am Abend war er nicht viel gesprächiger gewesen.

»Ich fliege am Samstag. Mit Greta und Judith. Wir sollen uns um die Trauerfeier und den Verkauf des Hauses kümmern. Aber ich bin spätestens in zwei, drei Wochen wieder da. Dann reden wir, okay?«, hatte sie ihm erklärt, aber er hatte nur weiter auf seinen Laptop gestarrt.

»Das ist nicht fair«, hatte sie gesagt. Sie hasste es, wenn er kein Wort mehr mit ihr wechselte. So benahm er sich immer, wenn nicht alles genau so lief, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Nicht fair?« Er hatte sie über den Rand des Bildschirms hinweg wütend angesehen. »Du nimmst meinen Antrag nicht an, kommst mit irgendwelchen Ausreden und haust dann auf unbestimmte Zeit ab – und ich bin nicht fair?«

»Ich kann leider nichts dafür, dass meine Großmutter gestorben ist. Hätte ich ihr sagen sollen, dass sie damit noch ein bisschen warten soll, damit es in deinen Zeitplan passt?«

»Ha!« Sein verächtliches Schnauben klang noch jetzt in ihren Ohren.

Aber das hatte sie nicht auf sich sitzen lassen können. »Du tust so, als würde das alles nur an mir liegen.«

»An wem denn sonst? Ich weiß, dass ich dich heiraten will, sonst hätte ich ja wohl kaum gefragt.«

»Und warum?«

»Was ist denn das für eine Frage? Fragst du mich wirklich, warum ich dich heiraten will?«

Sie hatte genickt. Jetzt konnte sie auch gleich die Karten auf den Tisch legen. »Ja, das frage ich.«

»Blöde Frage. Weil ich dich liebe.« Seine Stimme hatte genervt geklungen.

»Wow, das ist ja mal eine Liebeserklärung, die von Herzen kommt. Und warum gerade jetzt?«

»Wir sind seit fünf Jahren ein Paar, wohnen zusammen, es läuft gut zwischen uns. Muss ich mich wirklich rechtfertigen?«

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Es läuft gut zwischen uns? Findest du?«

»Ja, das finde ich. Ich hab einen klasse Job, verdiene viel Geld. Ich kann dir was bieten! Und wir haben eine schöne Wohnung. Ist doch alles super! Was willst du denn noch?«

»Es ist mir total egal, wie viel du verdienst, Philipp. Wirklich. Und wäre das damals nicht passiert …«

»Es ist zwei Jahre her! Und ich habe mich so oft entschuldigt, dass ich es nicht mehr zählen kann.«

»Ich weiß.« Sie war so erschöpft gewesen. Sie wollte ihm so gern endlich verzeihen, aber sie schaffte es einfach nicht. Immer wieder kamen die Erinnerungen an damals hoch und mit ihnen ein tiefes Gefühl der Verletzung.

Philipp hatte nichts mehr gesagt. Zwei Tage später war sie abgereist. Und sie war froh gewesen, ihn erst einmal nicht mehr sehen zu müssen. Auch wenn es ein trauriger Anlass war, diese Reise würde sie zumindest auf andere Gedanken bringen.

Sie sah zu ihren Schwestern. Hatten die beiden ähnliche Probleme wie sie? Wohl kaum. Judiths Leben verlief geordnet und geradlinig, sie hatte immer einen Plan. Und sie war schon seit Jahren mit Carsten zusammen, einem smarten Unternehmensberater. Die beiden führten ein »Yuppie-Leben«, wie Greta es bezeichnete, waren ständig auf Partys und Empfängen, gingen Golf spielen oder machten teure Club-Urlaube. Und Greta … Greta steckte in ihrem Kunstgeschichtsstudium und tanzte auf vielen Hochzeiten. Sie hatte Spaß am Leben und wollte sich noch nicht festlegen.

Ihre Schwestern waren wirklich ganz anders als sie. Und selbst wenn Anna die beiden manchmal auf den Mond schießen könnte, so liebte sie sie doch heiß und innig. Als Greta geboren wurde, waren Judith und Anna so aufgeregt gewesen, dass sie den ganzen Tag im Haus herumgelaufen waren, um Gretas Kinderzimmer vorzubereiten. Am Ende hatten in dem neuen Bett so viele Kissen, Decken und Kuscheltiere gelegen, dass kaum noch Platz für das Baby gewesen war. Anna erinnerte sich gern daran zurück und musste schmunzeln, als sie nun zu ihrer jüngeren Schwester blickte. Greta war tief und fest eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite gerutscht, sodass er fast auf Annas Schulter lag, und ihr Mund war leicht geöffnet. Aus dem Kopfhörer, der von ihrem Ohr gerutscht war, erklang leise Popmusik.

»Hey.« Judith beugte sich über die schnarchende Greta hinweg zu Anna. »Ich hab vorhin noch einmal kurz mit Mama telefoniert. Die Probleme in der Firma scheinen größer zu sein als gedacht. Irgendein Zulieferer hat Mist gebaut. Sie wollten ja eigentlich in einigen Tagen nachkommen, aber jetzt scheint es wohl doch länger zu dauern.«

Anna nickte. Sie hatte sich so etwas schon gedacht. Ihren Eltern gehörte eine Reederei, die zwar sehr erfolgreich war, aber auch viel Arbeit und Zeit kostete. Ihr Vater war ganz der Geschäftsmann, ihre Mutter »das Herz der Firma«, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Ja, Helene Berenberg war etwas Besonderes, nicht anders ihre Mutter Lou. Alle drei Berenberg-Schwestern hatten etwas von Helene. Judith hatte ihre Schönheit bekommen, Greta ihr aufbrausendes Temperament und sie, Anna, ihr großes Herz.

Erneut öffnete Anna ihr Buch, und dabei fiel eine Postkarte heraus, die sie als Lesezeichen benutzt hatte. Sie war von ihrer Großmutter Lou, sie hatte sie ihr vor einigen Monaten geschickt. Auf der Vorderseite war die raue, schneebedeckte Küste von Neufundland und das mit Eisschollen durchzogene Meer zu sehen, auf der Rückseite hatte Lou ein paar Zeilen verfasst, hatte geschrieben, dass der Winter die Gegend fest im Griff habe und dass sie ihren Enkeltöchtern eine schöne Weihnachtszeit wünschen würde. Geendet hatte sie so, wie sie ihre Briefe und Postkarten immer beendet hatte: »Liebe Grüße aus der Bucht der Lupinen.«

Anna seufzte. Eigentlich wussten sie wenig über ihre Großmutter. Sie hatten manchmal ein paar Wochen in Neufundland verbracht, und sie liebten ihre Granny, diese freundliche, fröhliche Frau, die immer einen guten Rat für ihre Enkeltöchter hatte. Doch über ihr Leben wussten sie so gut wie nichts. Sie kannten ihren Großvater nicht und konnten nur vermuten, warum ihre Großmutter damals nach Neufundland geflohen war. Und wenn sie das Thema bei ihrer Mutter angesprochen hatten, waren sie auf Schweigen und Unverständnis gestoßen. Eine Familie voller mysteriöser Geheimnisse, so hatte Philipp die Berenbergs manchmal scherzhaft bezeichnet, und Anna bezweifelte, dass er auch nur ansatzweise verstand, was es bedeutete, so wenig über die eigene Herkunft zu wissen.

»Judith?« Anna sah zu ihrer Schwester hinüber.

»Ja?«

»Glaubst du, dass Lou manchmal einsam war? Sie war zwar beliebt im Ort, aber sie hatte ja niemanden. Niemanden, der ihr richtig nahestand.«

»Ich glaube, es ging ihr gut damit, für sich zu sein. Sie war glücklich. Aber nach dem, was Mama erzählt hat, denke ich, dass die Ärzte mehr hätten tun können. Sie hätte noch nicht sterben müssen«, sagte Judith und betrachtete nachdenklich Gretas Kopf, der auf die andere Seite gewandert war und jetzt fast auf Judiths Schulter lag. »Also, wäre ich da gewesen, ich hätte denen ganz schön Dampf gemacht.«

»Das glaub ich dir sofort. Aber Lou war schon über neunzig. Sie hatte keine Kraft mehr, das durchzustehen«, erwiderte Anna.

»Unsinn. Sie hätte gut noch ein paar Jahre leben können. Immerhin ist sie täglich im Wald spazieren gegangen. Unsere Großmutter war fit wie ein Turnschuh!«

»Lou hatte Krebs.«

Judith schüttelte verständnislos den Kopf. »Ja und? Dafür gibt es Chemotherapie!«

»Aber ist es nicht besser, in Ruhe einzuschlafen, wenn man einen Krebs eh nicht mehr besiegen kann?«

»Das ist ja eine tolle Ansicht, Anna! Also soll man lieber sterben, statt zu kämpfen?«

»Keine Ahnung, Judith. Vielleicht ja. Vielleicht wusste Lou, dass ihre Zeit gekommen war. Und vielleicht war sie bereit zu gehen.«

»Was ist denn mit euch los? Müsst ihr euch direkt über meinem Kopf streiten?« Greta war aufgewacht. Sie fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar und blickte von einer Schwester zur anderen.

»Ach, nichts ist los.« Anna wandte sich ab und sah wieder aus dem Fenster.

Über den Wolken war die Nacht sternenklar, und der Mond strahlte hell am Himmel.

In Toronto stiegen die Schwestern in ein kleineres Flugzeug um, das sie nach St. John’s bringen sollte.

»Wie schön! Diesen Teil der Reise liebe ich am meisten!« Greta hüpfte auf ihrem Sitz auf und ab wie ein Schulmädchen.

»Und ich könnte gern darauf verzichten. Das Ding ist nicht viel größer als eine Propellermaschine«, sagte Judith, während sie ihren Gurt festzurrte.

»Es sollen ja schon häufiger Maschinen über dem Eismeer abgestürzt sein«, erklärte Greta mit ernster Miene.

Anna musste lachen. »Du schaust zu viele Filme, Greta. Wir fliegen nach Neufundland und nicht in die Antarktis.«

»Okay, okay. Dann lese ich euch was aus meinem Reiseführer vor.« Greta schlug die erste Seite auf und räusperte sich.

Anna und Judith seufzten. Gretas Lesungen aus ihrem Reiseführer gehörten zu einer Reise nach Neufundland definitiv dazu, also war Widerspruch zwecklos.

Stunden später setzte das Flugzeug auf dem Rollfeld auf, und die Schwestern schoben sich mit den anderen Passagieren zur Gepäckausgabe.

»So, Mädels«, warnte Greta, »das kann ungemütlich werden. Ich sag nur: MINUSGRADE

Von Minusgraden zu sprechen war zwar etwas übertrieben, aber von einem warmen Neufundländer Frühsommer war auch nicht viel zu spüren. Jetzt, am frühen Morgen, war es noch empfindlich kühl und ungemütlich. Der Wind schlug den Schwestern mit voller Wucht ins Gesicht und ging ihnen durch Mark und Bein. Der Außenbereich des Flughafens war nicht groß, ihnen gegenüber befand sich ein fast leerer Parkplatz, und ein paar Taxen warteten vor dem Ausgang.

»Der Mietwagenservice ist dort vorn!«, rief Judith ihren Schwestern über eine Sturmbö hinweg zu und zeigte auf eine Leuchtreklame am anderen Ende des Terminals.

Eine halbe Stunde später saßen sie in einem schwarzen Land Rover, den Judith über den Highway lenkte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Durch die Sitzheizung war ihnen schnell warm geworden. Obwohl es draußen langsam hell wurde, spürte Anna, wie eine bleierne Müdigkeit von ihr Besitz ergriff. An ihr vorbei zogen die bunten Holzhäuser und modernen Glasbauten von St. John’s, die sich von dem dunklen Meer abhoben, die steinigen, zaghaft bewachsenen Hügel und Klippen in der Ferne, die weiten grünen Wiesen, von schimmerndem Morgentau bedeckt, und die dichten Wälder mit ihren hohen Kiefern und Fichten.

»Sind wir bald da?«, fragte Greta gähnend.

»Ja, wir nehmen die nächste Ausfahrt. Danach sind es nur noch zwei Meilen bis nach Seaborough«, erklärte Judith ihrer Schwester überraschend friedfertig.

Bald schon fuhren sie durch das kleine Fischerörtchen Seaborough, dann vorbei an dem wilden Lupinenfeld und schließlich über einen holprigen Waldweg. Wenige Minuten später waren sie endlich angekommen.

Müde krabbelten sie aus dem Wagen und hievten ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Dann standen sie etwas unschlüssig vor dem roten Holzhaus, das vor dem fast schwarzen Wasser kalt und verlassen wirkte. »Sea Garden House« stand in geschwungenen Buchstaben auf einem schiefen Holzschild im Vorgarten, in dem sich neben Rhododendren und einem Kirschblütenbaum zahlreiche weiße Gänsefüße, Brennnesseln und Disteln ausgebreitet hatten.

Die riesige weiße Veranda erschien in der Morgendämmerung fast ein bisschen unheimlich. An dem schmalen Bootssteg, der sich direkt an sie anschloss, war ein altes Fischerboot festgemacht, das im Wind hin- und herschaukelte.

»Na dann. Der Schlüssel liegt unter dem braunen Blumenkübel, hat Mama gesagt.« Judith zog als Erste ihren Koffer über den steinigen Kiesweg, Greta und Anna folgten ihr.

Im Haus war es eiskalt, und Anna lief schnell die Kellertreppe hinunter, um die Heizung in Gang zu setzen. Als sie wieder nach oben kam, hatten Judith und Greta bereits alle Lampen angeschaltet und das Gepäck im Wohnzimmer abgestellt, wo das große Ecksofa mit den vielen bunten Kissen einen fast schon dazu aufforderte, es sich darauf bequem zu machen. Aber Anna widerstand der Versuchung. Stattdessen schaute sie sich um und nahm die gemütliche Atmosphäre des Hauses in sich auf. Unzählige Bilder hingen an den Wänden, Fotos, Ölgemälde, Aquarelle, Zeichnungen. Lous Leidenschaft für das Meer und die Fischerei spiegelte sich in den Miniatur-Segelbooten, Muscheln und Fischernetzen, die die hellen Regale und Kommoden zierten. Im ganzen Haus roch es nach Rosenholz und Lilien. Lou hatte ein Faible für Blumen und Aromen gehabt, und in jedem Winkel des Hauses fanden sich Vasen und Kästchen mit Dufthölzern. Auf einmal vermisste sie ihre Großmutter sehr, und für einen kurzen Moment musste sie sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Greta ließ erschöpft ihren Mantel fallen und trat zu dem Kamin gegenüber der Couch. »Seht mal, Lou muss den Kamin noch benutzt haben.«

Tatsächlich, einige verkohlte Holzscheite und kleine Berge von Asche waren zu sehen.

Anna stellte sich an das große Wohnzimmerfenster mit den weißen Sprossen. Was für einen unglaublichen Ausblick auf das Meer man von hier aus hatte! Nur wenige Meter – und man konnte vom Steg aus ins Wasser springen.

»Was stimmt denn mit Judith nicht? Kann sie sich nicht mal für fünf Minuten hinsetzen? Die macht mich völlig kirre«, beschwerte sich Greta und ließ sich aufs Sofa plumpsen.

Judith war dabei, im ganzen Haus die Vorhänge aufzuziehen und in jedem Zimmer die Fenster aufzureißen.

weiterzugeben. Und sie hatte Fragen gestellt. Aber Lou schwieg,

»Und trotz all dieser Geheimnisse sind wir hier und halten zusammen. So wie es unsere Familie schon immer getan hat«, fuhr Anna fort. Denn wenn es etwas gab, das sie an ihrer Familie wirklich schätzte, dann, dass man sich aufeinander verlassen konnte. Egal, wie sehr man sich zuvor gestritten hatte, wenn es hart auf hart kam, war man füreinander da. Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit.

»Ich bin hundemüde. Wir sollten uns ein paar Stunden ausruhen.« Anna gähnte herzhaft.

Judith nickte. »Ich könnte auch ein Nickerchen gebrauchen. Und Greta ist sicher schon auf dem Sofa eingeschlafen.«

Sie schliefen bis zum frühen Abend. Als Anna sich noch etwas benommen aus den vielen Decken und Kissen wühlte, war es draußen schon fast dunkel. Sie stand langsam auf, schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe und schlurfte nach unten.

Judith und Greta waren gerade dabei, die Küche nach etwas Essbarem zu durchforsten.

»Ich sterbe vor Hunger! Aber Bohnen und Reis? Oder Würstchen?« Greta verzog das Gesicht.

Anna trat neben sie und warf einen prüfenden Blick in die Speisekammer. »Tja, sieht so aus, als wäre Lou länger nicht einkaufen gewesen. Aber ich werde uns schon was zaubern. Keine Sorge.« Anna schob ihre maulende kleine Schwester zur Seite, um sich ans Werk zu machen.

Greta blieb neben ihr stehen und sah zu, wie sie Tomaten, Bohnen und Mais zum Köcheln brachte, würzte und die so entstandene Soße abschmeckte. Irgendwann schien Greta genug zu haben, setzte sich zu Judith an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Judith sah von ihrem Magazin auf, nahm Greta die Zigarette aus der Hand und drückte sie energisch in einer alten Vase aus, die auf dem Tisch stand.

»Hey!«, protestierte Greta.

»Nichts hey! Wir sind im Haus unserer Großmutter, die gerade verstorben ist. Hier wird ganz sicher nicht geraucht!«

»Du Spießerin! Du kannst mir das wohl kaum verbieten! Dann geh ich eben auf die Veranda.« Trotzig stand Greta auf, schnappte sich ihre Zigaretten und verschwand türenknallend nach draußen.

»Kannst du mir verraten, wann unsere kleine Schwester zu so einem Satansbraten geworden ist?«, regte Judith sich auf.

Anna zuckte mit den Schultern und stellte Judith ein Glas Rotwein vor die Nase.

»Hier, du Spießerin! Oder ist Alkohol auch verboten?«

Judith lachte. »Nein. Ein bisschen Rotwein schadet nie!« Sie prostete ihrer Schwester zu, die ihr Glas fast in einem Zug leerte.

»Oha, da hat aber jemand Durst.« Judith musterte Anna besorgt. »Wie geht’s dir eigentlich? Du wirkst die ganze Zeit schon so abwesend. Ist alles okay?«

Anna wandte sich wieder dem Herd zu und tat, als würde sie sich intensiv mit dem Umrühren der Tomatensoße beschäftigen.

»Bin nur etwas müde.«

»Na gut. Aber wenn was ist, sagst du es mir, nicht wahr?«

»Sicher.« Anna stellte den Herd aus. »So. Essen ist fertig. Dann werd ich wohl mal Greta holen.«

Greta saß auf der quietschenden Hollywoodschaukel, in der Lou in der Abenddämmerung so oft gesessen und ihre Quilts bestickt hatte, und zog an einer Zigarette.

»Na«, sagte Anna und setzte sich neben sie. »Ein bisschen kalt hier draußen, findest du nicht?«

»Nö.« Greta sah sie nicht an, sondern starrte weiter hinaus in die Dunkelheit.

»Judith meint es nicht so, das weißt du doch.«

»Ja, ja. Aber sie findet doch eh alles scheiße, was ich mache!«

»So ein Quatsch! Wir sind nur alle traurig und durcheinander wegen Lous Tod. Und es ist seltsam, hier zu sein. Das ist für uns alle schwierig, aber wir müssen miteinander auskommen. Das sind wir Lou schuldig. Und jetzt komm rein. Das Essen wird kalt.«

Gretas Miene hellte sich auf. »Da bin ich aber gespannt. Wenn du es wirklich geschafft hast, aus den Konserven was Essbares hingekriegt zu haben, bist du meine Heldin!«

Später gingen sie ins Wohnzimmer, und Judith stocherte im Kamin herum.

»Du kriegst das Ding nie im Leben angezündet«, verkündete Greta, immer noch leicht gereizt.

Anna begutachtete derweil die Fotos auf dem Kaminsims. »Seht mal. Standen die Bilder eigentlich schon immer hier?«

Judith, der es tatsächlich gelungen war, ein kleines Feuer anzuzünden, das eine wohlige Wärme verbreitete, warf ebenfalls einen kritischen Blick auf die Schwarz-Weiß-Bilder, einige schon etwas verblichen, die in schlichten hellen Holzrahmen steckten.

»Nein, die kenne ich nicht.« Sie nahm eines der Fotos in die Hand und betrachtete es genauer. »Ist das Lou?« Sie hielt Anna das Bild hin. Es zeigte ein Mädchen mit langem dunklem Haar in einem taillierten Baumwollkleid, das fröhlich lachte. Neben ihr stand ein junger Mann, ungefähr einen Kopf größer als sie. Er hatte kurzes blondes Haar und strahlte ebenfalls, wenn auch ein wenig verhaltener.

»Sieht so aus. Da war sie höchstens fünfzehn. Und sie ist Mama wie aus dem Gesicht geschnitten. Verblüffend«, stieß Anna hervor.

»Lass mich mal sehen!« Greta war aufgestanden, drängelte sich zwischen die beiden und riss Judith den Rahmen aus der Hand. »Stimmt. Mit Judith hat sie aber auch Ähnlichkeit!«, sagte sie etwas neidisch.

»Und der junge Mann neben ihr? Wer das wohl sein mag?«, fragte Judith mehr sich selbst als ihre Schwestern.

»Vielleicht ein Schulfreund. Oder ihr Geliebter!«, mutmaßte Greta.

»Genau, Greta, ihr Geliebter! Wie viele Geliebte hattest du denn mit fünfzehn?«, sagte Anna und sah sich Lous Gesicht genauer an. Es wirkte fröhlich, aber irgendetwas in ihren Augen machte Anna plötzlich sehr traurig. »Nein«, sagte sie dann. »Das war jemand, der Lou viel bedeutet hat.«