Wie viele Akademiker brauchen wir? –
Welche Berufe unsere Gesellschaft zusammenhalten
Es muss erst eine Pandemie ausbrechen, damit wir merken, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Worauf es wirklich ankommt, was »systemrelevant« ist. Die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln ist es, und die verlässliche medizinische Betreuung. Verkäuferinnen und Pflegekräfte – die neuen Helden des Alltags. So lange, bis sich dieser wieder normalisiert. Wir leben in einer Gesellschaft, in der kognitive, analytische Fähigkeiten am höchsten bewertet werden, höhere Bildung für möglichst viele ist erklärtes Ziel. An den Schalthebeln der Macht sitzen überwiegend akademisch Ausgebildete, sie bestimmen den Kurs stark nach ihren Interessen und Wahrnehmungen. Doch das hat seinen Preis: Eine Gesellschaft, die die Berufe der Hand und des Herzens, also Handwerk und soziale Berufe, geringschätzt und schlecht bezahlt, droht aus der Balance zu geraten. Der Kopf hat zu viel Einfluss erlangt, so David Goodhart. In seiner provozierenden Analyse zeigt er auf, warum das problematisch ist und wo wir ansetzen müssen, um die Gewichte zu verschieben.
David Goodhart, geboren 1956, ist britischer Journalist und Autor mehrerer Sachbücher zu aktuellen gesellschaftlichen Themen. Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre war er Deutschlandkorrespondent der Financial Times. In seinem letzten Buch The Road to Somewhere. Die populistische Revolte und die Zukunft der Gesellschaft beschäftigte er sich mit den Gründen für das Erstarken des Populismus in westlichen Ländern.
»Eine nachdenklich stimmende Analyse.«
Financial Times über The Road to Somewhere
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DAVID GOODHART
KOPF
HAND
HERZ
Das neue Ringen
um Status
Warum Handwerks- und Pflegeberufe
mehr Gewicht brauchen
Aus dem Englischen von
Jürgen Neubauer
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
Head Hand Heart. The Struggle for Dignity and Status in the 21st Century
bei Allen Lane, London.
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Copyright © der Originalausgabe 2020 David Goodhart
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Jonas Wegerer
Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg (Amsterdam/Berlin)
Umschlagabbildungen: © AndreyPopov/iStock und © fandijki/shutterstock
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-25877-1
V001
www.penguin-verlag.de
Für meine Kinder,
in der Hoffnung, dass sie endlich einmal etwas lesen,
das ich geschrieben habe
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
TEIL 1: DAS PROBLEM
Kapitel 1: Die Vorherrschaft des Kopfes
Kapitel 2: Der Aufstieg der kognitiven Klasse
Kapitel 3: Kognitive Kompetenz und Leistungsgesellschaft
TEIL 2: DIE KOGNITIVE ÜBERNAHME
Kapitel 4: Das Zeitalter der Auslese
Kapitel 5: Der Aufstieg des Wissensarbeiters
Kapitel 6: Die Diplomdemokratie
TEIL 3: HAND UND HERZ
Kapitel 7: Das Schicksal der Hand
Kapitel 8: Das Schicksal des Herzens
TEIL 4: DIE ZUKUNFT
Kapitel 9: Der Niedergang des Wissensarbeiters
Kapitel 10: Kognitive Vielfalt und die Zukunft der Arbeit
Dank
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Register
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Dieses Buch entstand weitgehend vor Beginn der Coronakrise. Doch die Pandemie und ihre absehbaren Nachwehen haben direkte Auswirkungen auf sein Thema – die ungleiche Verteilung von Status und Anerkennung, die in den letzten Jahrzehnten zu einem herausragenden Merkmal wohlhabender Gesellschaften geworden ist. Zum einen hat die Krise Undenkbares denkbar gemacht: Wenn wir das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben über Monate hinweg anhalten, einschränken und gemeinsam einen Teil der Lasten schultern können, dann ist es vielleicht genauso denkbar, das Statusungleichgewicht in unserer nach Bildung geschichteten postindustriellen Gesellschaft um einige Grade zu korrigieren.
Den meisten von uns geht es darum, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren, doch die von der Krise schwer getroffenen Nationen Europas und Nordamerikas stehen vor großen Umbrüchen. Auf das Thema dieses Buchs bezogen wird Corona auf unterschiedliche Weise dazu beitragen, Hand und Herz – sprich: handwerkliche, nicht-akademische Berufe und Tätigkeiten in Erziehung und Pflege – wieder aufzuwerten und ihnen etwas von dem Ansehen zurückzugeben, das sie in den zurückliegenden Jahrzehnten an den Kopf – sprich: kognitive Tätigkeiten – verloren haben.
Auf der Makroebene wird heute eine neue Form der Globalisierung denkbar, die von einem der humorvolleren Slogans der Krise auf den Punkt gebracht wird: Proletarier aller Länder, vereinigt euch: Ihr habt nichts zu verlieren als eure Lieferketten. Eine umfassende Entglobalisierung ist weder wünschenswert noch wahrscheinlich, wir haben unsere Lektionen aus dem Protektionismus der Dreißigerjahre gelernt. Der »Hyperglobalisierung«, wie sie der Wirtschaftswissenschaftler Dani Rodrik nennt, die vor allem Konzernen, Finanzmärkten und hochmobilen Akademikern dient, können wir aber dennoch einige Zügel anlegen. In Europa schlug in der Krise die Stunde des Nationalstaats und des nationalen Gesellschaftsvertrags, während in den Vereinigten Staaten die relative Schwäche des Zentralstaats augenfällig wurde. In der nächsten Phase der Globalisierung werden Nationalstaaten wieder mehr Mitsprache einfordern. Einige der langen und anfälligen Lieferketten werden gekürzt und gekappt werden. Die Billig-Globalisierer, die Fabrikschließungen zwar bedauern, sie aber als Preis für die günstigeren Produkte von Amazon in Kauf nehmen, werden einen zunehmend schweren Stand haben. Denn die meisten von uns sind nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten, und vielleicht sind wir dazu bereit, ein paar Euro mehr für ein Mobiltelefon hinzublättern, wenn es im eigenen Land produziert wurde.
Diese Sichtweise hatte schon vor der Krise vermehrt Anhänger gewonnen. Schon 2019 erfuhr der Welthandel unter dem Eindruck des Handelskriegs zwischen China und den Vereinigten Staaten eine leichte Abschwächung. Das bestehende Modell der Hals-über-Kopf-Globalisierung hat zu viele Verlierer hervorgebracht, nicht zuletzt unsere globale Umwelt.
In den zurückliegenden beiden Generationen wurde der Westen von Zentrifugalkräften beherrscht, die zwar auf der einen Seite globale Öffnung und individuelle Freiheiten begünstigten, auf der anderen jedoch kollektive Bande schwächten und dafür sorgten, dass die Kopfarbeit ein unverhältnismäßig großes Stück vom Kuchen erhielt, während Hand und Herz an Status und Einkommen verloren. In sämtlichen wohlhabenden Nationen hat die Wissensökonomie die Bildungselite an die Spitze der Statushierarchie befördert und die kognitiv Begabten reichlich beschenkt, doch zugleich haben viele andere Menschen Sinn und Zugehörigkeitsgefühl verloren.
Die jüngsten, sicher auch durch die Pandemie beförderten Entwicklungen lassen allerdings vermuten, dass wir nun an der Schwelle zu einer stärker zentripetalen Phase stehen, in der sich Nationalstaaten festigen und wirtschaftliche und kulturelle Offenheit zurückgenommen wird. In dieser Phase werden Regionalismus, gesellschaftliche Stabilität und Solidarität an Bedeutung gewinnen, während die Skepsis gegenüber den Ansprüchen der kognitiven Klasse wie auch unsere Sensibilität für die Zumutungen der modernen Leistungsgesellschaft steigen wird.
Als ich 2019 mit der Arbeit an diesem Buch begann, hätte ich mir nicht vorzustellen gewagt, dass der Beitrag der Arbeitnehmer, die ich hier als »Herz« und »Hand« bezeichne, in Ländern wie Deutschland oder Großbritannien geradezu zum Sinnbild der Krisenbewältigung werden würde. Die Bürger applaudierten nicht nur dem medizinischen Personal, sondern auch den Menschen, die sonst unbemerkt die Grundfunktionen unseres Alltags aufrechterhalten – die Mitarbeiter von Supermärkten, die Busfahrer und Lieferanten, die Menschen, die unsere Waren in die Läden und unsere Medikamente in die Apotheken bringen, die Menschen, die unseren Haushaltsmüll entsorgen. In einer Umkehr der Statushierarchie kam es mit einem Mal auf jene Menschen an, die nicht studiert haben und kognitiv weniger geschult sind.
Doch die tiefsten Spuren könnte die Denkpause hinterlassen, die der Lockdown uns und unserer hektischen Leistungsgesellschaft verordnet hat. Viele von uns, vor allem die besser ausgebildeten Menschen, die im Home Office arbeiten konnten, mussten sich darüber Gedanken machen, worauf es ihnen im Leben wirklich ankommt. Mit der Unterbrechung unserer geschäftigen mobilen Existenz nahmen viele von uns zum ersten Mal ihre Nachbarn richtig wahr und fühlten sich in einer physischen Gemeinschaft verortet. Dieses neue Gefühl der Verwurzelung und Beziehung und die neue Wahrnehmung unserer eigenen Sterblichkeit können in rührselige Sentimentalität oder ängstliche Risikoscheu ausarten. Es gibt durchaus Menschen, die nicht möchten, dass der Lockdown endet. Andere wünschen sich dagegen verzweifelt ihre früheren Freiheiten zurück, und gerade in Deutschland war der Protest gegen die Einschränkungen oftmals lauter als anderswo in Europa. Einige erwarten für die Zeit nach der Krise nicht etwa eine mitfühlendere, fürsorglichere Gesellschaft, sondern Exzesse des Hedonismus und Individualismus, eine Neuauflage der Wilden Zwanziger.
Doch im Mittelpunkt der Krise standen die Bereiche Pflege und Erziehung, und allein deshalb ist eine wirtschaftliche und politische Neuorientierung zu erwarten. So wie selbst konservative Politiker ihre Haltung zur Staatsverschuldung überdenken mussten, könnten wir nun unsere Vorstellungen von Produktivität und Wirtschaft insgesamt auf den Prüfstand stellen. Schon heute geben wohlhabende westliche Gesellschaften einen erheblichen Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit und Erziehung aus, und dieser wird infolge der Krise vermutlich noch wachsen. Dabei werden wir feststellen, dass es in vielen Bereichen des Gesundheitssektors, ob in Krankenhäusern oder Altenheimen, eben nicht darum geht, die Produktivität zu steigern, sondern vielmehr darum, sie zu senken. Es geht darum, die Zahl der Betten pro Pflegekraft zu reduzieren, nicht zu erhöhen. Wenn Deutschland in der ersten Phase besser durch die Krise kam als seine europäischen Nachbarn, dann auch deshalb, weil das deutsche Gesundheitswesen über mehr Kapazitäten verfügt als die meisten anderen.
Wenn wir den Gesundheitssektor aufwerten und stiefmütterlich behandelte Bereiche wie die Altenpflege besser finanzieren wollen, dürfen wir die häusliche Pflege und die frühkindliche Erziehung nicht außen vor lassen. Damit werden große Fragen nach der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau aufgeworfen und danach, wie sich die Arbeit in Haushalt und Familie aufwerten lässt, ohne die Freiheiten zurückzunehmen, die sich Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erkämpft haben. Unsere in der Krise erzwungene Häuslichkeit hatte reichlich Spannungen, Trennungen und selbst Gewalt zur Folge. Aber sie hat viele von uns auch an den Wert der Familie und ihrer Erziehungs- und Pflegearbeit erinnert.
Deshalb bin ich der Ansicht, dass Hand und Herz durch die Krise gestärkt wurden und gegenüber dem Kopf wieder leicht an Status gewonnen haben. Oder um es politisch auszudrücken, ich beobachte, dass die Krise vor allem in Europa ein ungewöhnliches Bündnis hervorgebracht hat zwischen der konservativen Präferenz für Region, Land und Familie auf der einen Seite und einer sozialdemokratischen Präferenz für höhere Staatsausgaben und einen gewissen Kollektivismus, verbunden mit einem neuen Umweltbewusstsein. Doch wie Sie diesem Buch entnehmen können, hatte ich dies bereits vor der Coronakrise vermutet, weshalb ich mich der Covid-Bestätigungs-Verzerrung schuldig bekenne: der Neigung, die eigenen Erwartungen an die Zukunft durch die Pandemie bestätigt zu sehen.
Dieser Argumentation könnte man nun zwei Argumente entgegenhalten. Erstens könnte man darauf verweisen, dass der Kopf durch die Krise keineswegs einen Dämpfer erhielt, weil Experten – namentlich Virologen, Mediziner oder Impfstoffforscher – ihre Bedeutung für die Gesellschaft unter Beweis gestellt und die populistische Wissenschaftsskepsis weitgehend widerlegt haben. Und zweitens könnte man anführen, dass die digitalen Plattformen der großen Technologiekonzerne, die während der Krise noch stärker in den Mittelpunkt unseres Alltags gerückt sind, der Inbegriff der entkörperlichten Welt der Datenverarbeitung sind und die Ideologie des Kopfes bestätigen.
Beide Einwände sind berechtigt, doch ich bezweifle, dass sie schwer genug wiegen, um meine These von der Corona-Umverteilung zu widerlegen. Der erste Einwand würde mein Problem mit der Expertenkultur falsch verstehen. Experten aus den Bereichen Naturwissenschaft, Technik oder Medizin stoßen nur auf geringe Skepsis (in den Vereinigten Staaten mehr als in Europa). Der eigentliche Unmut richtet sich vor allem gegen Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler sowie Akademiker ganz allgemein, die ihre oftmals liberalen Ansichten über die europäische Integration oder Massenzuwanderung gern als objektive Wahrheiten verkaufen.
Und die digitalen Plattformen haben in der Krise zwar ihren Wert unter Beweis gestellt, doch dabei haben sie weniger die Botschaft der Mobilität und Globalisierung vermittelt, die wir so oft mit ihnen verbinden. Facebook und WhatsApp-Gruppen erwiesen sich vielmehr als wichtige Kommunikationskanäle für reale und regional verortete Gemeinschaften. Dabei waren sie derart unentbehrlich, dass sie sich neben Wasser und Strom als lebenswichtige Grundversorger etablieren konnten und sicherlich bald derselben Aufsicht unterliegen werden. Doch das ist eine andere Geschichte.
Die These dieses Buchs ist einfach: In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in den wohlhabenden Nationen ein sehr begrenztes Spektrum von Fähigkeiten – die kognitiv-analytischen »Kopf-Kompetenzen« – zu stark honoriert, und zwar finanziell wie gesellschaftlich. Wir haben die Definition eines gelungene Lebens zu eng gefasst und den Weg dorthin mit dem Studium zu schmal gestaltet. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist diese Unwucht am größten. Im skandinavischen und deutschsprachigen Raum gibt es dieses Ungleichgewicht ebenfalls, auch wenn es einige Gegengewichte bislang in Grenzen gehalten haben.
Dank des dualen Ausbildungssystems, um das Deutschland in aller Welt beneidet wird, genießen handwerkliche und andere Ausbildungsberufe größeres Ansehen als vergleichbare Tätigkeiten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, und institutionalisierte Arbeitnehmervertretungen tun das Ihre für die Mitarbeiter von größeren Unternehmen. Viele Angehörige der Mittelschicht, die ein Studium aufnehmen könnten, ziehen eine Ausbildung vor. Der frühere Kanzler Gerhard Schröder absolvierte erst eine Lehre, eher er studierte. Drei der Minister in Angela Merkels Kabinett, darunter auch Gesundheitsminister Jens Spahn, machten nach dem Abitur zunächst eine Lehre und schlossen erst dann ein Studium an. Bis vor Kurzem war der Anteil der Hochschulabsolventen in Deutschland relativ niedrig und das Land hatte weniger Universitäten von Weltrang als zum Beispiel die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Frankreich. Dazu kommt, dass sich Wohlstand und Bevölkerung regional gleichmäßiger verteilen als beispielsweise in Großbritannien, und dass 70 Prozent der Bevölkerung in Städten mit weniger als 100 000 Einwohnern leben. Es gibt kein Zentrum, das Kompetenz und Vermögen derart an sich ziehen und so für die Ideologie des Kopfes, der sozialen Mobilität und Abstraktion stehen würde wie London. In Deutschland genießen »Normalbürger« größeres Ansehen als in Großbritannien. Dort verlassen die kognitiv gesegneten Jugendlichen mit 18 Jahren ihre Heimatstädte, um sich in London und anderen Metropolen zu sammeln. In Deutschland haben dagegen viele international führende Unternehmen ihren Sitz in Ortschaften, von denen im Ausland kaum jemand gehört hat, zum Beispiel Adidas in Herzogenaurach, Miele in Gütersloh oder SAP in Walldorf.
In Deutschland ist die wirtschaftliche Ungleichheit heute zwar weniger stark ausgeprägt als in Großbritannien, doch dank des Wachstums des Finanzsektors und der Agenda 2010 hat sie in den letzten Jahren auch hier deutlich zugenommen. Durch die europäische Vereinheitlichung der Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses ist auch die Hochschullandschaft in den letzten Jahren angelsächsischer geworden, und mehr Schulabgänger nehmen ein Studium auf, der Anteil der Studierenden ist auf fast 40 Prozent angestiegen. Dies könnte zu Lasten des dualen Ausbildungssystems gehen, indem es ihm fähigen Nachwuchs entzieht, und auf diese Weise wie in den Vereinigten Staaten und Großbritannien die Kluft zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern vergrößern.
Die gerechte Verteilung von Status und Anerkennung ist ein Problem sämtlicher modernen Gesellschaften. Wir benötigen Eliten und elitäre Institutionen, doch wir benötigen mehrere Eliten und Zugänge und müssen dafür sorgen, dass eine große Bandbreite von menschlichen Fähigkeiten angemessene Anerkennung erhält. Es ist der Populismus, in dem unter anderem die Frustration darüber zum Ausdruck kommt, dass sich das demokratische Versprechen der politischen Gleichheit nicht in einer gerechteren Verteilung von Status und Anerkennung niederschlägt. Zu viele Menschen fühlen sich von unserer liberalen und kognitiven Leistungsgesellschaft ausgeschlossen. Diese Unwucht müssen wir ausgleichen.
Zum Teil wird dies nahezu zwangsläufig erfolgen, denn schon vor der endgültigen Durchsetzung der Künstlichen Intelligenz stellt sich heraus, dass die Wissensökonomie weit weniger Wissensarbeiter benötigt als bisher angenommen. Gleichzeitig wird der Anteil der menschlichen Dienstleistungen, allen voran in der Pflege, dramatisch ansteigen. Bezahlung und Status der Pflegedienstleister, vor allem in Altenpflegeheimen, werden sich verbessern müssen, damit dieser lebenswichtige Sektor für Arbeitnehmer attraktiver wird.
In unserer offenen und streitbaren Gesellschaft wurden die Debatten und Meinungsverschiedenheiten auch während der Pandemie ausgetragen, doch unter der Oberfläche herrschte ein größerer Konsens als üblich. Daher stehen die Chancen gut, dass es uns gelingt, in der Folge dieser Krise bei der Verteilung von Status und Anerkennung ein breiteres Spektrum von menschlichen Fähigkeiten zu berücksichtigen und das in diesem Buch eingeforderte ausgewogenere Verhältnis von Kopf, Hand und Herz herzustellen. Die traurige Alternative wäre, dass die Narben der Krise unsere alten Gräben und Ressentiments vertiefen.
TEIL 1
DAS PROBLEM