Cover

DAS BUCH

Patricia Campbell führt eine Vorzeigeehe, hat zwei süße Kinder und ein Haus im schönsten Vorort von Charleston, South Carolina. Doch ihren Mann bekommt sie vor lauter Arbeit kaum zu Gesicht, und ihre Kinder sind zu launischen Teenagern mutiert. Ihr einziger Lichtblick sind die Buchclub-Abende, an denen sie mit ihren Freundinnen ihrer Leidenschaft für True Crime und Serienkiller frönt. Nach einem solchen Abend wird Patricia brutal von ihrer dementen Nachbarin attackiert, die kurz darauf stirbt. Wenig später zieht deren Neffe James Harris nach Charleston. Er ist höflich, belesen und sieht unverschämt gut aus. Doch irgendetwas stimmt mit ihm nicht, und als im ärmeren Viertel der Stadt immer mehr Kinder verschwinden, vermuten Patricia und ihre Freundinnen, dass James mehr Ted Bundy als Brad Pitt ist. In Wahrheit ist er jedoch eine ganz andere Sorte Monster – und Patricia hat es schon längst in ihr Heim gelassen …

DER AUTOR

Grady Hendrix wurde in Charleston, South Carolina, geboren und arbeitete jahrelang für die American Society for Psychical Research, wo er Anrufern Fragen zu Geistern, UFOs und Zeitreisen beantwortete, ehe er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. Seitdem hat er unzählige Zeitungsartikel für Online- und Print-Zeitschriften sowie mehrere Horror-­Romane verfasst, die regelmäßig auf der Bestsellerliste der New York Times landen. Grady Hendrix lebt mit seiner Frau in New York.

Grady Hendrix

SOUTHERN
GOTHIC

Das Grauen
wohnt nebenan

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel
THE SOUTHERN BOOK CLUB’S GUIDE TO SLAYING VAMPIRES

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2020 by Grady Hendrix

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Designomicon, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27347-7
V002

www.heyne.de

Für Amanda,

wo auch immer all deine Teile verstreut sind …

Vorbemerkung des Autors

Vor ein paar Jahren schrieb ich ein Buch namens Der Exorzismus der Gretchen Lang, in dem es um zwei junge Frauen geht, die 1988 in Charleston, South Carolina, den Höhepunkt der »Satanic Panic« miterleben. Sie gelangen zu der Überzeugung, dass eine von ihnen vom Teufel besessen ist, und einen entsprechend unschönen Verlauf nimmt der Rest der Handlung.

Der Roman ist aus dem Blickwinkel einer Teenagerin geschrieben, und die Eltern kommen darin ziemlich schlecht weg, weil Eltern Teenagern nun mal ein Graus sind. Aber man kann die Geschichte auch aus dem Blickwinkel der Eltern erzählen; schildern, wie hilflos man sich fühlt, wenn das eigene Kind in Gefahr ist. Ich wollte eine Geschichte über diese Eltern schreiben, und so erblickte Southern Gothic das Licht der Welt. Es handelt sich bei diesem Buch nicht um eine Fortsetzung von Der Exorzismus der Gretchen Lang, aber es spielt ein paar Jahre später im selben Viertel, in dem auch ich aufgewachsen bin.

Als ich klein war, kam mir meine Mutter vollkommen lächerlich vor. Sie war Hausfrau und veranstaltete einen Buchclub, und sie und ihre Freundinnen hatten dauernd irgendwas zu erledigen, fuhren uns per Carpool umher und zwangen uns, Regeln zu befolgen, die keinen Sinn ergaben. Sie kamen uns ziemlich unterbelichtet vor. Heute ist mir klar, dass sie sich mit allem Möglichen herumschlagen mussten, von dem ich nicht das Geringste wusste. Sie haben die Köpfe hin­gehalten, damit wir unbeschwert durchs Leben segeln konnten, weil das nun mal so läuft: Die Eltern ertragen den Schmerz, damit ihre Kinder es nicht müssen.

Dies ist außerdem ein Buch über Vampire. Vampire sind der amerikanische Archetyp des umherschweifenden Mannes in Jeans, der von Stadt zu Stadt zieht, ohne Vergangenheit und ohne persönliche Bindungen. Wie Jack Kerouac, wie Shane, wie Woody Guthrie. Wie Ted Bundy.

Denn Vampire sind die prototypischen Serienkiller, frei von allem, was uns menschlich macht – sie haben keine Freunde, keine Familie, keine Wurzeln, keine Kinder. Das Einzige, was sie haben, ist Hunger. Sie essen und essen, aber sie werden nie satt. Ich wollte in diesem Buch einen Mann, der frei von jeder Verantwortung, frei von allem außer seinen Gelüsten ist, gegen Frauen antreten lassen, deren Leben aus ihren Pflichten besteht. Ich wollte Dracula gegen meine Mutter antreten lassen.

Wie sich her­ausstellen wird, ist es kein fairer Kampf.

Prolog

Diese Geschichte endet blutig.

Jede Geschichte beginnt blutig. Ein schreiendes Baby wird im Krankenhaus aus dem Mutterleib gezogen, gebadet in Schleim und einem halben Liter Blut. Aber nur noch wenige Geschichten enden heutzutage blutig. Normalerweise kehrt man nach einem Herzinfarkt in der Auffahrt, einem Schlaganfall auf der Veranda oder einem langsamen Dahinsiechen an Lungenkrebs ins Krankenhaus zurück und stirbt, umgeben von Maschinen, einen trockenen, leisen Tod.

Diese Geschichte beginnt mit fünf kleinen Mädchen. Jedes davon wurde in einer Pfütze aus dem Blut seiner Mutter geboren, gesäubert, getrocknet und dann zu einer ordentlichen jungen Dame gemacht. Man hat sie in der weiblichen Kunst unterwiesen, perfekte Ehepartnerinnen und ihrerseits verantwortungsvolle Mütter zu sein, die bei den Hausaufgaben helfen und sich um die Wäsche kümmern, die in Kirchenvereinen mitarbeiten und Bunco-Turniere organisieren, die ihre Kinder zum Figurentanz und auf Privatschulen schicken.

Auch Sie haben diese Frauen schon oft gesehen. Sie treffen sich zum Mittagessen und lachen so laut, dass das ganze Restaurant sie hört. Sie sind nach einem einzigen Glas Wein beschwipst. Wenn sie mal etwas richtig Wagemutiges anstellen wollen, kaufen sie sich ein paar Weihnachtsohrringe mit Leuchtdioden. Sie ringen endlos mit der Entscheidung dar­über, ob sie Nachtisch bestellen sollen oder nicht.

Da sie achtbare Personen sind, werden ihre Namen nur jeweils dreimal in der Zeitung auftauchen – bei ihrer Geburt, wenn sie heiraten und wenn sie sterben. Sie sind liebenswürdige Gastgeberinnen. Sie spenden an die Bedürftigen. Sie ehren ihre Männer und sorgen für ihre Kinder. Sie wissen, wie wichtig es ist, Porzellan für unter der Woche zu haben, welche Verantwortung es mit sich bringt, das Silberbesteck ihrer Urgroßmütter zu erben, und dass gute Betttücher unbezahlbar sind.

Und am Ende dieser Geschichte werden sie blutüberströmt sein. Ein Teil dieses Blutes wird ihr eigenes sein. Ein Teil davon das von anderen. Aber es wird an ihnen hinablaufen. Sie werden darin schwimmen.

Sie werden darin ertrinken.

Hausfrau, die (Substantiv, feminin) – eine unbedeutende, wertlose Frau oder ein ebensolches Mädchen.

Oxford English Dictionary, Kompaktausgabe, 1971

Denn sie sollen getröstet werden

November 1988

Kapitel 1

1988 war es George W. H. Bush gerade gelungen, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, indem er die Menschen dazu aufgefordert hatte, ihm genau auf den Mund zu schauen, während Michael Dukakis sie verloren hatte, indem er in einem Panzer herumgefahren war. Dr. Huxtable war Amerikas Dad, Kate & Allie waren Amerikas Moms und die Golden Girls Amerikas Omas. McDonald’s verkündete, dass es seine erste Filiale in der Sowjetunion eröffnen würde, alle kauften Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit und lasen sie dann nicht, Das Phantom der Oper lief auf dem Broadway an, und Patricia Campbell machte sich bereit zu sterben.

Sie besprühte ihre Haare, steckte sich ihre Ohrringe an und tupfte über ihren Lippenstift, aber als sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie keine neununddreißigjährige Hausfrau mit zwei Kindern und einer glänzenden Zukunft, sondern eine Tote. Wenn nicht ein Krieg aus- oder eine Sintflut losbrach oder die Erde in die Sonne stürzte, würde heute Abend das monatliche Treffen der Literaturgilde von Mt. Pleasant stattfinden, und sie hatte das Buch für diesen Monat nicht gelesen. Und sie war die Referentin. Was bedeutete, dass sie in weniger als neunzig Minuten vor einem Zimmer voller Frauen sitzen und ein Gespräch über ein Buch leiten würde, das sie nicht gelesen hatte.

Sie hatte Denn sie sollen getröstet werden wirklich lesen wollen, aber jedes Mal, wenn sie ihr Exemplar zur Hand nahm und die Worte »Von Ixopo führt eine malerische Straße in die Hügel« las, fuhr Korey mit ihrem Fahrrad vom Bootssteg, weil sie sich einbildete, dass sie damit über das Wasser sausen könnte, wenn sie nur schnell genug in die Pedale trat, oder sie zündete ihrem Bruder die Haare an, weil sie her­ausfinden wollte, wie nah man ihnen mit einem brennenden Streichholz kommen durfte, bevor sie Feuer fingen, oder sie erzählte ein ganzes Wochenende lang allen Anrufern, dass ihre Mutter nicht ans Telefon konnte, weil sie gestorben sei, was Patricia erst erfuhr, als die Leute mit Auflaufformen vor der Tür standen, um ihr Beileid zu bekunden.

Bevor Patricia in Erfahrung bringen konnte, war­um die Straße von Ixopo zu den Hügeln so schön war, sah sie Blue splitterfasernackt an den Fenstern zur Sonnenveranda vorbeirennen, oder ihr wurde mit einem Schlag klar, dass es deshalb so ruhig war, weil sie ihn in der Stadtbücherei vergessen hatte, sodass sie in den Volvo springen und über die Brücke zurückrasen musste und dabei nur beten konnte, dass er nicht von Moonys gekidnappt worden war, oder er hatte her­ausfinden wollen, wie viele Rosinen er sich in die Nase stecken konnte (vierundzwanzig). Sie erfuhr nie, wo Ixopo lag, weil ihre Schwiegermutter, Miss Mary, für sechs Wochen bei ihnen einzog, sie saubere Handtücher in der ausgebauten Garage brauchte und das Gästebett jeden Tag neu bezogen werden musste, und weil Miss Mary Schwierigkeiten damit hatte, aus der Wanne zu steigen, weshalb sie eine dieser Stangen anbringen lassen und erst jemanden dafür finden musste, und weil die Wäsche für die Kinder zu erledigen war, und weil Carters Hemden gebügelt werden mussten, und weil Korey genau die neuen Stollenschuhe haben wollte, die alle anderen auch hatten, obwohl sie sich so etwas im Moment eigentlich nicht leisten konnten, und weil Blue nur weiße Sachen aß, weshalb sie jeden Abend Reis zu kochen hatte … und so konnte sie der Straße von Ixopo in die Hügel nicht folgen.

Damals war es ihr wie eine gute Idee vorgekommen, der Literaturgilde von Mt. Pleasant beizutreten. Patricia war in jenem Moment, als sie sich bei einem Abendessen mit Carters Chef über den Tisch gebeugt hatte, um sein Steak für ihn kleinzuschneiden, klar geworden, dass sie raus aus dem Haus und neue Leute kennenlernen musste. Ein Buchclub klang passend, weil sie gerne las, vor allem Krimis. Carter hatte angemerkt, dass dies vielleicht dar­an lag, dass ihr ganzes Leben für sie wie ein rätselhafter Kriminalfall war, und da war sie durchaus seiner Meinung: Patricia Campbell und das Geheimnis der drei warmen Mahlzeiten am Tag, sieben Tage die Woche, ohne dabei durchzudrehen; Patricia Campbell und der Fall des Fünfjährigen, der einfach so andere Leute biss; Patricia Campbell und das Rätsel, wie man zum Zeitung­lesen kommen soll, wenn man zwei Kinder und eine Schwiegermutter bei sich wohnen hat und für alle waschen und kochen und das Haus sauber machen und der Hund seine Herzwurmpillen bekommen muss und man sich wahrscheinlich alle paar Tage auch mal selbst die Haare waschen sollte, weil die eigene Tochter sonst fragt, war­um man aussieht wie eine Obdachlose. Ein paar diskrete Erkundigungen, und schon hatte man sie zum ersten Treffen der Literaturgilde von Mt. Pleasant zu Hause bei Marjorie Fretwell eingeladen.

Die Literaturgilde von Mt. Pleasant wählte die Bücher für das jeweilige Jahr in einem sehr demokratischen Verfahren aus: Marjorie Fretwell lud sie alle zu sich ein, um elf Bücher aus einer Liste von dreizehn zu wählen, die ihr passend erschienen. Sie erkundigte sich, ob noch jemand andere Bücher empfehlen wollte, aber allen war klar, dass das keine ernst gemeinte Frage war, mit Ausnahme von Slick Paley, die anscheinend an einer chronischen Unfähigkeit litt, zwischenmenschliche Signale zu empfangen.

»Ich würde gerne Wie die Lämmer zur Schlachtbank: Ihr Kind und der Okkultismus vorschlagen«, sagte Slick. »Angesichts dieses Kristallladens auf dem Coleman Boulevard – und wenn man bedenkt, dass Shirley MacLaine auf der Titelseite des Time Magazine von ihren früheren Leben erzählen darf – brauchen wir einen Weckruf.«

»Von dem Buch habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Marjorie Fretwell. »Daher nehme ich an, dass es nicht unter unser Auswahlkriterium fällt, eines der großen Werke der westlichen Welt zu sein. Sonst noch wer?«

»Aber …«, wandte Slick ein.

»Sonst noch wer?«, wiederholte Marjorie.

Sie wählten die Bücher, die Marjorie für sie ausgewählt hatte, teilten sie nach Marjories Dafürhalten den Monaten zu und wählten die Referentinnen, die Marjorie für die passendsten hielt. Die Referentinnen sollten das Treffen eröffnen, indem sie einen zwanzigminütigen Vortrag über das Buch, seine Hintergründe und das Leben des Autors oder der Autorin hielten, um anschließend die Diskussion in der Gruppe anzuleiten. Eine Referentin konnte nicht einfach absagen oder mit einer anderen das Buch tauschen, ohne dafür eine empfindliche Strafe zu zahlen, weil die Literaturgilde von Mt. Pleasant eine ernste Sache war.

Als ihr klar wurde, dass sie es nicht schaffen würde, Denn sie sollen getröstet werden zu Ende zu lesen, rief Patricia Marjorie an.

»Marjorie«, sagte sie am Telefon, während sie den Deckel auf den Reistopf legte und die Platte runterdrehte, um ihn köcheln zu lassen. »Hier ist Patricia Campbell. Ich muss mit dir über Denn sie sollen getröstet werden reden.«

»Wirklich ein beeindruckendes Buch«, sagte Marjorie.

»Natürlich«, antwortete Patricia.

»Ich weiß, dass du ihm die gebührende Ehre erweisen wirst«, sagte Marjorie.

»Ich werde mein Bestes geben«, sagte Patricia, während ihr klar wurde, dass sie das genaue Gegenteil hätte sagen sollen.

»Und es passt so gut auf die gegenwärtige Situation in Südafrika«, fuhr Marjorie fort.

Kalter Schrecken durchzuckte Patricia. Was war die gegenwärtige Situation in Südafrika?

Nach dem Auflegen verfluchte Patricia sich für ihre Feigheit und Dummheit und nahm sich fest vor, in die Bücherei zu fahren und Denn sie sollen getröstet werden im Lexikon der Weltliteratur nachzuschlagen. Aber dann musste sie Snacks für Koreys Fußballmannschaft vorbereiten, und die Babysitterin hatte Drüsenfieber, und Carter musste plötzlich nach Columbia reisen und sie musste ihm packen helfen, und dann kam eine Schlange aus der Toilette in der ausgebauten Garage, und sie musste sie mit einer Harke totschlagen, und Blue trank eine Flasche Tipp-Ex, und sie musste mit ihm zum Arzt, um her­auszufinden, ob er dar­an sterben würde (nein, würde er nicht). Sie versuchte es damit, Alan Paton, den Autor, in ihrer Großen Enzyklopädie nachzuschlagen, aber der Band mit P fehlte. Sie notierte sich im Geiste, dass sie eine neue Enzyklopädie brauchten.

Es klingelte an der Tür.

»Moooom«, rief Korey von unten aus dem Flur. »Die Pizza ist da!«

Sie konnte es nicht mehr länger aufschieben. Es war an der Zeit, sich Marjorie zu stellen.

Marjorie hatte Handouts mitgebracht.

»Nur ein paar Artikel über die gegenwärtigen Ereignisse in Südafrika, darunter der jüngste unschöne Vorfall in Vanderbijlpark«, sagte sie. »Aber ich nehme an, dass Patricia all das schön für uns zusammenfassen wird, wenn sie uns Mr. Alan Patons Denn sie sollen getröstet werden vorstellt.«

Alle drehten sich zu Patricia um, die auf Marjories riesigem, rosa-weißem Sofa saß, und starrten sie an. Sie hatte sich nicht so genau an Marjories Einrichtung erinnert und ein Blümchenkleid angezogen, weshalb die Leute sie wahrscheinlich nur als einen Kopf und ein Paar in der Luft schwebende Hände sahen. Am liebsten hätte sie sich ganz in ihr Kleid verkrochen und wäre verschwunden. Sie spürte, wie ihre Seele ihren Körper verließ und über ihr unter der Decke schwebte.

»Aber bevor sie anfängt«, sagte Marjorie, und alle Blicke wandten sich wieder ihr zu, »sollten wir eine Schweige­minute für Mr. Alan Paton einlegen. Sein Dahinscheiden dieses Jahr hat die Literaturwelt ebenso sehr erschüttert wie mich persönlich.«

In Patricias Kopf jagten die Gedanken einander im Kreis herum. Der Autor war tot? Und erst seit Kurzem? In der Zeitung hatte sie nichts davon gelesen. Was konnte sie dazu sagen? Wie war er gestorben? Hatte man ihn ermordet? War er von wilden Hunden zerrissen worden? Hatte er einen Herzinfarkt erlitten?

»Amen«, sagte Marjorie. »Patricia?«

Patricias Seele beschloss klugerweise, sich in ihr nächstes Leben zu verabschieden und Patricia der Gnade der Frauen zu überlassen, die um sie herumsaßen. Da war Grace Cavanaugh, die nur zwei Türen weiter von Patricia wohnte, die sie aber nur ein einziges Mal getroffen hatte, als Grace bei ihr geklingelt hatte, um zu sagen: »Tut mir leid, wenn ich störe, aber Sie wohnen jetzt seit sechs Monaten hier, und ich muss es einfach wissen: Soll Ihr Vorgarten so aussehen?«

Slick Paley blinzelte hektisch. Der Blick ihrer winzigen Augen in dem spitzen Fuchsgesicht war fest auf Patricia geheftet, und sie hielt ihren Kugelschreiber über ihrem Notizbuch bereit. Louise Gibbes räusperte sich. Cuffy Williams putzte sich bedächtig mit einem Kleenex die Nase. Sadie Funche beugte sich vor und durchbohrte Patricia mit Blicken, während sie an einer Käsestange knabberte. Die einzige Person, die nicht in Patricias Richtung sah, war Kitty Scruggs, die stattdessen die Weinflasche beäugte, die in der Mitte des Teetischchens stand und die niemand zu öffnen gewagt hatte.

»Nun …«, setzte Patricia an. »Wahrscheinlich waren alle begeistert von Denn sie sollen getröstet werden

Sadie, Slick und Cuffy nickten. Patricia warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass sieben Sekunden vergangen waren. Sie konnte auf Zeit spielen. Sie wartete, während die Stille sich in die Länge zog, in der Hoffnung, dass jemand etwas einwerfen würde, aber die entstehende Pause führte lediglich dazu, dass Marjorie »Patricia?« sagte.

»Es ist so traurig, dass Alan Paton in den besten Jahren seines Lebens von uns genommen wurde, bevor er noch mehr Bücher wie Denn sie sollen getröstet werden schreiben konnte«, sagte Patricia. Wort für Wort tastete sie sich voran und ließ sich dabei vom Nicken der anderen leiten. »Dieses Buch hat uns so viel Aktuelles und Relevantes mitzuteilen, gerade jetzt, nach den schrecklichen Ereignissen in Vander … Vanderbill … Südafrika.«

Das allgemeine Nicken wurde nachdrücklicher. Patricia spürte, wie ihre Seele in ihren Körper zurückkehrte. Kühn fuhr sie fort: »Ich wollte euch eigentlich etwas über das Leben von Alan Paton erzählen«, sagte sie, »und dar­über, war­um er dieses Buch geschrieben hat, aber all diese Fakten können nicht vermitteln, welche Kraft dieser Geschichte innewohnt, wie sehr sie mich bewegt hat, welche Empörung ich beim Lesen empfunden habe. Das hier ist ein Buch, das man mit dem Herzen liest, nicht mit dem Kopf. Ging es noch jemandem so?«

Nun wurde überall im Wohnzimmer genickt.

»Genau, jawohl«, stimmte Slick Paley zu.

»Ich empfinde sehr leidenschaftlich, wenn es um das Thema Südafrika geht«, sagte Patricia, und dann fiel ihr ein, dass Mary Brasingtons Mann für eine Bank arbeitete und Joanie Winters Mann irgendwas mit Aktien zu tun hatte und sie vielleicht dort investiert hatten. »Aber ich weiß, dass man diese Sache von vielen Seiten betrachten kann, und vielleicht möchte ja jemand eine andere Sichtweise beitragen. Im Geiste von Mr. Patons Buch sollte das hier ein Gespräch sein, kein Vortrag.«

Alle nickten. Ihre Seele ließ sich nun wieder gänzlich in ihrem Körper nieder. Sie hatte es geschafft. Sie hatte überlebt. Marjorie räusperte sich.

»Patricia«, fragte Marjorie. »Wie denkst du über das, was Paton in dem Buch über Nelson Mandela schreibt?«

»Es macht mir Mut«, sagte Patricia. »Mandela thront über allem, obwohl er eigentlich nur am Rande erwähnt wird.«

»Ich glaube nicht, dass er erwähnt wird«, sagte Marjorie, und Slick Paley hörte zu nicken auf. »Wo hast du ihn denn auftauchen sehen? Auf welcher Seite?«

Patricias Seele stieg langsam wieder dem Licht entgegen. Lebewohl, sagte sie. Lebewohl, Patricia. Du bist jetzt auf dich allein gestellt …

»Sein Geist der Freiheit?«, sagte Patricia. »Er durchdringt jede einzelne Seite?«

»Als das Buch geschrieben wurde«, sagte Marjorie, »hat Nelson Mandela noch Jura studiert und war nur eines von vielen Mitgliedern des ANC. Ich wüsste nicht, wie sein Geist in diesem Buch auftauchen sollte, ganz zu schweigen davon, dass er jede Seite durchdringt.«

Marjories Blick bohrte sich wie ein Eispickel in Patricias Gesicht.

»Tja«, krächzte Patricia, weil sie inzwischen tot war und der Tod sich anscheinend sehr, sehr trocken anfühlte. »Das, was er dann später tun sollte. Man hat gespürt, wie es sich anbahnt. Hier drin. In dem Buch. Das wir gelesen haben.«

»Patricia«, sagte Marjorie. »Du hast das Buch nicht gelesen, oder?«

Die Zeit stand still. Niemand regte sich. Patricia wollte lügen, aber lebenslange Zurichtung hatte eine Dame aus ihr gemacht.

»Teilweise«, sagte Patricia.

Marjorie stieß einen Seufzer aus, der vom Grunde ihrer Seele kam und kein Ende zu nehmen schien.

»Wie weit hast du es gelesen?«

»Die erste Seite?«, sagte Patricia und plapperte dann los: »Es tut mir leid, ich weiß, dass ich euch enttäuscht habe, aber die Babysitterin hatte Drüsenfieber, und Carters Mutter wohnt gerade bei uns, und eine Schlange kam aus dem Schrank, und diesen Monat war einfach alles furchtbar anstrengend. Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, außer dass es mir sehr, sehr leidtut.«

Vom Rande ihres Blickfelds kroch die Schwärze heran. Ein schriller Ton erklang in ihrem rechten Ohr.

»Tja«, sagte Marjorie. »Letztendlich ist es dein Verlust. Du hast dich eines der vielleicht besten Werke der Weltliteratur beraubt. Und uns hast du deiner ganz besonderen Sichtweise darauf beraubt. Aber jetzt ist es nun mal passiert. Wer ist stattdessen bereit, die Diskussion zu leiten?«

Sadie Funche zog sich wie eine Schildkröte in ihr Laura-Ashley-Kleid zurück, Nancy Fox begann bereits, den Kopf zu schütteln, bevor Marjorie den Satz auch nur zu Ende gesprochen hatte, und Cuffy Williams erstarrte wie ein Beutetier, das sich seinem Jäger gegenübersah.

»Hat irgendjemand das Buch für diesen Monat gelesen?«, fragte Marjorie.

Schweigen.

»Ich glaube es einfach nicht«, sagte Marjorie. »Vor elf Monaten waren wir uns alle einig, dass wir die großen Bücher der westlichen Welt lesen würden, und jetzt, nicht einmal ein Jahr später, ist es so weit gekommen. Ich bin zutiefst enttäuscht von euch allen. Ich dachte, wir wollten unseren Horizont erweitern, uns für Gedanken und Ideen öffnen, die sich nicht auf unser Leben in Mt. Pleasant beschränken. Die Männer sagen immer: ›Klug sein zu wollen ist für Frauen keine besonders kluge Idee‹, und dann lachen sie über uns und bilden sich dabei ein, wir würden uns nur für unsere Frisuren interessieren. Die einzigen Bücher, die sie uns schenken, sind Kochbücher, weil sie glauben, dass wir dumm wären und von nichts eine Ahnung hätten. Und ihr habt ihnen gerade recht gegeben.«

Sie hielt inne, um Luft zu holen. Patricia sah, dass Schweißtropfen in ihren Augenbrauen glitzerten. Marjorie fuhr fort:

»Ich schlage vor, dass ihr alle nach Hause geht und dar­über nachdenkt, ob ihr nächsten Monat Jude Fawley, der Unbekannte mit uns lesen wollt …«

Grace Cavenough stand auf und hängte sich die Handtasche über die Schulter.

»Grace?«, fragte Marjorie. »Willst du nicht bleiben?«

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich eine Verabredung habe«, sagte Grace. »Hatte ich vollkommen vergessen.«

»Tja«, sagte Marjorie, aus dem Konzept gebracht. »Dann lass dich nicht aufhalten.«

»Das würde ich mir niemals einfallen lassen«, erwiderte Grace.

Und damit schwebte die hochgewachsene, elegante, frühzeitig ergraute Grace aus dem Zimmer.

Nun, da das Bewegungsmoment dahin war, löste die Versammlung sich auf. Marjorie zog sich in die Küche zurück, gefolgt von einer besorgten Sadie Funche. Ein Grüppchen Frauen um den Desserttisch plauderte in gedrückter Stimmung. Patricia drückte sich in ihrem Stuhl herum, bis sie sich unbeobachtet fühlte, und flitzte dann aus dem Haus.

Auf dem Weg durch Marjories Vorgarten hörte sie ein Geräusch, das wie He klang. Sie hielt inne und versuchte auszumachen, woher es kam.

»He«, wiederholte Kitty Scruggs.

Kitty stand auf der anderen Seite der Reihe von Autos in Marjories Auffahrt. Eine blaue Rauchwolke schwebte über ihrem Kopf, und sie hielt eine lange, dünne Zigarette zwischen den Fingern. Neben ihr stand Maryellen Wie-hieß-sie-noch-weiter, die ebenfalls rauchte. Kitty winkte Patricia mit einer Hand heran.

Patricia wusste, dass Maryellen ein Yankee aus Massachusetts war und allen erzählte, sie sei Feministin. Und Kitty gehörte zu der Sorte kräftiger Frauen, die Kleidung trugen, die andere wohlwollend als »lustig« bezeichneten – weite Pullis mit bunten Handabdrücken darauf, plus klobiger Plastikschmuck. Patricia hegte den Verdacht, dass man, wenn man sich erst einmal mit solchen Frauen einließ, ganz schnell zu Weihnachten ein Rentiergeweih auf dem Kopf haben oder vor einer Shoppingmall stehen und die Leute darum bitten würde, eine Petition zu unterzeichnen, deshalb näherte sie sich äußerst vorsichtig.

»Ich fand es gut, was du da drin gemacht hast«, sagte Kitty.

»Ich hätte mir irgendwie die Zeit nehmen sollen, das Buch zu lesen«, erwiderte Patricia.

»War­um?«, fragte Kitty. »Es war langweilig. Ich habe es nicht über das erste Kapitel hinaus geschafft.«

»Ich muss Marjorie einen Brief schreiben«, sagte Patricia. »Um mich zu entschuldigen.«

Maryellen sah sie mit zusammengekniffenen Augen durch den Rauch an und zog an ihrer Zigarette.

»Marjorie hat gekriegt, was sie verdient«, sagte sie beim Ausatmen.

»Hört mal.« Kitty platzierte sich zwischen den beiden und Marjories Haustür, nur für den Fall, dass Marjorie zusah und Lippen lesen konnte. »Ich habe mit ein paar Leuten abgemacht, dass wir ein Buch lesen und sie nächsten Monat zu mir nach Hause kommen und wir dar­über reden. Maryellen ist auch dabei.«

»Ich habe niemals genug Zeit für zwei Buchclubs«, sagte Patricia.

»Glaub mir«, sagte Kitty. »Nach den heutigen Ereignissen ist Marjories Buchclub erledigt.«

»Was für Bücher lest ihr?«, fragte Patricia auf der verzweifelten Suche nach Gründen, das Angebot abzulehnen.

Kitty griff in ihre Umhängetasche aus Jeansstoff und holte ein billiges Taschenbuch von der Sorte, wie man sie in Drogerien bekam, daraus hervor.

»Liebesbeweis: Eine wahre Geschichte von Leidenschaft und Tod in der Vorstadt«, sagte sie.

Patricia war überrumpelt. Das war eines dieser Schundbücher über wahre Verbrechen. Aber Kitty las es offenbar, und man durfte die Lesevorlieben einer anderen Person nicht kritisieren, auch dann nicht, wenn man gute Gründe dafür hatte.

»Ich weiß nicht, ob solche Bücher etwas für mich sind«, sagte Patricia.

»Die beiden Frauen waren beste Freundinnen, und sie haben sich gegenseitig mit Äxten in Stücke gehauen«, sagte Kitty. »Tu bloß nicht so, als wolltest du nicht wissen, was zwischen ihnen gelaufen ist.«

»Es hat gute Gründe, dass Jude unbekannt ist«, knurrte Maryellen.

»Und macht ihr das bisher nur zu zweit?«, fragte Patricia.

Eine Stimme meldete sich hinter ihnen zu Wort.

»He, Leute«, sagte Slick Paley. »Worüber redet ihr?«

Kapitel 2

Irgendwo in den Tiefen der Albemarle Academy erklang das letzte Klingeln des Tages. Die Doppeltüren öffneten sich und spien eine Horde kleiner Kinder aus, die sich unter den aus allen Nähten platzenden Schulranzen beugten, an denen sie festgeschnallt waren. Unter der Last der Hefte und Gemeinschaftskundebücher taumelten sie zum Carpool-Bereich wie greise Gnome. Patricia sah Korey und drückte kurz auf die Hupe. Korey blickte auf, und als Patricia sah, wie sie mit weiten Sätzen losrannte, krampfte sich ihr das Herz zusammen. Ihre Tochter rutschte auf den Beifahrersitz und nahm ihren Schulranzen auf den Schoß.

»Anschnallgurt«, mahnte Patricia, und Korey schnallte sich an.

»War­um holst du mich ab?«, fragte Korey.

»Ich dachte, wir könnten bei Foot Locker haltmachen und nach Stollenschuhen schauen«, sagte Patricia. »Meintest du nicht, dass du neue brauchst? Und außerdem habe ich Lust auf Frozen Yogurt bekommen.«

Sie spürte, wie ihre Tochter zu strahlen begann, und während sie über die West Ashley Bridge fuhren, erklärte Korey ihrer Mom alles über die verschiedenen Arten von Stollenschuhen, die die anderen Mädchen hatten, und war­um sie unbedingt Klingenstollen brauchte und war­um es Stollenschuhe für harten Boden und nicht welche für weichen Boden sein mussten, obwohl sie auf dem Rasen spielten, weil Schuhe für harten Boden schneller waren. Als sie innehielt, um Luft zu holen, sagte Patricia: »Ich habe gehört, was in der Pause passiert ist.«

Alles Strahlen verließ Korey, und Patricia bereute sofort, dass sie etwas gesagt hatte, aber sie hatte etwas sagen müssen, denn schließlich machten Mütter das so, oder?

»Ich weiß nicht, war­um Chelsea dir vor der Klasse die Hosen runtergezogen hat«, sagte Patricia. »Jedenfalls war das sehr hässlich und gemein von ihr. Sobald wir zu Hause sind, rufe ich bei ihrer Mutter an.«

»Nein!«, flehte Korey. »Bitte, bitte, bitte, es ist nichts passiert. Es war keine große Sache. Bitte, Mom.«

Patricias eigene Mutter war nie auf ihrer Seite gewesen, und Patricia wollte, dass Korey verstand, dass sie nicht bestraft wurde, dass Patricia ihr etwas Gutes tat, aber Korey weigerte sich, das Foot Locker-Geschäft zu betreten und erklärte nuschelnd, dass sie keinen Frozen Yogurt wollte. Patricia empfand das als zutiefst ungerecht. Sie versuchte nur, eine gute Mutter zu sein, aber offenbar machten all ihre Bemühungen sie irgendwie zur Bösen Hexe des Westens. Als sie zu Hause ankam, das Lenkrad mit mörderischem Griff umklammert, war sie nicht in der Stimmung, einen weißen Cadillac von der Größe eines kleinen Schiffs in ihrer Auffahrt und Kitty Scruggs auf ihrer Eingangstreppe zu sehen.

»Hallooo«, rief Kitty auf eine Art, von der Patricia unverzüglich die Zähne wehtaten.

»Korey, das ist Mrs. Scruggs«, sagte Patricia und lächelte deutlich zu angestrengt.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, murmelte Korey.

»Du bist Korey?«, fragte Kitty. »Ich habe gehört, was Donna Phelps’ kleines Mädchen heute in der Schule mit dir angestellt hat.«

Korey blickte zu Boden, sodass ihr die Haare vor das Gesicht hingen. Patricia hätte Kitty am liebsten gesagt, dass sie alles nur noch schlimmer machte.

»Das nächste Mal, wenn Chelsea Phelps so etwas macht«, sagte Kitty unverdrossen, »erzählst du allen aus vollem Hals: ›Chelsea Phelps hat letzten Monat bei Merit Scrubbs zu Hause übernachtet, und dabei hat sie in den Schlafsack gepinkelt und dem Hund die Schuld in die Schuhe geschoben.‹«

Patricia konnte es nicht glauben. So etwas sagten Eltern nicht über die Kinder anderer Leute. Sie wandte sich Korey zu, um ihr zu raten, nicht hinzuhören, stellte jedoch fest, dass ihre Tochter Kitty ehrfürchtig anstarrte, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund.

»Wirklich?«, fragte Korey.

»Bei Tisch gepupst hat sie auch«, sagte Kitty. »Und das wollte sie meinem vierjährigen Sohn anhängen.«

Für einen langen, erstarrten Moment wusste Patricia nicht, was sie sagen sollte, und dann brach Korey lauthals in Gelächter aus. Sie musste sich vor Lachen auf die Eingangstreppe setzen, kippte zur Seite und schnappte nach Luft, bis sie Schluckauf bekam.

»Geh rein und sag deiner Großmutter Hallo«, sagte Patricia, die Kitty mit einem Mal ziemlich dankbar war.

»Sie sind einfach Nervensägen in dem Alter, oder?«, meinte Kitty, während sie Korey nachsah.

»Sie sind eigenartig«, sagte Patricia.

»Sie sind Nervensägen«, sagte Kitty. »Kleine Nervensägen, die man in einen Sack stecken und erst wieder rauslassen sollte, wenn sie achtzehn sind. Hey, ich habe dir was mitgebracht.«

Sie reichte Patricia ein glänzendes neues Exemplar von Liebesbeweis.

»Ich weiß, dass du das für Schund hältst«, sagte Kitty. »Aber es geht darin um Leidenschaft, Liebe, Hass, Romantik, Gewalt und Aufregung. Genau wie bei Thomas Hardy, abgesehen davon, dass es ein Taschenbuch ist und acht Fotoseiten in der Mitte hat.«

»Ich weiß nicht«, sagte Patricia. »Ich habe nicht so viel Zeit …«

Aber Kitty war schon auf dem Weg zurück zu ihrem Auto. Patricia kam zu dem Schluss, dass dieser Krimi den Titel Patricia Campbell und die Unfähigkeit, Nein zu sagen trug.

Zu ihrer Überraschung verschlang sie das Buch innerhalb von drei Tagen.

Fast hätte Patricia es nicht zu dem Treffen geschafft. Kurz bevor sie losging, wusch Korey sich das Gesicht mit Zitronensaft, um ihre Sommersprossen loszuwerden, und als sie ihn in die Augen bekam, rannte sie kreischend auf den Flur und mit dem Gesicht voran gegen einen Türknauf. Patricia spülte ihr die Augen mit Wasser aus, legte ihr einen Beutel gefrorener Erbsen auf das Ei an ihrer Stirn und sagte Korey, dass sie in ihrem Alter genauso viele Sommersprossen gehabt hatte, wenn nicht mehr, und dann setzte sie sie zu Miss Mary aufs Sofa und ließ die beiden Die Bill-Cosby-Show sehen. Zum Treffen kam sie zehn Minuten zu spät.

Kitty lebte in Seewee Farms, einem zweihundert Hektar großen Teil der Boone Hall Plantation, den man vor langer Zeit als Hochzeitsgeschenk für irgendeinen Großgrundbesitzer abgetrennt hatte. Durch unglückliche Fügung und dumme Entscheidungen war das Grundstück in die Hände von Kittys Schwiegergroßmutter gefallen, und als die angesehene alte Dame sich schließlich elegant in ihr Grab zurückgezogen hatte, war es auf ihren Lieblingsenkel, Kittys Mann Horse, übergegangen.

Weit draußen mitten im Nirgendwo, am Rande überschwemmter Reisfelder und dichter Kiefernwäldchen, übersät von baufälligen Nebengebäuden, in denen niemand außer den Schlangen lebte, umgab das Grundstück das ungeheuer hässliche Haupthaus, schokoladenbraun gestrichen, mit durchhängenden Veranden und vor sich hin faulenden Säulen geschmückt, der Dachboden von Waschbären, die Wände von Opossums bewohnt. Es handelte sich um genau jene Art von prunkvollen Heimen im Zustand würdevollen Verfalls, wie sie Patricias Meinung nach die besten Bürger Charlestons bewohnten.

Nun stand sie vor der mächtigen Doppeltür in der Mitte der weit ausladenden Vorderveranda und drückte auf die Klingel, doch nichts passierte. Sie versuchte es erneut.

»Patricia!«, rief Kitty.

Patricia blickte sich erst um und sah dann auf. Kitty lehnte sich aus dem Fenster im ersten Stock.

»Geh zur Seitentür«, brüllte Kitty. »Wir können den Schlüssel für die Vordertür schon seit Ewigkeiten nicht wiederfinden.«

Sie traf Kitty an ihrer Küchentür.

»Komm rein«, sagte Kitty. »Kümmere dich nicht um die Katze.«

Patricia konnte nirgendwo eine Katze entdecken, aber dafür sah sie etwas, das sie mit Begeisterung erfüllte: Kittys Küche war eine Katastrophe. Alle Oberflächen waren von leeren Pizzaschachteln, Schulbüchern, Werbeprospekten und nassen Badeanzügen bedeckt. Alte Ausgaben von Southern Living rutschten von Stühlen. Der Küchentisch war mit den Teilen einer zerlegten Maschine übersät. Im Vergleich dazu wirkte Patricias Zuhause wie aus einem Einrichtungsmagazin.

»So sieht es aus, wenn man fünf Kinder hat«, sagte Kitty über die Schulter. »Bleib schlau, Patricia. Zwei reichen.«

Die Eingangshalle weckte Erinnerungen an Vom Winde verweht, abgesehen davon, dass die gewundene Treppe und der Eichendielenboden unter einer Lawine von Geigenkästen, zusammengeknüllten Sportsocken, ausgestopften Eichhörnchen, im Dunkeln leuchtenden Frisbees, gebündelten Parkscheinen, zusammenklappbaren Notenständern, Fußbällen, Lacrosse-Schläger, einem Schirmständer voller Baseball­schläger und einem toten, fast zwei Meter hohen Gummibaum in einem Blumentopf aus einem abgetrennten Elefantenfuß begraben waren.

Kitty suchte sich einen Weg durch das Gemetzel und führte Patricia in ein Empfangszimmer, in dem Slick Paley und Maryellen Wie-war-doch-gleich-ihr-Nachname auf der Kante eines Sofas mit etwa fünfhundert Kissen darauf saßen. Ihnen gegenüber hatte Grace Cavanaugh kerzengerade auf einem Klavierhocker Platz genommen. Ein dazu passendes Klavier entdeckte Patricia nicht.

»Alles klar«, sagte Kitty und schenkte den anderen Wein aus einem Krug ein. »Reden wir über Axtmorde!«

»Brauchen wir nicht zuerst einen Namen?«, fragte Slick. »Und müssen wir nicht Bücher für den Rest des Jahres auswählen?«

»Das hier ist kein Buchclub«, sagte Grace.

»Was meinst du damit, dass das kein Buchclub ist?«, fragte Maryellen.

»Wir treffen uns einfach nur, um über ein Taschenbuch zu sprechen, dass wir zufällig gerade alle lesen«, sagte Grace. »Es ist kein richtiger Buchclub.«

»Wenn du das sagst, Grace«, sagte Kitty und drückte allen Anwesenden einen Becher Wein in die Hand. »Fünf Kinder wohnen in diesem Haus, und es wird noch mindestens acht Jahre dauern, bis das älteste auszieht. Wenn ich heute Abend kein Gespräch unter Erwachsenen führen kann, puste ich mir die Rübe weg.«

»Hört, hört«, sagte Maryellen. »Drei Mädchen – sieben, fünf und vier.«

»Vier ist ein so wunderbares Alter«, gurrte Slick.

»Tatsächlich?«, fragte Maryellen und kniff die Augen zusammen.

»Sind wir jetzt also ein Buchclub?«, fragte Patricia. Sie wusste immer gerne, wie genau der Stand der Dinge war.

»Ob wir ein Buchclub sind oder nicht, wen interessiert das?«, fragte Kitty. »Ich will jedenfalls wissen, war­um Betty Gore ihre gute Freundin Candy Montgommery mit einer Axt angegriffen hat und wie es dazu kam, dass stattdessen sie selbst in Stücke gehackt wurde?«

Patricia blickte sich neugierig um, um festzustellen, was die anderen Frauen dar­über dachten. Maryellen in ihrer chemisch gereinigten Blue Jeans, ihrem Haargummi und ihrer rauen Yankee-Stimme; die winzige Slick, die mit ihren spitzen Zähnen und ihren Knopfaugen aussah wie eine besonders eifrige Maus; Kitty in ihrer Jeansbluse mit den vorne aufgestickten goldenen Noten, die Wein aus einem Becher trank und deren Haar aussah wie das Fell eines Bären, der gerade aus dem Winterschlaf erwacht war; und schließlich Grace mit der Rüschenschleife um den Hals, die kerzengerade dasaß und die Hände ordentlich in ihrem Schoß zusammengelegt hatte, während sie wie eine Eule hinter ihrer breitrandigen Brille hervorblinzelte und die anderen begutachtete.

Diese Frauen waren komplett anders als sie. Patricia gehörte nicht hierher.

»Ich finde«, begann Grace, und die anderen setzten sich aufrechter hin, »dass das einen bemerkenswerten Mangel an Vorausplanung von Bettys Seite zeigt. Wenn man seine beste Freundin mit einer Axt ermorden will, dann sollte man ganz genau wissen, was man tut.«

Das brachte das Gespräch in Gang, und nach einer Weile stellte Patricia fest, dass sie sich, ohne dar­über nachzudenken, mitreden hörte. Zwei Stunden später und bereits auf dem Weg zu ihren Autos sprachen sie immer noch über das Buch.

Im darauffolgenden Monat lasen sie Die Michigan-Morde: Die wahre Geschichte der Schreckensherrschaft des Ypsilanti-­Rippers, dann Tod in Canaan: Ein klassischer Fall von Gut und Böse in einer Kleinstadt in Neu-England, gefolgt von Bitteres Blut: Eine wahre Geschichte über den Familienstolz des Südens, Wahnsinn und Mehrfachmorde – alle von Kitty vorgeschlagen.

Die Bücher für das Folgejahr wählten sie gemeinsam aus, und als all die unscharfen Fotos von Tatorten und die minutengenauen Zeitstrahlen der Tatnächte miteinander zu verschwimmen begannen, kam Grace auf die Idee, immer abwechselnd ein Buch über ein wahres Verbrechen und einen Roman zu lesen, sodass sie in einem Monat Das Schweigen der Lämmer und im nächsten Begrabene Träume: Im Kopf von John Wayne Gacy studierten. Sie lasen The Hillside Stranglers von Darcy O’Brien, gefolgt von Shakespeares Titus Andronicus, in welchem Kinder in eine Pastete eingebacken und ihrer Mutter zum Essen vorgesetzt wurden. (»Das Problem dabei ist«, bemerkte Grace, »dass man extrem große Pasteten bräuchte, um zwei Kinder hin­einzubekommen, selbst dann, wenn man sie vorher gut klein hackt.«)

Patricia fand es toll. Sie fragte Carter, ob er die Bücher mit ihr gemeinsam lesen wollte, aber er erwiderte, dass er es den ganzen Tag lang mit verrückten Patienten zu tun habe und deshalb auf gar keinen Fall zu Hause auch noch etwas über Verrückte lesen wolle. Patricia machte das hingegen nichts aus. Der Buchclub, der keiner war, mit all seinen schleichenden Gifttoden und Mordaufträgen und Racheengeln, verschaffte ihr neue Perspektiven im Leben.

Sie und Carter waren im letzten Jahr ins Old Village gezogen, weil sie irgendwo hatten wohnen wollen, wo es viel Platz gab, wo es ruhig und vor allem sicher war. Sie wollten mehr als nur Nachbarn haben, sie wollten eine Gemeinschaft, in der das eigene Heim bestimmte Wertvorstellungen zum Ausdruck brachte – abseits des Chaos und der unablässigen Veränderung, die in der Außenwelt herrschten. Einen Ort, an dem die Kinder den ganzen Tag über draußen spielen konnten, ohne dass jemand sie beaufsichtigte, bis man sie zum Abendessen her­einrief.

Das Old Village lag von Charleston Downtown aus gesehen direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Cooper River, in der Vorstadt Mt. Pleasant, aber während man in Charleston förmlich und kultiviert war und Mt. Pleasant eine Art engen ländlichen Verwandten von Charleston darstellte, handelte es sich beim Old Village um eine Lebensart. Das meinten zumindest jene Leute, die dort ansässig waren. Und Carter hatte lange und hart dafür gearbeitet, dass sie sich endlich nicht nur ein Haus, sondern auch eine Art zu leben leisten konnten.

Diese Art zu leben bestand aus einem Streifen Land mit Virginia-Eichen und eleganten Familienwohnhäusern zwischen dem Coleman Boulevard und Charleston Harbor, wo die Leute noch den vorbeikommenden Autos zuwinkten und niemand schneller als vierzig Stundenkilometer fuhr.

Hier hatte Carter Korey und Blue beigebracht, wie man am Dock Krabben fing, indem man rohe Hühnerhälse an langen Schnüren ins trübe Hafenwasser hinabließ, um wenig später die Schalentiere mit ihren bösen Augen her­auszuziehen und in Netze zu werfen. Eines Nachts ging er mit ihnen im grellen weißen Schein ihrer Coleman-Laternen Garnelen fangen. Sie gingen zum Austerngrillen und zur Sonntagsschule, zu Hochzeitsempfängen in der Alhambra Hall und zu Trauerfeiern bei Bestattungen Stuhr. An Weihnachten besuchten sie immer die Feier im Pierates-Cruze-Viertel, und Silvester tanzten sie Shag im Wild Dunes. Korey und Blue gingen an der Albemarle Academy auf der anderen Hafenseite zur Schule, schlossen Freundschaften, übernachteten bei anderen Kindern, Patricia fuhr im Carpool, niemand schloss die Tür ab, alle wussten, wo man seinen Ersatzschlüssel hinterlegte, wenn man auf Reisen war, und man konnte den ganzen Tag unterwegs sein und die Fenster zu Hause offen lassen, ohne das mehr geschah, als dass die Katze von jemand anderem bei einem auf der Anrichte schlief. Es war ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Es war ein wunderbarer Ort für eine Familie. Es war ruhig und milde und friedlich und sicher.

Aber manchmal sehnte Patricia sich nach einer Herausforderung. Manchmal sehnte sie sich danach her­auszufinden, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Manchmal erinnerte sie sich dar­an, wie das Leben als Krankenschwester gewesen war, bevor sie Carter geheiratet hatte, und sie fragte sich, ob sie immer noch die Hand in eine Wunde schieben und eine Arterie mit den Fingern hätte zuhalten können oder immer noch den Mut aufgebracht hätte, einen Angelhaken aus dem Augenlid eines Kindes zu ziehen. Manchmal wünschte sie sich ein bisschen Gefahr. Und darum war sie Mitglied eines Buchclubs.

Im Herbst 1991 schafften es Kittys heiß geliebte Minnesota Twins in die World Series, und sie brachte Horse dazu, die beiden Kiefern in ihrem Vorgarten mit der Kettensäge zu fällen und ein kleines Baseballfeld anzulegen. Sie lud alle Mitglieder ihres Buchclubs, der keiner war, sowie deren Ehemänner zu einem gemeinsamen Spiel ein.

»Ich muss mein Gewissen erleichtern«, sagte Slick beim letzten Treffen vor dem Spiel.

»Herr im Himmel«, seufzte Maryellen und verdrehte die Augen. »Das kann ja was werden.«

»Red nicht so von Leuten, von denen du keine Ahnung hast«, gab Slick zurück. »Also, ich bitte andere nicht gerne darum, zu sündigen …«