Zum Buch
Emma und Nathan könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie ist eher ruhig, kümmert sich um ihre erkrankte Mutter und liebt Bücher. Er verbringt als Sky-Diving-Instructor seine Zeit 4500 Meter über der Erde, sucht den Nervenkitzel und lebt, als wäre jeder Tag sein letzter. Als die beiden sich, umgeben von abgegriffenen Magazinen und dem Ticken einer Uhr, im Wartezimmer einer Klinik treffen, sind sie allein und sehr nervös – und könnten eine fatale Sache gemeinsam haben …
Zur Autorin
Catherine Miller ist Mutter von Zwillingen. Da dies noch nicht genügend Arbeit war, schrieb sie in jeder freien Minute an ihrem Roman. Zwei Jahre später beschloss sie, ihren Traum, Autorin zu werden, weiterzuverfolgen. Sie gewann u.a. das Katie Fforde-Stipendium und unterschrieb ihre ersten Buchverträge – eine spannende Zeit, die sie nur mit jeder Menge Schokolade überstand. 99 Tage mit dir ist ihr erstes Buch im Diana Verlag.
Catherine Miller
99
Tage mit dir
Roman
Aus dem Englischen von Angelika Naujokat
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Deutsche Erstausgabe 08/2021
Copyright © 2019 by Catherine Miller
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
99 Days With You bei Bookouture, London.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagmotive: © Maquiladora/shutterstock (Vögel),
Antun Hirsman/shutterstock (Wolken), Nata Kuprova/shutterstock (Goldfolie)
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
e-ISBN 978-3-641-27583-9
V002
www.diana-verlag.de
In Erinnerung an meinen guten Freund, Tim Galea.
Möge er für immer siebenundzwanzig sein.
Nathans Tagebuch
Ich bin schon immer siebenundzwanzig gewesen. Seit ich denken kann, musste ich mich jedes Mal, wenn sich in der Vergangenheit jemand nach meinem Alter erkundigt hat, beherrschen, um nicht unwillkürlich »siebenundzwanzig« zu antworten. Der Grund dafür ist dieser Traum, in dem ich gefangen bin und der mich auf dieses Alter festnagelt. Doch erst jetzt, am Vorabend meines Geburtstages, trifft es beinahe zu.
Siebenundzwanzig mag einem wie ein nichtssagendes Alter erscheinen. Es fällt in keine besondere Phase des Erwachsenwerdens. Ist keine runde Zahl. Und dennoch ist dies das Jahr, auf das ich mein ganzes Leben gewartet habe. Das Jahr, in dem ich sterbe.
Es ist schon seltsam, in der Lage zu sein, mit allergrößter Gewissheit das eigene Verfallsdatum benennen zu können. Insbesondere, wenn der Grund für diese Überzeugung ein immer wiederkehrender, alberner Traum ist. Aber ich habe ihn schon so oft geträumt und zweifele inzwischen nicht mehr daran, dass er sich bewahrheiten wird. Ich befinde mich am Vorabend meines letzten Lebensjahres, und es bleibt mir nur noch, jeden Tag so zu leben, als wenn es mein letzter wäre.
1
Emma
Emma Green begann ihre Tage für gewöhnlich nicht auf diese Weise. Eigentlich war ihr morgendlicher Ablauf wie in Stein gemeißelt, der Wecker so gestellt, dass sie ihrer Mutter mit der täglichen Medikation helfen konnte, weshalb ihr weniger Zeit blieb, sich selbst zurechtzumachen. Heute verharrte sie dennoch splitternackt vor dem bodentiefen Wandspiegel im Flur. Ihr langes, dunkelbraunes Haar bedeckte ihre Schultern, der Rest ihres Körpers war nackt.
Aber das war okay. Die eingeschränkte Mobilität ihrer Mutter würde verhindern, dass sie zufällig über ihre nackte Tochter stolperte. Dabei war es genau genommen das Stolpern, das ihre Mutter davon abhielt, eine Menge Dinge zu tun. Vor allem zu leben.
Emma drehte sich, um sich im Profil zu betrachten. So, wie sie nun dastand, ihre linke Seite dem Spiegel zugewandt, war nichts zu sehen. Sie sah normal aus, eine junge Frau in den Zwanzigern, deren Körper zugegebenermaßen hier und da ein paar Rundungen aufwies. Aber der einzige Sport, den sie dieser Tage betrieb, bestand darin, abends die Beine ihrer Mutter ins Bett zu heben.
Die Uhr in ihrem Kopf, die auf die vielen Dinge eingestellt war, die ihre Zeit beanspruchten, wenn sie sich morgens für die Arbeit fertig machte, mahnte sie, nicht zu trödeln. Sie drehte sich ein weiteres Mal – weg von ihrem Spiegelbild, um eine weitere Frontalansicht zu vermeiden. Emma benötigte eigentlich keinen zweiten Blick aus diesem Winkel, um zu erkennen, dass etwas nicht stimmte. Es kostete sie Überwindung, ihre rechte Seite im Profil zu betrachten. Sie strich mit einem Finger über ihre Haut, zeichnete die Rundung ihrer Brust nach. Sie erinnerte sie an den Kopf der antiken Puppe im Schlafzimmer ihrer Mutter, deren Augen nie blinzelten und immer wachsam auf sie gerichtet zu sein schienen.
Emma strich jetzt in entgegengesetzter Richtung über ihre Brust. Ohne jede Unterbrechung. Der Unterschied zur linken Seite war offenkundig. Sie starrte blinzelnd auf den Leberfleck nahe am Warzenhof. Auf die eingesunkene Brustwarze. Die, die sich seit drei Tagen nicht mehr aufgerichtet hatte.
Emma ignorierte ausnahmsweise einmal ihren Grundsatz, für jedes Wetter gerüstet zu sein. Nach der Konfrontation mit ihrem nackten Spiegelbild hatte sie ihr Haar zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt und sich angezogen, wobei ihre Wahl auf eine dünne – bei diesem Regen denkbar ungeeignete – Bluse gefallen war. Dennoch machte sie sich finster entschlossen auf den Fußweg zur Bushaltestelle, ohne sich dabei um den Wind zu scheren, dessen Kälte sich in ihre Glieder fraß.
Denn heute wollte sie die Kälte spüren. Wirklich spüren. Sich nicht in all die Schichten hüllen, die sie normalerweise trug, wenn der Wind so eisig war, dass er den Regen jeden Moment in Graupel oder Schnee zu verwandeln drohte.
Auf dem kurzen Stück den Timberley Drive hinauf begrüßte sie diese Empfindung. All die Schichten hatten sie offenbar davon abgehalten, wirklich zu leben, wenn sie erst jetzt zum ersten Mal eine so bittere Kälte am eigenen Leib spürte. Die Härchen auf ihren Armen – herrjeh, davon hatte sie wirklich reichlich, wie sie nun sah – hatten sich aufgerichtet, und ihr klapperten die Zähne, aber trotzdem dachte sie: Hätte ich das hier doch bloß schon früher einmal getan!
Doch es funktionierte nicht. Und je mehr sie fror, umso klarer wurde ihr, dass nicht einmal der eiskalte Wind und der Regen ausreichten, um ihre Brustwarze zum Knospen zu bringen.
Als sie endlich um die Ecke zur Hauptstraße bog und das Wartehäuschen an der Bushaltestelle erreichte, hatte sie sich nie zuvor lebendiger gefühlt. Nun verstand sie diese verrückten Leute, die Shorts trugen, auch wenn es in Strömen goss, ein wenig besser.
Sie blickte an sich herab, betrachtete die durchnässte Bluse, die an ihrem Büstenhalter klebte: die linke Brust mit ihrer ausgeprägten Reaktion auf die Kälte, die rechte, die unerschütterlich an ihrer Entscheidung festhielt, nicht zu reagieren.
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen, Liebes?« Eine alte Dame mit einem Einkaufstrolley im Schlepptau trotzte dem Regen in einem wettergegerbten Mantel. Wenn bereits die Inhaber von Seniorenkarten unterwegs waren, musste es fast neun sein. Das bedeutete, dass sie zu spät zur Arbeit kommen würde. Dabei kam sie nie zu spät zur Arbeit!
Normalerweise hatte sie nichts gegen eine höfliche Unterhaltung einzuwenden, aber heute brachte sie keine Antwort zustande.
»Sie sehen aus, als hätten Sie eine aufregende Nacht hinter sich.« Die alte Dame kicherte. »Ich hoffe, er war es wert. Sie sollten bei diesem Wetter nicht so herumlaufen. Sehen Sie zu, dass Sie endlich nach Hause kommen, sonst erkälten Sie sich noch, Kindchen.«
Nun schossen Emma die Tränen in die Augen, und sie weinte einen ganzen Wasserfall davon. Vermochte gar nicht mehr aufzuhören, schnappte immer wieder nach Luft. Und mit einem Mal füllten sich ihre Lungen mit einem so eiskalten Strom, dass sie ein Jaulen von sich gab wie ein verwundetes Tier.
»Du meine Güte, Herzchen. Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Kein Mann ist solche Tränen wert«, sagte die alte Dame, bemüht, Trost zu spenden, aber leider lag sie damit völlig daneben.
Emma nahm sich zusammen. »Vielen Dank«, brachte sie heraus, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, wofür eigentlich, doch sie wollte irgendetwas Höfliches sagen, bevor sie flüchtete.
Es half nichts. Sie war heute einfach nicht in der Lage zu arbeiten. Sie musste endlich diese Sache erledigen, die sie vor sich herschob. Musste ihren Hausarzt anrufen. Und aufhören, den Kopf in den Sand zu stecken.
Sie rannte mit dem Gesicht zum Himmel gereckt davon, scherte sich nicht darum, ob sie stolperte oder irgendjemand sie sah. Sie wollte, dass der Regen auf ihre Haut trommelte. Sie wollte die Elemente spüren.
Wenn sie doch nur eine aufregende Nacht mit einem Mann hinter sich hätte! Heute Morgen neben ihm aufgewacht und unter einer kuscheligen Doppelbettdecke hervorgeschlüpft wäre. Einen Zettel mit ihrer Telefonnummer hinterlassen hätte, ohne dabei wirklich auf irgendeine Fortsetzung zu hoffen. Wenn sie doch nur so schamlos gewesen wäre, mit verschmiertem Make-up, schwach nachwehenden Parfüm und kaum einen Gedanken an ihren One-Night-Stand verschwendend auf die Straße zu gehen.
Stattdessen war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihre rechte Brust noch vor ihrer Jungfräulichkeit verlieren würde.
2
Nathan
Nathan Foxdales Motto lautete: Lebe intensiv, lebe schnell, lebe furchtlos. Dabei liebte er insgeheim die Furcht. Er verdankte seinen Adrenalinschub, den er jedes Mal verspürte, wenn er aus einem Flugzeug sprang, nicht etwa dem Rausch, am Leben zu sein, sondern der allgegenwärtigen Angst vor dem Ende. Dem Verlangen, keinen Tag zu verschwenden. Wenn er das Leben nicht voll auskostete, bestand die Gefahr, gar nicht zu leben – und das war seine größte Angst. Die hatte ihn dazu getrieben, jahrelang die Welt zu bereisen. Und ihn schließlich dazu bewogen, wieder in Großbritannien sesshaft zu werden, um dort seine große Leidenschaft – das Fallschirmspringen – zum Beruf zu machen.
Es war schon eine Weile her, seit er einen Solo-Sprung gemacht hatte. Für gewöhnlich gehörte es zu seinem Job, dass jemand an seine Brust geschnallt war, der einen unglaublichen Adrenalinkick erlebte. Und egal, um wen es sich auch handelte, die Furcht dieses Menschen war immer spürbar, auch wenn einige weniger Zuspruch benötigten als andere.
Heute Morgen hatte AirFly nur drei Kunden bei vier Fallschirmlehrern, daher bekam Nathan die seltene Gelegenheit zu springen, ohne dabei jemanden durch diese Furcht einflößen-den Momente während des Flugs zu lotsen und ihn viertausendfünfhundert Meter über der Erde in Richtung der offenen Tür zu bugsieren.
Derek war heute an der Reihe, die Einweisung vor dem Sprung zu geben. Ab diesem Zeitpunkt waren die Teilnehmer schon gefordert, denn während sie versuchten, den wichtigen Erklärungen des Fallschirmlehrers zu folgen, um nach dem Sprung sicher zu landen, wurden sie gleichzeitig von seinen Kollegen umkreist, die die Sicherheits-Checks vornahmen, dafür sorgten, dass Schutzbrillen und Lederhelme korrekt saßen und die Gurte richtig angelegt waren.
Nathan spürte jedes Mal die Anspannung, die in der Luft lag, und obwohl er diese Prozedur schon Hunderte Male hinter sich gebracht hatte, war er sich jedes Mal des überwältigenden Vorhandenseins dieser Empfindung bewusst. Sie war Teil des Reizes, der diesen Job ausmachte. Er kam nicht nur in den Genuss des eigenen Adrenalinkicks, sondern vermochte zudem die statische Energie in sich aufzunehmen, die durch diese ängstliche Erwartung erzeugt wurde.
Er kannte die Worte auswendig. Hatte die Einweisung selbst schon unzählige Male gegeben. Heute konzentrierte er sich darauf, das Erlebnis zu genießen, ließ sich ausnahmsweise einmal Zeit dabei, sich fertig zu machen.
Er zog sich die Springerkombi an und nahm selbst den Sicherheits-Check an seinem Fallschirm vor. Die anderen Fallschirmlehrer, Tim und Antonio, waren beide enge Freunde von ihm. Sie bewegten sich alle schon lange in Springerkreisen und bildeten eine eng miteinander verbundene Gemeinschaft. Hinter ihnen am Empfangstresen saß Leanne, Tims Freundin, die den Laden am Laufen hielt. Sie hatte alles fest im Griff, aber das musste sie auch angesichts der Branche, in der sie arbeiteten.
Nachdem Nathan festgestellt hatte, dass bei seinem Fallschirm alles war, wie es sein sollte, hievte er ihn sich auf den Rücken und sicherte die Verschlüsse.
Dabei entschlüpfte ihm unwillkürlich ein so lautes »Autsch«, dass Lehrer und Kunden ihre Aufmerksamkeit auf ihn richteten. Sogar Leanne sah sich veranlasst, ihren gewohnten Platz am Empfangstresen zu verlassen.
»Alles okay bei dir?«, fragte sie mit besorgter Miene. »Alles bestens. Bloß zu fest gezogen.« Nathan rieb sich die Brust.
»Soll ich den Erste-Hilfe-Kasten holen?«
»Nein, es ist wirklich alles in Ordnung.« Er war sich zwar nicht ganz sicher, aber er wollte deshalb kein Theater machen.
Derek, der Eigentümer der Firma und der Älteste der Fallschirmlehrer, kam herüber, um zu sehen, was los war. Leanne kehrte zum Empfangstresen zurück.
»Alles klar bei dir? Du bist doch keiner, der schnell Aua schreit.«
Nathan rieb sich die Brust. Der Schmerz war immer noch da. »Nippelhaare«, log er.
Derek grinste breit. »Und ich dachte, ihr Jungs wärt heutzutage alle gewachst und poliert. Tu etwas Eis drauf, wenn’s wehtut. Du kannst aussetzen, wenn du willst.«
»Nicht nötig, mir geht’s gut. Ich hatte bloß nicht damit gerechnet.«
»Ganz sicher?« Derek musterte ihn streng mit zusammengezogenen Augenbrauen, bevor er zu seinem Kunden zurückkehrte, der den Eindruck erweckte, als würde er sich jeden Moment in die Hose machen.
Nathan war sich zwar ganz und gar nicht sicher, hatte aber dennoch genickt.
Jetzt, wo er ein bisschen mehr Platz hatte, lockerte er die Gurte und rieb sich weiter über den Brustmuskel. Doch je mehr er rieb, desto bewusster wurde ihm, dass die Ursache offenbar ein Knoten auf seiner Brust zu sein schien. Er war klein. Kaum spürbar. Aber als er die Gurte strammgezogen hatte, da war ein Schmerz durch seine Brust geschossen, wie er ihn noch niemals zuvor verspürt hatte.
»Bereit, Nathan? Es geht los!«, rief Derek, der den letzten Teil der Einweisung beendet hatte.
»Klar«, erwiderte er und zog die Gurte wieder fest – allerdings etwas vorsichtiger als zuvor, um nicht wieder diesen furchtbaren Schmerz auszulösen.
Auch wenn er schon öfter gesprungen war, als das Jahr Tage hatte, zählte er immer noch mit. Dies war heute Sprung sechshundertsechsundsechzig. Vielleicht würde es bei dieser Unglückszahl ja sein letzter sein.
Die Elemente beim Fallschirmspringen waren immer die gleichen: der Steigflug, die Sicherheits-Checks, die Anspannung in der Luft, die Reihenfolge, in der sie aus dem Flugzeug sprangen, die Dinge, die sie ihren Kunden sagten. Es war alles normal, der Himmel außergewöhnlich klar und blau für einen Januartag.
Nathan war als Letzter dran, ohne Kunden an seine Brust geschnallt, der sich in die Hose schiss – was kein Scherz war, sondern hin und wieder tatsächlich vorkam. Heute war er ohnehin froh, niemanden bei sich zu haben. Das Gewicht dieses kleinen Knotens, der sich gegen seine Brust presste, reichte ihm schon.
Vielleicht war es ja nur ein Pickel, der sich entzündet hatte. Aber er spürte, dass es mehr war. Er musste nicht erst seine Klamotten ausziehen und nachzusehen, er wusste auch so, dass etwas nicht stimmte. Schließlich wartete er schon sein ganzes Leben auf diesen Moment. Es war immer nur um die Frage gegangen, wie es enden würde. Und hier hatte er nun seine Antwort in Form eines deutlich wahrnehmbaren Knubbels, der nicht größer war als eine Erbse.
Als er mit seinem Sprung an der Reihe war, zögerte er an der offenen Tür, wie er es immer tat. Der plötzliche Luftstrom reichte aus, um jeden daran zu erinnern, was es bedeutete, am Leben zu sein. Und genau diese Bestätigung brauchte er. Deshalb war dieser Moment der Grund, warum er den Job überhaupt machte.
Während das Flugzeug ruckelnd durch die Wolken flog – das scheinbar Unmögliche schaffte, nämlich sich als eine Maschine aus Metall über den Himmel zu bewegen –, zählte er im Stillen bis drei und sprang wie immer bei zwei. Es war vielleicht ein bisschen grausam, wenn er dies mit seinen Kunden machte, sie dazu brachte zu springen, bevor sie bereit waren. Aber er war der Ansicht, dass einem eine Menge im Leben entging, wenn man immer erst darauf wartete, dass man bereit war.
Für einen kurzen Moment wurde er wie ein Steppenroller durch die Luft getrieben und der Wind, der gegen seine Gliedmaßen drückte, drohte ihm die Orientierung zu rauben.
Es war dieser herrliche Klang der Luft, die an ihm vorbeijagte, den Nathan so liebte. Alles daran schrie förmlich danach, dass ein Fallschirmsprung zur Erde nicht das war, was sich ein Mensch antun sollte. Dass es eigentlich die menschlichen Fähigkeiten überstieg. Es war ein Klang, der sich von allen anderen Klängen unterschied, und erst als er sich aufs Neue mit ihm vertraut machte, wurde offensichtlich, wo sich die Erde befand.
Im Bruchteil einer Sekunde würden sich die Wolken teilen und den Blick freigeben auf die Landschaft dort unten, einem Gemälde gleich, an dem er sich erfreuen konnte. Es gab für ihn auf dieser Welt nichts anderes, was einer solchen Einsamkeit gleichkam und zugleich doch so berauschend war. Er war ganz allein, wie er da vom Himmel herabschoss, und er schloss für einen Moment die Augen, um das Gefühl zu genießen. Bevor der Sprung außer Kontrolle geriet, breitete er Arme und Beine aus, um seinen Körper in dem Wind, der mit solch einer gewaltigen Kraft gegen ihn drängte, zu stabilisieren.
Selbst jetzt, im freien Fall, strömte dieser Schmerz aus seiner Brust. Dieser kleine unbedeutende Knoten, von dessen Existenz er vor einer Stunde noch nichts geahnt hatte, verursachte mehr Unruhe als der Wind, in dem er segelte.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ab dem er zählen sollte.
Der Sinkflug.
Wissen, wann es so weit war.
Der richtige Moment.
Die Augen zu öffnen.
Die Reißleine zu ziehen.
Sich vom Schwall des öffnenden Fallschirms himmelwärts ziehen lassen.
Die Entscheidung, die ihn rettete.
Jedes Mal.
3
Jedes Mal.
Während er sich näher auf die Erde zubewegte, fragte er sich, ob er überleben wollte. Ob es, wenn dies wirklich sein letztes Lebensjahr sein sollte, nicht humaner wäre, auf diese Weise zu enden. War es denkbar, dass dieser seltsame sechste Sinn, den er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, wirklich recht behalten sollte? Oder war er dabei durchzudrehen und sein Leben womöglich wegen einer vereiterten Pore wegzuwerfen?
Unter ihm erinnerte die Landschaft Salisburys an eine Patchworkdecke aus Grüntönen: Jedes Feld trug eine etwas andere Farbe als sein Nachbar, und alle waren mit Hilfe von dunklen Buschreihen miteinander verbunden. Die einzigen Gebäude unter ihm waren wahllos verstreut und wirkten wie Kreidemarkierungen. Als sich Nathan diesem Anblick näherte, war er kein bisschen williger, die Reißleine zu ziehen.
Wenn man sein Leben bei hundertsechzig Kilometern pro Stunde verbrachte, war es nicht leicht, ruhige Momente zu finden, und zurzeit kam ihm das Vergessen verlockend vor. Dann müsste er sich niemals aus dieser ganzen Ausrüstung schälen, sich ausziehen und dem winzigen Knoten weitere Aufmerksamkeit schenken. Er müsste niemals erfahren, was mit ihm los war, sich niemals auf einen Kampf einlassen, den er verlieren könnte. Und er müsste sich nie mehr fragen, wie es wohl wäre, eines Tages …
Zebras in der freien Wildbahn zu beobachten.
In gebackenen Bohnen zu baden.
Den Londoner Marathon zu laufen.
An einem Krimi-Wochenende teilzunehmen.
Eine ganze Nacht am Strand zu verbringen und unter den Sternen zu schlafen.
Und plötzlich war es der richtige Moment, die Reißleine zu ziehen. Denn wenn er es nicht tat, dann hätte er niemals die Chance herauszufinden, was die Zukunft bringen würde.
Es war an der Zeit zu leben.
Zu kämpfen.
Sein Leben nicht von dem Traum bestimmen zu lassen, der ihm den Schlaf raubte.
4
Erster Tag
Emma
In dem Schreiben des Krankenhauses hatte gestanden, dass Emma jemanden mitbringen sollte. In Anbetracht dessen, was ihr bevorstand, leuchtete ihr das ein. Allerdings gab es keinen weiteren Hinweis, auf wen man ersatzweise zurückgreifen sollte, wenn man niemanden hatte, der diese Rolle übernehmen konnte. Sie war bislang immer diejenige gewesen, die sich um andere gekümmert hatte, nicht umgekehrt.
Natürlich wäre ihre Mutter für sie da gewesen, wenn Emma ihr von dem Termin erzählt hätte, aber das war im Augenblick eine unnötige Sorge, und Carole in ihrem Rollstuhl zum Krankenhaus zu bekommen, hätte einen ohnehin schon stressigen Tag nur noch stressiger gemacht. Außerdem bestand immer noch die Möglichkeit, dass es gar nichts Ernstes war.
Außer ihrer Mutter gab es niemanden, den sie bei der Ultraschalluntersuchung ihrer Brüste gern dabeigehabt hätte. Ihre engste Freundin wäre noch in Frage gekommen. Aber die pflegte ihren Vater und versuchte ihre jüngere Schwester im Zaum zu halten, da wollte sie ihr zu diesem frühen Zeitpunkt nicht noch mehr aufbürden. Also blieb nur sie ganz allein. Sie betrachtete es als Opfer für die Gemeinschaft, auch wenn es ihr vorkam, als hätte sie nicht nur ein Flattern im Bauch, sondern auch an Stellen, wo sie noch niemals zuvor eins gespürt hatte. Im Moment war sich jeder Millimeter ihres Oberkörpers bewusst, wie ihr Herz hämmerte, in dieser fremden Umgebung bis an seine Grenzen ging. Es wäre schön gewesen, jemanden an ihrer Seite zu haben, aber manche Dinge erledigte man besser allein. Sie glaubte ohnehin nicht, dass sie die Ruhe finden würde, die sie sich erhofft hatte – ob mit oder ohne Begleitung.
Sie wählte eine zerlesene Frauenzeitschrift aus dem bescheidenen Angebot auf dem Tisch im Wartebereich, um sich abzulenken. Sie durfte gar nicht daran denken, wie viele Patienten schon darin geblättert hatten, aber sie war nun einmal verzweifelt. Die Uhr an der Wand machte sie mit ihrem beharrlichen Ticken verrückt. Eine ständige Erinnerung daran, wie lange sie hier wohl noch rumsitzen und sich fragen musste, was mit ihr los war.
Der Einzige, der noch mit ihr im Wartebereich saß, war ein Mann in ihrem Alter. Sein zerzaustes, dunkles Haar und eine Art von Mechanikeroverall, den er trug, ließen vermuten, dass er direkt von der Arbeit hergekommen war. Er sah auf eine raue, ungeschliffene Art gut aus und schien in dem sterilen Wartebereich seltsam fehl am Platz. Vermutlich unterstützte er seine Partnerin oder Mutter oder Schwester in diesem Augenblick der Not bei ihrem Termin in der Brustsprechstunde. Wenigstens gab es also eine Frau hier, die offenbar keine Probleme gehabt hatte, Unterstützung mitzubringen. Wenn ihr das doch nur auch gelungen wäre!
»Weit und breit keine Ausgabe von Robot Wars Monthly. Es ist nie die richtige Zeitschrift da, wenn man mal eine braucht, stimmt’s?«
Er sprach offenbar mit ihr. Emma versuchte gewöhnlich, Unterhaltungen mit Fremden zu vermeiden. Das hatte zum Teil mit ihrer Arbeit in der Bibliothek zu tun. Dort musste sie mit Fremden reden, es war Teil ihres Jobs. Und mit den Jahren war ihr klar geworden, dass die meisten Fremden Spinner waren. Aber vielleicht war es auch nur dort so, wo sie arbeitete.
»Ich würde sagen, das ist ein bisschen sehr speziell. Vielleicht solltest du deine Erwartungen runterschrauben und darauf hoffen, dass sie die Sun haben.«
Der potenzielle Spinner lachte. Über das ganze Gesicht, als ob sie tatsächlich etwas Witziges gesagt hatte. »Man sollte doch meinen, dass sie auch ein bisschen an die Männer denken würden, oder?«
»Hmmm …« Sie hatte die Qualität des Leseangebots gar nicht in Betracht gezogen und auch nicht, ob es die Gleichstellungstandards erfüllte.
»Vermutlich rechnen sie bei den Terminen hier gar nicht mit unsereins.«
Emma war ziemlich verblüfft, dass sie sich in der Brustsprechstunde der Klinik mit einem gut aussehenden Mann über die Qualität des Zeitschriftenangebots unterhielt. Dass so etwas bei ihrem Besuch hier geschehen könnte, hatte sie überhaupt nicht in Betracht gezogen. »Es gibt doch bestimmt jede Menge Männer, die als Unterstützung mitkommen. Vielleicht solltest du mal einen Stapel Robot Wars Monthly mitbringen. Sie scheinen hier offensichtlich dringend auf Spenden angewiesen zu sein.« Während sie dies sagte, fächerte sie die Seiten der Illustrierten auf, die auseinanderzufallen drohte.
»Ich glaube, da hast du recht. Kommt ganz oben auf meine To-do-Liste.« Er sagte es ohne jeden Sarkasmus, und der Gedanke brachte sie zum Lächeln, auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass er diese Zeitschrift erfunden hatte.
Er blickte sich im Wartebereich um, erweckte dabei den Eindruck, als sei er ebenso ratlos wie sie. »Welche Zeitschriften wirst du denn spenden? Wir benötigen einen kleinen Ausgleich, wenn die Männer tolles neues Lesefutter bekommen.«
Sie hätte irgendeinen Titel erfinden können. Irgendetwas Ausgefallenes, Interessantes. Etwas Gewagtes. Etwas Glamouröses. Doch anstatt ihr Leben zu beschönigen, sagte sie die Wahrheit und nannte den Namen des einzigen Abos, das sie bezog. »Angehörige pflegen.«
»Dann hast du also jemanden herbegleitet?«
»Schön wär’s.«
»Oh. Ich dachte bloß … Die Sache mit der Pflege … Na ja … ich finde, dass du einfach zu jung bist, um wegen eines Termins hier zu sitzen.«
»Offenbar nicht. Aber hoffentlich ist es gar nichts Ernstes.« Auch wenn man sich hier nicht auf Krebs spezialisiert hatte, wussten sie beide nur zu gut, was man hinter diesen Türen entdecken könnte. »Und mit wem bist du hier?« Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, was auf sie zukam.
»Mit dir.«
Oh Gott. Definitiv ein Spinner. »Ich meine, mit wem bist du hergekommen?«
»Mit mir.«
»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.« Sie hatte schon von ungebetenen Hochzeitsgästen gehört, die sich einen Spaß daraus machten, die Feier zu stören. Sogar von ungebetenen Trauergästen bei Beerdigungen. Aber dass sich jemand nur so zum Spaß hierhinhockte, ohne einen Termin zu haben, kam ihr schon sehr abgedreht vor. Es gab ja nicht einmal ein Büffet, an dem man sich umsonst satt essen konnte.
»Ich bin der Patient.«
»Oh.«
»Offenbar haben auch Männer Brüste.«
»Und du bist allein hier?« Emma hatte keine Ahnung, warum sie so erstaunt klang, wo sie doch selbst in dieser misslichen Lage war.
»Ja. Ist irgendwie ziemlich peinlich, wenn man seinen Freunden eingestehen soll, dass man jemanden benötigt, der einen zu einer Brustsprechstunde begleitet. Ich habe mir gedacht, dass ich schon allein mit einer Ultraschalluntersuchung klarkomme.«
»Und was ist, wenn es schlechte Neuigkeiten sind?«
»Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie schlecht sein werden. Und was ist mit dir? Warum bist du allein hier?«
Emma fiel die ungelesene Zeitschrift aus der Hand, weshalb sie die Antwort für einen Moment aufzuschieben vermochte, um sich zu bücken. Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Lage wäre, zu antworten, wenn sie ihm dabei geradewegs in seine strahlend grünen Augen blickte. Er war ein Fremder. Sie redete nicht mit Zufallsbekanntschaften in Wartezimmern über ihre Privatangelegenheiten. Auch wenn sie ausgesprochen schöne Augen hatten. Aber andererseits … Spielte es wirklich eine Rolle, wenn sie darüber redete? Es war wichtig, dass sie sich in Zeiten wie diesen nicht vor der Welt verschloss.
»Na ja, die Sache mit der Pflege«, begann sie. »Also, meine Mutter stirbt schon ihr ganzes Leben langsam vor sich hin. Sie muss nicht unbedingt erfahren, dass ihr ihre Tochter zuvorkommen könnte.«
»Shit. Und ich sitze da und versinke in Selbstmitleid. Ich schätze mal, dass du auch schon damit rechnest, schlechte Nachrichten zu erhalten.«
»Alles andere wäre illusorisch.«
Eine Flügeltür schwang auf. Schritte näherten sich dem Wartebereich. Papier raschelte, als jemand einen Blick in die Patientenakte warf.
»Emma Green«, sagte die uniformierte Frau.
»Dann ist jetzt wohl der Zeitpunkt gekommen, es herauszufinden.« Sie legte die Zeitschrift viel zu sorgsam auf den Tisch, als wäre sie mit ihrem Zögern in der Lage, das Unvermeidliche abzuwenden.
»Begleitet Sie jemand?«, erkundigte sich die uniformierte Frau mit einem höflichen Blick in Richtung des sonderbaren Fremden.
Emma blickte in dieselbe Richtung und sah, dass er aufstand, als wäre er an der Reihe hineinzugehen.
»Ich bin für dich da«, sagte er und wischte sich dabei unsichtbaren Staub vom Overall. »Wenn du es willst«, fügte er hinzu und sah sie dieses Mal dabei direkt an.
»Hier entlang, bitte.« Die Frau hielt ihnen beiden die Tür auf. »Sie dürfen gern dabei sein, wenn Unterstützung gewünscht ist.«
Eigentlich wehrte sich alles in Emma bei dem Gedanken daran, einen Fremden im Raum zu haben. Sie kam nicht gut mit Intimität klar, nicht einmal bei den Menschen, die ihr am nächsten standen. Sie war immer diejenige, die im Umkleideraum unter ihrem Oberteil in den BH schlüpfte, niemals selbstbewusst genug, um schamlos zu sein. Wenn sie also nun diesen Mann hineinließe, den die Klinikmitarbeiterin für ihre Begleitung hielt, der aber ein Fremder für Emma war, würde sie gegen ihren Instinkt handeln.
Andererseits war diese Frau genau wie all die Ärzte und Schwestern und die anderen Krankenhausmitarbeiter, denen sie in den kommenden Monaten begegnen würde, ebenfalls ein fremder Mensch für sie. Und deshalb – auch wenn es ganz und gar nicht ihrer Natur entsprach – erwiderte sie den Blick des Fremden und nickte. »Okay.«
Die Frau führte sie zu einem Raum ein Stück weiter den Flur hinauf. Unter besseren Umständen hätte sich Emma vorgaukeln können, dass sie wegen einer Schwangerschaft zur Ultraschalluntersuchung hier war und ihr Partner sie begleitete, um ihre Hand zu halten, während sie beide zum ersten Mal ihr Kind sahen.
»Ziehen Sie bitte Ihr Oberteil und Ihren BH aus. Dort ist ein Tuch, mit dem Sie sich bedecken können, während Sie warten. Ich werde in ein paar Minuten anklopfen, um nachzusehen, ob Sie bereit sind.«
Als sich die Tür schloss, erstarrte Emma.
»Es ist eine Frechheit, das als Tuch zu bezeichnen«, sagte der Fremde. »Das ist die blaue Rolle, die die Reinigungskräfte benutzen, mehr nicht.«
Sie musste unwillkürlich lächeln, obwohl dies in einem Moment wie diesem doch eigentlich eine Unmöglichkeit war. Als ob sie mit dem, was ihr bevorstand, nicht schon genug zu bewältigen hatte, war es ihr auch noch irgendwie gelungen, sich nun vor einem Mann ausziehen zu müssen, den sie gerade erst kennengelernt hatte. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie.
»Nathan. Freut mich, dich kennenzulernen, Emma Green.«
Er streckte ihr die Hand entgegen und sie ergriff sie, um sie zu schütteln. Er hatte einen kräftigen, verlässlichen Händedruck und mit einem Mal waren sie keine Fremden mehr. »Und da ich ein Gentleman bin, werde ich die ganze Zeit wegschauen. Ich bin bloß hier, wenn du eine Hand zum Festhalten brauchst oder jemanden zum Reden.«
»Ich werde das Gleiche für dich tun, klar?«, erwiderte Emma. In dem Moment, als die Worte aus ihrem Mund heraus waren, wurde ihr bewusst, dass Nathan genau darauf aus war. Ganz offenbar benötigten sie beide etwas Unterstützung.
»Das will ich schwer hoffen. Ich mache das hier schließlich nur, damit ich nachher, falls nötig, wie ein Baby an deiner Schulter weinen kann.« Sein Lächeln geriet für einen Augenblick ins Wanken. »Ehrlich gesagt, habe ich eine Scheißangst.«
»Dann schau mal weg«, erwiderte sie. Sie zog ihren Pullover aus und nahm anschließend ihren BH in Angriff, bevor sie unter die völlig ungeeignete, blaue Papierdecke schlüpfte. »Es ist in Ordnung, Angst zu haben. Ich habe auch totalen Schiss.«
So, nun hatte sie es ausgesprochen. Hatte einem anderen Menschen gegenüber zugegeben, dass sie völlig neben der Spur war, seitdem sie begriffen hatte, dass es ein Problem gab. Und irgendwie machte es das Ganze ein kleines bisschen leichter zu ertragen, weil ihr sonderbarer neuer Freund bei ihr war.
Nathans Tagebuch
Das Leben besteht aus Kontrasten: Farben, Texturen, Aromen. Die Art und Weise, wie Menschen etwas erleben, ist völlig unterschiedlich. Daher machen zwei Menschen niemals die gleichen Erfahrungen beim Fallschirmspringen. Es handelt sich zwar um dieselbe Aktivität, dieselben Sicherheitsvorkehrungen, und dennoch gibt es so viele Unterschiede. Selbst für mich. Manchmal genieße ich den Blick von oben. Wie leicht es doch ist, den Wechsel der Jahreszeiten zu bemerken, wenn man ihn aus einer Höhe von viertausendfünfhundert Metern erlebt! Und manchmal konzentriere ich mich voll und ganz auf das Gefühl, zu fallen.
Deshalb schreibe ich in dieses Traumtagebuch … denn es gibt Dinge, die ich an meinem Traum nicht verstehe. Es fehlt ihm an Vielschichtigkeit. Und dennoch habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass er sich bewahrheiten wird. Wie sollte ich auch, wo es doch der einzige Traum ist, den ich jemals gehabt habe? Was könnte überzeugender sein als etwas, das sich in den meisten Nächten in einer exakten Kopie wiederholt? Eine unumstößliche Darlegung dessen, was kommen wird.
In meinem immer wiederkehrenden Traum liege ich in einem Krankenhausbett und ringe um Atem. Ich höre mein eigenes Röcheln und bin mir bewusst, dass Menschen im Zimmer sind, aber ich habe keine Ahnung, wer sie sind. Ich verspüre dieses Bedürfnis, dass sich meine Mutter unter ihnen befindet, aber sie ist bereits verstorben und wird erst in Erscheinung treten, wenn das Röcheln endgültig aufgehört hat.
Also lausche ich und frage mich bei jedem gequälten Atemzug immer wieder, ob es womöglich mein letzter sein wird, bis Stille eintritt und ich plötzlich erwache. Und ich atme tief ein, sauge die Luft in meine Lungen. Das ist der Moment, in dem mir bewusst wird, dass ich der Frage, wer dort mit mir im Zimmer ist, keinen Schritt näher bin. Ich immer noch keine Ahnung habe, ob es einen Menschen gibt, der mich so sehr liebt, dass er mir die Hand hält, wenn meine Zeit schließlich gekommen ist. Ich weiß nur, dass es zu früh ist. Und ich kann nichts anderes dagegen tun, als weiteratmen.
5
Sechster Tag
Emma
Emma hatte die Bibliothek, in der sie arbeitete, immer als ein Tor zur Welt betrachtet. Ob sie etwas über mögliche Karrierewege, zukünftige Reiseländer oder berühmte Persönlichkeiten erfahren wollte, die sie gern einmal getroffen hätte – all dies fand sie hier, in diesem Gebäude, in diesen Regalen, versteckt auf den Seiten unzähliger Bücher.
Aber während sie sich einer ihrer alltäglichen Aufgaben widmete, die darin bestand, sicherzustellen, dass jedes einzelne Buch vorschriftsmäßig in das Computersystem eingegeben und an seinen angestammten Platz zurückgekehrt war, spürte sie, wie sich das Tor schloss.
Diese Regale dienten ihr nicht mehr länger als Portale in andere Welten, sondern sie waren vielmehr Belege für all die Dinge, die sie in ihrem Leben nie getan hatte.
Sie hielt einen Lonely-Planet-Reiseführer von Italien in der Hand. Sie könnte dieses Buch mit nach Hause nehmen und es von vorne bis hinten durchlesen, sich an den Sehenswürdigkeiten, den Klängen und Gerüchen des Landes erfreuen, aber sie würde womöglich nicht mehr die Gelegenheit haben, dorthin zu reisen. Es würde für sie womöglich immer nur in ihrer Fantasie existieren.
Und sie würde auch niemals wie geplant all die Rezepte aus Französisch kochen ausprobieren, als ob sie die Hauptrolle in Julie und Julia spielte. Niemals ihr ehrenamtliches Engagement auf ein anderes Land, wie zum Beispiel Namibia, ausdehnen. All die Dinge, die sie irgendwann einmal hatte verwirklichen wollen, waren über Nacht unmöglich geworden.
Nach nur wenigen Tagen schienen die Mauern des Bibliotheksgebäudes sie nun zu erdrücken, hatten jegliches Gefühl von Sinnhaftigkeit aus ihr herausgequetscht. Ein ganzes Leben gefüllt mit »Niemals« stapelte sich um sie herum, und es stand fest, sie würde wirklich niemals dazu kommen, irgendetwas davon zu verwirklichen.
Sie griff nach dem nächsten Buch auf ihrem Rollwagen und bedauerte es sogleich. Das Gewicht der gesammelten Werke Shakespeares ließ sie zusammenzucken und der dicke Wälzer fiel ihr aus der Hand, landete mit einem dumpfen Geräusch auf ihrem Zeh, und nun kam zu dem Schmerz in ihrer Brust auch noch dieser hinzu.
Emma schloss die Augen, versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen. Es gab im Moment so viele schmerzliche Dinge und sie wollte auf keinen Fall, dass alles wegen eines kaputten Zehs aus den Fugen geriet. Anstatt einen Schmerzensschrei auszustoßen, fluchte sie nur leise und atmete tief ein, bevor sie sich auf den Weg in den Pausenraum für die Angestellten machte. Sie hatte nicht vor, hier draußen, wo ihre Kollegen und die Bibliotheksnutzer sie sehen konnten, in Tränen auszubrechen.
Aber ich weiß doch noch gar nichts, mahnte sie sich. Es bestand immer noch die Chance, dass der Knoten gutartig war. Zwar nur eine sehr kleine Chance, aber immerhin eine Chance.
»Alles in Ordnung, Emma?«
Trevor, ihr Chef, versperrte ihr den Weg zum Pausenraum. Und die Frage, die ihm über die Lippen kam, war nicht wirklich die, die er ihr stellte. Die Frage, auf die er tatsächlich eine Antwort hören wollte, lautete: Wieso machen Sie nicht mit Ihrer Arbeit weiter?
»Mir ist ein Buch auf den Zeh gefallen«, sagte Emma leise, ganz so, als wolle sie vermeiden, dass jemand etwas von ihrer Entschuldigung mitbekam.
Trevor lachte. »Berufsrisiko, würde ich sagen. Solange Sie sich nichts gebrochen haben, sollten Sie das Buch zumindest aufheben. Wir wollen doch nicht, dass jemand darüber fällt, nicht wahr? Sie wissen doch, Sicherheit geht vor!«
Emma warf einen Blick zurück auf ihren verlassen dastehenden Rollwagen. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, dass sie das Buch tatsächlich auf dem Boden zurückgelassen hatte, die Seiten auf eine unschöne Art und Weise gespreizt und der Rücken so stark eingeknickt, dass sie normalerweise davon Ausschlag bekam. Aber heute war ihr das egal. Bücher ließen sich ersetzen. Chefs mussten keine Arschlöcher sein.
»Na los.« Angesichts Trevors eindeutiger Kopfbewegung und der Art, wie er sie wütend anfunkelte, hätte man meinen können, sie sei ein ungehorsamer Hund, der das Stöckchen noch nicht apportiert hatte.
»Heben Sie das verdammte Buch doch selbst auf.« Emmas Stimme war nicht mehr leise. Sie war laut und deutlich und brachte jeden Bibliotheksbesucher dazu, sich umzudrehen und zu ihnen hinüberzustarren.
Bevor sich Trevor von seinem Schock wegen ihres Ausrasters erholt hatte, machte Emma auf dem Absatz kehrt, marschierte am Pausenraum vorbei und nahm Kurs Richtung Automatiktüren in die Freiheit.
Zum Teufel mit niemals.