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Ein Sommer wie seither kein anderer

Zum Buch

Der 9. Mai 1945 war, nach fast sechs Jahren Krieg, der erste Friedenstag in Europa – und der Beginn eines Sommers, der bestimmt war von Leid und Lebensgier. Aus Tagebüchern dieser Zeit und Erinnerungen von Zeitzeugen wie Klaus von Dohnanyi, Alexander Kluge und Marianne von Weizsäcker zeichnen Hauke Goos und Alexander Smoltczyk ein dichtes und schillerndes Bild der direkten Nachkriegszeit: Nissenhütten und amerikanische Musik, der Geschmack von Brennnesselsuppe und Chesterfield-Zigaretten, kurz, ein Sommer, der, in den Worten des Schriftstellers Martin Walser, »ein Sommer wie seither kein anderer« war.

Zu den Autoren

Hauke Goos, Jahrgang 1966, arbeitete nach dem Geschichtsstudium zunächst für das SAT.1-Magazin »Akte«, ehe er 1999 zum Magazin SPIEGELreporter kam. Seit 2001 schreibt er für das Reportagenressort des SPIEGEL. Er lebt in Hamburg.

Alexander Smoltczyk, geboren 1958, studierte Philosophie, Volkswirtschaft und Agrarökonomie. Nach Stationen bei der taz, Geo und der Wochenpost ist er seit 1997 als Reporter beim SPIEGEL. Korrespondenzen in Paris, Rom, Abu Dhabi und Lissabon. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er wiederholt ausgezeichnet. Smoltczyk ist Autor mehrerer Sach- und Kinderbücher. Er lebt mit seiner Familie in Lissabon.

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HAUKE GOOS UND
ALEXANDER SMOLTCZYK (HG.)

»Ein Sommer
wie seither kein
anderer«

Wie in Deutschland 1945
der Frieden begann –
Zeitzeugen berichten

Deutsche Verlags-Anstalt

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Satz: DVA/Andrea Mogwitz

Lithografie: Helio Repro, München

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-27586-0
V002

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Inhalt

Vorwort

Georg Stefan Troller

Als der Frieden begann

Protokolle

Hans-Jochen Vogel

Nikolaj Pudow

Esther Bejarano

Armin Mueller-Stahl

Burkhard Hirsch

Annemarie Günther

Klaus von Dohnanyi

Friedrich Nowottny

Wolfgang Kohlhaase

Irmtraud Folgner

Martin Walser

Hans Modrow

Wolf Schneider

Ingeborg und Woldemar Triebel

Eva Kleiminger

Edgar Reitz

Marianne von Weizsäcker

Edzard Reuter

Theo Sommer

Christian Schwarz-Schilling

Gerhart Baum

Bildteil

Alexander Kluge

Nachwort

Dank

Zeittafel Sommer 1945

Vorwort

Am 8. Mai 1945, einem Dienstag, meldeten die »Aachener Nachrichten«, als erste freie Zeitung Deutschlands, was Millionen Menschen erhofft und viele bis zuletzt gefürchtet hatten: »Der Krieg ist aus! Bedingungslose Kapitulation!«

Der Zweite Weltkrieg mit seinen mehr als 60 Millionen Toten, seinen Verheerungen und beispiellosen Verbrechen des NS-Staates war zu Ende. Deutschland war besiegt. Die Nachricht vom Beginn des Friedens erreichte ein Volk, das erschöpft, verzweifelt und rastlos war. Erschöpft, weil die Bombenangriffe auf deutsche Städte, weil die Angst um Ehemänner, Söhne und das eigene Leben die Deutschen zermürbt hatte; verzweifelt, weil Häuser, Straßen und Städte in Trümmern lagen, weil Väter und Söhne vermisst, in Gefangenschaft oder gefallen waren; rastlos, weil Millionen auf der Flucht oder auf der Suche waren: auf der Flucht vor der Roten Armee, auf der Suche nach Angehörigen, nach Nahrung, nach Nachrichten, nach einer Bleibe.

Mehr als 30 deutsche Großstädte waren fast vollständig zerstört. Dreizehn Millionen Menschen waren obdachlos. Im ganzen Land türmten sich 400 Millionen Kubikmeter Trümmer und Schutt – ein Land der Frauen, in dem viele von ihnen weiterhin auf sich allein gestellt waren, Übergriffen und Vergewaltigungen schutzlos ausgeliefert.

Der 8. Mai markiert die wohl tiefste Zäsur in der jüngeren deutschen Geschichte. Ein verbrecherisches Regime war am Ende und mit ihm eine Weltanschauung. Neue Regeln, neue Werte mussten gefunden und gelernt werden. Viele Menschen standen auch vor den Trümmern ihrer Biografie.

Fast sechs Jahre hatte der Krieg gedauert. Er hinterließ Flüchtlinge und Vertriebene, Kriegsgefangene und Ausgebombte, Evakuierte und KZ-Überlebende, ehemalige Zwangsarbeiter, Witwen und Waisen, Verschleppte und Verstörte, die ratlos und häufig wie betäubt durch die Ruinen irrten. Für alle begann eine Zeit der Neuorientierung. Viele kämpften um ihre Existenz. Weniges war sicher in diesem Sommer. Eine Zwischenzeit. Die Vergangenheit war noch nicht vergangen, die Zukunft hatte noch nicht begonnen.

Wie haben die Menschen den ersten Sommer der Nachkriegszeit erlebt? Was haben sie empfunden, gedacht, gehofft? Welche Erwartungen hatten sie, welche Pläne? Wie stellten sie sich, so kurz nach der bedingungslosen Kapitulation, die Zukunft vor? Und wie begegneten sich jene, die vor Hitler fliehen mussten, und jene, die ihm zugejubelt hatten?

Ausgangspunkt für dieses Buch war eine SPIEGEL-Geschichte: Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Mai 2020 befragten wir Zeitzeugen zu ihrem Sommer 1945. Darunter waren Prominente wie Martin Walser, Marianne von Weizsäcker, Hans Modrow, Edzard Reuter, aber auch weniger Prominente wie die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano und ganz Unbekannte. In diesem Sommer 1945 waren sie alle unbekannt. Wir wählten damals die Form einer Chronik: Die Einzelstimmen fügten sich so zu einer kontrastreichen, bewegenden Erzählung zusammen, in der sich Freude und Enttäuschung über die Niederlage mischten. In der die Erleichterung über das Ende der Bombardierungen neben der Sorge um Angehörige stand, die Neugier auf das, was kommen würde, neben der Trauer darüber, wie viele Leben Diktatur und Krieg gekostet hatten.

Für dieses Buch haben wir die Chronik noch einmal erweitert. Dabei war uns immer bewusst, dass unser Buch wahrscheinlich eine der letzten Gelegenheiten bot, mit Zeitzeugen über diese Nachkriegsmonate ins Gespräch zu kommen. Die meisten Befragten sind um die 90 Jahre alt, einige deutlich älter. Uns trieb dabei das Glücksgefühl, Menschen interviewen zu dürfen, die aus erster Hand berichten können, eben weil sie dabei waren.

Wo immer möglich haben wir unsere Gesprächspartner besucht und uns in langen Unterhaltungen die Erlebnisse dieses besonderen Sommers schildern lassen: von Nikolaj Pudow, dem Rotarmisten, der mit seiner Frau, beide beinahe hundertjährig, in einem Städtchen bei Moskau lebt; von Esther Bejarano, die Auschwitz und Ravensbrück überlebte und die noch immer zu Vorträgen und Konzerten durch Europa reist; von Georg Stefan Troller in seiner Pariser Dachwohnung und von Gerhart Baum in Köln, von Annemarie Günther, die aus Ostpreußen nach Hamburg geflüchtet war, und von Ingeborg und Woldemar Triebel, die sich im Krieg beinahe aus den Augen verloren hatten und heute seit über 70 Jahren verheiratet sind.

Andere haben wir, weil die Corona-Pandemie es anders nicht zuließ, am Telefon befragt; mehr als einmal kam es vor, dass sie, weil das Vergangene eben nicht vergangen ist, vor Bewegung nicht weitersprechen konnten.

Alle sind von den beiden Fotografen Jakob Schnetz und Janek Stroisch aufgenommen worden. Ihre Porträts, die Gesichter der Zeitzeugen, legen eindrucksvoll Zeugnis ab von wahrhaft gelebtem Leben.

Damit sich das Bild dieses Sommers rundet, haben wir außerdem im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen nach Stimmen aus jenen Monaten geforscht, die, weit unmittelbarer als die Protokolle der heute noch Lebenden, die widerstreitenden Empfindungen jenes Sommers wiedergeben, in dem ein Volk, das an Befehle, Gehorsam und Strafen gewöhnt war, plötzlich das Improvisieren und Plündern, das Klauen und Durchwurschteln entdecken musste.

In Deutschland, sagen Historiker, herrschte in diesem Sommer ein Nebeneinander von Ausnahmezuständen. Der Einzug der Sieger, Hoffnung und Opportunismus, der Wunsch nach Vergeltung, die Sehnsucht nach Vergebung: Es gab in diesem Sommer 1945 keine Stimmungslage, sondern vielfältige Stimmungen. Entscheidend war, wo jemand lebte, wie alt er war, was er durchgemacht, welche Position er bekleidet hatte. Männer erlebten das Kriegsende anders als Frauen, Städter anders als Menschen auf dem Land, Bewohner der späteren sowjetischen Zone anders als die Bewohner der drei Westzonen. Die Physiognomie des Jahres 1945, sagt der Augsburger Geschichtsforscher Dietmar Süß, ist »kantig und keineswegs klar umrissen«.

Weltgeschichtliche Entscheidungen fielen in diesen Sommer: Im Juli und August einigten sich die Alliierten in Potsdam auf die Neuordnung Europas, zwölf Millionen Menschen wurden in der Folge aus den ehemaligen deutschen »Ostgebieten« vertrieben. Anfang August beendete der Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki den Krieg im Pazifik. Unterdessen bereiteten die Sieger den ersten großen Kriegsverbrecherprozess vor. In den Vernehmungen von Göring, Keitel und Jodl, Heß und Speer, Dönitz, Kaltenbrunner und weiteren NS-Größen konnten die Deutschen ab Oktober das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes erkennen, an das viele bis zum Schluss geglaubt hatten.

Denn zur totalen militärischen Niederlage, die offensichtlich war, kam in diesem Sommer die moralische hinzu. Die ersten Fotos und Filme aus den befreiten Konzentrationslagern schockierten Menschen, die sich bis dahin als doppelte Opfer gesehen hatten: von Hitler und den Nazis verführt, von den alliierten Bombern grausam bestraft.

Ein Sommer des Erschreckens, der Scham, der Not, der Verzweiflung, des Hungers – gleichzeitig aber auch ein Sommer des Aufbruchs, der Hoffnung und der Lebensfreude. Nissenhütten und amerikanische Musik, verbotene Kinderspiele mit gefundener Munition und Chesterfield-Zigaretten, der Geschmack von Brennnesselsuppe und Kaugummi, Zukunftsangst und Lebensgier – dieser Sommer 1945 war, in den Worten des Schriftstellers Martin Walser, »ein Sommer wie seither kein anderer«.

Hamburg im April 2021

Hauke Goos und Alexander Smoltczyk

Georg Stefan Troller

Zur Person: Georg Stefan Troller wurde am 10. Dezember 1921 als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers in Wien geboren. Sein Vater hatte in Brünn ein Geschäft besessen, war dann aber mit der Familie nach Wien gezogen. Troller machte zunächst eine Lehre als Buchbinder. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich floh er im Alter von 16 Jahren in die Tschechoslowakei und von dort nach Frankreich, wo er bei Kriegsausbruch interniert wurde. Als er 1941 das dafür erforderliche Visum bekam, ging er in die USA. 1943 wurde Troller zum Kriegsdienst eingezogen, er war an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau und der Stadt München beteiligt. Weil er Deutsch sprach, wurde er von der U. S. Army zur Vernehmung deutscher Kriegsgefangener eingesetzt. Nach Kriegsende studierte Troller in den USA Anglistik und Theaterwissenschaft, kehrte dann aber nach Europa zurück. Für den WDR produzierte er von 1962 an jahrelang das »Pariser Journal« und, nach seinem Wechsel zum ZDF, von 1971 an die Sendung »Personenbeschreibung«: subjektive, einfühlsame, sehr persönliche Interviews. Er schrieb Bücher und drehte Dokumentarfilme. Seit 1949 lebt Troller in Paris, in einer bescheidenen Dachwohnung im 7. Arrondissement. Sein Tonfall verrät ihn gleich als Wiener, er freut sich über das mitgebrachte Gebäck aus einer Heimat, die einmal glaubte, auf diesen Menschen verzichten zu können. Troller erinnert sich an jedes Detail, es ist der Blick eines Jahrhundertjournalisten.

Herr Troller, Sie waren, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, in Deutschland.

Am 1. Mai 1945, kurz nach der Befreiung von Dachau. Da war ich da. Und das war für mich das Kriegsende. Am gleichen Tag erfuhren wir, dass Hitler »im Felde gefallen« war. Für uns war das der entscheidende Tag.

Sie sind mit Ihrer Truppe nach München eingezogen, wann war das?

München wurde etwa am 28. April erobert. Und am 1. Mai bin ich nach Dachau gefahren mit unserem Team von Kriegsgefangenenvernehmern, in unserem Jeep.

Hatten Sie eine Ahnung, was Sie in Dachau erwartete?

Nicht auf diese Art, nicht in diesem Ausmaß. Diese Hunderte von Skeletten, mit gelber Haut überzogen, die da herumlagen. Ich glaube auch, ich habe hier das Wort »Auschwitz« zum ersten Mal gehört. Ich bin ziemlich sicher, dass mein Vater nach der Reichskristallnacht eine Woche in Dachau verbrachte, nur hat er nie ein Wort darüber verloren. Aber natürlich kannte jeder damals den Reim: »Lieber Herrgott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm.«

Den Spruch kannten auch die Münchner?

Er kam ja wohl von da. Und man konnte zu der Zeit von allen Seiten ins Lager hineinschauen. Auch jetzt gibt es noch ein Waldstück, von dem man direkt den Appellplatz einsehen kann. Das war allen gegenwärtig. Das wusste jeder.

Wer traf die Entscheidung, gleich nach Dachau hinauszufahren?

Das gehörte dazu. Erst einmal die Hitler-Wohnung, dann die Eva-Braun-Wohnung, dann Dachau. Und das war schon schockierend für unsere Boys. Die Amerikaner wussten ja von nichts. Wir hatten die Tschermans bekämpft, die Jerries, sogar manchmal die Nazis. Aber was da eigentlich los war mit dem »Dritten Reich«, das hat die Army erst in Nürnberg auf dem Parteitagsgelände begriffen und dann in Dachau. Das war für die G.I.s eine totale Überraschung. Das stand auch nicht in unserer Zeitung und war auch nicht Teil unserer Propaganda. Das galt als Nebensache. Unter anderem, weil es ja auch einen gewissen Antisemitismus gab in Amerika. Man wollte nicht, dass dies ein Juden-Befreiungskrieg wäre.

Wie äußerte sich der Antisemitismus in Amerika?

Na ja, die großen Universitäten hatten eine zwei- oder dreiprozentige Quote für Juden, das galt als selbstverständlich. Die angesehensten Klubs ließen keine Juden herein. Die fraternities an den großen Universitäten haben keine Juden aufgenommen. Es gab Restaurants, in denen Juden unerwünscht waren. Warum gehst du nicht zurück, wo du herkommst? Das war ein Satz, den man überall zu hören bekam. Als unser Emigrantenschiff in New York anlegte, war da eine Rubrik auszufüllen: »Rasse«. Und ich schrieb natürlich hinein: »weiße«. Nix gut. Was du hinzusetzen hattest, war Hebräer-Rasse, hebrew race. Das erste Mal, dass ich den Ausdruck gehört habe.

Sergeant Binder, der verantwortliche Unteroffizier in Ihrem Team, war ja wohl Antisemit?

Er war Deutschamerikaner. Und er hatte wie viele von ihnen ein Herz für the old country, egal unter welchem Regime. In New York gab es ja auch den deutsch-amerikanischen »Bund«, eine reine Naziorganisation. Und es gab Stadtviertel wie Yorkville, wo Brecht hingehen durfte, aber ich nicht hinging. Diese Jungs dort hielten uniformierte Sommerlager ab. Das war mehr oder weniger wie die Hitler-Jugend. Und das war toleriert bis zum Kriegsausbruch … Dann, in der Armee, im Ausbildungslager, kam dieser primitive Typ auf mich zu und fragte: »You Tscherman? Dann musst du ja ein großer Freund von Hitler sein.« Und ich sagte: »Ja, mein bester Kumpel.« Darauf zeigte er mich an in der Schreibstube, und ich blieb ein Jahr im Ausbildungslager als Kartoffelschäler, während die ganzen Kameraden schon lange eingesetzt waren, in Afrika gegen Rommel. Bis ich den Grund herausfand und mich meldete. Eine Woche später war ich shipped out. Nach Casablanca.

Wann haben Sie zum ersten Mal den Satz gehört: Jetzt muss aber auch mal Schluss sein?

Im Mai 1945. Das war sofort da. Und das andere war auch da: Je mehr man gelitten hat durch die Luftangriffe und den Mangel an Lebensmitteln und Kohle, umso mehr hat man bereits den Ausgleich für solche Dinge wie Auschwitz erlangt, die Absolution. »Wir unter den Bombennächten und die Flüchtlinge unter dem Iwan – wir haben doch schon alles abgebüßt, was wollt ihr jetzt noch von uns?« Und anschließend: »Was habt ihr eigentlich gegen uns, wir haben euch doch nichts getan.« Und dann kam auch schon bald die Vorstellung: Wir mit unserem Soldatentum und ihr mit eurem Material, wir hätten doch eigentlich zusammen gegen den Iwan marschieren sollen. Das hätte auch so hinhauen können, wenn nicht dieser besoffene Gangster Churchill und der Jude Roosevelt das hintertrieben hätten, leider.

In Ihrem Buch »Selbstbeschreibung« bezeichnen Sie die Stimmung der meisten Deutschen damals als ein dauerndes Beleidigtsein und Muffigsein. Können Sie das beschreiben?

Aus der Traum! Das ganze »Dritte Reich« beruhte ja im Seelischen auf Illusion, auf Traum. Auf irgendwelchen romantischen Vorstellungen von Volkstum, Brauchtum, Ariertum. Blutfahne. Blut und Boden. Sonnwendfeier. Nibelungentreue. Meine Ehre heißt Treue. Division Frundsberg, Division Florian Geyer. Und fast jeder glaubte doch bis zuletzt an den Endsieg, mithilfe neuer Wunderwaffen, die zu Hitlers Geburtstag im April auf einmal magisch da sein würden.

Und jetzt?

Jetzt redeten sie alle vom Zusammenbruch, vom Ende Deutschlands. Das Wort »Befreiung« habe ich nie gehört damals. Dass Amerika etwas anderes zu bieten hätte als seinen öden Materialismus, also zum Beispiel so etwas wie Freiheit und Demokratie, das war ja überhaupt nicht im Gedankenschatz der Deutschen vorgesehen. Unser Material haben sie alle bewundert, die Jeeps, die Walkie-Talkies. »Kein Wunder, dass ihr den Krieg gewonnen habt, mit dem Material.«

Sie selbst haben irgendwie erwartet, dass die Glocken läuten würden, wenn Sie als Befreier nach Deutschland kämen. Doch die Glocken läuteten nicht. Es gab keinen Jubel?

Die standen da herum um die Bretterzäune und Plakatsäulen, wo die ersten Anordnungen der Militärregierung klebten, und wussten eigentlich nicht, wie ihnen geschah. Es gibt diesen Moment, wo du von einem Traum erwachst und bist noch nicht ganz da. Die waren noch nicht ganz da. Die zwölf Jahre Nazitum und Krieg hatten das Volk umgekrempelt. Die schienen nicht mehr zur vernünftigen Selbstbetrachtung fähig. Mit Ausnahmen natürlich. Ich habe dann gleich gute Freunde gefunden, die mir auch lebenslang verbunden blieben. Außerdem waren ja in Bayern die »Preissen« an allem schuld, eine gute Ausrede.

Aber für die 16- oder 17-Jährigen muss es doch eine Art Befreiung gewesen sein von den bisherigen Zwängen?

Auch die 17-Jährigen waren ja schon zumeist im Kriegsdienst gewesen. Oder zumindest in der Flak. Die hatten schon den Krieg miterlebt. Und die Flucht. Was die zusammenhielt, war weniger das Nazitum als der »Haufen«. Man gehörte einem Haufen an, und diesem Haufen war man verpflichtet. Die Widerstandsfähigkeit der deutschen Landser beruhte damals sehr stark auf der Liebe zu ihrem Haufen. Wir waren ja erstaunt, dass die auch nach einer Verwundung wieder zu ihrer Einheit zurückstrebten, nicht nach Hause. Das war letztlich die Stärke der deutschen Wehrmacht. Und dazu gehörten eben auch die Jungen. Aber natürlich gab es schon ein Vortasten ins neue Leben. Die Popmusik am amerikanischen Soldatensender AFN war wichtig. Die neuen Tänze. Die Ami-Zigaretten. Die Jungen konnten sich freier fühlen, erwachsener. Aber dazu brauchte es natürlich eine gewisse Zeit. Zuerst war da diese allgemeine Ratlosigkeit: Was ist nun eigentlich mit uns los? Und wie geht’s weiter?

Ein Gefühl wie eine örtliche Betäubung?

Oder wie Schlafwandelei. Was tun, woran jetzt glauben? Echte Nazis waren ja kaum mehr zu finden, und wenn, dann eher unter den Frauen. Als hätten sie alle davon geträumt, den »Führer« zu ehelichen. Nun, auch ich stand jetzt vor dieser Frage: Was anfangen während der vorgeschriebenen Besatzungszeit? Also ging ich zu Radio München, dem späteren Bayerischen Rundfunk, jetzt unter amerikanischer Regie. Eines Tages erhielt ich dort einen Brief. Darin stand: »Ihr Juden seid an unserem Elend schuld. Geht zurück, wo Ihr herkommt. Hier spricht eine Frau für alle.« Ich Narr fand den Brief irgendwie belustigend, also hängte ich ihn bei uns ans Schwarze Brett. Und wurde sofort von unserem Boss, Captain Horine, aufs Tapet gerufen: »Bist du verrückt, weißt du nicht, dass noch die meisten Leute, auch hier im Hause, genauso denken? Und du hängst das auch noch aus!« Danach war ich gefeuert. Und kam unter bei der fabelhaften »Neuen Zeitung«, die von Major Hans Habe herausgegeben wurde.

Sie waren Reporter?

Ja. Und berichtete über die Stimmung im Lande. Nicht genau zu wissen, wohin man gehörte. Die Leute hatten ja oft keine Wohnung mehr, sie hausten in Kellern oder Holzbaracken. An allen Wänden hingen diese Zettel: »Wir haben überlebt. Ihr findet uns da und da.« Und die Amerikaner haben natürlich versucht, Ordnung zu schaffen. Aber alle Leute, die sich mit Elektrizität oder Baumaterial auskannten, waren natürlich alte Nazis gewesen. Und man konnte diese Leute nicht einfach deswegen wegschicken. Übrigens machte denen das überhaupt nichts aus. Die waren ebenso begierig, den Amis zu dienen wie vordem Hitler. Weil wir ja die Sieger waren. Deutsche haben immer Sieger respektiert. Herr Offizier haben sie zu mir gesagt, obwohl ich es ja nie weiter als bis zum Korporal brachte. Übrigens war man vorher als Gefangenenvernehmer schon daran gewöhnt, an diese Liebedienerei. Die waren zuallermeist gleich bereit, alles herzugeben, was sie wussten. Voller Stolz haben sie uns verraten, wo ihre schweren Waffen standen, wo der Nachschub herkam, bloß um ihre Sachkenntnis zu beweisen. Die deutschen Soldaten waren eben soldatesk. Sie waren Berufssoldaten. Unsere G.I.s erschienen mir dagegen oft nur wie verkleidete Zivilisten.

Waren die Deutschen in der Niederlage anders als die Italiener? Sie sind ja damals von Süden hochgekommen.

Ich glaube, der Faschismus hat nicht so tief eingegriffen wie der Nazismus. Der Faschismus war bloße Kriegsspielerei, Angeberei. Für die Deutschen war Krieg Leben. Krieg war ihre Sache, das konnte man von den Italienern nicht behaupten. Die Professionalität der deutschen Soldaten hat uns damals stark beeindruckt. Bis hinunter zum kleinsten Landser wusste jeder, was Sache war. Und der Nazismus spielte ihnen den deutschen Traum von der Weltherrschaft vor. Die hatten bis zuletzt daran geglaubt. Dass es auf einmal aus sein sollte und Hitler tot, das konnten sich viele von ihnen gar nicht vorstellen. Die dachten, er regiert auf ewig.

Er hat zuletzt wie ein Phantom unter der Erde gelebt. Armeen befehligt, die es gar nicht mehr gab. Sie haben in München Hitlers alte Wohnung aufgesucht. Wie war das?

Sie lag an der Prinzregentenstraße und war natürlich voll von unseren G.I.s. Die Deutschen haben sich dafür überhaupt nicht mehr interessiert. Das war nicht mehr von Belang. Die Leute hungerten und waren in einem Zombiezustand. Krieg verloren, alles verloren. Hitlers Wohnung, was soll uns das? Aber wir, wir suchten natürlich die Atmosphäre. Und Erinnerungsstücke. Und den Triumph.

Haben Sie etwas mitgenommen?

Ja, diesen wunderbaren Schrieb, den Goebbels, Göring, Himmler und andere Größen unterzeichnet hatten: »Mein Führer, wir stehen zu Ihnen in Leben und Sterben.« Und so weiter. Alle diese Unterschriften der ganzen Parteigrößen. Das habe ich dann meinem Vater nach New York geschickt, mit einem Brief auf Hitlers persönlichem Schreibpapier. Der Brief wurde später auch in der Emigrantenzeitschrift »Aufbau« publiziert. Aber die Sache mit den Unterschriften hat mein Vater mir übelgenommen. Das fand er nicht lustig. Er wollte »dieses Teufelszeug« nicht im Hause haben und hat das Blatt leider beim Versatzamt verscherbelt für 25 Dollar. Wo ist es geblieben? Wer weiß das?

Sie haben damals auch bemerkt, dass in der Wohnung diese ganzen Karl-May-Bände standen. Gab es noch andere Literatur?

Nicht meiner Erinnerung nach. Aber eine Menge kitschige Souvenirs. Da war dieser gepresste Veilchenbusch mit einem Kärtchen dazu: »Mein Führer, von meinem letzten Taschengeld schicke ich Ihnen als Naturliebhaber dieses kleine Sträußchen, möge es ewig blühen.« Und so etliches andere aus der »Kampfzeit«. Das hatte er sich aufgehoben. Im Übrigen gab es kein Damenzimmer, keine Damengarderobe in seiner Achtzimmerwohnung. Eva Braun führte in Bogenhausen ihr eigenes Haus und war in seiner Wohnung nicht greifbar.

Als Sie vorher in Nürnberg waren, ist Ihnen das Parteitagsgelände imposant erschienen oder eher bühnenhaft?

Eine Vorstellung in jedem Sinn des Wortes. Eine Vormacherei mit tödlichem Ausgang. Eine Oper, bei der sich hunderttausend Statisten als Starsänger fühlen konnten. Und jetzt war der Vorhang runter. Es blieb die Enttäuschung, das Selbstmitleid. Und wir Juden, wir Emigranten waren zu der Zeit wie weggewischt. Die ganze Emigration erschien den Leuten unbegreiflich. Die Juden, die waren doch alle abgehauen damals mit ihren Millionen. Was da wirklich vor sich ging, davon hatten die Leute nie gehört.

Wenn man alte Deutsche fragt, ob es denn jüdische Kinder bei ihnen in der Klasse gegeben hätte, dann kommt oft als Antwort: »Ja, aber irgendwann waren die Plätze leer.« Und wenn man dann nachfragt, ob sie sich nicht manchmal gewundert hätten, was aus denen geworden sei, dann hört man: »Schon, aber wir hatten mit uns selber genug zu tun.«

Ja, für den Dirigenten Furtwängler zum Beispiel waren wir Exilanten »schimpflich Geflohene«. Das Wort muss man sich erst mal auf der Zunge zergehen lassen. Und dann diese sogenannten inneren Emigranten wie Frank Thiess oder Walter von Molo, die sich jetzt zu Wort meldeten. Und die behaupteten, sie wären nur dageblieben, um das Schlimmste zu verhüten. Was hatten sie denn verhütet, bitte schön? Diese Ignoranz der Leute damals, wer wir waren und was uns passiert war. Die Deutschen hatten sich ihrer Traumwelt anheimgegeben, bis Stalingrad etwa. Auf Niederlagen waren sie nicht programmiert. Und sie haben 1945 weniger das Gefühl gehabt, dass sie eine Diktatur verloren hätten als ihr Vaterland. Natürlich nicht alle. Ich habe auch manche Nazigegner gefunden. Vor allem unter denen, die ihre Angehörigen verloren hatten. Und unter verwundeten Soldaten.

Wie war denn dieser Vormarsch durch Deutschland im Frühjahr 1945?

Nachdem wir den Westwall durchbrochen hatten, ging ja alles sehr schnell. Und überall hingen diese weißen Fahnen in den Fenstern. Die Leute haben sich ergeben, aber damit auch sich selbst vergeben, für unschuldig erklärt. Und übrigens hatte ja fast die ganze Bevölkerung damals ihre Vettern oder Onkel in Amerika. Und alle besaßen plötzlich eine jüdische Großmutter. So viele jüdische Großmütter haben nicht einmal wir gehabt.

Wann haben Sie begonnen, Tagebuch zu führen?

Irgendwann an der Front, so um 1944. Tagebuchführen war übrigens streng verboten, denn falls man in Gefangenschaft geriet, könnte man den Nazis doch damit militärische Geheimnisse verraten. Aber ich führte ein Tagebuch, und zwar auf Deutsch. »Unsere Panzer« zu schreiben, wenn ich unsere amerikanischen tanks meinte, das war schon verrückt. Aber es bedeutete eben auch meine Anhänglichkeit an die Sprache und an den deutschen Kulturkreis. Nur: Kann man einer Sprache angehören, ohne dem Volk anzugehören, das diese Sprache spricht?

Kann man?

Ich weiß es bis heute nicht. Übrigens habe ich mir nachher bei meinen Lesungen in Deutschland die üblichen Diskussionen mit dem Publikum verbeten. Weil immer wieder die Frage auftauchte: Was ist nun eigentlich Ihre Heimat? Und darauf weiß ich keine Antwort. Im Grunde war ich zuerst verblüfft über diese Frage, weil ich dachte, Heimat ist doch eigentlich nicht mehr aktuell, zumindest seit den Heimatfilmen der Fünfziger. Aber das war ein Irrtum. Was meine Herkunft betrifft, so habe ich mich zum ersten Mal mit der Emigranten-Filmtrilogie »Wohin und zurück« unter der Regie von Axel Corti geoutet. Das war in den Achtzigerjahren. Bis dahin war »Emigrant« ein Wort, das die Leute kaum kannten. Es gab keine Kategorie für uns. Man wusste von Thomas Mann, dem Landesverräter. Man wusste, dass die Juden irgendwie verschwunden waren, weiß Gott wohin, mehr nicht.

Wie haben die Deutschen und die Österreicher reagiert, als sie plötzlich wieder da waren?

1949 war ich für zwei Monate in Österreich. Habe versucht, dort zu studieren. Mein Vater schickte mir die Namen der Leute zu, die uns bestohlen hatten, seinerzeit. Der Hauswart, der sich die Biedermeiermöbel meiner Mutter unter den Nagel gerissen hatte. Aber seine Wohnung war zu eng, also hat er unten die Beine abgesägt. Oder Wachtmeister Fuchs, der unseren Bösendorfer-Flügel organisiert hatte. Ich ging hin, die Frau machte mir auf, er hatte sich natürlich eine Judenvilla einverleibt. Ich fragte, kann ich einen Blick auf unseren Flügel werfen? »Sie haben kein Recht dazu! Das ist Hausfriedensbruch!« und so weiter. Ich hinterließ meine Adresse. Am nächsten Morgen stand er vor der Tür, der Herr Gendarm: »Bitte, bitte, machen Sie mir die Karriere nicht kaputt, wir sind auch bereit zu einer kleinen Ablöse.« Ich glaube, es entsprach etwa 20 Euro. Oder unser Geschäftsdiener, der nach dem »Anschluss« die komplette Bibliothek meines Vaters zu sich rüberschaffte. Da war auch ein vielbändiges Konversationslexikon, und er sagte: »Sehen Sie, meine Kinder haben ihre ganze Bildung aus diesen Büchern, die wir für Sie aufgehoben haben.« Er holte einen Band heraus, und da lagen diese ganzen Schilling-Banknoten, die mein Vater seinerzeit darin versteckt hatte. Jetzt komplett wertlos. Und er brach fast in Tränen aus: »Wenn ich das bloß gewusst hätte! Mein Gott, das viele Geld!« Und doch habe ich diese Stadt geliebt. Ich bin damals alle Straßen abmarschiert, die ich kannte, tagelang, nächtelang. Um mein Heimweh zu sättigen. Aber schließlich fand ich für mich diesen Satz, der auch irgendwo in meinen Filmtexten stehen muss: Eine Heimat kann man so wenig wiederfinden wie eine Kindheit.

Gab es zu jener Zeit irgendein Verständnis für Sie und Ihre Lage?

Erst viel später. Damals herrschte vor allem diese Ausgleichsstimmung: das zerstörte Dresden gegen Auschwitz, die Atombombe gegen den ganzen Nazismus. Es gab diese Sprüche, wer eigentlich schuld gewesen sei am Krieg: »Ja, glauben Sie denn, dass die Herren Roosevelt und Churchill nicht genau so scharf darauf waren wie unser Adolf … Also sagen wir mal fifty-fifty …« Übrigens haben Sie vielleicht davon gehört, wie eines Morgens plötzlich am Münchner Siegestor in weißer Farbe aufgemalt stand: »Dachau, Buchenwald, Mauthausen, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.« Und am nächsten Tag stand an der Stelle: »Bach, Beethoven, Brahms, ich bin stolz, Deutscher zu sein.« So als wären die alle in der Partei gewesen.

Hatten Sie den Eindruck, dass in der Nazizeit der Katholizismus in Süddeutschland den Leuten einen gewissen moralischen Halt gegeben hat?

Dazu fällt mir noch eine Geschichte ein. Wir hatten ja, einen Tag vor der Invasion in der Normandie, Rom erobert ohne jeden Widerstand, Rom, offene Stadt. Unser Captain war eifriger Briefmarkensammler, also fuhr er gleich ins Zentrum, um Postwertzeichen aufzureißen. Und ich ging auf Kunstsuche in den Vatikan. Wir hatten damals diesen kleinen bayerischen Knirps von 17 Jahren als Kriegsgefangenen, den wir sozusagen wie ein Maskottchen bei uns behielten, anstatt ihn nach hinten zu verfrachten. Nun, da war ich also im Petersdom, alles voller G.I.s natürlich, als plötzlich der Papst auf seiner Sedia hereingetragen wird. Und der Papst hält eine Rede auf Englisch und sagt, wir seien die Erlöser von der Tyrannei und vom Irrglauben. Danach wurden gesegnete Medaillen verteilt. Ich schenkte meine dem bayerischen Pimpf und berichtete ihm, was der Papst gesagt hatte. Und er lachte: »Komisch, vor zwei Wochen hat er genau dasselbe uns Deutschen erzählt.«

Sind sie damals Deutschen begegnet, die Ihnen Respekt abgenötigt hätten?

Doch, natürlich. Eine Münchner Familie nahm mich auf, die mochten mich und verhätschelten mich. Und sie hatten eine Tochter, in die ich mich unvermeidlich gleich verliebte, Claudia. Die Geschichte dauerte fast ein Jahr. Dann musste ich nach Amerika zurück. Und da schickte mir einer meiner Kollegen vom Team, der jetzt in der Zensurbehörde arbeitete, einen ihrer Briefe. Einen Brief meiner Geliebten, die ich eigentlich gehofft hatte zu heiraten. Er war an ihren Vater gerichtet, der seit seiner Scheidung in Los Angeles lebte, und lautete: »Wenn Du glaubst, dass ich einen Juden heiraten werde oder gar jüdische Kinder bekommen, so irrst Du Dich.« Es war das Ende.

Also nur negative Erfahrungen?

Na ja, worum es eigentlich bei mir ging: dass ich herausfinden wollte, kommt ein Anruf aus der alten Heimat an mich? Ich erwartete diesen Ruf. Können Sie das verstehen? Dass irgendjemand zu mir sagt, komm zurück, wir wollen dich haben, wir brauchen dich. Aber dieser Ruf kam damals natürlich nie. Er kam erst sehr viel später. Aber immerhin, er kam. Aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr damals die Sehnsucht nach Zugehörigkeit in mir gewütet hat. Dieses innere Gefühl, dass man eigentlich zu diesem Sprachraum gehört, dass man dieser Kultur angehört. Ich betone das, weil meine ganze spätere Laufbahn doch darauf beruht. Sie konnte nur stattfinden dank dieser inneren Zugehörigkeit.

Können wir noch einmal nach Dachau zurückkehren? Auch dort keine deutschen Schuldgefühle?

Nun ja, Hans Habe sagte ja damals in der »Neuen Zeitung«: Es geht nicht um Kollektivschuld, sondern um Kollektivverantwortung. »Kollektivschuld« war ja ein Reizwort zu dieser Zeit. Demnach lehnte man auch die individuelle Schuld ab. In Dachau hatte man ja damals die Überlebenden schon weggeschafft ins Lazarett. Die Toten lagen noch herum auf dem Appellplatz. Es gab dort auch irgendwelche Schienen, und da lagen in unzähligen Waggons diese aufgestapelten Leichen, furchtbar. Ich glaube, sie waren von anderen Lagern herübergeschafft worden, weil dort die Brennöfen nicht ausgereicht hatten, alle diese Toten zu Asche zu machen. So haben sie sie in offenen Güterwagen nach Dachau transportiert, wo es diese Verbrennungsöfen gab. Auch das habe ich damals fotografiert. Später am Tag haben dann die Amis eine Menge Bevölkerung herangebracht in Autobussen, als Zeugen. Die standen nun alle da, mit dem Taschentuch vor der Nase, und haben ihr totales Überraschtsein kundgetan. Und da stürzte auch diese Frau auf mich zu und sagte empört: »Das hättet ihr uns auch nicht antun brauchen.« Einer dieser unvergesslichen Sätze. Und ich habe mir damals den Gedanken notiert: Die Generalamnesie führt unvermeidlich zur Generalamnestie. Und so war es dann auch.

Viele Deutsche und Österreicher haben sich nach Kriegsende darauf zurückgezogen, bloße Opfer gewesen zu sein. Und jetzt sollten sie damit klarkommen, dass sie Täter waren. Wenn auch manchmal untätige Täter.

Aber so was haben sie zum Großteil abgelehnt. Aus »Das haben wir nicht gewusst« wurde »Das haben wir nicht verdient«. Unrechtgefühl. Selbstmitleid. Und tief empfunden die Kränkung ihrer Vaterlandsliebe. Man hat an Deutschland geglaubt, und auf einmal war dieser Glaube nichts mehr wert. Man war Idealist gewesen, jetzt musste man ab in den Materialismus.

Ihr Gefühl in diesem Sommer 45 war also nicht so sehr Hass als vielmehr Verachtung, vor allem aber Trauer und Scham über diese Erbärmlichkeit der Deutschen?