Das Buch
Alfred Mack ist seit Wochen im Krankenhaus und erholt sich von einem Unfall. Als eine neue Patientin auf die Station kommt, ist Alfie dankbar für die Abwechselung. Er hofft, mit seiner neuen Bettnachbarin Freundschaft schließen zu können. Aber bald wird klar, dass er seine neue Mitpatientin so schnell nicht zu Gesicht bekommen wird … Denn Alice Gunnersley hat schlimme Verbrennungen erlitten. Seither liegt sie hinter einem geschlossenen Vorhang in ihrem Krankenhausbett – und vermeidet es, in den Spiegel zu gucken oder sich der Außenwelt zu zeigen. Doch davon lässt sich Alfie nicht entmutigen. Mit seinem Charme gelingt es ihm, Alice aus der Reserve zu locken. Nach und nach lernen sich die beiden besser kennen – und lieben … Doch ist ihre Verbindung stark genug, um die sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen zu heilen? Und wie gut kennt man jemanden wirklich, den man noch nie gesehen hat?
Die Autorin
Emily Houghton stammt aus Essex und ist ausgebildete Yogalehrerin. Sie liebt Hunde über alles und träumt davon, Autorin zu werden, seit sie einen Stift halten kann. Sie lebt in London. Bevor ich dich sah ist ihr erster Roman.
Emily Houghton
Roman
Aus dem Englischen
von Stefan Lux
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Für Rebecca,
die an mich und diese Geschichte glaubte,
als ich selbst das noch nicht konnte.
Ich trage deine Worte und deine Unterstützung Tag für Tag in meinem Herzen.
Alice
Jedes Mal, wenn Alice vorübergehend aus der Ohnmacht erwachte, registrierte sie die grellen weißen Lichter, den beißenden Brandgeruch und die sengende Hitze in jeder Faser ihres Körpers.
Eine unbekannte Stimme sagte: »Mein Gott, sie kann von Glück sagen, dass sie noch am Leben ist.«
Sie musste unbedingt herausfinden, wo sie war. Wessen Stimmen sie da hörte und vor allem, über wen diese Menschen sprachen. Aber die Schmerzen waren zu stark zum Nachdenken. Und die Lichter blendeten sie.
»Glück? Glaubst du, sie empfindet es als Glück, wenn sie zum ersten Mal in den Spiegel schaut? Das arme Mädchen hat schreckliche Verbrennungen.«
Sie versuchte mit aller Macht, ihr Hirn in Gang zu setzen, gegen den Sog des Schlafs anzukämpfen. Gerade als sie kapitulieren und sich der kühlen Sicherheit des Dunkels überlassen wollte, fügte sich alles zusammen.
Das »arme Mädchen«.
Der Gestank.
Die Verbrennungen.
Sie war diejenige, die von Glück sagen konnte, noch am Leben zu sein.
Sie war es, die gebrannt hatte.
Alfie
»Da ist er ja! Alfie Mack, der größte verdammte Glückspilz, den ich kenne!«
Er musste den Vorhang nicht beiseiteziehen, um zu wissen, wer zu Besuch gekommen war. Diese Stimme würde er nie vergessen, selbst wenn er wollte.
»Nicht gerade der allergrößte Glückspilz, schließlich haben sie mir das Bein abgehackt. Aber so ist es halt: Mal gewinnt man, mal verliert man.«
»Da kann ich nicht widersprechen.« Matty zuckte die Achseln. »Wie geht’s dir, Kumpel? Ich kann heute übrigens nicht lange bleiben. Ich muss meine bessere Hälfte abholen und mit den Schwiegereltern essen gehen.«
Es war üblich, dass seine Besucher ihre Entschuldigung vorbrachten, noch ehe sie sich überhaupt hingesetzt hatten. Alfie war dankbar, dass Matty wenigstens fragte, wie es ihm ging.
»Ah, kein Problem, ich hab auch einen ziemlich ausgefüllten Tag vor mir.«
»Tatsächlich?«
Alfie merkte, dass sein Besucher nur mit halbem Ohr zuhörte.
»Ja, hier ist jede Menge los. Und die größte Herausforderung besteht darin zu erraten, wie oft Mr Peterson heute Morgen zur Toilette gehen wird. Normalerweise kommen wir im Schnitt auf siebenmal. Aber da er einen Schluck von diesem Apfelsaft getrunken hat, könnte er es auch auf zehnmal bringen.«
Eine aufgebrachte Stimme meldete sich zu Wort. »Wenn Sie zweiundneunzig sind und Ihre Blase so steif ist wie der Arsch einer toten Ente, werden Sie auch ständig pissen.«
»Schon gut, Mr P, niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Könnte es übrigens sein, dass Sie in einem früheren Leben Schriftsteller waren? Ihre Wortwahl ist geradezu poetisch.«
Der alte Mann gegenüber in Bett vierzehn setzte ein Lächeln auf, ehe er sich entschloss, Alfie den Mittelfinger zu zeigen und sich wieder seiner Zeitung zu widmen.
»Aber ernsthaft, Kumpel, wie geht’s dir? Wie läuft’s in der Physiotherapie? Hast du schon eine Ahnung, wann du hier rauskommst?« Matty schaute ihn mit großen Augen hoffnungsvoll an.
Alle waren gleichermaßen mitfühlend und stellten die gleichen Fragen. Es war merkwürdig: Einerseits wusste er, dass sie alle sich wünschten, er würde endlich entlassen und könnte nach Hause. Doch gleichzeitig spürte er ihre leichte Besorgnis. Vermutlich war es, solange er sich in den fähigen Händen des Pflegepersonals von St Francis befand, schlicht ein Punkt weniger, über den sie sich Gedanken machen mussten.
»Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Die Infektion ist offenbar unter Kontrolle. In der Physio geht es voran, und bald werde ich für eine maßgefertigte Prothese vermessen. Nur an meiner Muskelkraft muss ich noch arbeiten. Es geht langsam, aber wie die Schwestern sagen: Jeder Schritt nach vorn ist ein Schritt mehr in Richtung Ende!«
»Das ist der übelste Motivationsspruch, den ich je gehört hab. Es klingt, als wärst du auf dem Weg in den Tod, verdammt.«
»Na ja, sind wir das nicht alle, Matthew, mein Freund?« Alfie beugte sich vor und tätschelte ihm den Arm.
»Ach, hör bloß auf. Sogar als Einbeiniger hast du denselben schwarzen Humor wie immer!« Freundschaftlich schlug Matty seine Hand weg.
Das war jetzt ungefähr der Zeitpunkt, an dem die meisten Besucher sich wieder verabschiedeten – sie hatten nach ihm geschaut, ein paar Witze gerissen und die Fragen gestellt, die angebracht waren. Die meisten Leute hielten es nur eine gewisse Zeit in der Gegenwart von Kranken und Verletzten aus.
»Also dann, Kumpel, ich muss los. Mel und die Kinder lassen dich grüßen. Gib mir Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst, ansonsten sehen wir uns nächste Woche zur selben Zeit am selben Ort?«
»Keine Sorge, ich laufe nicht weg! Pass auf dich auf und gib den Kleinen ein Küsschen von mir.«
»Klar, mach ich. Ich hab dich lieb, Mann.«
»Ja, ich dich auch, Matty.«
An diese expliziten Zuneigungsbekundungen hatte Alfie sich immer noch nicht ganz gewöhnt. Es hatte erst angefangen, als Matty glaubte, seinen besten Freund für immer verloren zu haben. Beim ersten Mal hätte Alfie geschworen, sich verhört zu haben.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.« Matty hatte unbehaglich mit den Füßen gescharrt und zu Boden geschaut. »Ich hab bloß …« Er blickte Alfie kurz in die Augen. »Ich hab einfach nur gesagt, ich hab dich lieb.«
Alfie hatte laut aufgelacht. »Oh, komm schon, Kumpel! Mach dich nicht lächerlich. Du musst solche Sachen nicht sagen.« Aber Matthew lachte nicht mit. Tatsächlich schien er sich noch unbehaglicher zu fühlen. Er senkte den Kopf noch weiter und hatte die Fäuste geballt.
»Das ist nicht lächerlich, klar?« Er stieß die Worte mühsam hervor. »Als ich geglaubt hab, ich hätte dich für immer verloren, ist mir klar geworden, dass ich es kein einziges Mal ausgesprochen hab, in den kompletten fünfzehn Jahren unserer Freundschaft. Da hab ich mir geschworen, es dir zu sagen, falls du überlebst. Und zum Glück ist es so gekommen. Also gewöhn dich besser dran, klar?«
Nur mit Mühe konnte Alfie die Tränen zurückhalten. »Ich hab dich auch lieb, Mann.«
Seitdem war es der Satz, mit dem sie jede Begegnung ausklingen ließen. Natürlich sprachen sie ihn auf sehr lässige, männlich-kumpelhafte Art und Weise aus. Trotzdem bedeuteten die Worte ihnen beiden inzwischen sehr viel.
Alfie war seit knapp sechs Wochen als Patient im St-Francis-Krankenhaus. Seit seinem Umzug nach Hackney vor drei Jahren hatte er regelmäßig das Vergnügen gehabt, das Krankenhaus von außen zu sehen. Seine düstere Rauputzfassade ragte hoch über den trendigen gentrifizierten Straßenzügen auf und erinnerte an eine schäbige Vergangenheit, die sich nicht verdrängen ließ.
»Mein Gott, Mum, wenn ich jemals in diesem Ding lande, dann versprich mir, dass ich woandershin verlegt werde«, hatte er jedes Mal im Scherz gesagt, wenn sie bei einem ihrer Besuche an dem Gebäude vorbeigekommen waren.
»Jetzt red nicht so ein düsteres Zeug. Außerdem hab ich viel Gutes über das Krankenhaus gehört.«
»Ernsthaft? Du willst mir erzählen, du hättest Gutes über ein Krankenhaus gehört, das eher nach einem mehrstöckigen Parkhaus aussieht?«
»Hör auf! Glaub mir, wenn es um Leben und Tod ginge, würdest du betteln, dass sie dich da aufnehmen.« Sie bedachte ihn mit ihrem typischen selbstgerechten Lächeln, das ihn jedes Mal auf die Palme brachte. »Außerdem, was hab ich dir immer beigebracht? Urteile nie nach dem Äußeren.«
Doch das hatte er weiterhin getan. Bis zu dem Moment, als das unansehnliche Gebäude beziehungsweise die Menschen, die darin arbeiteten, ihm das Leben gerettet hatten. Nach seiner Einweisung war dem medizinischen Personal sofort klar gewesen, dass es schlecht um ihn stand. Ein kurzer Blick auf das Wrack hätte gereicht, um zu diesem Schluss zu kommen. Aber dass er über einen Monat im Krankenhaus verbringen würde, hätte niemand vorhersagen können.
Alice
»Hallo, Schätzchen … Können Sie mich hören?« Die Stimme klang leise, hoffnungsvoll, behutsam.
Der Geruch war das Erste, das sich ihr aufdrängte.
Bleichmittel. Blut. Menschlicher Verfall.
»Sie müssen gar nichts sagen, Alice, meine Liebe. Vielleicht können Sie einfach blinzeln oder mit den Fingern wackeln, wir wollen bloß wissen, ob Sie wach sind.«
Im Bemühen, dieses menschliche Wesen mit seiner widerlichen Freundlichkeit loszuwerden, zwang Alice ihre Finger, sich zu bewegen. Schon dieser Versuch fühlte sich sonderbar an. Konnte es sein, dass sie vergessen hatte, wie sie ihren eigenen Körper benutzte? Wann hatte sie ihr Hirn zuletzt in Gang gesetzt?
»Na sehen Sie, Alice, mein Mädchen. Gut. Sie machen das ausgezeichnet!«
Sie hatte nicht das Gefühl, etwas ausgezeichnet zu machen. Vielmehr fühlte es sich an, als hätte jemand an ihrer Haut gezerrt und gezogen, um sie in einen neuen Körper einzupassen, der die falsche Größe hatte. Und als wäre dann auch noch das Material ausgegangen. Sie fühlte sich unfertig und hatte schreckliche Schmerzen.
»Sie waren in ein Unglück verwickelt, Alice. Aber jetzt sind Sie auf dem Weg der Besserung. Ich rufe den Arzt, damit er kommt und Ihnen erklärt, was passiert ist, okay? Rühren Sie sich nicht, ich komme sofort zurück.«
Alice spürte, wie ihr Herz hämmerte. Zusammenhanglose Erinnerungsfetzen schwirrten ihr durch den Kopf und machten das Nachdenken unmöglich. Kurz öffnete sie die Augen und sah, wie zwei Personen an ihr Bett traten.
Bitte sagen Sie mir einfach, wo zum Teufel ich überhaupt bin.
»Hi, Miss Gunnersley«, sagte eine männliche Stimme. »Darf ich Sie Alice nennen?«
Der Arzt kam noch einen Schritt näher. Er hatte ein Gesicht, das früher vermutlich voller Hoffnung und Enthusiasmus für seine Arbeit gewesen war. Doch jetzt wirkte es leicht erschöpft und eine Spur misstrauisch. Vor ihr stand ein Mann, den die regelmäßige Begegnung mit dem Tod gründlich abgehärtet hatte.
Ganz leicht nickte sie mit dem Kopf. Es war das einzige Zugeständnis, zu dem sie bereit war.
»Fantastisch. Nun, Alice, wie die Schwester Ihnen wahrscheinlich schon erklärt hat, sind Sie ins St-Francis-Krankenhaus eingeliefert worden. Sie waren in ein schweres Unglück verwickelt … In Ihrem Bürogebäude ist ein Feuer ausgebrochen, von dem Sie unglücklicherweise überrascht wurden. Sie haben einige schwere Verletzungen erlitten – wir schätzen, dass bei rund vierzig Prozent Ihrer Körperoberfläche Verbrennungen unterschiedlicher Schweregrade vorliegen. Wir haben bereits eine Operation durchgeführt, um die Schädigung zu begrenzen, aber es liegt noch einiges vor Ihnen. Einstweilen möchte ich Ihnen versichern, dass Sie die bestmögliche Versorgung bekommen und dass wir einen Behandlungsplan ausgearbeitet haben, um Ihnen zu helfen.« Für einen Moment zeigte sich ein unbeholfenes Lächeln auf seinem Gesicht. »Haben Sie im Augenblick irgendwelche Fragen? Ich weiß, dass Sie jetzt viel zu verarbeiten haben.«
Die Worte rauschten an ihr vorbei und hinterließen ein tiefes Gefühl der Angst. Das alles hier konnte doch nicht wahr sein, oder? Erlaubte sich jemand einen grausamen Scherz auf ihre Kosten? Verzweifelt suchte ihr Hirn nach einer anderen Erklärung als der, die sie gerade erhalten hatte. Aber die Schmerzen waren echt, so viel war sicher. Sie betrachtete ihren Arm. Die Verletzungen waren auf unleugbare Art und Weise real.
Sofort schloss Alice die Augen.
Schau nicht hin. Untersteh dich, noch einmal hinzuschauen.
Sie hörte, wie der Arzt vor ihrem Bett von einem Fuß auf den anderen trat. »In der nächsten Zeit wird es sich etwas unangenehm anfühlen, aber dafür geben wir Ihnen Schmerzmittel. Ich lasse Sie jetzt ein bisschen ausruhen, Alice, und morgen früh schaue ich wieder herein, okay?«
Sie nickte und fiel in einen tiefen, bewusstlosen Schlaf.
*
In den folgenden Tagen kehrte ihre Kraft ein Stück weit zurück, sodass Alice länger als nur für ein paar Augenblicke wach bleiben konnte. Allmählich war sie bereit, ihre Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen.
Trostlos.
Das war der erste Begriff, der ihr in den Sinn kam. »Seelenlos« folgte kurz darauf. Für einen Ort, der die ganze Zeit von Geräuschen erfüllt war, fühlte es sich hier ziemlich leer an. Ständig waren Leute damit beschäftigt, irgendetwas zu tun. Dies zu prüfen, das zu lesen. Ununterbrochen wurde geredet. Alice begriff, dass sie nur dank der Maschinen, an die sie angeschlossen war, noch lebte. Sie war mit so vielen Kabeln verbunden, dass sie manchmal vergaß, wo ihr Körper endete und die Technik begann. Ständig stieß und stocherte jemand an ihr herum, ständig wurde über sie diskutiert, während sie sich anstrengte, ihre Gedanken und vor allem ihren Blick auf etwas anderes zu richten. Jedes Mal, wenn sie an sich hinabschaute, hatte sie den Beweis für ihren Zustand vor Augen. Es schien, als wäre das Feuer so erzürnt darüber gewesen, dass sie mit dem Leben davongekommen war, dass es aus Rache auf alle Zeiten seine Spuren an ihr hatte hinterlassen wollen. Jedenfalls hatte es ganze Arbeit geleistet. Ihre komplette linke Körperseite war verschmort. Von den Flammen verzehrt und wieder ausgespuckt. Im Versuch, ihren körperlichen Zustand auszublenden, brachte sie die meiste Zeit damit zu, an die Decke oder auf die Innenseiten ihrer Lider zu starren. Im Schlaf war sie am einzigen Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlte. Dem einzigen Ort, an dem sie keine Schmerzen spürte und an den sie fliehen konnte.
Schlaf bedeutete auch, dass sie sich dem Einfluss der Menschen entzog, die mit der Präzision eines Uhrwerks ständig nach ihr sahen. Im Laufe ihres Lebens hatte sie sich häufig gefragt, wie es sich anfühlen mochte, umsorgt zu werden. Was es wohl für ein Gefühl war, verhätschelt zu werden, ohne Fragen gestellt zu bekommen oder Bedingungen erfüllen zu müssen. Jetzt war dieser Zustand da, und sie wollte nur noch schreien, bis ihre Lunge vom Schreien wund war. Sie wusste, dass all diese Leute lediglich ihre Arbeit machten. Ihr war klar, dass die Schwestern und Ärzte verpflichtet waren, für sie zu sorgen. Aber sicher schloss diese Verpflichtung nicht die Tränen ein, die ihnen jedes Mal in die Augen traten, wenn sie Alice anschauten. Oder die Überstunden und die Versuche, mit ihr zu sprechen, weil sie tagelang keinen Besuch bekommen hatte. Ein Gefühl von Verbitterung machte sich in ihr breit, durchströmte ihren Körper wie Gift und richtete sich auf die Menschen in ihrer Umgebung. Sie wich vor ihren Berührungen zurück, verschmähte ihr Mitleid. Niemand hatte das Recht, sie zu bemitleiden.
Hin und wieder, wenn der Schlaf sie nicht von hier forttrug, schloss sie während der Kontrollgänge die Augen. Sie hielt es nicht aus, immer in Gesichter von Menschen zu schauen, die ihren Schock zu verbergen versuchten. Die sich mühten, sie zum Sprechen zu bringen. In dieser ersten Zeit war das Reden im wahrsten Sinne des Wortes zu schmerzhaft. Sie hatte während des Brandes so viel Rauch eingeatmet, dass sie die Lunge eines Kettenrauchers davongetragen hatte. Egal wie viele Liter Sauerstoff sie täglich einatmen musste, jeder Zentimeter ihres Rachens schmerzte gnadenlos. Sie war auch innerlich verbrannt – wie ein gut durchgebratenes Stück Fleisch.
Alfie
Nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte er sich erst einmal vollkommen fremd gefühlt. Nichts schien zu passen. Alles – vom Chlorgeruch in der Luft über das kratzige Gefühl der gestärkten Laken bis zu hin zu den Geräuschen der Menschen ringsum – wirkte verkehrt. Nirgends hatte er einen Platz für sich allein. Ständig traten Ärzte oder Krankenschwestern ins Zimmer, störten ihn, weckten ihn auf. Mit jeder Stunde nahm seine Frustration zu, und die Unvertrautheit des Ganzen war überwältigend. Nacht für Nacht betete er, nach Hause zurückkehren zu dürfen. In seine kleine Zweizimmerwohnung in Hackney, in die Sicherheit seines eigenen Lebens. Inzwischen wusste er nicht mehr, ob es ihm überhaupt noch möglich war, nach Hause zurückzukehren. Wie sollte er ohne das meditative Piepen des Herzfrequenzmonitors noch einschlafen können? Wie sollte er allein in seinem Schlafzimmer aufwachen können? Wo wären die anderen Patienten, wenn er Gesellschaft brauchte?
Einer der wenigen Vorzüge, die ein längerer Krankenhausaufenthalt mit sich brachte, war, dass man genau wusste, wo es langging. Sechs Wochen reichten aus, um zu lernen, welche Gerichte auf dem täglichen Speisezettel genießbar waren und auf welche man lieber verzichten sollte; um sich darauf einzustellen, welcher Pförtner Sinn für Humor besaß und welcher kaum ein Blinzeln, geschweige denn ein freundliches Lächeln zustande brachte. Sie reichten auch aus, um zu wissen, welche Schwester einem zum Abendessen einen Extra-Pudding herüberschieben würde und bei welcher man sich tadellos zu benehmen hatte. Zum Glück arbeiteten auf der Moira-Gladstone-Station mehr von der ersten Sorte als von der anderen. Aber keine war freundlicher, fürsorglicher und in jeder Hinsicht einmaliger als Schwester Martha Angles, auch Mother Angel genannt. Alles an ihr war groß. Sie war eine Frau, deren Busen und deren Sinn für Humor das Zimmer ausfüllten. Sie leitete die Reha-Station mit scharfem Auge und großem Herzen.
»Guten Morgen, Mother Angel, wie geht es Ihnen heute?«
Zum ersten Mal seit langer Zeit genoss Alfie das frühe Aufwachen. Man konnte gar nicht anders, als jeden Augenblick mit Schwester Angles in sich aufnehmen zu wollen. Sie gehörte zu jenen strahlenden Menschen, denen man nur einmal im Leben begegnet.
»Guten Morgen, mein Lieber. Alles wie immer bei mir. Hank hat mich gestern Abend ins Kino ausgeführt – und anscheinend bin ich nach zwanzig Minuten eingedöst! Keine Ahnung, worum es in dem Film ging, aber ich hab wunderbar geschlafen, das kann ich Ihnen sagen.«
Hank war die große Liebe in Schwester Angles’ Leben. Ihr Jugendschwarm, den sie mit achtzehn geheiratet hatte. Sie hatten vier wunderbare Kinder, und Schwester Angles liebte ihn mit jeder Faser ihres Körpers, was sich auch darin äußerte, dass sie sich ständig über ihn beklagte.
»Wenn er es erträgt, dass Sie bei einem Date schnarchen, muss er Sie wirklich lieben! Wann machen Sie uns endlich miteinander bekannt? Er muss mir unbedingt erklären, wie man eine Frau wie Sie findet.«
Sie gab ihm einen freundschaftlichen Klaps aufs Handgelenk. »Glauben Sie mir, Schätzchen, sie zu finden ist die leichteste Übung. Die wahre Herausforderung liegt darin, sie zu halten!«
»Amen, Schwester!«, ertönte es aus Sharons Bett. Sharon war seit kurzer Zeit geschieden und seit noch kürzerer Zeit Feministin.
Schwester Angles stieß ein lautes, tiefes Lachen aus. »Wie auch immer, schauen wir mal, wie es uns heute geht.« Sie betrachtete seinen bandagierten Stumpf.
»Ernsthaft? Schon wieder?« Alfie war klar, dass er gereizt klang, aber offen gestanden war er heute nicht in der Stimmung, jemanden an seine Wunde heranzulassen.
»Oh, dann wollen Sie wohl, dass die Schwellung zurückkommt, stimmt’s? Sie wollen, dass die Narbe aufplatzt und das Ding sich wieder entzündet? Bringen Sie mich nicht dazu, in der Orthopädie anzurufen und Sie wieder zurückverlegen zu lassen. Sie glauben vielleicht, das würde ich nicht tun, aber da kennen Sie mich schlecht!«
Alfie mochte nicht in der Stimmung für die Inspektion seiner Wunde sein, aber Schwester Angles war eindeutig ebenso wenig nach Diskutieren zumute. Er war auf die Moira-Gladstone-Reha-Station verlegt worden, nachdem er zuvor auf der Intensivstation und der Orthopädie gelegen hatte. Mit anderen Worten: Alfie war schon ein wenig herumgekommen und wusste, dass er sich keinen besseren Ort als diesen hier wünschen konnte.
»Tut mir leid. Nur zu. Ich schaue nur nicht gern hin, das ist alles.«
»Ich weiß, Baby, ich beeile mich auch.« Vorsichtig machte sie sich daran, seinen Verband zu lösen. Sofort meldeten sich starke Sinnesempfindungen in seiner Haut. Man konnte nicht eigentlich von Schmerzen reden, obwohl er sich manchmal fragte, ob die qualvollen Schmerzen in den Tagen nach dem Unfall einfach dafür gesorgt hatten, dass seine Toleranzschwelle inzwischen höher lag. Jedenfalls war es ein bizarres Gefühl, als würden glühend heiße Nadeln seinen Körper hinauf- und hinunterjagen. Er zuckte leicht zusammen, und Schwester Angles berührte seine Hand. »Ich weiß, dass es kein Vergnügen ist, aber allemal besser als das Risiko, Sie zu verlieren. Das wird nicht passieren, solange ich hier die Verantwortung trage.«
Er wusste, dass sie recht hatte, also lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Egal wie viel Zeit vergangen war, der Anblick der Wunde schickte immer noch Schockwellen durch seinen ganzen Körper. Sämtliche Schmerzen waren leichter zu ertragen als der Anblick der Narben. Diese dicken weißen Linien, die für alles standen, was er verloren hatte und niemals zurückbekommen würde.
»So, schon erledigt. Und, sind Sie bereit, heute Nachmittag bei der Physiotherapie das Laufband zu stürmen?« Schwester Angles hatte die Wunde so schnell und schmerzlos überprüft wie versprochen.
»Darauf können Sie wetten, Big Mama. Heute ist der Tag, an dem ich es packe.«
Sie gab ihm einen weiteren freundlichen Klaps und fuhr mit ihrer täglichen Routine fort. Vitalfunktionen prüfen, Messwerte notieren und – das Allerwichtigste – das Kissen aufschütteln.
»Und jetzt, Alfie, muss ich Sie um einen Gefallen bitten.«
Ihr Ton hatte sich leicht verändert.
»Klar doch, worum geht’s?«
Sie hockte sich mit dem größten Teil ihres Körpers auf die Bettkante. »Hier neben Ihnen wird bald jemand Neues einziehen.«
Alfies Herz machte einen Satz.
»Bevor Sie jetzt allzu begeistert reagieren, muss ich Sie warnen – die Patientin ist schwer traumatisiert und hat seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus kein Wort gesprochen.«
Alfie wurde schwer ums Herz.
»Wie lange ist sie denn schon hier?« Er konnte sich nicht einmal vorstellen, einen Nachmittag lang zu schweigen.
»Ein paar Wochen inzwischen.« Schwester Angles rückte noch ein Stück näher heran. »Schauen Sie, Alfie. Mir ist klar, dass Sie versuchen werden, mit ihr zu sprechen und sich mit ihr anzufreunden. Ich möchte Sie bitten, damit einfach ein Weilchen zu warten. Lassen Sie sie ein wenig in Ruhe, bis sie von sich aus zum Sprechen bereit ist. Okay, Schätzchen?«
Alfie irritierte immer noch, dass jemand so lange schweigen konnte. Er hätte allzu gern gewusst, wie es zu so etwas kommen konnte.
»Alfie?«
»Sorry, natürlich. Ich sage kein Wort.«
»Braver Junge.« Sie klopfte an der Stelle aufs Bett, wo sein linkes Bein gewesen war, eine unabsichtliche Erinnerung an das, was ihm im wahrsten Sinne des Wortes fehlte. Dann erhob sie sich und verließ seine abgetrennte Kabine.
Alfie dachte weiter darüber nach, wie um alles in der Welt jemand es so lange ohne zu reden ausgehalten hatte. Sicherlich hatte Schwester Angles übertrieben. Niemand, der seinen Verstand beisammenhatte, konnte freiwillig über Wochen hinweg schweigen. Im Laufe seines Lebens war es häufiger vorgekommen, dass Menschen mit ihm gewettet hatten, er würde es nicht schaffen, längere Zeit den Mund zu halten. Einmal, auf der Highschool, war es ihm gelungen, 3000 Pfund an Spendengeldern im Gegenzug für ein achtundvierzigstündiges Schweigen aufzutreiben. Letztlich hatte er es kaum geschafft, den ersten Vormittag durchzuhalten. Allerdings waren die Spender schon von seinem Versuch derart angetan gewesen, dass sie dennoch gespendet hatten. Alfie lebte für das Gespräch. Er blühte auf, wenn er mit anderen zu tun hatte. Zu den wenigen Dingen, die ihm durch seine Tage im Krankenhaus halfen, gehörte es, Mr Peterson auf die Nerven zu gehen und mit Sharon den neuesten Klatsch auszutauschen. Unterhaltungen waren der Stoff, der sein Leben auf der Station zusammenhielt, und Alfie mochte sich kaum vorstellen, wie einsam er sich ansonsten hier fühlen würde.
Das hält sie nicht lange durch.
Wie sollte sie auch? Schwester Angles hatte sich unmissverständlich geäußert, keine Frage. Trotzdem hegte Alfie insgeheim den Verdacht, dass die mysteriöse Patientin, sobald sie ins Leben hier integriert war, auch daran teilnehmen würde. Das war das Schöne an der Moira-Gladstone-Station. Es lief eben nicht wie auf der Intensivstation oder in der Notaufnahme. Es gab kein ständiges Kommen und Gehen. Hier blieben die Patienten länger. Erholten sich gründlich. Wurden eine Familie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis seine neue Nachbarin sich anschließen würde.
Alice
Während ihrer Zeit auf der Intensivstation hatte Alice zumindest eines geschafft: sich eine ungefähre Vorstellung davon zusammenzubasteln, was mit ihr geschehen war. Es hatte eine Weile gedauert, den Nebel zu durchdringen und sich an den von Hitze, Rauch und Schreien geprägten Bildern vorbei bis zu dem vorzuarbeiten, was sie am fraglichen Tag getan hatte.
Am Abend vor dem Brand hatte sie lange gearbeitet und es nicht zu ihrem Pilates-Kurs geschafft. Sie erinnerte sich an ihren Ärger darüber. Eine einzige Stunde zu verpassen konnte bereits in eine Abwärtsspirale der Nachlässigkeit führen. Nach zwei doppelten Espressos und einer schnellen Dusche war sie kurz vor 6 Uhr morgens zur Tür hinaus und auf dem Weg ins Büro gewesen.
Alice hatte so lange und so hart gearbeitet, dass sie inzwischen ein sehr komfortables Gehalt bezog und eine höhere Position in einer Finanzberatungsfirma innehatte. Das wiederum hatte sie in die glückliche Lage versetzt, beim Kauf ihrer Wohnung die freie Wahl zu haben. Zunächst hatte sie sich gezwungen, in den Vororten zu suchen, sich die wunderschönen Häuser anzuschauen, die von ihren Bewohnern mit viel Kreativität und Liebe instand gehalten wurden. Sie ließ sich von den Maklern Häuser mit gepflegten Gärten zeigen, die von Sonnenlicht durchflutet waren und einen grünen Zufluchtsort im Betondschungel Londons boten. Sie beharrte auf zusätzlichen Zimmern für zukünftige Gäste und ihren potenziellen Nachwuchs. Irgendwann erwischte sie sich dabei, von »Nachwuchs« statt von »Kindern« zu sprechen. Daraufhin beschloss sie, ehrlich mit sich zu sein. Alice war stolz darauf, eine sehr alleinstehende, sehr zynische und sehr kompetente Person zu sein. Sie hatte nie an Dinge geglaubt, die sie nicht mit eigenen Augen sehen, mit einem Lineal vermessen oder zumindest in einem Lehrbuch nachschlagen konnte. Alice war kein Mensch, der gern tiefgründige, intellektuelle Gespräche führte. Offen gesagt, waren Träume und Hoffnungen nicht ihr Ding, und ganz sicher vermied sie es nach Möglichkeit, sich auf andere Menschen zu verlassen. Bequemlichkeit und Ruhe waren alles, was Alice Gunnersley brauchte. Also kaufte sie eine Penthousewohnung in Greenwich. Sie hatte keine Nachbarn auf ihrer Etage, stattdessen einen Blick auf den Fluss und einen Teil des Parks, sodass sie sich einreden konnte, mitten in der Natur zu leben. Vor allem aber konnte sie von der Wohnung aus ihr Büro sehen, was ihr jedes Mal auf perverse Weise ein Gefühl der Ruhe vermittelte.
Am Tag des Unglücks war es auf der Arbeit besonders stressig gewesen. Bis zum Wochenende musste Alice einen umfangreichen Bericht fertigstellen, der im Erfolgsfall dazu führen würde, ihre Eignung als mögliche zukünftige Partnerin in den Köpfen des Vorstands zu verankern. Dem Abschluss dieses extrem wichtigen Berichts standen unglücklicherweise endlose Sitzungen, Projektprüfungen und Finanzplanungen im Wege, dazu das regelmäßige Informationsgespräch mit ihrem Chef, das eine ganze Stunde in Anspruch nahm. Alice hatte sich schon oft gefragt, warum Henry auf diesen monatlichen Gesprächen bestand, wo sie doch jedes Mal nach demselben Drehbuch abliefen.
»Alice, Sie sind ohne Zweifel ein großer Gewinn für diese Firma. Ich kenne niemanden mit Ihrem Arbeitsethos und Ihrer Fähigkeit zu liefern. Aber Sie wissen, dass wir in dieser Firma auch auf andere Punkte Wert legen. Wenn Sie es bis ganz nach oben schaffen wollen, müssen Sie damit anfangen, die Menschen mitzunehmen.«
Die Menschen mitnehmen.
Wieder so eine dämliche Floskel aus dem Wörterbuch der Personalabteilung, dachte sie. Können Sie mir überhaupt sagen, was das bedeuten soll, Henry? Sie verkniff sich den Kommentar, atmete stattdessen tief durch und setzte ein Lächeln auf.
»Ich nehme die Menschen mit, Henry. Schauen Sie sich die Statistiken an. Fünf Mitglieder meines Teams sind allein in diesem Jahr befördert worden, und ich habe die geringste Mitarbeiter-Fluktuation auf der gesamten Etage.«
»Ich weiß.« Verzweifelt schüttelte er den Kopf.
Alice wusste, dass sie nicht unbedingt leicht im Umgang war, doch sie wusste auch, dass Fakten sich nicht wegdiskutieren ließen. Also lieferte sie ihm Fakten.
»Aber das ist nicht der Punkt.«
»Nun, Henry, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe heute jede Menge zu tun. Deshalb wäre ich dankbar, wenn Sie möglichst schnell auf den Punkt kommen …«
Alice war klar, dass ihre bissigen Kommentare ihn nicht überraschten. Schließlich arbeiteten sie inzwischen seit über zehn Jahren zusammen. In all der Zeit hatte sich an Alice’ rücksichtsloser Hingabe an ihren Job wenig geändert.
»Der Punkt ist, dass das Leben nicht nur aus diesem Büro besteht. Manchmal mache ich mir einfach Sorgen, dass Sie das nicht verstehen. Sie sind Tag und Nacht hier, und ich bezweifle, dass das wirklich gesund ist. Außerdem nehmen Sie hier kaum an sozialen Aktivitäten teil, und wenn ich Sie mit jemandem sprechen sehe, geht es praktisch ständig um Abgabetermine.«
Alice runzelte die Stirn. Würde er jetzt vor ihren Augen einen Nervenzusammenbruch bekommen? Sie fing an zu lachen.
»Jetzt verstehe ich. Es geht um eine neue Strategie, mit der die Personalabteilung Gesundheit und Wohlbefinden der Mitarbeiter fördern will, stimmt’s? Schauen Sie, um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich schlafe, esse und habe sogar Freunde, die ich hin und wieder treffe. Außerdem stimmt es nicht, dass ich hier mit keinem reden würde.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ach, tatsächlich?«
»Ich rede mit Lyla.«
»Sie ist Ihre Assistentin. Da lässt es sich wohl nicht vermeiden.«
»Na schön. Ich rede mit Arnold.«
Ha, damit hatte sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt.
»Arnold? Wer zum Teufel ist Arnold?« Seine Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz. Das taten sie immer, wenn er nachdachte. Eine Angewohnheit, die Alice nicht ausstehen konnte.
Plötzlich fiel der Groschen. »O mein Gott, Alice. Doch nicht der alte Mann am Empfang?«
»Genau der.« Sie lächelte süffisant.
Henry verdrehte die Augen. Sie merkte, dass seine Verzweiflung ungeahnte Dimensionen erreichte. »Na gut. Wenn Sie also sagen wollen, dass Sie mit Arnold tiefe, bedeutungsvolle Gespräche führen, kann ich mir darüber kein Urteil erlauben.«
»Genau.« Alice stand auf. »Sind wir fertig?«
Henry zuckte die Schultern. Er hatte so gut wie kapituliert. »Offensichtlich schon.«
»Danke, Henry.« Beim Verlassen des Zimmers würdigte sie ihn keines Blickes.
Wie seltsam, dachte sie. Warum um alles in der Welt war er plötzlich so besorgt darüber, was sie mit ihrem Leben außerhalb der Arbeit anfing? Sicher ging es nur darum, in Anbetracht ihres Gehalts so viel Profit wie möglich aus ihr herauszuholen. Was machte es da aus, dass sie Arnold nicht unbedingt als Freund bezeichnet hätte? Je bedeutender ihre Rolle in der Firma wurde, desto mehr lief es eben darauf hinaus, dass er in ihrem Leben der Mensch war, dem sie am häufigsten begegnete. Fünfmal pro Woche saß Arnold Frank Bertram während der Nachtschicht am Empfang des Gebäudes. In der Regel war Alice die einzige Angestellte, die sich nach 21 Uhr noch im Büro aufhielt. Das bedeutete, dass der komplette vierzigstöckige Büroturm um diese Zeit bis auf Arnold und sie verwaist war. Wenn sie abends die Disziplin aufbrachte, sich loszureißen und sich auf den Heimweg zu machen, war er also immer da. Stets saß er geduldig unten am Empfang, den Blick auf die Tür zur Straße gerichtet. Sobald er Alice erblickte, tauchte auf seinem Gesicht ein breites Lächeln auf.
»Wieder spät geworden, Miss? Wenn man es schon macht, dann auch gründlich, hab ich recht?«
Lange Zeit hatte Alice es dabei belassen, dem Mann ein Lächeln zu schenken. Ein echtes und dankbares Lächeln, mehr aber auch nicht. Sie spürte, dass er ein redseliger Typ war, auf eine wunderbar großväterliche Art und Weise, ein Mensch voller Geschichten. Aber um 21 Uhr an einem Mittwochabend, wenn sie am nächsten Tag um sieben wieder anfangen musste, verspürte Alice nicht die geringste Lust zum Plaudern. Ein Lächeln musste reichen.
Doch im Laufe der Zeit dauerte ihr Arbeitstag immer häufiger bis in die frühen Morgenstunden, und Alice fand es zunehmend schwieriger, den alten Mann und seine regelmäßigen Kontaktversuche zu ignorieren. Eines Tages, während einer besonders höllischen Woche, hatte Alice sich um 2 Uhr entschlossen, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Als sie ins Gebäude zurückkehrte, erwartete Arnold sie mit einer Tasse heißem Kakao.
»Sie müssen den Zuckerspiegel hochhalten, Miss.« Lächelnd nickte er ihr zu.
»Danke.« Sie brachte nicht die Energie zum Protestieren auf und nahm das Geschenk einfach an. In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. »Was schulde ich Ihnen?«
»Nichts.« Er hob abwehrend die Hände. »Morgen können Sie wieder eine haben.« Er zwinkerte ihr zu und kehrte dann pflichtbewusst hinter den Empfangstisch zurück.
Und so nahm ein seltsames nächtliches Ritual seinen Anfang. Inzwischen waren heißer Kakao und kurze Plaudereien mit Arnold zu einem festen Bestandteil von Alice’ Arbeitstagen geworden.
In der Nacht des Brandes war es nicht anders gewesen. Obwohl der Zuckerschub sie aus irgendeinem Grund nicht sonderlich belebt hatte. Seit 10 Uhr morgens hatte sie an ihrem Bericht gearbeitet, aber irgendwie stimmte der Ton noch nicht. Sie erinnerte sich gut, wie sie die Augen geschlossen hatte in der Hoffnung, nach einem kurzen Powerschlaf wieder klarer denken zu können. Sie trank den Rest ihres Kakaos und legte den Kopf auf den Schreibtisch.
Von den Behörden hatte sie erfahren, dass während ihres Schlafs, zwischen 2 und 3 Uhr morgens, ein Block der Klimaanlage auf der darüberliegenden Etage in Brand geraten war und den oberen Teil des Gebäudes völlig zerstört hatte.
»Sie haben Glück gehabt, Miss«, sagte der Polizist, nachdem er vergeblich versucht hatte, ihr irgendwelche Informationen für seinen Bericht zu entlocken. Obwohl ihre körperlichen Kräfte allmählich zurückkehrten, beruhten ihre Erinnerungen an das Unglück immer noch auf dem, was andere ihr darüber erzählt hatten. Eine Patchworkdecke aus Geschichten, die sie sich notgedrungen zu eigen gemacht hatte.
Wenn sie mit dem jetzigen Zustand Glück gehabt hatte, wollte sie sich die Alternative lieber nicht ausmalen.
»An Ihrer Rezeption sitzt ein äußerst gewissenhafter Mann. Er hätte Sie wahrscheinlich ganz allein aus der Gefahrenzone gezerrt, wenn die Feuerwehr nicht gerade noch rechtzeitig eingetroffen wäre. Der arme Kerl war völlig verstört.«
Arnold.
»Er hat Ihnen das Leben gerettet, Miss Gunnersley.« Der zweite Polizist betrachtete sie forschend. Ganz offensichtlich wartete er auf irgendeine Gefühlsregung oder Antwort ihrerseits. Doch sie nickte bloß.
»Na gut, dann schicken wir Ihnen den Bericht, sobald er fertig ist. Sollten Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie uns gern anrufen.«
Offenbar hatte Arnold sich tatsächlich wie ein Freund verhalten. Er war buchstäblich über Nacht zu einem der wichtigsten Menschen in Alice’ Leben geworden. Er hatte sie gerettet.
Inzwischen fragte sie sich, ob es vielleicht besser gewesen wäre, er hätte sie dem Feuer überlassen.
Alfie
»Mr P, Sie wissen doch, wie spät es ist!« Alfie stemmte sich im Bett hoch und griff nach seinen Krücken.
Der alte Mann runzelte die Stirn. »Meine Güte, mit den ganzen Aktivitäten, die Sie ständig planen, ist es ja schlimmer als in einem Feriencamp. Ich bin keiner Ihrer verdammten Schüler, verstehen Sie?«
In seinem alten Leben, vor dem Unfall, war Alfie Pädagoge für Sporttherapie und körperliche Aktivitäten an einer Highschool im Londoner Süden gewesen. Was nichts anderes bedeutete, als dass er ein stinknormaler Sportlehrer war, aber für diese Bezeichnung musste man sich anscheinend heutzutage schämen. Die Politik hatte das Bildungssystem gründlich infiziert, und mit den Titeln wurden Selbstwertgefühl und Ego aufpoliert. Alfie scherte sich nicht darum. Ihm ging es nicht um Prestige oder Ruhm, er liebte einfach jede Sekunde in seinem Beruf. Seine Schüler um sich zu haben, war das, was er hier auf der Station beinahe am meisten vermisste. Natürlich verfluchte er sie ständig, sobald er mit ihnen zusammen war, doch er hätte sie für nichts in der Welt hergegeben.
»Ihre Jammerei wird Sie noch mal umbringen. Jetzt beeilen Sie sich, sonst sind die Schokoladenbrownies ausverkauft.«
Alfie registrierte, dass Mr Peterson trotz aller Proteste bereits seine Pantoffeln anhatte und bereit für ihren Spaziergang war.
»›Beeilen Sie sich!‹ Das müssen Sie gerade sagen. Vergessen Sie nicht, dass Sie derjenige sind, dem ein Bein fehlt, mein Junge. Verglichen mit Ihnen bewege ich mich mit Lichtgeschwindigkeit.«
»Sind Sie beide eigentlich jemals nett zueinander?«, übertönte Sharons Stimme ihr Gekabbel.
»Jetzt halten Sie aber mal die Luft an, Sharon«, gab Mr Peterson zurück. »Sonst können Sie den heißen Kakao vergessen, mit dem Sie mich jetzt eine Stunde lang genervt haben.«
Das Hickhack nahm nie ein Ende. Manchmal fragte Alfie sich, ob sie ohne dieses Geplänkel alle mit der Nase darauf stoßen würden, dass sie sich im Krankenhaus befanden und sich ohne die tröstende Gegenwart ihrer Familien mit ihrem Schmerz herumschlagen mussten.
»Ihr seid schlimmer als meine Ruby, und die ist gerade zwölf geworden! Ihr solltet euch schämen«, rief Jackie vom anderen Ende des Zimmers. Nach ihrem Schlaganfall nuschelte sie immer noch ein wenig. Jackie war die einzige Patientin hier, die Kinder hatte, und Alfie liebte es zu sehen, wie die bloße Erwähnung ihrer Tochter ihr Leiden für einen Augenblick erträglicher zu machen schien. »Aber wenn Sie schon dort sind, Alfie … Für ein Zimtbrötchen würde ich alles geben.«
»Mein Gott, wir sind doch kein Lieferservice«, brummte Mr P.
»Sie wissen schon: Wenn man sie nicht mit Zucker versorgt, sind sie noch schlimmer!«, entgegnete Alfie und lächelte seinem Freund zu, der sich bei ihm eingehängt hatte. Er war ein sturer, dickköpfiger Mann, doch mit seinen zweiundneunzig Jahren verständlicherweise ein wenig gebrechlich.
Ihr Gang zum Costa zweimal pro Woche war ein guter Vorwand, von der Station wegzukommen und dem Lagerkoller zu entgehen, der hin und wieder drohte. Alfie wusste, dass er das Gehen trainieren musste, und Mr Peterson schmachtete nach seinem Kakao, sodass sie beide etwas davon hatten.
»Heute Morgen hatte ich ein interessantes Gespräch mit Mother A.« Alfie bemühte sich um einen lockeren Ton. Er wusste, dass sein Freund bei der bloßen Aussicht auf neuen Klatsch sofort anbeißen würde.
»Tatsächlich?« Die Augen des alten Mannes leuchteten.
»Wie es aussieht, bekomme ich eine neue Nachbarin. Eine schweigsame.«
»Sie bekommen was?«
»Das Nachbarbett wird mit einer neuen Patientin belegt. Offenbar hat sie seit Wochen keinen Ton gesprochen. Sie weigert sich einfach, und das schon seit ihrer Einlieferung. Schwester Angles sagt, sie wäre ziemlich traumatisiert.« Alfie zuckte die Schultern. Der Gedanke an das entschlossene Schweigen dieser Patientin verwirrte ihn nach wie vor.
»Ich schätze, sie muss ziemlich schwer verletzt sein.«
»Ja, hört sich so an.« Eine schwere Stille lastete plötzlich auf ihnen. Beide konzentrierten sich auf ihre langsamen, unsicheren Schritte. »Na, warten wir mal eine Woche ab. Solche Dinge gehen immer vorbei. Und wenn nicht, kann sie Ihnen vielleicht beibringen, wie man hin und wieder den Mund hält. Davon hätten wir alle was.« Der alte Mann lachte über seinen eigenen Witz.
»Wahrscheinlicher ist wohl, dass ich sie dazu bringe nachzugeben. Und dann nerven wir beide Sie in Nullkommanichts.« Alfie versetzte seinem Freund einen Stoß in die Rippen. Er war dankbar, dass das Gespräch seinen leichten Ton wiedergefunden hatte.
Mr Peterson verdrehte die Augen. »Gütiger Gott, dann bete ich lieber, dass die Dame nie wieder ein Wort spricht!«
Alice
Als Alice erfahren hatte, dass sie auf eine andere Station verlegt werden sollte, war sie ein Stück weit erleichtert gewesen. Es bedeutete, dass sie Fortschritte machte. Die Ärzte stuften ihren Zustand nicht mehr als kritisch ein, und sie war endlich auf dem Weg zurück in ihr altes Leben. Obwohl ihre Hauttransplantate und das verbrannte Fleisch darunter zu heilen begonnen hatten, hatte sie noch kein einziges Wort gesprochen. Was sollte sie auch sagen? Alles, was man von ihr hören wollte, war, dass es ihr »ganz gut« ging. Dass sie sich »viel besser« fühlte, »danke«. Dabei reichte ein einziger Blick, um zu sehen, dass das eine Lüge war. Nicht dass sie selbst nach dem Unglück einen einzigen Blick in den Spiegel geworfen hätte. Als die Ärzte sie ermuntert hatten, ihr Spiegelbild zu betrachten, hatte sie sich einfach geweigert, die Augen zu öffnen. Sie brauchte sich nur die narbig verdickte Haut auf ihren Armen anzuschauen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie ihr Gesicht aussehen mochte. Auch ohne Spiegel wusste sie, dass sie nur noch als Ausschussware durchging.
Und trotzdem konnten die übertrieben freundlichen, überaus mitfühlenden und ständig positiven Schwestern nicht aufhören mit ihrem blödsinnigen: »Sie haben Glück gehabt.«
»Sie haben Glück dass es nur eine Seite erwischt hat, Alice.«
»Ein Glück, dass Sie rechtzeitig gerettet wurden, sonst wäre auch noch die rechte Seite in Mitleidenschaft gezogen worden.«
Oh, wunderbar, in diesem Fall wäre sie also ein komplettes Wrack gewesen. Was für ein Glück, dass nur eine Seite ihres Körpers entstellt war.
Scheißglückliche Alice!
»Guten Morgen, Alice. Wie geht es Ihnen?«, sagte der Arzt ausdruckslos. Es verblüffte sie, dass die Leute nicht damit aufhörten, ihr Fragen zu stellen. Die ganze Zeit über hatte ihre einzige Antwort in Schweigen bestanden, und trotzdem versuchten sie es immer wieder.
»Ich habe mir Ihre Unterlagen angeschaut und bin zufrieden mit Ihren Fortschritten. Die Transplantate verheilen gut, und sämtliche Vitalparameter sind stabil.« Der Arzt hob den Blick von seinem Klemmbrett und lächelte ihr zu. Sein Bemühen um eine positive Sicht wirkte eher unbeholfen als ermutigend. »Das Nächste, was wir tun müssen, ist, Ihre Kraft und Beweglichkeit zu stärken. Sie liegen jetzt schon eine ganze Weile im Bett, und wir müssen verhindern, dass sich noch mehr Muskulatur abbaut. Deshalb wollen wir Sie auf die Moira-Gladstone-Station verlegen. Das ist eine Reha-Einrichtung, die gleich hier ins Krankenhaus integriert ist. Sie zählt zu den besten im Land. Man wird einen Physiotherapie-Plan für Sie ausarbeiten und den Heilungsprozess Ihrer Wunden weiter überwachen. Wenn wir Klarheit über das Ausmaß der Narben haben, können wir über weitere Optionen sprechen.«
Nichts, was Sie tun, kann mir das zurückgeben, was ich hatte.
»Das Einzige, worum wir uns Sorgen machen, ist …«
Der Umstand, dass ich seit Wochen weder gesprochen noch einen Blick auf mein Gesicht geworfen habe?
Alice genoss es, dem Mann dabei zuzusehen, wie er um eine angemessene Formulierung rang.