Buch
In ihrer Jugend war Lorenza der Schwarm aller Männer: schön, klug und weltgewandt. Doch als sie dem italienischen Anwalt Guido Guerrieri eines späten Nachmittags in seinem Büro in Bari gegenübersteht, hat sie nichts mehr von der einst so faszinierenden Frau. Trotzdem ist er sofort bereit, Lorenzas Sohn Jacopo vor Gericht zu vertreten, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt. Doch die Beweislage ist erdrückend, und bald muss sich Guerrieri fragen, ob sein nostalgisches Gefühl für seine Vergangenheit mit Lorenza nicht nur seine Urteilskraft beeinträchtigt, sondern auch seinen Ruf als Anwalt zerstören wird.
Weitere Informationen zum Autor finden Sie am Ende des Buches.
Gianrico Carofiglio
Zeit der Schuld
Ein Fall für
Avvocato Guerrieri
Roman
Aus dem Italienischen
von Verena von Koskull
Die italienische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»La Misura Del Tempo« bei Einaudi, Turin.
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Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2021
Copyright © der Originalausgabe 2019 by Gianrico Carofiglio
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Christiane Mühlfeld
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH
Umschlagmotiv: FinePic®, München
CN · Herstellung: Han
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-27478-8
V002
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»Was haben wir heute, Pasquale?«, fragte ich, als ich die Kanzlei betrat, und dachte einmal mehr, wie satt ich dieses Ritual hatte.
»Mal sehen … Signora Colella sollte endlich vorbeikommen und ihre Rechnung bezahlen. Dann ist da der Sachverständige im Moretti-Prozess, die Sache mit der Parzellierung. Er will die Unterlagen abholen und fragt, ob er dann gleich fünf Minuten mit Ihnen reden könnte. Und um sieben eine neue Klientin.«
»Wer denn?«
Mit der üblichen, fast ein wenig feierlichen Gebärde blätterte Pasquale durch seinen unvermeidlichen Spiralblock. Wir alle haben etwas an uns, das typisch für uns ist oder das wir, sofern es uns bewusst ist, als für uns typisch empfinden. Bei Pasquale ist es der Notizblock. Er kauft sich die Blöcke selbst, ohne sie als Büromaterial über die Kanzlei abzurechnen, und nimmt immer den gleichen: ein altmodisches Modell mit rauem schwarzem Deckel und mattroter Schnittkante, wie es schon mein Großvater benutzt hatte und wie man es heute nur noch in einem rührend angestaubten Schreibwarenladen im Viertel Libertà erhielt.
»Sie heißt Delle Foglie. Hat gestern Nachmittag angerufen und um den nächstmöglichen Termin gebeten. Sie meinte, es sei dringend und betreffe ihren Sohn.«
»Delle Foglie und weiter?«
»Inwiefern, Avvocato?«
»Hat sie nur ihren Nachnamen genannt?«
»Ja, nur den Nachnamen.«
Vor etlichen Jahren – es waren so viele, dass ich sie gar nicht zählen mochte – hatte ich über ein paar Monate hinweg ein Mädchen dieses Namens gekannt. In meiner Erinnerung kam es mir wie eine Ewigkeit vor, und ich hatte lange nicht mehr an sie gedacht. Während ich Pasquale wie von fern reden hörte, durchzogen diffuse und unwirkliche Bilder meinen Kopf; fast so, als beträfen sie gar nicht mich und kämen mir nur deshalb bekannt vor, weil jemand mir von ihnen erzählt hatte.
»Sie kommt um neunzehn Uhr. Aber wenn Sie anderweitig verpflichtet sind«, schob Pasquale nach, als hätte er mir angesehen, dass etwas nicht stimmte, »kann ich sie anrufen.«
»Nein, nein. Neunzehn Uhr ist wunderbar.«
Pasquale kehrte auf seinen Platz im Vorzimmer zurück. Ein paar Minuten lang dachte ich über diese neue Mandantin nach und kam zu dem Schluss, dass es nicht die Delle Foglie von damals sein konnte. Wie auch, überlegte ich lapidar und setzte schließlich einen Haken dahinter.
Eigentlich hätte ich mir die Verhandlungsakten des nächsten Tages vornehmen sollen, verspürte dazu aber nicht die geringste Lust. Das war nichts Neues: Seit ein paar Jahren verursachten mir Prozessunterlagen eine schleichende, jedoch stetig wachsende Übelkeit.
Irgendjemand hat einmal geschrieben, man sollte es verstehen, jung zu sterben. Damit war natürlich nicht der wahrhaftige Tod gemeint, vielmehr ging die Empfehlung dahin, vom üblichen Geschehen abzulassen, sobald Lust und Kraft nachließen oder ein Talent – sofern man jemals eines besessen hatte – schlichtweg ausgereizt war. Alles Weitere sei Wiederholung. Man sollte es verstehen, jung zu sterben, um letztendlich am Leben zu bleiben. Doch wem gelang das schon? Bereits des Öfteren war mir der Gedanke gekommen, dass ich dank des Geldes, das ich verdient und nur zu Bruchteilen ausgegeben hatte, die Kanzlei aufgeben und etwas Neues anfangen könnte. Reisen, Studieren, Lesen. Mich endlich ans Schreiben wagen vielleicht. Im Grunde war es gleichgültig. Hauptsache, es riss mich aus dem Klammergriff der ewig gleich verstreichenden Zeit, die im täglichen Einerlei fast zum Stillstand kommt und doch im Nu verfliegt.
Es heißt, mit dem Alter vergeht die Zeit schneller.
Das war kein neuer Gedanke, doch an jenem Tag ging er mir unangenehm oft im Kopf herum.
Am Morgen hatte ich im Berufungsgericht einen befreundeten Kollegen getroffen. Enrico Garibaldi, Fachanwalt für Zivilrecht, »nicht mit dem General verwandt« – so hatte er sich als Junge gern vorgestellt.
Ein netter Kerl, mit dem man Spaß haben konnte. Obendrein ein anständiger Mensch und fähiger Anwalt. Hin und wieder unternahmen wir etwas zusammen.
»Alles in Ordnung, Enrico?«, hatte ich gefragt und ihm lächelnd die Hand gedrückt. Das war keine richtige Frage. Man sagt das so: Alles in Ordnung? Ja, alles in Ordnung, und bei dir? Alles in Ordnung, wir müssen uns mal wieder treffen. Klar, lass uns demnächst mal abends treffen, ciao, ciao, bis dann.
»Ehrlich gesagt, nicht wirklich«, hatte er diesmal geantwortet und nach einer kurzen Pause, in der ich weder nachhaken noch mich seiner Antwort mimisch oder stimmlich anpassen konnte, hinzugefügt: »Vor zwei Tagen ist meine Mutter gestorben.« Für einen Augenblick blieb mir die Luft weg wie nach einem Fausthieb in die Magengrube.
»O Gott, entschuldige, Enrico, das wusste ich nicht. Das tut mir wahnsinnig leid, verzeih …«
»Schon gut, Guido. Konntest du ja nicht ahnen. Und ich schäme mich zwar, es zu sagen, aber es ist eine Befreiung. Ein Jahr Krankheit hatte uns sämtliche Würde genommen, ihr ebenso wie uns.«
Er verstummte. Seine Augen wurden feucht. Ich sagte nichts, auch weil ich nicht wusste, was. Nach einem kurzen Zaudern gab er sich einen Ruck. Möglicherweise hatte er nur darauf gewartet, mich zu treffen – vielleicht nicht ausgerechnet mich, sondern irgendjemanden und mich hatte es eben getroffen –, um sich das Herz ein wenig zu erleichtern.
»Weißt du«, fuhr er fort, »dass die Würde flöten geht, bemerkt man an der eigenen Gereiztheit, den brüsken Gesten, mit denen man einem Menschen begegnet, den Alter und Krankheit bereits erniedrigt haben. Einem Menschen, der nicht begreifen kann, warum seine Kinder so grob mit ihm umspringen.« Ihm versagte die Stimme. »Ach, Scheiße«, brachte er noch heraus, dann begannen seine Lippen zu zittern, und er fing an zu weinen. Ich unterdrückte den Impuls, mich umzusehen, ob uns womöglich jemand beobachtete und sich fragte, was los war. Zeit meines Lebens schlug ich mich mit dem Gedanken herum, was andere wohl denken mochten.
»Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Verdutzt blickte er mich an. Dann zog er die Nase hoch und nickte mit einem dankbaren Schimmer in den Augen. Wir verließen das Gericht, und er begann zu erzählen.
»Weißt du, was das Schlimmste war, Guido? Ehe sie gestorben ist, hat sie zehn Tage lang nicht geschlafen. Als ihr klar wurde, dass sie im Sterben lag. Achtundachtzig Jahre, aber wie jeder hatte sie Angst vor dem Tod. So erklärte es uns die Psychologin, die uns begleitet hat, meinen Bruder und mich. Meine Mutter hatte Angst, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Darum hat sie kein Auge zugetan. Ich komme einfach nicht darüber hinweg, es macht mich fertig. Ich war immer der Überzeugung, in so einem Alter hätte man sich mit dem Tod abgefunden.«
»Vielleicht findet man sich nie damit ab …«
»Nein, man findet sich nie damit ab.«
»Es gibt diesen Satz von Marcello Mastroianni … er hat ihn in einem Interview gesagt, als er schon alt war. Er lautet ungefähr so: ›Ich esse gern mit meinen Freunden zu Abend. Warum muss ich also sterben?‹«
Enrico lächelte mit einem zustimmenden Nicken. Der Satz klang bitter, doch vielleicht hatte er für ihn etwas Tröstliches.
Wir setzten uns in ein Café unweit des Gerichts. Ein ziemlich hässliches Lokal, in dem sich genau deshalb fast immer ein freies, ruhiges Tischchen fand.
»Guido, ist dir schon mal aufgefallen, dass das Leben mit dem Alter immer schneller zu werden scheint?«
»Das fällt mir fast jeden Tag auf.«
»Ehe sich ihr Zustand verschlechterte, sagte Mama das oft: Ich denke wie ein junges Mädchen und habe den Körper einer Greisin. Wieso?«
Ich musste an meine Eltern denken. Sie waren recht jung gestorben, mit kurz vor sechzig, wenige Monate nacheinander. Fast wie in der Sage von Philemon und Baucis, die meine Mutter geliebt hatte. Ich hatte es versäumt, wirklich mit ihnen zu reden, und wusste kaum etwas über meinen Vater und meine Mutter. Ich hatte nie erfahren, ob es jemand anderen in ihrem Leben gegeben hatte, ehe sie einander begegnet waren, sich verlobten und geheiratet hatten. Eine verzweifelte, tragisch geendete Liebe; zahlreiche kurze Beziehungen; irgendetwas anderes. Als ich klein war, hatte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen können, dass mein Vater eine andere Frau als meine Mutter berührt haben könnte; und noch unvorstellbarer war es, dass meine Mutter einen anderen Mann als meinen Vater berührt hatte. Bei gewissen Themen waren beide äußerst verklemmt. Als ich acht Jahre alt war und von Sex und Fortpflanzung keine Ahnung hatte, hielt mein Vater mir einen Vortrag. Ich hatte irgendetwas über Eier wissen wollen. Warum es Eier gab, die man essen konnte – und ich aß sie besonders gern –, und andere, in denen Küken steckten, die irgendwann ausschlüpften, wie man es in Schulbüchern, Comics und Zeichentrickfilmen sah. Mein Vater erklärte mir, im Ei stecke nur dann ein Küken, wenn die Henne mit dem Hahn einen Spaziergang machte. »Wenn die Henne mit dem Hahn einen Spaziergang macht«, sagte er, »entstehen Küken. Wenn nicht, kann man die Eier essen.«
Die Erklärung warf sehr viel mehr Fragen auf, als sie löste. Während mein Vater sich wieder eigenen Dingen zuwandte und seine erzieherische Aufgabe offenbar als erledigt betrachtete, zermarterte ich mir jahrelang das Hirn. Wann genau gelangte das Küken in das Ei? Folgte der Spaziergang einem vorgeschriebenen Weg, damit er seine verblüffende Wirkung erzielte? Was passierte, wenn der Hahn und die Henne in den Hühnerstall gesperrt waren und nicht spazieren gehen durften?
Mit der Zeit begannen sich meine verworrenen Vorstellungen über gewisse Themen zu lichten, und manchmal war ich kurz davor, meinen Vater zu fragen, was er sich dabei gedacht hatte, mir diese irrwitzige Geschichte aufzutischen.
Ich tat es nicht.
Manchmal gehe ich im Geiste durch, was meine Eltern mir mitgegeben haben. Es sind hauptsächlich gute, wenn nicht gar entscheidende Dinge. Zum Beispiel ein bestechend einfaches Verständnis von Ehrlichkeit, das keine Halbheiten zuließ. Außerdem Respekt für andere. Aufgeschlossenheit.
Andere Hinterlassenschaften sind zwiespältiger. Sie können gut sein oder auch nicht, je nach Persönlichkeitsstruktur, auf die sie treffen. Beispielsweise die mit der Strenge eines ethischen Postulats verfochtene Überzeugung, man müsse stets allein zurechtkommen. Dieses Gebot war tief verwurzelt; ich glaube, es entsprang einer uralten, geradezu atavistischen Angst vor Schuldigkeiten.
Als ich viele Jahre später zu ergründen versuchte, weshalb es mir so schwerfällt, fremde Hilfe anzunehmen, habe ich darüber nachgedacht. Allein zurechtzukommen ist schön und gut. Doch zu glauben, man müsse immer allein zurechtkommen und dürfe niemals um Hilfe bitten, ist eine als Stärke bemäntelte Schwäche. Wer nicht um Hilfe bitten kann, kann meist auch nichts mit ihr anfangen, wenn sie ungefragt angeboten wird und es gehörig wäre, sie anzunehmen (und ungehörig, sie auszuschlagen).
»Wenige Monate vor ihrem Tod, sie war noch bei klarem Verstand, hat Mama etwas gesagt, das mich umgehauen hat«, fuhr Enrico fort.
»Willst du es mir erzählen?«
»Gern. Sie sagte, es falle ihr schwer, sich die Welt vorzustellen, ohne dass sie noch darin wäre. Wörtlich sagte sie: ›Wenn man jung ist, macht es einem nichts aus, sich eine Welt und eine Zeit vorzustellen, in der man noch nicht existierte. Schließlich scheint die Geschichte ja ganz unweigerlich und schicksalhaft auf den Moment zuzusteuern, in dem man die Bühne betritt. Die Welt vor uns, ohne unsere Existenz darin, hat einen langen Vorlauf. Doch die Welt nach uns ist schlicht die Welt ohne uns. Solange diese Perspektive noch weit weg erscheint, können wir sie verdrängen. Ich aber weiß, dass ich in ein paar Wochen oder bestenfalls Monaten nicht mehr da sein werde, und die Welt wird weiter bestehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ohne den kleinsten Mucks. Ihr werdet trauern, aber dann müsst ihr euch um den praktischen Kram kümmern, und eure Tränen werden trocknen. Es wird euch erleichtern, dass es mit dem Leiden ein Ende hat. Ihr könnt euch wieder anderem zuwenden und euch um euer Leben kümmern. Und so soll es auch sein.‹«
Er atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus.
»Wie hieß deine Mutter?«
»Agnese. Sie hat zweiundvierzig Jahre lang Italienisch und Latein unterrichtet. Ihre Schüler liebten sie. Noch heute treffe ich Menschen, die sich an sie erinnern und sagen, ihre Liebe für Bücher und Literatur überhaupt hätten sie nur ihr zu verdanken.«
Wir blieben noch eine Weile in der Bar sitzen. Als wir gingen, waren seine Augen nicht mehr rotgeweint.
Irgendwie schaffte ich es, die Durchsicht der Verhandlungsunterlagen und die restlichen Pflichten dieses Nachmittags hinter mich zu bringen.
Um Punkt neunzehn Uhr ertönte das ferne Läuten der Türklingel – mein Büro ist am anderen Ende der Kanzlei –, und eine halbe Minute später steckte Pasquale den Kopf ins Zimmer, fragte, ob er Signora Delle Foglie vorlassen dürfe, öffnete auf mein Nicken die Tür und ließ eine Frau herein. Sie war groß und ziemlich dünn, mit kurzem grauem Haar und einer etwas zu weiten, unförmigen Lederjacke.
Sie kam auf meinen Schreibtisch zu, und ich stand auf und blickte ihr erstaunt entgegen.
»Ciao, Guido. Erkennst du mich noch? Ich bin’s, Lorenza.«
Es war Lorenza.
Nun ja. Wäre ich ihr auf der Straße begegnet, hätte ich sie nicht wiedererkannt.
Jetzt stand sie vor mir, und ich wusste ganz genau, wer sie war, und trotzdem hatte ich nicht den blassesten Schimmer. Noch nie hatte ich das so stark empfunden; nicht einmal, als ich seit Jahrzehnten aus den Augen verlorene Schulkameraden wiedergetroffen hatte, die sich in dicke, soignierte Glatzköpfe verwandelt hatten.
Aufgrund dieser Empfindung war es mir schleierhaft, wie ich sie begrüßen sollte. Ich stand auf und umrundete den Schreibtisch. Und weil sie ebenso ratlos war wie ich, umarmten wir uns linkisch und spürten beide, wie steif und gezwungen diese Geste war. Ich nahm frischen Tabakrauch wahr und dazu den penetranten Muff zahlloser, hintereinanderweg gerauchter Zigaretten, deren Qualm in ihren Kleidern und Haaren hing und ihre Finger und Nägel nikotingelb verfärbt hatte.
Ich forderte sie auf, Platz zu nehmen, und setzte mich selbst wieder.
»Du hast dich kein Stück verändert, Guido. Ist fast ein bisschen unheimlich. Von den paar grauen Haaren abgesehen, bist du unverändert.«
Ich lächelte verlegen und überlegte vergeblich, wie ich das Kompliment erwidern könnte. Eine dreiste Lüge wie: Du bist auch ganz die Alte, hätte sie bestimmt als Beleidigung empfunden.
Als wir uns kennengelernt hatten, war sie fast dreißig und ich fast fünfundzwanzig gewesen. Jetzt war sie siebenundfünfzig, sah älter aus und war in meine Kanzlei gekommen, um mit mir über eine dringende Angelegenheit zu sprechen, die ihren Sohn betraf.
»Auf dem Weg hierher habe ich nachgerechnet: Es sind siebenundzwanzig Jahre.«
»Yep«, antwortete ich fast zeitgleich und beglückwünschte mich zu meiner originellen Glanzleistung.
»Ich wollte schon öfter mal vorbeikommen, um hallo zu sagen und ein bisschen zu plaudern. Vor allem, wenn mal wieder was über dich in der Zeitung stand, wegen irgendeines Prozesses. Ein paarmal habe ich dich auch auf der Straße gesehen, mich aber nicht getraut, dich anzusprechen.«
Mir war nie aufgefallen, ihr über den Weg gelaufen zu sein. Zum letzten Mal hatte ich sie im September 1987 gesehen, danach war sie von meiner Bildfläche verschwunden. Ich war ihr nie mehr begegnet und hatte nichts mehr von ihr gehört.
Sofern ich überhaupt noch an sie gedacht hatte, war ich davon ausgegangen, sie hätte Bari verlassen, denn das hatte sie immer vorgehabt. Mit leisem Schwindel ging mir auf, dass ich nie mit jemandem über sie gesprochen hatte; über jene Monate, in denen unsere Leben einander berührt hatten. Vielleicht waren meine Erinnerungen deshalb so verschwommen und kaum mehr fassbar. Ungeteilte Erinnerungen verlieren immer mehr an Wahrhaftigkeit, bis sie mit den Trugbildern in unserem Kopf verschwimmen: mit Träumen, Hirngespinsten, heimlichen Legenden.
Über all das verlor ich kein Wort.
»Was … was machst du so?«
»Ich unterrichte – zwar nicht nur, aber hauptsächlich gebe ich Schulunterricht.«
»Du hast schon damals eine Menge gemacht …«
»Na ja, heute mache ich ganz andere Sachen … wie dem auch sei, ich bin nicht hergekommen, um über mich zu reden.« Ihre Stimme wurde hart, als wollte sie einen wunden Punkt schützen.
Ich zuckte mit den Schultern, deutete ein Lächeln an und musterte sie fragend. Ihre Kiefermuskeln spannten sich.
»Ich bin sozusagen beruflich hier. Also, was deinen Beruf betrifft, meine ich.«
»Worum geht es?«
Sie zögerte, und automatisch wanderte ihre Hand zur Jackentasche, als suche sie nach den Zigaretten.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Zu einem Strafrechtler zu gehen ist meistens unerfreulich. Das tut niemand besonders gern, aber wir haben keine Eile. Mein Mitarbeiter Pasquale deutete an, es habe etwas mit deinem Sohn zu tun.«
»Mit meinem Sohn, genau.«
»Wie alt ist er?«
»Iacopo ist gerade fünfundzwanzig geworden. Erwachsen genug für ordentliche Scherereien mit der Justiz, aber nicht nur.« Sie holte Luft und räusperte sich. »Jetzt sitzt er im Gefängnis. Seit über zwei Jahren. Mit einer erstinstanzlichen Verurteilung wegen Mordes.«
Sie schilderte mir, was vorgefallen war, und das klang alles andere als gut.
Iacopo war seit jeher ein schwieriger Junge gewesen. Vielleicht, weil er nie einen richtigen Vater gehabt hatte, aber wer weiß das schon? Sie führte das Thema nicht weiter aus, und ich fragte nicht nach, sondern stellte nur eine blitzschnelle Rechnung an: er konnte nicht mein Sohn sein.
Jedenfalls, so fuhr Lorenza fort, hatte er sich seit dem Gymnasium ständig in Schwierigkeiten gebracht. Kleinere Drogendelikte, Schlägereien, Supermarktdiebstähle, zwei Schulverweise, tätliche Gewalt gegen den neuen Freund seiner Ex, die mit ihm Schluss gemacht hatte. Irgendwie hatte Lorenza es geschafft, ihn durchs Abitur zu bringen; er hatte sich sogar an der Uni eingeschrieben – Jura, ausgerechnet –, aber keine einzige Prüfung abgelegt. Stattdessen wurde er in einen Raubüberfall verwickelt und verhaftet. Da er offiziell noch nicht vorbestraft war, haben sie ihn mit einer Strafaussetzung zur Bewährung davonkommen lassen. Die Sache war ihm keine Lehre gewesen; Lorenza war sich sicher, dass er in Diskotheken Drogen vertickte, und hatte sich lange den Kopf zerbrochen, wie sie ihn von diesem Milieu fernhalten könnte.
Das war die Vorgeschichte. Dann kam sie zu dem eigentlichen Grund, weshalb sie nun hier in meinem Büro vor mir saß.
Knapp drei Jahre zuvor war Iacopo verhaftet worden, weil er einen Mann umgebracht haben sollte, der aller Wahrscheinlichkeit sein Stammdealer gewesen war.
Es war zum Prozess gekommen, und im Mai des Vorjahres hatte ihn das Schwurgericht zu vierundzwanzig Jahren Haft verurteilt. So weit die Sache in aller Kürze.
»Ehe wir zu den Einzelheiten kommen«, schaltete ich mich ein, »muss ich dir eine Frage stellen. Wenn Iacopo bereits vor Gericht gestanden hat, heißt das, er hatte einen Anwalt. Unter uns Kollegen gibt es Anwaltspflichten …«
»Er ist gestorben.« In ihrer Stimme schwang ein gereizter Unterton mit. »Vor ein paar Wochen. Ich glaube also nicht, dass es damit Probleme geben sollte.«
»Wie hieß er?«
Sein Name war Michele Costamagna, und er galt als echter Profi, bis ihm die Krankheit das Hirn zerfressen hatte. Er hatte sein Handwerk beherrscht und zumindest zu seinen Glanzzeiten stets gewusst, an welchen Hebeln er ziehen musste. In den letzten Jahren vor seiner Krankheit hatte er an Strahlkraft eingebüßt, denn viele seiner Freunde – Richter, Staatsanwälte, führende Staatsdiener und Beamte – waren nach und nach in Rente gegangen, und ihre Nachfolger, vor allem die Richter, hatten sich weniger leicht beeinflussbar gezeigt und sich in den Clubs der Stadt seltener blicken lassen. Doch zu Beginn meiner Anwaltskarriere gehörte Costamagna zu denen, um die man nicht herumkam, wenn es richtig brenzlig wurde. Meistens bekam er die Dinge unter Kontrolle. Zwar war mir nie etwas eindeutig Gesetzeswidriges zu Ohren gekommen, aber dennoch: Costamagna war wie Mr Wolf in Pulp Fiction. Er löste Probleme. Und dafür hatte er sich saftig bezahlen lassen. Man könnte sagen, über das Maß der Habgier hinaus.
Vor ein paar Jahren war er erkrankt, und mit der Zeit war der schleichende Verfall immer schneller und offenkundiger geworden.
Während seiner Plädoyers verlor er den Faden; er verzettelte sich in den Kreuzverhören und bei der Beweisaufnahme insgesamt; manchmal entfiel ihm der Name seines Mandanten oder des Richters. In den letzten Wochen hatte er es nicht einmal mehr ins Gericht geschafft. Er war kurz nach Weihnachten gestorben, inzwischen war es Anfang Februar.
Es war also anzunehmen, dass Costamagnas Mandanten zumindest im letzten Jahr nicht angemessen betreut worden waren, um es gelinde auszudrücken. Natürlich gab es den Kanzleiapparat, die Referendare, seine Tochter, doch ein Mordprozess am Schwurgericht stand ausschließlich dem Senior zu.
Wenn Iacopo also vor dem Schwurgericht von Anwalt Costamagna – oder von dem, was von ihm noch übrig geblieben war – vertreten worden war, hatte er bestimmt nicht die beste Verteidigung erhalten.
Das war unschwer vorstellbar und entsprach im Wesentlichen dem, was Lorenza mir erzählte. Weil er noch immer von seinem guten Ruf zehrte, waren sie auf Anraten eines Verwandten zu Costamagna gegangen. Der hatte sich saftig bezahlen lassen, doch im Ermittlungsverfahren wie auch in der Gerichtsverhandlung war seine Verteidigung schwach bis inexistent geblieben. In der zweiten Instanz würden die Dinge anders laufen, das würden sie immer, hatte er nach der Verurteilung mit einem Funken seiner alten Überheblichkeit versichert und einen weiteren Vorschuss verlangt. Costamagna – oder eher einer seiner Mitarbeiter – hatte die wenige Seiten starke Berufungseinlegung verfasst. Zwar hatte Lorenza von der Materie keine Ahnung, doch die Angriffspunkte waren ihr ziemlich dünn erschienen.
»Danach ging es mit ihm steil bergab. Ein paar Termine sind geplatzt, er wurde ins Krankenhaus eingeliefert und ist gestorben.«
»Wurde die Berufungshauptverhandlung bereits anberaumt?«
»Der erste Termin ist in zwei Wochen.«
»Was?«, entfuhr es mir ungewollt schrill. »In zwei Wochen?«
»Ja. Vor ein paar Tagen bin ich in Costamagnas Kanzlei gewesen. Ich habe mit einem seiner Mitarbeiter gesprochen, ein ziemlicher Vollidiot, glaube ich. Er hat einen weiteren Vorschuss verlangt. Ich sagte, ich hätte schon haufenweise Geld gezahlt, und er meinte, das sei für die erste Instanz und die Erstellung der Berufungsbegründungsschrift gewesen. Jetzt müsse man das zweitinstanzliche Verfahren vorbereiten, neue Beweise und eventuelle Anträge in Erwägung ziehen, und er hat mit irgendwelchem Fachchinesisch um sich geworfen, von dem ich dir nichts wiederholen kann, und das bestimmt mit Absicht, damit ich nur Bahnhof verstehe.«
»Klingt ganz danach.«
»Mir ist der Kragen geplatzt, ich habe ihm gesagt, nach allem, was ich der Kanzlei in den Rachen geworfen hätte, und das größtenteils schwarz, solle er ja nicht behaupten, es würde nicht reichen, und das ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Berufungsverfahren.«
»Weißt du noch, wie er hieß?«
Sie nannte den Namen eines Kollegen, für den die Bezeichnung Vollidiot unverdient freundlich war und den ich nicht einmal im Schülertheater einen Anwalt hätte spielen lassen. Aber ich behielt meine Meinung für mich, beschränkte mich auf ein Nicken und bat sie fortzufahren.
»Er meinte, wenn wir mit den Leistungen der Costamagna-Kanzlei nicht zufrieden seien, könnten wir ja woanders hingehen. Daraufhin bin ich laut geworden und habe ihm alles Mögliche an den Kopf geworfen. Er ist knallrot angelaufen und sagte, wenn das so sei, sollten wir unsere Geschäftsbeziehung besser beenden, und hat mich zum Gehen aufgefordert. In den Tagen danach habe ich mich gefragt, ob meine Reaktion ein Fehler gewesen war. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun oder an wen ich mich wenden sollte. Und da bist du mir eingefallen.«
Ein unguter Gedanke beschlich mich. Sie war nicht zu mir gekommen, weil sie mich für einen fähigen Anwalt hielt. Sie war zu mir gekommen, weil sie nicht wusste, wohin sonst, sie war blank und glaubte offenbar, wegen unserer alten Geschichte würde ich auf Pump oder sogar gratis arbeiten. Leicht nervös beschloss ich, die Sache sofort klarzustellen: Den Anwalt aus Wohltätigkeit hatte ich schon zu oft gemacht.
Gnädige Frau (angesichts der Tatsache, dass wir uns unbekleidet unter den Laken getummelt haben, mag ihr der förmliche Ton vielleicht seltsam erscheinen, doch in der gegebenen Situation ist mir eine gewisse Förmlichkeit lieber), sehr gern biete ich an, die Verfahrensakten Ihres Sohnes in Augenschein zu nehmen. Allerdings bitte ich Sie, sich vorab ins Sekretariat zu begeben und die von meinen Mitarbeitern genannte Vorauszahlung zu leisten. Der Umstand, dass wir vor etlichen Jahren einige Monate … intim gewesen sind, tut bedauerlicherweise nichts zur Sache, schließlich handelt es sich hier um Arbeit. Um eine Menge Arbeit, möchte ich hinzufügen: Um einen ziemlich vergurkten Prozess, bei dem es nicht gerade um Kinkerlitzchen geht. Um einen Auftrag also, der mich, sollte ich ihn annehmen, einen Haufen Zeit und Nerven kosten wird.
Während mir diese unersprießlichen Gedanken durch den Kopf schossen, ging mir auf, dass wir nicht eine Sekunde lang über den Verfahrensgegenstand gesprochen hatten. Wessen genau der Junge bezichtigt wurde, ob er unschuldig war oder nicht.
Also ließ ich den Vorschuss sausen – und meine gekränkte Eitelkeit gleich mit – und bat sie, mir den Sachverhalt des Prozesses zusammenzufassen. Wie lautete die Anklage genau? Und vor allem: Welche Beweise hatten zur Verurteilung geführt?
Sie erzählte es mir, und was ich hörte, gefiel mir ganz und gar nicht. Ihren für eine Nichtfachfrau sehr präzisen Schilderungen nach sah es für ihren Sohn schlecht aus. Zwar wurde der Junge nur durch Indizien belastet, doch die waren – wie man in unserem Jargon zu sagen pflegt – schwerwiegend, präzise und übereinstimmend.
»Guido, ich bin zu dir gekommen, weil ich nicht wusste, an wen ich mich sonst wenden sollte. Heute weiß ich, dass es ein Fehler war, zu Costamagna zu gehen. Doch alle haben mir gesagt, er hätte Ahnung und sei gut vernetzt. Wie man sich fühlt, wenn so etwas aus heiterem Himmel über einen hereinbricht, brauche ich dir bestimmt nicht zu sagen. Es ist, als würde man plötzlich erfahren, dass man eine schlimme Krankheit hat. Man wird panisch, sucht Hilfe, fragt überall herum, was man am besten tun soll und …«
»Sicher, es ist nicht leicht, einen klaren Kopf zu behalten. Und gut war Costamagna allemal. Vielleicht sogar hervorragend. Leider hatten seine Fähigkeiten in letzter Zeit unter der Krankheit gelitten. Ich will damit sagen«, fuhr ich fort, »dass du dir für deine Entscheidung keine Vorwürfe machen musst. Es ist einfach schlecht gelaufen.«
Sie nickte dankbar, als hätte ich ihr eine Last genommen: Das Gefühl, sich falsch entschieden zu haben und für den Lauf der Ereignisse mitverantwortlich zu sein.
»Natürlich erwarte ich nicht, dass du umsonst arbeitest«, fuhr sie fort. »Nur habe ich gerade kein Geld. Für die Berufungsschrift hat Costamagna meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht, ich habe sogar einen Kredit aufgenommen. Mein Lehrervertrag ist befristet, und ich halte mich mit Nebenjobs über Wasser, das ist nicht leicht. Aber ich verspreche dir, ich werde sämtliche Kosten begleichen, ich brauche nur ein bisschen Luft.«
Schon seltsam, wie wir ticken. Der Gedanke, sie könnte zu mir gekommen sein, weil sie kein Geld hatte, war mir gegen den Strich gegangen. Aber kaum hatte sie es offen ausgesprochen, war mein Unmut verflogen. Aus dem Schatten des empfindlichen Egos gerissen, war die Sache plötzlich ganz normal und verlor jeden kränkenden Beigeschmack.
Ich machte eine begütigende Handbewegung, die in völligem Widerspruch zu meinen vorigen Gedanken stand.
»Mach dir keinen Kopf wegen des Geldes. Darüber reden wir später. Zunächst einmal müssen wir ein paar Dinge klären: Das eine ist dringend und wichtig; das andere ist auch wichtig, aber weniger dringend. Das Wichtige betrifft den ersten Verhandlungstag. Erinnerst du dich an das genaue Datum?«
Bis dahin waren es noch sechzehn Tage. Die gesetzliche Frist, um ergänzende Argumente für das Berufungsverfahren vorzutragen und Anträge für die Erneuerung der Beweisaufnahme (also die Zulassung neuer, in der ersten Instanz nicht zugelassener Beweise) zu stellen, beträgt fünfzehn Tage: keine Zeit, um irgendetwas vorzubereiten. Außerdem gab es noch keine formale Beauftragung, die durch den Betroffenen selbst beim Urkundsbeamten veranlasst werden musste. Es blieb uns also nichts weiter übrig, als eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Das bedeutet, dass man den Richter unter gewissen Bedingungen ersuchen kann, die verstrichene Frist nicht gelten zu lassen und eine neue zu setzen. Allerdings bedarf es dazu eines Nachweises, dass die zuvor gesetzte Frist aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse oder höherer Gewalt nicht einzuhalten war. Um an die vorige Instanz zurückverwiesen zu werden, musste der Tod des Anwalts Costamagna für uns als unvorhersehbares Ereignis und höhere Gewalt herhalten. Das war kein Selbstläufer und allemal ein holperiger Start. Während ich diesen Überlegungen nachhing, redete sie weiter.
»Guido, Iacopo ist unschuldig. Er hat eine Menge Mist gebaut und ist ein schwieriger Junge, was auch an mir liegen mag, aber er hat diesen Mord nicht begangen.«
Das sagen sie alle, die Eltern oder Freunde oder Partner und Partnerinnen. Mein Kind, mein Kollege, mein Geliebter wäre zu so einer Tat niemals fähig. Auf gar keinen Fall, ich kenne ihn. Würden wir uns nach den Überzeugungen der Angehörigen richten, käme Mord (ebenso wie manches andere) in den Verbrechensstatistiken gar nicht mehr vor.
Ich nickte und ließ den Satz unkommentiert. Bei gewissen Themen hält man gegenüber besagten Freunden, Lebensgefährten und Müttern besser den Mund. Offenbar hatte sie meine Gedanken gelesen.
»Das sage ich nicht, weil ich seine Mutter bin. Ich sage es, weil Iacopo bei mir zu Hause war, als der Mord geschah. Du wirst es in den Akten lesen: In meiner Zeugenaussage habe ich die Wahrheit gesagt, auch wenn das Gericht mir nicht geglaubt hat.«
Das klang immerhin nicht ganz so wie »mein Sohn ist ein guter Junge, er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun«. Fragte sich nur, ob ihre Worte wirklich der Wahrheit entsprachen.
Eine Menge Leute, die wegen Mordes beschuldigt werden, sind schuldig; viele Leute, die wegen Mordes vor Gericht landen, sind schuldig; sehr viele Leute – die übergroße Mehrheit –, die in erster Instanz wegen Mordes verurteilt werden, sind schuldig. Das heißt nicht, dass es nicht Unschuldige gibt, die angeklagt, vor Gericht gestellt und sogar verurteilt werden. Doch ich kann versichern, das sind wenige, sehr wenige, und daran ändern auch die häufigen Freisprüche nichts. Diese Freisprüche haben mit schlampigen Ermittlungen, Verfahrensfehlern oder einem gewieften Anwalt zu tun, und in den wenigsten Fällen damit, dass sie tatsächlich unschuldig sind.
Wenn also Lorenzas Sohn in erster Instanz wegen Mordes verurteilt worden war, war er womöglich schuldig.
Das waren keine Überlegungen, die man mit der Mutter des Angeklagten teilte.
»Na schön«, sagte ich. »Ich brauche so schnell wie möglich eine Kopie der Akten, am besten gleich morgen. Und dein Sohn muss mich beauftragen und jedes vorherige Mandat kündigen. Bevor ich irgendetwas unternehme, muss ich Costamagnas Kanzlei anrufen und sie informieren, dass ich mit dieser Verteidigung beauftragt wurde.«
»Wieso?«
»Das ist so Usus. Wir tun so, als würden wir uns gegenseitig respektieren. Danach werde ich sofort den Vorsitzenden des Berufungsgerichtes aufsuchen, um mit ihm über die Notwendigkeit eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu sprechen. Das ist allerdings keine leichte Sache: Wenn das Gericht sich querstellt, haben wir ein ziemlich großes Problem. Hast du noch Fragen?«
»Danke«, sagte sie nur.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Dann würde ich sagen, das wär’s erst mal.«