Cover

Das Buch

Ob es um den Schutz des Lebens, den Umgang mit begrenzten Ressourcen oder Exzesse der Globalisierung geht: Das letzte Krisenjahrzehnt war für die Politik immer wieder von Grenzerfahrungen geprägt. In diesem Buch erkundet Wolfgang Schäuble die großen Fragen, vor denen wir als Gesellschaft stehen, und scheut sich nicht davor, auch unbequeme Debatten anzustoßen – in sieben Essays und in intensiven Gesprächen mit Vordenkern wie Rutger Bregman, Ralf Fücks, Maja Göpel, Sylvie Goulard, Diana Kinnert, Ivan Krastev und Armin Nassehi. Eine Anstiftung, über die Zukunft zu streiten, und eine Ermutigung, das Bewährte zu wahren und Neues zu wagen.

Die Autoren

Wolfgang Schäuble, Jahrgang 1942, zählt zu den wichtigsten deutschen Politikern der letzten vierzig Jahre. Er ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestags, war Fraktionsvorsitzender der Union und Vorsitzender der CDU und hatte zudem über drei Jahrzehnte hinweg wichtige Regierungsämter inne, darunter Kanzleramtsminister, Bundesinnenminister und Bundesfinanzminister. Seit 2017 ist er Präsident des Deutschen Bundestags. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte (1991), Mitten im Leben (2000) sowie Scheitert der Westen? (2003). Hilmar Sack, Historiker, arbeitete für die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« und leitete das Referat der Redenschreiber bei den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble. Seit 2019 ist er Leiter des Präsidialbüros mit dem Stabsbereich des Bundestagspräsidenten. Jacqueline Boysen, Journalistin und Historikerin, langjährige Korrespondentin des Deutschlandradios, war Studienleiterin für Politik und Zeitgeschichte an der Evangelischen Akademie zu Berlin und arbeitet als Redenschreiberin in der Verwaltung des Deutschen Bundestages.

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WOLFGANG SCHÄUBLE

Grenzerfahrungen

Wie wir an Krisen wachsen

Mitarbeit: Jacqueline Boysen
und Hilmar Sack

Pantheon

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Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © Bundesministerium der Finanzen, Foto: Ilja C. Hendel

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-27587-7
V003

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Inhalt

Vorwort zur Paperback-Ausgabe

Politische Grenzerfahrungen – und warum wir sie nicht fürchten müssen

1

Grenzenlos glücklich? Der Mensch zwischen Freiheit und Begrenztheit

Gespräch mit Rutger Bregman

2

Begrenzte Handlungsspielräume: Zur Verantwortung der Politik in der Demokratie

Gespräch mit Ralf Fücks

3

Grenzen des Wachstums? Über nachhaltiges Wirtschaften in Zeiten der Globalisierung

Gespräch mit Maja Göpel

4

Grenzen der Vielfalt? Über Nation, Identität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Gespräch mit Armin Nassehi

5

Überwundene Grenzen? Zur Zukunft Europas

Gespräch mit Sylvie Goulard

6

Grenzenlos gültig? Über westliche Werte und unsere Verantwortung in der Welt

Gespräch mit Ivan Krastev

7

Vergangene Zukunft? Wo Erinnerung befreit und Geschichte begrenzt

Gespräch mit Diana Kinnert

Dank

Leseempfehlungen

Die Gesprächspartner und Moderatoren

Personenregister

Vorwort zur Paperback-Ausgabe

Alles gleich, nur eben anders? Diese Frage habe ich unter dem Eindruck der Pandemie vor einem Jahr in diesem Buch gestellt. Sie beantwortet sich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine an dem Tag, an dem ich die Druckfahnen für die Paperback-Ausgabe in den Händen halte, auf unerwartete Weise eindeutig. Die Ordnung, die Europa nach Ende des Kalten Krieges eine relativ verlässliche Sicherheit gewährte, ist vorbei. In diesem Moment ist die ganze Welt aufgerufen, gerade auch China, sich für Mäßigung und Gewaltfreiheit einzusetzen. Aber die Konsequenzen für den Weltfrieden und das internationale Mächtesystem sind unabsehbar – auch im Hinblick auf die weltwirtschaftliche Entwicklung und die Auswirkungen der Flüchtlingswellen auf die innere Stabilität der westlichen Staatengemeinschaft. Und das in einer Zeit, in der die Pandemie unsere demokratischen Gesellschaften weiterhin massiv herausfordert!

Als ich dieses Buch 2021 abschloss, erlebten wir die zweite Welle der Pandemie. Ein vorsichtiger Optimismus hatte die Menschen ergriffen, weil ein in Deutschland in beispiellosem Tempo entwickelter Impfstoff den Ausweg versprach. Seitdem sehen wir uns in immer neue, noch heftigere Wellen gestoßen – zunehmend zermürbt von immer feindseliger geführten Debatten. Erst über notwendige Priorisierungen bei den Risikogruppen, weil es den meisten mit dem Impfen gar nicht schnell genug gehen konnte. Später über eine Pflicht zum Impfen qua Gesetz, weil es dann doch zu vielen aus sehr unterschiedlichen Motiven – Misstrauen in die moderne Medizin oder den Staat, »Gottvertrauen« in die eigene Unverwundbarkeit oder schlicht Bequemlichkeit – an der Einsicht fehlte, dass eine Impfung nicht nur sie selbst, sondern auch andere schützt. Wo zu Beginn der Pandemie ein lange nicht gekanntes Maß an Solidarität beeindruckte, manövriert sich unsere vielfach beklagte digitale Erregungs-Öffentlichkeit immer tiefer in ein hysterisches Debattenklima hinein, das nur Freund und Feind kennt – was längst auch für die Diskussion über andere große Themen unserer Zeit gilt.

Krise der Demokratie?

Die Pandemie führt an Belastungsgrenzen und in manchen Bereichen auch weit darüber hinaus. Kritik am Krisenmanagement von Bund und Ländern, an Blockaden, Versäumnissen und auch Fehlentscheidungen ist berechtigt – und sie ist notwendig, um an Fehlern zu lernen. Der internationale Vergleich lehrt zugleich Demut, denn die deutsche Nabelschau führt oft zu überzogenen Erwartungen. Zu einer nüchternen Zwischenbilanz der Ausnahmesituation gehört nämlich, dass sich unsere politische Ordnung nach zwei Jahren Pandemie im Ganzen bewährt hat. Der Deutsche Bundestag blieb auch unter Corona-Bedingungen arbeitsfähig, konnte unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen gesetzgeberische Grundentscheidungen verlässlich treffen und so allen Unkenrufen zum Trotz den Rahmen für das Handeln der Exekutive setzen. Es wurden zwar demokratische Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt, wir haben aber keine institutionelle Krise der Demokratie erlebt.

Der Rechtsstaat zwingt die Verantwortlichen zur Begründung ihrer Entscheidungen, und er lässt im Rahmen der Gesetze Spielraum für Korrekturen und Kurswechsel. Das unterscheidet ihn von autoritären Herrschaftssystemen – ebenso die Möglichkeit, gerichtlich gegen Entscheidungen staatlicher Institutionen vorzugehen. Seit Beginn der Pandemie sind an den Verwaltungsgerichten tausende Entscheidungen ergangen. Manche Freiheitseinschränkungen wurden in der Phase sinkender Infektionszahlen von Richtern gekippt. Auch deren Arbeit unter erschwerten Pandemiebedingungen widerlegt den oft leichtfertig erhobenen Vorwurf des »kompletten Staatsversagens« oder einer »Corona-Diktatur«. Angesichts solcher Behauptungen gerade von den Rändern der Gesellschaft kommt mir das schneidende Wort Wolf Biermanns über die »fatalen Unglücksidioten« in den Sinn, die die Demokratie im Namen der Demokratie und die Freiheit im Namen der Freiheit verachten. Wobei sie, wie der diktaturerfahrene Poet süffisant anmerkt, ihr »Maulheldentum« in der Freiheit überhaupt nichts kostet.

Den inflationär verwandten Vorwurf des »Versagens« halte ich auch deshalb für überzogen, weil er suggeriert, es habe in der Pandemie immer einen klar erkennbaren Weg gegeben, den die Politik nur hätte beschreiten müssen. Tatsächlich aber ist die Herausforderung, mit der uns das Coronavirus konfrontiert, für unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht neu.

Politischer Handlungszwang, wissenschaftliche Logik und die moralische Pflicht des Einzelnen

Politik muss immer ins Ungewisse hinein handeln. Ohne Rat von Experten geht das nicht. Zu Beginn der Pandemie war der Stand der medizinischen Wissenschaft aber noch unsicher und im weiteren Verlauf blieb ihr Rat nicht selten widersprüchlich. Letzte Gewissheit kann auch die Wissenschaft ebenso wenig liefern, wie es in der Demokratie die eine richtige politische Entscheidung gibt. Die wissenschaftliche Logik, die auf Ambiguität, Zweifel und Widerspruch beruht, gerät zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zu den politischen Notwendigkeiten. Parlament und Regierung müssen handeln – und im Wissen um die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis rasch Entscheidungen treffen. In der Pandemie haben wir dazu die unterschiedlichen Argumente von Interessengruppen und – vielleicht zu spät – die Meinungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen einbezogen: von Juristen und Soziologen ebenso die von Ökonomen, Psychologen und Pädagogen.

Verantwortungsvolle Politik kommt nicht umhin, die ethisch-moralische Dimension und die verfassungsrechtlichen Aspekte jeder Maßnahme mit zu bedenken und das eigene Handeln zu erklären, um das Vertrauen in der Bevölkerung zu erhalten. Sonst kann sich die Pandemie sehr wohl zu einer Krise unseres politischen Systems auswachsen. Die frappierende Abkehr von der Ratio, die sich im Frontalangriff auf wissenschaftliche Erkenntnis zeigt, und die vielfach offen zur Schau gestellte, teils gewaltsame Ablehnung unseres politischen Systems in einem bereits seit der Flüchtlingskrise 2015 wachsenden Teil der Gesellschaft ist erschreckend, gerade weil es sich dabei um eine politisch-ideologisch und soziokulturell heterogene Gruppe von Menschen handelt, die einer sehr differenzierten Ansprache bedarf.

Schwer wiegt, dass es nicht gelungen ist, Handlungsziele und auch -zwänge überzeugend zu kommunizieren. Dass wir als politisch Verantwortliche nicht ausreichend damit durchdrangen, dass Eigenverantwortung etwas anderes ist, als Impf-Gegner behaupten. Dass ohne Empathie für unser Gegenüber eine freiheitliche, humane Gesellschaft unmöglich ist. Die Freiheit des Individuums darf sich nicht selbst genügen, sie schließt immer die Verantwortung für andere ein: für ihr Leben, ihre Gesundheit, die berufliche Existenz oder die Zukunftschancen der ins Homeschooling verbannten Kinder. Wir haben es nicht geschafft, alle davon zu überzeugen, die individuelle Freiheit als Verantwortung zu begreifen, die Freiheit aller zu sichern. Deshalb wird nicht zu Unrecht auf die knappe Fernsehansprache Helmut Schmidts im Terror-Herbst 1977 verwiesen, als der damalige Bundeskanzler glasklar die »moralische Pflicht« des Einzelnen formulierte, seinen Beitrag für die Sicherheit der Gemeinschaft zu leisten.

Ob aber ein solch schnörkelloses Einfordern individueller Pflichterfüllung heute nicht doch verhallen würde? Es wäre nicht allein der Politik anzulasten. Vielmehr sehen wir eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, in der sich das Individuum mit seinem Empfinden, seinen Wünschen und Ansprüchen zunehmend absolut setzt und dabei die natürliche Begrenzung seiner Freiheit durch die Freiheit der anderen schleift. Wie Politik und Zivilgesellschaft dem entgegenwirken können, ist für mich eine der großen Fragen unserer Zeit – zumal wir in den vielen Jahrzehnten relativer Sicherheit und Stabilität den Umgang mit wirklich existenziellen Herausforderungen, die uns alle treffen und die wir nur gemeinschaftlich bewältigen können, ein Stück weit verlernt zu haben scheinen.

Raus aus dem Tunnelblick der Pandemie

Wir lernen gerade erst, mit dem Virus zu leben – was das heißt, wusste ich beim Verfassen des Manuskripts noch nicht. Insofern sind die Passagen zur Pandemie auch ein zeithistorisches Dokument über die damaligen Hoffnungen und Erwartungen, die bislang unerfüllt blieben. Die erstaunliche Beweglichkeit, die unser Land anfänglich gezeigt hatte, geriet schnell ins Stocken, bürokratische Auflagen und ein übertriebener Perfektionismus behinderten wirksame Maßnahmen gegen die Pandemie wie die Corona-Warn-App und strangulierten vielfach die Eigeninitiative von Bürgern. Umso wichtiger wird es, diese Kräfte in unserer Gesellschaft jetzt wachzurufen – um die Zuversicht zurückzugewinnen, die es für echte Veränderungen braucht.

Dieses Buch lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wie wir auch an dieser Krise wachsen und gestärkt für die anderen großen Herausforderungen unserer Zeit aus ihr herauskommen können. Sich aus dem Tunnelblick der Pandemie zu lösen und unsere Perspektive nicht nur für den Moment auf diese Aufgaben zu weiten, ist allerdings seit Erscheinen des Buchs nicht leichter geworden. Ulrich Matthes, den ich als Künstler bewundere und mit dem ich ein intensives Gespräch darüber geführt habe, hat das Problem im März 2021 auf den Punkt gebracht, als er sagte, die Herausforderungen der Pandemie seien im Alltag gegenwärtig einfach zu übermächtig, um sich der Zukunft zuzuwenden.

Und dennoch bin ich überzeugt, dass wir diese Debatten jetzt führen müssen – weil die Fokussierung auf ein Thema, wie wir täglich erfahren, über die allgemeine Ermüdung zur Radikalisierung an den Rändern führt, und weil die großen Themen, die ich in meinen Essays und mit prominenten Gesprächspartnern diskutiere, ja nicht an Relevanz verloren haben. Im Gegenteil: Jedes Kapitel schrieb sich praktisch weiter.

Wir sind dabei in eine Phase der Kumulation von Krisen eingetreten, die uns seit Jahren begleiten. Die Aggression Russlands sowie zuvor das Debakel des Westens in Afghanistan und die als politische Geiseln missbrauchten Flüchtlinge an der polnisch-belarussischen Grenze, aber auch der Weltklimabericht und die extremen Wetterereignisse mit zerstörerischen Bränden weltweit und einem verheerenden Hochwasser in Deutschland zeigen schonungslos, wie eng die Welt zusammengewachsen und die Entwicklungen miteinander verflochten sind.

Wir tragen Verantwortung in der Welt und für die Demokratie

Das erschwert politische Entscheidungen – in der Demokratie ist Politik ohnehin immer ein schwieriger Abwägungsprozess, gefordert ist das Austarieren widerstreitender Interessen. Dafür werbe ich in diesem Buch, auch mit Blick auf unseren Kampf gegen die Erderwärmung und den Verlust der Artenvielfalt. Denn das mitunter zähe Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten müssen wir gerade auch denen nahebringen, die angesichts des Klimawandels von der Trägheit demokratischer Prozesse und internationaler Übereinkommen, wie 2021 beim Klimagipfel in Glasgow sichtbar, enttäuscht sind. Die sofortiges Handeln fordern. Ihre Motive sind nachvollziehbar. Und ihr Verweis auf wissenschaftliche Erkenntnis auch. Damit ist aber noch keines unserer Probleme gelöst. Hier beginnt Politik erst, das demokratische Ringen um den richtigen Weg, der zugleich mehrheitsfähig ist. In der freiheitlichen Gesellschaft gilt immer: Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung.

Die westlichen Demokratien müssen beweisen, dass sie die anstehenden Aufgaben effizient bewältigen können. Denn wer, wenn nicht wir, könnte in der Welt sonst für Freiheit und Rechtstaatlichkeit streiten? Weltweit steht die Demokratie immer stärker unter Druck – und dass wir hierzulande trotzdem viel zu lange und viel zu wenig über die Rolle diskutiert haben, die uns in den internationalen Beziehungen zukommt, ist wohl das größte deutsche Debattendefizit.

Außen- und sicherheitspolitische Fragen waren ARD und ZDF im Fernseh-Triell zur Bundestagswahl 2021 keine einzige Sendeminute wert. Dafür startete die neue Bundesregierung im Zeichen einer brandgefährlichen militärischen Eskalation des Konflikts mit Russland – und erfährt die weitgehende Machtlosigkeit der Europäischen Union. Dabei geht es nicht mehr nur um den Frieden in der Ukraine, sondern um die dauerhafte Sicherheit auf unserem Kontinent und angesichts der atomaren Bedrohungslage um das Überleben der Menschheit.

Während wir es uns als Europäer weiter leisten, auch die bedrohliche Entwicklung auf dem Westbalkan sträflich zu vernachlässigen, obwohl es gerade jetzt europäischer Ideen, Ehrgeiz und Druck bedürfte, um in diesem »Vorhof der EU« die politischen Blockaden aufzulösen und einer neuen gewaltsamen Eskalation in dieser Region rechtzeitig entgegenzuwirken, weckten im Sommer 2021 die dramatischen Bilder vom Hindukusch wenigstens kurzzeitig unsere Aufmerksamkeit. In Afghanistan brach in wenigen Tagen zusammen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte mit aufgebaut hatten. Es bleibt eine Tragödie für die Afghanen, vor allem die Frauen und Mädchen, die unter unserem Schutz lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben. Für die westliche Welt ist es ein Einschnitt, der unser Selbstverständnis erschüttert hat.

Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir brutal gescheitert. Diesen Kampf konnten wir nicht gewinnen. Und es fiel uns sogar schwer, wie die hochriskante Rettungsaktion der Bundeswehr zeigte, der Niederlage gewachsen zu sein. Diese Erfahrungen lehren Demut, und sie fordern von uns, zurückhaltender in unseren Erwartungen und in der Einschätzung unserer Möglichkeiten zu werden. So wie wir angesichts der Katastrophe in der Ukraine, mit der der Krieg zurück in Europa ist, auch nicht von unserem Auftrag abrücken dürfen, den Frieden in der Welt mit zu sichern. Im globalen Wettbewerb der Systeme wird der Autoritätsverlust des Westens brutal ausgenutzt. Deshalb müssen wir im Bündnis schnell überzeugende Antworten finden, wie wir gegenüber der autoritären Anmaßung bestehen und auch in der neuen Weltunordnung unseren universellen Werten Geltung verschaffen wollen. Gerade wir Deutschen müssen nun erst wieder lernen, dass der Friede die Fähigkeit voraussetzt, sich verteidigen zu können. Dazu brauchen wir ein entschlossenes Bündnis Europas mit unseren amerikanischen Partnern. Dieses Buch ist deshalb ein Plädoyer für eine Europäische Union, die nicht nur mit dem Gewicht des weltgrößten Binnenmarktes einen aktiven Beitrag dazu leistet, die gewaltsame Eskalation von Konflikten zu verhindern.

Als Staatengemeinschaft von Demokratien hat die Europäische Union dabei zugleich globale Maßstäbe für ein gerechtes Miteinander zu setzen – für den Klimaschutz und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, für das Primat der Politik gegenüber einer globalisierten Ökonomie, für die Entwicklung der ärmeren Regionen und die politische Stabilisierung an der Peripherie Europas, nicht zuletzt in Afrika. Dass wir uns bei der Frage, wie wir stabile Verhältnisse schaffen, um Entwicklung nachhaltig befördern zu können, auch nicht darum drücken können, über militärische Interventionen zumindest zu diskutieren, mahnte der britische Entwicklungsökonom Paul Collier bereits vor einigen Jahren nachdrücklich an. Und der ist beileibe kein rechter Falke. Diese Frage stellt sich auch und gerade uns Deutschen. Sie ist unbequem, aber unausweichlich.

Inflation – Gefahr für die soziale Stabilität

Zu den besorgniserregenden Entwicklungen gehört schließlich die ausufernde Verschuldung und rasant gestiegene Inflation, die längst nicht nur deutsche Sparer empfindlich trifft. Der Staat muss wegen seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung ständig die Konjunktur mit beeinflussen, nicht nur in Krisenzeiten. Im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ist das angelegt. Es braucht die richtige Balance, aber sie gelingt uns derzeit offenkundig nicht. Die zur Bekämpfung der Pandemiefolgen aufgelegten Konjunkturprogramme, darunter der gigantische EU-Wiederaufbaufonds, waren richtig, und ich habe sie von Anfang an unterstützt. Viele von denen, die sich dabei gerne auf John Maynard Keynes berufen, übersehen aber, dass der britische Ökonom zugleich eindrücklich vor den Gefahren der Inflation gewarnt hatte – weil sie die größte Gefahr für soziale Gerechtigkeit sei und damit das Potential habe, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden.

Die aktuelle Preisentwicklung ist nicht von den Energiekosten und den pandemiebedingten Problemen in den Lieferketten zu trennen. Längst mehren sich aber Anzeichen für eine Inflationsspirale, und es bestärkt nicht gerade mein Vertrauen in die Ökonomen, wenn diese nun nach und nach von ihren rosigen Wirtschaftsprognosen und Versprechen abrücken, dass sich das Inflationsgeschehen in Europa zügig auf das angestrebte Maß reduzieren werde – zumal Lieferschwierigkeiten als plausible Begründung für die derzeitigen Preissteigerungen die Frage provoziert, wie dann ausgerechnet zusätzliche staatliche Ausgaben diese ausgleichen sollen? Bei verringertem Angebot die Nachfrage künstlich zu erhöhen, bedeutet nach dem Grundsatz, dass Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen, doch das genaue Gegenteil davon.

Dieses Buch ist demgegenüber eine Streitschrift, zur geldpolitischen und fiskalischen Normalität zurück zu finden. Wachstum entsteht durch mehr und bessere Arbeit, wird bestimmt von Demografie und workload, Produktivität und Innovation. Wir brauchen deshalb ordnungspolitische Regeln, denn politische Verantwortungsträger geben im Zweifel der kurzfristigen Staatsverschuldung immer Vorrang, die so viel leichter zu haben ist als langwierige Haushaltskonsolidierung. Die allzu bequeme Verschuldungspolitik in der EU ist auch deshalb falsch, weil der Europäischen Zentralbank dabei eine aktive politische Rolle zugewiesen wird – in einem Teufelskreis: Sie soll die Versäumnisse der Nationalstaaten ausgleichen und ermöglicht den Regierungen damit gleichzeitig, nicht zu tun, was sie ordnungspolitisch tun sollten.

Brüssel könnte stattdessen das Schuldenproblem politisch in den Griff bekommen und so auch die EZB entlasten, wenn es selbst Regeln setzt, die die Mitgliedsländer dazu zwingen, entweder weniger Schulden zu machen oder mehr Wachstum durch steigende Produktivität zu generieren. Die Geschichte lehrt, dass es einer »mixed strategy« aus Fördern und Fordern bedarf, weil Mitglieder in einem Staatenbund zu leicht der Versuchung erliegen, sich auf Kosten der Gemeinschaft zu verschulden.

Politik braucht Wahrhaftigkeit

Angesichts dieser dramatischen Ereignisse und Entwicklungen hat sich der Wahlkampf im vergangenen Jahr zu keinem Moment auch nur annähernd auf Höhe der Herausforderungen bewegt – was nicht allein den Parteien anzulasten ist, sondern auch einer medialen Öffentlichkeit geschuldet war, die kopierten Textpassagen und einem verunglückten Lachen im falschen Augenblick mehr Bedeutung zumaß, als künftigen Verantwortungsträgern Lösungsvorschläge auf die drängenden Fragen der Zeit abzufordern. Richard von Weizsäcker hatte seinerzeit gewarnt, Parteien seien »machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der politischen Führungsaufgabe«. Was mir zeitgenössisch als zu hartes Urteil schien, erscheint jedenfalls unter den Bedingungen einer zunehmend demoskopisch getriebenen Stimmungsdemokratie beklemmend aktuell. Und es schmerzt mich, dass dieser Vorwurf im Wahljahr gerade auch auf meine Partei zutraf.

Politische Führung verlangt den Blick für die wirklich großen Aufgaben und die Fähigkeit, die öffentliche Wahrnehmung darauf zu lenken. Dazu muss eine Partei bereit sein, den Menschen etwas zuzumuten. Nicht nur Antworten geben, die gern gehört werden, sondern Lösungen entwickeln und zur Diskussion stellen – für die Aufgaben, die sie selbst als drängend erachtet. Um die Bürger davon zu überzeugen. Am Mut und am Willen dazu fehlte es der Union zuletzt erkennbar – und sie ist nach dem Wahldebakel gut beraten, unter neuer Führung diese inhaltliche Leerstelle nach sechzehn Jahren an der Macht zu füllen.

Wir sollten klar sagen, dass die notwendigen Schritte, mit denen wir Deutschland zukunftsfähig halten können, allen etwas abverlangen werden. Den Eindruck zu erwecken, die anstehenden strukturellen Veränderungen, um unseren Wohlstand nachhaltig zu sichern, beträfen den Einzelnen nicht, ist nicht die Wahrheit. Die Menschen können die Wahrheit aber ertragen, Ehrlichkeit schadet nicht. Im Gegenteil: Nur darauf kann Vertrauen wachsen.

Und nur so stärken wir das repräsentative Prinzip, für das ich mehr denn je werbe. Das Parlament ist der Ort, an dem die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache kommen muss, gerade weil in unserer Gesellschaft die Bereitschaft immer weiter sinkt, gegensätzliche Standpunkte auszuhalten oder Widerspruch überhaupt zuzulassen. Weil der Drang nach Konformität in der Gruppe wächst, um von sich fernzuhalten, was dem eigenen Empfinden und Denken widerspricht.

Die Lebenswelten in unserer Gesellschaft sind inzwischen so vielfältig und unterscheiden sich so drastisch voneinander, dass wir kaum mehr in der Lage sind, diese grundverschiedenen Lebenswirklichkeiten noch zusammenzubringen. Verloren geht im Zusammenspiel mit dem Medienwandel durch neue Kommunikationstechnologien das, was die Grundlage jeder Demokratie ist: eine gemeinsame Öffentlichkeit.

Gerade deshalb müssen wir uns bemühen, den Gedanken der Repräsentation zu stärken – und damit das Parlament als Ort der Fokussierung und der Bündelung. Der Bundestag hat nicht etwa repräsentativ die gesellschaftliche Vielfalt prozentual abzubilden, quasi als ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung. Es wäre ohnehin unmöglich, denn wo anfangen und wo aufhören? Trotzdem ist es ein verbreitetes Missverständnis. Gewählte Repräsentanten werden aber nicht als Angehöriger einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ins Parlament entsandt, sondern weil sie mehrheitlich als am besten geeignet für diese Aufgabe erscheinen. Wir täten überhaupt gut daran, Personalentscheidungen weniger nach Proporzgedanken, sondern nach Leistungsstärke zu treffen.

Das ist Anspruch und Selbstverständnis der repräsentativen Demokratie: Jeder Abgeordnete, ob Frau, Mann oder divers, ob jung oder alt, ob Wissenschaftler oder Arbeiter, ob aus der Stadt oder einem ländlichen Raum, ob hier geboren oder zugewandert, jeder muss sich selbst als Vertreter des ganzen Volkes verstehen und immer, auch wenn er die legitimen Interessen seiner Wähler und Partei vertritt, das Gemeinwohl im Blick behalten. Dazu verpflichtet Artikel 38 Grundgesetz, und es würde in eine völlig falsche Richtung führen, wenn die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze verdrängt würde von der Auffassung, dass nur der Angehörige einer Gruppe deren Interessen vertreten könnte. Dann käme man nicht mehr zu gemeinsamen Entscheidungen, sondern würde einer sehr volatilen Diktatur von Minderheiten Vorschub leisten.

Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger – ohne Rücksicht auf ihre soziokulturellen Merkmale. Gewählte Repräsentanten vertreten die Repräsentierten eben nicht durch ihre Person, sondern durch ihre Politik. Durch sie sollten alle Menschen politisch Gehör finden und in ihr sollte sich die gesellschaftliche Vielfalt abbilden.

Deshalb haben sich Parteien immer wieder zu hinterfragen, ob sie der Pluralität an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen. Es ist in ihrem eigenen Interesse, die Veränderungen in unserem Land mit zu vollziehen und – das geht nicht zuletzt an die Adresse meiner Partei – aktiv mit Inhalten um Frauen zu werben, um Zugewanderte, Jüngere, Enttäuschte. Die Zukunft der parlamentarischen Demokratie hängt von der Erneuerungskraft der Parteien ab. Sie werden ihrer Aufgabe zur politischen Willensbildung nur gerecht, wenn sie sich auf die individualisierte Gesellschaft und den grundlegenden Strukturwandel der digitalisierten Öffentlichkeit einstellen – und dabei ihre Kernklientel mitnehmen.

Dazu braucht es neue, attraktive Formen des Engagements, die Partizipation und Repräsentation in Einklang bringen, die Bürger in die Parteiarbeit einbinden, ohne die Verantwortung durch Mitgliederentscheide und Urwahlen an die Basis abzuschieben. Solange das repräsentative Prinzip bei der Besten-Auswahl funktioniert, ist es auch innerhalb von Parteien in jeder Beziehung dem Mitgliederentscheid vorzuziehen. Gelingt das jedoch nicht, gehen – wie 2021 erlebt – Mehrheiten verloren, und dann kann eine Partei vorübergehend auch einen anderen Wege einschlagen, um sich neu aufzustellen.

Umfragen sollten politische Führung gleichwohl nie ersetzen. Demokratie geht nicht ohne Führung. Wenn Politik nur noch auf Stimmungen abzielt, kann das auch in Populismus abgleiten. Und wohin das führen kann, sehen wir in anderen westlichen Demokratien in verschiedener Ausformung. Deshalb, auch wenn das aktuell unpopulär erscheint, trete ich weiterhin dafür ein, dass wir gerade in einer Zeit, in der die Veränderungen so groß und so schnell sind und Stimmungen so volatil, Strukturen brauchen, die eine gewisse Stabilität geben.

In der Stimmungsdemokratie wird die Herausforderung für den Politiker nur noch größer, eine eigene Haltung mit festen Überzeugungen zu vertreten. Und sie wird wichtiger denn je. Hüten wir uns gleichzeitig vor der Versuchung, als Politiker alles regeln zu wollen – und als Bürger von der Politik alles zu erwarten. Politik weiß auch nicht alles besser. Wenn Politik meint, sie habe keine Grenzen, ist das mindestens genauso gefährlich wie wenn andere glauben, sie seien keinen Begrenzungen unterworfen. Die Voraussetzung unserer freiheitlichen Ordnung ist, dass sie begrenzt ist. Diese Prämisse meines Denkens, die den Überlegungen in diesem Buch zugrunde liegt, scheint mir nur noch wichtiger geworden zu sein.

Offenburg, 24. Februar 2022