Cover

Das Buch

Er streicht mit der Handfläche über den oberen Blütenrand der Tulpen. Sie sind rot und leuchten intensiv, obwohl sie so zart sind. Eine Windböe lässt sie tanzen, mit Eleganz und Erhabenheit. Bald werden sie verblühen. Dann ist ihr kurzes Leben vorbei, und es bleiben nur ein paar verwelkende Blütenblätter, die nach und nach abfallen. Er muss sich beeilen. Er hat sein Werk gerade erst begonnen, und schon muss er zusehen, es zum Abschluss zu bringen. Wie ungerecht, dass er nicht die Zeit hat, das große Ziel seines Lebens zu genießen!

Der Zugführer Santi erlebt den schlimmsten Albtraum: Vor ihm auf den Gleisen befindet sich eine an einen Stuhl gefesselte Frau. In Händen hält sie eine rote Tulpe. Es ist seine Frau. Santi kann nicht mehr bremsen …

Als mehrere dieser perfiden Morde das Baskenland erschüttern, wird ein Sondereinsatzkommando einberufen. Geleitet von Polizistin Julia begeben sich Ana, Sylvia, Aitor und Txema selbst in Gefahr, um einen weiteren Mord zu verhindern.

Der Autor

Ibon Martín wurde 1976 in Donostia geboren. Er studierte Journalistik und begann seine literarische Karriere zunächst mit einem Reiseführer über das Baskenland, darauf folgten mehrere Kriminalromane. 2019 wurde er zu einem der herausragendsten Thriller-Autoren Spaniens gekürt. »Blutrote Tulpen« ist der Auftakt einer neuen Thriller-Reihe des Autors.

Ibon Martín

Blutrote
Tulpen

Aus dem Spanischen von Anja Rüdiger

Wilhelm Heyne Verlag
München

Die Originalausgabe LA DANZA DE LOS TULIPANES erschien erstmals 2019 bei Plaza & Janés, Penguin Random House Grupo Editorial, Barcelona.

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Deutsche Erstausgabe 08/2021

Copyright © 2019 by Ibon Martín

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung: bürosüd, München, unter Verwendung von © Mauritius Images (Erlantz Pérez Rodriguez / Alamy)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27667-6
V002

www.heyne.de

1

19. Oktober 2018, Freitag

Santi wirft einen letzten Blick in den Rückspiegel, bevor er die Türen der Waggons schließt; auf dem Bahnsteig ist niemand mehr. Dann fährt der Zug los, und schnell liegen die letzten Häuser Gernikas hinter ihm. Vor ihm zeichnen sich die Berge mit den in Serpentinen ansteigenden Gleisen ab, die die Landschaft prägen. Hier und dort liegen wie weiße und rote Farbtupfer einsame Häuser verstreut. Es ist eine friedliche Welt, eine schöne Welt, in der hin und wieder das Blau des Meeres und das helle Gelb des Röhrichts aufschimmern.

Ein Fischer mit einem Weidenkorb über der Schulter und einer Zigarre zwischen den Lippen wartet an der herabgelassenen Schranke eines Bahnübergangs. Santi grüßt und betätigt das Pfeifsignal der Lok, und der Mann erwidert den Gruß, indem er kurz die Hand hebt. Ein Stück weiter richtet sich eine Frau mit breiten Hüften in einem gepflegten Gemüsegarten auf, um zu dem Zug hinüberzublicken. Vor seinem inneren Auge sieht der Lokführer, wie sie den Waggons mit dem Blick folgt, um vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken, denn hier kennt jeder jeden.

»Danke«, murmelt Santi leise für sich.

Nachdem er zweiundzwanzig Jahre lang als Lokführer bei der Metro in Bilbao gearbeitet hat, hat ihn die Bahn damit belohnt, ihn nach Urdaibai zu versetzen, der schönsten und ruhigsten Strecke im ganzen Netz. Nach der Dunkelheit unter der Stadt und dem Gedränge auf den Bahnsteigen in der Hauptverkehrszeit ist die Einsamkeit dieser Bahnlinie zwischen dem sumpfigen Küstenland und den schläfrigen Dörfern ein wohltuender Hort des Friedens.

Santi atmet tief durch. Er spürt, wie das Leben ihm zulächelt.

Diese Welt gefällt ihm, ein Ort, an dem man sich noch nach dem Rhythmus der Natur richtet.

Vom Rattern des Zuges leicht eingelullt, wandern Santis Gedanken zu seinem Zuhause. Allmählich scheinen die Dinge wieder besser zu laufen. Natalia und er haben schwierige Zeiten hinter sich, doch nun ist alles beinahe wieder wie vorher. Schon bald werden sie ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag feiern, und allmählich muss er sich Gedanken machen, wie sie diesen Tag begehen werden.

Dann fordert die Strecke wieder seine Aufmerksamkeit. Ein Kormoran, schwarz wie die Nacht, erhebt sich in die Luft, als der Zug vorbeifährt, um sich dann in das grüne Wasser zu stürzen, das sich beinahe bis zu den alten Bahngleisen erstreckt. Sekunden später taucht er wieder auf, sicher mit einem silbrig glänzenden Fisch im Schnabel, ist Santi überzeugt, denn er schüttelt den Kopf, als erhoffe er sich den Applaus der wenigen Reisenden.

Natalia gefällt dies alles sehr. Für einen Moment stellt Santi sich vor, sie würde neben ihm in der Lokomotive sitzen. Das ist zwar nicht erlaubt, aber es wird schon nichts passieren, wenn er sie mal einen Tag mitnimmt. Seine Frau hat es sich verdient, genau wie er, nach zweiundzwanzig Jahren in der Großstadt. Denn in Worte fassen lässt sie sich nicht, all die Schönheit, die er jeden Tag im Leitstand des Zuges zu sehen bekommt.

Natalia … Sie ist das Wichtigste in seinem Leben. Da sie keine Kinder haben, die er lieben kann, hat er sonst niemanden. Der Tiefpunkt von neulich ist überstanden, und jetzt kann er wieder davon träumen, mit ihr zusammen alt zu werden. Mit ihrem warmen Blick, ihrem Lächeln …

Jenseits der Frontscheibe erscheint ihr Gesicht vor seinen Augen und verschmilzt mit der Landschaft. Sie lächelt ihm zu. Auch ihr gefallen seine Pläne.

Die Vision wirkt so real, dass Santi zwinkern muss, um in die Wirklichkeit zurückzufinden, doch als er die Augen wieder öffnet, ist Natalia immer noch da, auf einem Stuhl sitzend, mitten auf den Schienen.

Doch sie lächelt nicht mehr, sondern schreit. Sie hat den Mund weit aufgerissen und schreit, so laut sie kann, sodass Santi glaubt, sie trotz des Ratterns des Zuges zu hören.

Alles geschieht blitzschnell, obwohl es für Santi im Zeitlupentempo abläuft. Unerbittlich verschlingt der Zug die geringe Entfernung, die sie noch voneinander trennt.

»Nein! Natalia, nein! Geh da weg!«, brüllt der Lokführer, während er die Bremse betätigt.

Ein durchdringendes metallisches Quietschen begleitet den heftigen Ruck, der den Zug erfasst. Durch die Sicherheitstür ist der Aufschrei eines Reisenden zu hören, der von dem plötzlichen Bremsen überrascht wird.

Santi wendet den Blick nicht von seiner Frau und ist sicher, nackte Angst in ihren weit aufgerissenen Augen zu sehen. Könnte er in seine eigenen Augen schauen, wäre er nicht minder erschüttert. Es ist zu spät. Ein Zug kann nicht so einfach gestoppt werden. Natalia ist verloren.

»Geh weg!«, fleht Santi ein letztes Mal und schlägt sich die Hände vors Gesicht. Seine Stimme bricht. »Geh da weg! Los doch!«

Doch alles ist umsonst. Die Schnüre, die sie an den Stuhl fesseln, lassen nicht zu, dass sie sich bewegt. Ihr bleibt nur zu schreien. Zu schreien und abzuwarten, dass der Zug ihres Mannes seinen Weg beendet.

2

19. Oktober 2018, Freitag

»Bist du bereit?«, fragt Julia und zieht die Handbremse an. »Das wird alles andere als angenehm.«

Raúl neben ihr auf dem Beifahrersitz nickt mit ernstem Gesicht. Wenn ein Mensch von einem Zug überfahren wird, ist es meist besonders hart. Züge sind gnadenlos, wenn sie auf einen menschlichen Körper treffen.

Die Tropfen, die sich auf der Windschutzscheibe ansammeln, schimmern blau vom Licht des Streifenwagens, der die Zufahrt zum Unfallort blockiert. Julia und Raúl, die der Ertzaintza, der baskischen Autonomiepolizei, angehören, wechseln einen letzten resignierten Blick, bevor sie aus dem Auto steigen. Sie müssen auf den Gleisen nach Hinweisen und biologischen Überresten suchen. Und das momentan Wichtigste tun: das Opfer identifizieren und die Angehörigen benachrichtigen. Es ist schon nicht leicht, an einer Tür zu klingeln, um jemandem den Tod eines geliebten Menschen mitzuteilen, doch die Nachricht zu überbringen, dass dieser geliebte Mensch Selbstmord verübt hat, ist noch schlimmer. Wie erklärt man jemandem, dass sich sein Sohn, seine Schwester oder der Ehemann das Leben genommen hat? Eine Tat, die die ganze Familie unvermeidlich mit schwer zu überwindenden Schuldgefühlen erschüttert?

Julia spürt, wie ihr die Regentropfen übers Gesicht laufen. In diesem Jahr ist die Kälte früher gekommen als sonst. Wo sind die eigentlich zu dieser Jahreszeit üblichen Tage des Südwinds? Wenigstens haben sie noch ein paar Stunden bei Tageslicht, denkt sie mit Blick in den Himmel. Denn es ist noch etwas ganz anderes, sich einer derart grausigen Szenerie bei künstlichem Licht zu stellen.

»Da ist der Ehemann«, teilt ihnen der Polizist mit, der die Straßensperre überwacht. »Er ist am Boden zerstört.«

»Der Ehemann?«, fragt Julia mit gerunzelter Stirn. »Wer hat ihn benachrichtigt?«

»Niemand. Er war schon hier, als wir gekommen sind. Er ist der Lokführer.«

Julia und Raúl, die, wie bei derartigen Ermittlungen üblich, Zivil tragen, tauschen diesmal einen verwunderten Blick. Warum hat die Frau, um sich das Leben zu nehmen, den Zug ihres Mannes gewählt? Sie schlüpfen gebückt unter dem Absperrband hindurch und gehen auf den Mann zu. In seiner Uniform des baskischen Eisenbahnunternehmens EuskoTren sitzt er auf einer Betonmauer und weint mit schmerzlich verzerrtem Gesicht.

»Wir können ihn nicht davon überzeugen, dass es besser ist, mit uns zu kommen«, erklärt einer der Sanitäter, die sich um ihn kümmern.

»Natalia …«, stammelt der Lokführer. »Warum sie? Natalia …« Nur wenige Schritte entfernt steht als stummer Zeuge des schmerzhaften Klagens der weiße Regionalzug auf dem schmalen Gleis. In der Luft liegt der bei Zugunglücken unverwechselbare metallische Geruch.

Julia legt dem Mann eine Hand auf den gebeugten Rücken. »Unser herzliches Beileid. Wir wissen, dass dieser Moment nicht einfach für Sie ist.« Sie ärgert sich, dass ihre Worte so floskelhaft klingen, denn jedes einzelne tut ihr weh.

Der Lokführer nickt leicht und trocknet sich die Tränen mit dem Jackenärmel. »Sie hat dort gesessen … mitten auf den Gleisen«, berichtet er mit einem Blick, der ins Leere gerichtet ist. »Wer hat …?« Wieder beginnt er zu weinen. Es ist ihm unmöglich, weiterzusprechen.

»Bitte kommen Sie«, sagt der Sanitäter. »Wir müssen Sie mitnehmen.«

Vom Ende des Zugs her nähert sich ihnen einer der Polizisten, die vor ihnen am Unfallort waren. Seine Schritte knirschen auf den Schottersteinen.

»Sie haben sie an einen Stuhl gebunden«, erklärt er und greift sich ans Handgelenk. »Hier und an den Fußknöcheln.«

Julia spürt, wie diese Nachricht all ihre Sinne in Alarmstimmung versetzt. Das ändert alles. Nun geht es nicht mehr um Suizid.

»Mord!«, presst sie zwischen den Zähnen hervor und sucht den Blick ihres Kollegen.

Raúl fotografiert gerade die Lokomotive. Von ihrem Standort aus kann Julia die Vorderseite des Zugs nicht sehen, aber sie fürchtet, dass sie voller Blut ist.

»Ich konnte nicht mehr bremsen«, sagt der Lokführer schluchzend.

»Wo ist sie?«, fragt Julia den Kollegen, der gerade hinzugekommen ist.

»Dort hinten, etwa achtzig Meter entfernt. Der Körper wurde nicht von den Rädern der Lok erfasst, sondern beim Aufprall vom Gleisbett geschleudert, ist also noch einigermaßen intakt.«

Julia bedenkt den Kollegen angesichts seines mangelnden Taktgefühls mit einem tadelnden Blick. Dann wendet sie sich wieder an den Lokführer: »Wir werden denjenigen finden, der Ihrer Frau das angetan hat.«

»Ich konnte nicht mehr bremsen«, stammelt er. »Ich konnte es nicht …«

»Gehen Sie mit ihnen«, bittet Julia und weist auf die Sanitäter und den Krankenwagen. Sie stehen mit einigen der wenigen Passagiere zusammen, die deutlich schockiert sind. Zwei Polizisten und mehrere Sanitäter sind mit der restlichen Evakuation des Zuges beschäftigt. »Sie werden sich gut um Sie kümmern. Wenn es Ihnen etwas besser geht, werden wir mit Ihnen reden.«

Dann geht sie dorthin, wo der Leichnam liegt, und gibt die Nummer des Kommissariats in ihr Handy ein. Sie muss Silvia Bescheid geben, der Psychologin, die sie üblicherweise begleitet, wenn sie zum ersten Mal mit den Familienangehörigen sprechen, und sie ins Krankenhaus schicken, in das der Lokführer nun gebracht wird.

»Und wenn er gar nicht der Ehemann ist?«, wendet Raúl ein, der zu ihr tritt.

Julia versteht, was er meint. Auch sie hat schon daran gedacht. Der Schock bei so einem Unglück kann dazu führen, dass das Gesicht des Opfers von dem eines nahestehenden Menschen überdeckt wird. Vielleicht ist das bei dem Lokführer der Fall. Was die Dinge für die beiden Polizisten jedoch nicht allzu sehr verändern würde. Denn in jedem Fall wurde hier auf den Gleisen eiskalt eine Frau ermordet.

»Wir werden es bald erfahren«, meint Julia seufzend, während sie sich die Szene vorstellt. Das Geräusch des sich nähernden Zuges, das Vibrieren der Gleise, während man selbst an Händen und Füßen gefesselt darauf wartet, von dem eisernen Monstrum überrollt zu werden. »Was diese Frau durchgemacht hat, muss furchtbar gewesen sein.«

»Natalia«, spricht Raúl den Namen aus, den der Lokführer ihnen genannt hat.

»Gleich werden wir wissen, ob sie es wirklich ist.« Julia reicht dem uniformierten Kollegen, der die Leiche bewacht, die Hand.

»Der Körper ist relativ unversehrt«, erklärt dieser zur Begrüßung.

»Ja, das haben wir schon gehört.« Julia beugt sich über den Leichnam.

Der Stuhl ist in mehrere Teile zerbrochen, doch das Opfer hat noch alle Gliedmaßen. Allerdings sind das Gesicht und andere Teile des Körpers arg in Mitleidenschaft gezogen worden.

»Sie wurde beim Aufprall weggeschleudert«, bestätigt ihr Kollege.

Julia runzelt die Stirn, als sie die Blume sieht, die das Opfer in der rechten Hand hält. Sie hat ein paar Blütenblätter verloren, ist aber ansonsten unversehrt. Es ist eine Tulpe. Eine schöne rote Tulpe, deren Farbe sich kaum von der des Bluts unterscheidet, das die Jeansjacke der ermordeten Frau bedeckt.

»Wie seltsam«, murmelt Julia. »Sie hat die Blume nicht mal beim Aufprall losgelassen.«

Julia wartet, bis Raúl die Tulpe fotografiert hat, und zieht erst dann an ihrem Stängel, um sie in eine Asservatentasche zu stecken, denn es könnte sich um ein Beweismittel handeln.

»Sie ist angeklebt. Verdammt, deshalb hat sie die Blume nicht losgelassen. Sie ist an ihrer Hand festgeklebt.« Julia erschaudert am ganzen Körper. Als sie sich wieder gefangen hat, streicht sie dem Opfer übers Haar, als würde sie versuchen, den unversehrten Anblick wiederherzustellen und der Frau das Aussehen zurückzugeben, das sie hatte, bevor sie auf so brutale Art und Weise aus dem Leben gerissen wurde. »Was haben sie dir angetan? Wer hat dich hierhergebracht?« Sie schüttelt den Kopf. Von dieser Frau wird sie keine Antwort mehr erhalten.

Seufzend richtet sich Julia auf. Als sie den Tag auf dem Surfbrett in den Wellen von Mundaka begonnen hat, konnte sie nicht ahnen, dass er so tragisch enden würde.

»Da kommt der Gerichtsmediziner«, informiert sie ihr Kollege.

Julia antwortet nicht. Auf der Suche nach der genauen Stelle des Aufpralls geht sie die Gleise entlang. Ein rotes Blütenblatt liegt dort zwischen den Schienen, wo der Stuhl gestanden haben muss. Auch das Blatt muss als mögliches Beweisstück in eine Asservatentasche.

»Was macht denn das da?«, fragt sie plötzlich. An einem der Pfosten für die Oberleitung ist mit einfachem Klebeband etwas Goldfarbenes befestigt.

Aus der Nähe erkennt sie ein verkleinertes Bild von sich selbst und ist irritiert, ihr eigenes verwirrtes Gesicht auf dem Display eines Handys zu sehen. Das Aufnahmesignal leuchtet.

»Verdammt, was …?«

»Ich hab ihre Tasche«, sagt Raúl im Näherkommen, dann stutzt er. »Was ist das denn? Was macht das Telefon da?«

Julia hört ihn gar nicht. Voller Entsetzen starrt sie auf das Display des Handys.

Plötzlich wird sie von einer Melodie aus ihrer Erstarrung gerissen. Sie erkennt sie sofort; es ist ihr eigenes Handy. Mechanisch holt sie es aus der Manteltasche und hält es sich ans Ohr.

»Was ist?«

»Es gibt Neuigkeiten.« Der Anruf kommt aus dem Kommissariat. »Das Verbrechen wurde live auf Facebook übertragen. Die ganze Stadt ist erschüttert.«

Julia nickt langsam. Sie streckt die Hand aus und drückt auf den Knopf, um die Aufnahme zu beenden. Anschließend löst sie das Klebeband und steckt auch das Handy in eine Asservatentasche.

Etwas Derartiges hat sie noch nicht erlebt. Die Tulpe, der Stuhl auf den Gleisen, die Übertragung im Internet … All das wirkt grausam machiavellistisch.

»Wie es scheint, handelt es sich wirklich um die Frau des Lokführers.« Ihr Kollege zeigt ihr einen Ausweis. »Natalia Etxano, geboren 1961.«

Julia tritt näher, um das Foto im Ausweis genauer zu betrachten. Das Gesicht kommt ihr vage bekannt vor.

»Natalia Etxano«, wiederholt sie nachdenklich. Sie weiß, dass sie diesen Namen schon einmal gehört hat. »Verdammt, natürlich, das ist die vom Radio …«

»Scheiße, die von Radio Gernika!«

Natalia Etxano ist nicht irgendeine Anwohnerin aus der Gegend. Sie ist Journalistin, die Moderatorin des viel gehörten Morgenprogramms des Radiosenders, der in Gernika und in der ganzen Region gehört wird. Die Presse wird Julia auf Schritt und Tritt verfolgen und ständig nach den Fortschritten der Ermittlungen fragen. Das wird nicht leicht werden.

»Scheiße!«, sagt auch sie und schlägt sich vor die Stirn. Gerade ist ihr etwas eingefallen, was das Ganze noch komplizierter machen wird. Viel komplizierter.

3

20. Oktober 2018, Samstag

Die Tür ist nicht richtig abgeschlossen und lässt sich mit einer halben Drehung des Schlüssels öffnen. Ane schnaubt genervt, denn das kann nur bedeuten, dass ihr Bruder zu Hause ist. Es ist erst zwei Wochen her, dass Andoni bei ihr eingezogen ist, doch sie hat das Gefühl, dass er schon seit Jahren bei ihr wohnt. Vorher war diese Wohnung in Pasai Donibane, direkt am Meer, für sie der schönste Ort der Welt.

»Hab Geduld«, empfiehlt sie sich selbst.

Nachdem sie fünf Jahre lang allein gelebt hat, ist es nicht leicht, sich an einen Mitbewohner zu gewöhnen. Und das Schlimmste von allem ist, dass sie selbst ihn dazu gedrängt hat, um den ständigen Streitereien zwischen ihrem Bruder und ihrer Mutter ein Ende zu machen.

Nun bereut sie es, denn jedes Mal, wenn sie erschöpft aus dem Kommissariat kommt, läuft in voller Lautstärke eine dieser Serien auf Netflix, die sich Andoni beinahe zwanghaft ansieht. Wie kann man ganze Nachmittage in der Wohnung damit verbringen, sich eine Serienfolge nach der anderen reinzuziehen und dabei ununterbrochen zu qualmen? Zudem ist er offenbar nicht in der Lage, das Fenster zu öffnen, um die nach Zigarettenrauch stinkende Wohnung zu lüften.

Wenn es nur Zigarettenrauch wäre! Denn sobald er es sich leisten kann, nebelt er sich das Hirn mit Joints zu.

Auch Ane war mal jung – verdammt, das ist sie immer noch – und hat nur hin und wieder mal eine Zigarette geraucht, und zwar auf dem Balkon, um ihre Mitbewohner nicht zu belästigen.

Sie versucht sich zu beruhigen, um nicht gleich voller Wut in die Wohnung zu stürmen, doch als sie durch die Tür tritt, wird sie von der Rauchwolke beinahe erschlagen.

»Ich bin wieder da«, sagt sie zur Begrüßung und beißt sich auf die Zunge, um nicht sofort loszuschimpfen.

»Wie war’s auf der Arbeit? Hör mal, Ibai und Manu sind hier«, antwortet die Stimme ihres Bruders aus dem Wohnzimmer. »Wir bestellen Pizza. Wenn du auch eine willst …«

Ane verzieht das Gesicht, während sie sich die Polizeistiefel auszieht. Sie denkt an ihre Eltern. Es war wohl doch keine so gute Idee, ihren Bruder hier aufzunehmen. Er ist erst neunzehn, neun Jahre jünger als Ane, die es, bis sie vierundzwanzig war, im Elternhaus ausgehalten hat.

»Esst ihr ruhig allein.« Sie zieht sich die Stiefel wieder an. »Ich besorg mir draußen was zum Abendessen.«

Sie geht die Treppe hinunter und tritt durch die Haustür auf den Platz hinaus. Die salzige, frische Meeresluft versöhnt sie wieder mit der Welt.

Olaia, eine ihrer besten Freundinnen, wenn nicht sogar ihre allerbeste, winkt ihr zu. Sie steht an der Tür des Itsaspe, einer der Bars an diesem Platz direkt am Meer, und raucht gerade die letzten Züge ihrer Selbstgedrehten. Nicht weit von ihr spricht Nagore, die ebenfalls zu Ane Cesteros engstem Freundeskreis zählt, gestikulierend in ihr Handy.

»Ich hab die Nase voll davon, dass er in meiner Wohnung hockt!«, schimpft Ane.

»Na ja, ich finde es ganz wunderbar, weil wir dich jetzt viel öfter sehen als vorher«, entgegnet Olaia, bevor sie die Freundin lachend umarmt.

»Das stimmt nicht«, protestiert Ane, obwohl sie weiß, dass ihre Freundin recht hat. Bevor Andoni bei ihr eingezogen ist, gab es durchaus Tage, an denen sie nach der Arbeit lieber zu Hause geblieben ist. Nun hingegen geht sie jeden Abend runter in die Bar, um einen Streit mit ihrem Bruder zu vermeiden. Manchmal isst sie dann nur ein Bocadillo oder ein paar Pintxos – baskische Tapas – und geht direkt danach rauf in ihr Schlafzimmer und ins Bett.

»Hat er vor, noch länger zu bleiben?«, fragt ihre Freundin.

Ane zuckt mit den Schultern. »Für immer, nehme ich an. Er hat das gleiche Recht wie ich, sich dort breitzumachen. Es ist die Wohnung unserer Großmutter und nicht meine. Und das Schlimmste von allem ist, dass wir uns vorher super verstanden haben, sodass ich von mir aus vorgeschlagen hab, er soll bei mir einziehen.«

Nagore hat ihr Telefongespräch beendet und gesellt sich zu ihnen. »Hab ich dir schon das von Samstag erzählt?«, fragt sie und stößt Olaia mit dem Ellbogen an.

Ane schüttelt den Kopf. »Jetzt sagt nicht, dass ich irgendwas Wichtiges verpasse hab, weil ich ein Mal nicht mit ausgegangen bin.«

Olaia lacht leise. »Ich hab mit ’nem Typen geflirtet.«

»Und? Bereust du’s schon?«

»Überhaupt nicht.«

»Und …?« Anes Neugierde wächst, denn ihre Freundin interessiert sich normalerweise ausschließlich für Frauen. Nagore, die immer noch neben Olaia steht, nickt amüsiert.

»Er ist echt nicht übel«, sagt sie gespielt verärgert. »Die dumme Kuh hat ihn mir vor der Nase weggeschnappt. Wir haben beide mit ihm gequatscht, aber anstatt ihn mir zu überlassen, hat sie ihn einfach abgeschleppt. Nun, ich hoffe, sie hat es ausgenutzt …«

»Na ja, wir haben schon einiges miteinander angestellt … Aber ihr wollt doch wohl keine Einzelheiten wissen, ihr Tratschtanten!«

»Bist du jetzt bisexuell?«, fragt Ana halb im Scherz, halb erstaunt.

»Auf keinen Fall. Wo ist die nächste Frau? Das war einfach nur eine verrückte Nacht. Die erste und die letzte.«

Nagore zwinkert Ane zu. »Besser für uns, oder? Damit wir auch noch welche abkriegen.«

Ane lacht. Nagore hat recht. Immer wenn sie zusammen ausgehen, ist es Olaia, die alle Blicke auf sich zieht. In der genetischen Lotterie hat sie eindeutig den Hauptgewinn gezogen. Sie muss nicht regelmäßig joggen gehen, um ein hautenges Kleid tragen zu können. Wobei es Ane nichts ausmacht, nicht wie ein Topmodel auszusehen. Sie ist zwar ziemlich klein und findet auch ihre lockigen Haare nicht gerade toll, doch das gleicht sie mit genügend Selbstbewusstsein aus. Zudem hat sie sich ein Glätteisen für ihre Haare zugelegt.

»Deine Nase hat sich verändert, oder?« Olaia zeigt auf den Ring, der an diesem Abend Anes rechten Nasenflügel ziert.

»Ja. Ich konnte den Stern nicht mehr sehen. Ich hab ihn fast zwei Jahre lang getragen.«

»Sieht gut aus. Und fällt etwas mehr auf. Auch das neue Augenbrauenpiercing steht dir super. Neben den anderen und deinem unwiderstehlichen Drachentattoo. Würde ich auf Frauen stehen«, scherzt Nagore und zwinkert Olaia zu, »wärst du genau mein Typ.«

Ane lacht erneut und streicht sich mit der Hand über das Tattoo am Hals. »Warum sagst du immer, dass es ein Drache ist? Das ist Sugaar, das männliche Gegenstück der Göttin Mari. Wie wär’s, wenn du dich mal ein bisschen mit der baskischen Mythologie beschäftigst!«

»Ich weiß, dass das Sugaar ist. Das mit dem Drachen sag ich nur, um dich zu ärgern«, erklärt Olaia lachend. »Du hast es uns schon mindestens achtzig Mal gesagt!«

Ane öffnet die Tür der Bar. »Los, lasst uns ein Bier trinken. Wir haben jetzt genug über unser Aussehen gequatscht.«

»Dabei wollte ich dir gerade sagen, wie gut du mir mit dem glatten Haar gefällst«, sagt Olaia und legt Ane die Hand auf die Schulter.

»Ich mag sie auch mit Locken«, erklärt Nagore.

»Verdammt, ihr Nervensägen! Würdet ihr mich jetzt bitte endlich in Ruhe lassen? Sag mal, Olaia, gibt es irgendwelche Neuigkeiten von unserer Band?« Ane denkt daran, mit welchem Enthusiasmus sie vor zwei Jahre The Lamiak gegründet haben. Sie hat sich vor einiger Zeit beim Klettern eine Verletzung am Handgelenk zugezogen, doch jetzt, da die verheilt ist, will sie sich endlich wieder ans Schlagzeug setzen. Ihre Arme fühlen sich schon an, als wären sie eingerostet.

»Es ist noch nicht ganz sicher, aber ich hab schon zwei Konzerte abgesprochen«, erklärt Olaia und hebt dann drohend den Zeigefinger. »Doch wir müssen uns zum Üben treffen, damit wir uns nicht so blamieren wie beim letzten Mal. Keine Ahnung, warum sie uns nicht dreikantig aus dem De Cyne Reyna rausgeworfen haben!«

»Wirklich? Zwei?«, freut sich Nagore. »Das sind mehr als im ganzen letzten Jahr.«

»Das Doppelte«, meint Ane lachend. »Los, wann treffen wir uns zum Üben?«

Kaum hat sie die Frage gestellt, meldet sich ihr Handy.

»Geh nicht ran, Ane. Die rufen dich ständig außerhalb der Dienstzeit an. Es ist Samstag!«

»Vielleicht ist es ja gar nicht dienstlich«, wehrt Ane ab und fischt ihr Handy aus der Tasche. Doch die Nummer auf dem Display zwingt sie, sich bei ihren Freundinnen zu entschuldigen und wieder nach draußen auf den Platz zu gehen, um in Ruhe telefonieren zu können.

»Ane Cestero«, meldet sie sich noch in der Bar, mit dem Handy am Ohr. Dabei hofft sie auf gute Nachrichten. Vielleicht hat sich der Kerl, den sie gestern festgenommen hat, endlich zu einem Geständnis entschlossen.

»Ane Cestero«, imitieren ihre Freundinnen sie lachend, die sich gern darüber lustig machen, wenn sie sich am Telefon meldet wie ein Cop in einem Hollywoodfilm.

»Alles klar, Ane?«, hört sie die Stimme ihres Chefs. »Ich bin’s, Madrazo. Bist du zu Hause?«

Sie lässt im Halbdunkel des Platzes den Blick an der mit Weinreben berankten Fassade ihres Hauses emporschweifen. Das flackernde bläuliche Licht im Fenster verrät, dass der Fernseher läuft.

»Mehr oder weniger«, antwortet sie ausweichend und verzieht das Gesicht. »Warum? Gibt es Neuigkeiten? Hat er geredet?«

»Von wegen. Der schweigt weiterhin wie ein Grab. Wir werden diesen Mistkerl dem Gericht übergeben müssen, ohne dass er auch nur ein Wort von sich gegeben hat.« Madrazo macht eine Pause, die Ane die Zeit gibt, sich nach dem Grund dieses Anrufs zu fragen.

»Ich hoffe, dir steht der Sinn nach einer Luftveränderung. Am Montag fährst du nach Gernika.«

Ane runzelt die Stirn. »Nach Bizkaia? Aber das ist außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs.«

»Genau das ist der Grund, warum du dorthin musst.«

»Ich versteh kein Wort.«

»Ich weiß. Komm ins Kommissariat, und ich erklär dir alles.«

»Jetzt?«

Olaia tritt aus der Bar und hebt die Hand, um sich bei Ane bemerkbar zu machen. »Soll ich dir ein Bier bestellen? Du hast sicher ’ne trockene Kehle, nachdem du so viel geredet hast.«

Ane wirft ihrer Freundin einen verärgerten Blick zu. Ständig halten sie ihr vor, dass bei ihr die Arbeit immer an erster Stelle steht und sie nie in Ruhe ein Bier mit ihnen trinken kann.

»Jetzt sofort«, drängt ihr Chef. »Es ist wichtig.«

»Und du kannst es mir nicht am Telefon sagen? Ich hab mich gerade mit meinen Freunden auf ein Bier getroffen.«

Madrazo zögert erneut für einen Moment. »Du hast doch sicher von der Sache mit dem Zug gehört. Der Lokführer, der seine eigene Frau überfahren hat …«

»Sicher, die Geschichte ist ja in aller Munde.«

»Und auch wir müssen jetzt darüber reden. Komm, so schnell du kannst. Oder glaubst du, dass ich aus Spaß am Feierabend im Büro hocke?«

Ane lässt den Blick über die Hafeneinfahrt schweifen, bis er an einer Trainera in der Nähe der Mole von Antxo hängen bleibt. Aus der Entfernung und in der Dunkelheit kann sie so gerade die rhythmische Bewegung der Ruder des hier an der Küste typischen Sportboots erkennen. Sobald die Tage kürzer werden, wird immer öfter auch im Dunkeln trainiert.

»Gib mir eine Stunde.«

»Besser nur eine halbe.«

Ane steckt das Handy seufzend wieder ein. Nun braucht sie erst mal ein schönes kühles Bier.

»Jetzt sagt mir nicht, dass ihr mir keins bestellt habt«, scherzt sie, als sie wieder bei ihren Freundinnen ist.

4

20. Oktober 2018, Samstag

»Siebenunddreißig Minuten«, sagt Madrazo. »Danke, Cestero.«

Er sitzt in seinem Büro. Ane schließt die Tür und nimmt auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz. Sie küssen sich zur Begrüßung nicht auf die Wange. Sie sind Kollegen, er ist der Chef und sie ihm unterstellt, alles andere ist Vergangenheit.

»Olaia und Nagore werden dich an deinen Kronjuwelen aufhängen, wenn du ihnen das nächste Mal über den Weg läufst«, droht Ane mit vorgespielter Wut und zeigt mit dem Finger auf den entsprechenden Bereich unterhalb der Schreibtischplatte. »Sie finden es gar nicht gut, dass ich nicht ein Mal in Ruhe ein Bier mit ihnen trinken kann.«

»Das wird sich auch wieder ändern. Außerdem hängen sie mehr an mir als du«, scherzt Madrazo.

Er hat diese dunklen Augen, deren Blick sie immer noch zum Schmelzen bringen kann, und sein Pony ist von der Sonne und dem Salzwasser gebleicht. Hinzu kommen seine ständige Bräune und die gestählten Muskeln vom Surfen.

»Gut, dann erzähl mal. Du hast mich doch nicht herbestellt, um mit mir über meine Freundinnen zu reden, oder?« Sie gibt sich angriffslustig, um dem Drang zu widerstehen, sich von ihrem Stuhl zu erheben und auf die andere Seite des Schreibtischs zu gehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich einem solchen Impuls widersetzen muss. Madrazo wirkt immer noch äußerst anziehend auf sie. Und sie weiß, dass es umgekehrt genauso ist. Es waren zwei sehr intensive Jahre. Schade, dass sie, nachdem das Ganze wie ein Spiel begonnen hat, letztendlich unterschiedliche Erwartungen hatten. Vielleicht war der Altersunterschied daran schuld. Ane war achtundzwanzig Jahre alt, als sie sich getrennt haben, und ihr Chef beinahe vierzig. Für sie war diese unverbindliche Beziehung völlig in Ordnung. Sex, Konzertbesuche, Vertraulichkeiten … Sie war gern mit ihm zusammen, bis er auf einmal mehr gewollt hat.

Für Ane kamen gemeinsame Zukunftspläne und ein Zusammenleben jedoch nicht infrage. Und damit war die Sache vorbei. Doch noch immer hat sie die Vorwürfe von Olaia und Nagore im Ohr, dass sie einem derart attraktiven Mann den Laufpass gegeben hat.

Madrazo schiebt ihr ein Blatt Papier hinüber. Darauf ist eine Skizze zu sehen, eine einfache Skizze, die aussieht wie ein Stammbaum. Darüber steht ein unverständliches Wort geschrieben.

UEHI

»Was ist das? Und warum steht dort mein Name?«

»Von heute an gehörst du zur Unidad Especial de Homicidios de Impacto, der Spezialeinheit für besonders schwerwiegende Mordfälle. Na ja, du gehörst nicht nur dazu, du leitest sie.«

Ane sieht ihren Chef mit ungläubigem Gesichtsausdruck an. Vor ein paar Wochen hat er dies mal erwähnt. Eine Einheit ausschließlich mit Polizeikräften, die auf die Aufklärung von Serienverbrechen oder besonders medienwirksamen Mordfällen spezialisiert sind. Als sie darüber gesprochen haben, war das nicht mehr als ein mögliches Projekt, das, wie es jetzt scheint, mit einem Satz mehrere Schritte übersprungen hat und direkt umgesetzt worden ist.

»Und das Verbrechen in Gernika ist unser erster Fall?«

»Genau. Der Tod von Natalia Etxano war der letzte Anstoß, der uns dazu gebracht hat, die Einheit ins Leben zu rufen, und du wirst sie leiten.«

»Weil das Opfer eine bekannte Journalistin war«, mutmaßt Ane.

»Ja, unter anderem. Oder, besser gesagt, es ist der Vorwand, denn Natalia war nicht nur eine bekannte Moderatorin, sondern auch die Geliebte des Comisario in Gernika. Und das macht nicht nur ihn zu einem Verdächtigen, es zwingt uns auch zu einem gewissen Misstrauen den Kollegen gegenüber, die unter seinem Befehl stehen.«

Ane runzelt die Stirn. »Ich hab gelesen, dass die Journalistin verheiratet war.«

»Der Comisario ebenfalls. Dennoch hatten sie schon seit längerer Zeit ein Verhältnis und waren, wie es aussieht, nicht besonders diskret, denn das ganze Kommissariat wusste davon.«

Ane blickt noch einmal auf das Papier. Als sie erneut ihren Namen an der Spitze der Darstellung sieht, überkommt sie ein leichtes Schwindelgefühl. Wobei man nicht sagen kann, dass die Einheit, die sie anführen soll, besonders viele Mitglieder hat. Nur drei Striche führen von ihrem Namen nach unten, und von den Kollegen, die ihr unterstellt sein werden, kennt sie nur einen.

»Aitor Goenaga«, liest sie laut. Hätte sie sich ihr Team selbst zusammenstellen dürfen, wäre er der Erste gewesen, an den sie gedacht hätte; vielleicht der Einzige. »Und wer sind die anderen?«

»Hast du noch nie von Txema Martínez gehört? Er ist aus Bilbao.«

»Ist das nicht der, der zu Interpol gegangen ist?«

»Er ist gerade wieder zurückgekommen. Ein guter Mann, wenn auch etwas zu sehr von sich eingenommen. Lass dir von ihm nicht auf der Nase rumtanzen. Du bist seine Vorgesetzte. Du leitest die Einheit.«

Ane richtet den Blick auf ein Poster an der Wand hinter Madrazo. Es zeigt eine riesige Welle, auf der ein winziger Surfer zu sehen ist. Sie spürt ein leichtes Kribbeln im Bauch. Bis jetzt hat sie noch nie die Ermittlungen in einem Fall geleitet. Doch angesichts ihrer kürzlichen Beförderung war vorauszusehen, dass der Tag kommen würde.

Sie senkt den Blick wieder auf die Skizze. »Und Julia Lizardi? Wer ist das?«

»Eine Kollegin aus Gernika. Sie soll sehr gut sein. Im letzten Jahr hat sie den Fall um die ermordeten Taucher gelöst. Sie wurde mir empfohlen. Und wie es aussieht, haben wir etwas gemeinsam. Auch sie surft.«

Ane nickt zustimmend. Eine Kollegin aus der betreffenden Gegend im Team zu haben scheint ihr eine hervorragende Idee. Dann haben sie zumindest jemanden, der mit den lokalen Begebenheiten vertraut ist und das Kommissariat kennt, mit dem sie zusammenarbeiten werden.

»Wer hat das Team zusammengestellt?«, fragt sie.

»Ich. Zwei aus Bizkaia und zwei aus Gipuzkoa, um niemanden zu benachteiligen, du weißt schon.«

Ane nickt. Immer dieser geografische Balanceakt …

»Aber keiner aus Vitoria«, stellt sie fest.

Madrazo zuckt mit den Schultern. Er hält es nicht für nötig, etwas dazu zu sagen, denn Ane kann sich die Antwort auch selbst denken. Die Kollegen von dort beklagen sich nie.

»Sind wir Erandio unterstellt oder dir?«, fragt sie und spricht damit die beiden zentralen Kommissariate von Bizkaia und Gipuzkoa an.

»Im Prinzip mir. Wir hier haben mehr Erfahrung mit solchen Fällen, weshalb sie mir die Organisation übertragen haben. Diese neu gebildete Einheit kommt nur zum Einsatz, wenn es die Umstände erfordern. Ansonsten arbeitet jeder von euch in seinem Kommissariat.«

»Das heißt, dass wir nur zusammenkommen, wenn ein wirklich schlimmes Verbrechen vorliegt.«

Madrazo nickt. »Organisiertes Verbrechen, Serientäter oder wenn es sich bei dem Opfer um eine bekannte Persönlichkeit handelt. Also Fälle, die in der Öffentlichkeit für besondere Aufmerksamkeit sorgen.«

Ane schnaubt. Das klingt gar nicht gut. Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bedeutet viel Presse, und viel Presse wiederum bedeutet Druck. Sie hofft, dass sie unter diesen Umständen die nötige Ruhe bewahren kann.

»Wer ist Silvia?«, erkundigt sie sich nach dem letzten Namen, der noch auf dem Blatt steht.

»Eine Psychologin. Die Kollegen aus Bizkaia arbeiten oft mit ihr zusammen und haben sie darum ausgewählt. Sie soll sehr gut in der Erstellung psychologischer Profile sein. Das wird euch helfen zu verstehen, was im Gehirn des Mörders vor sich geht.«

»Glaubst du, dass es der Comisario war?«

Madrazo zieht die Augenbrauen so weit hoch, dass sie unter seinem blonden Pony verschwinden. »Olaizola? Ich hoffe nicht. Das wirst du schon rausfinden, da bin ich mir sicher. Aber sei darauf gefasst, dass er zu deinem Empfang nicht den roten Teppich ausrollen wird. Diese Einmischung in seinen Zuständigkeitsbereich wird ihm nicht gefallen. Und schon gar nicht, dass man ihn verdächtigt, in den Fall verwickelt zu sein.«

Ane blickt noch einmal auf das Poster mit der Welle. Plötzlich hat sie den Eindruck, von ihr überrollt zu werden. »Wann fangen wir an?«

»Am Montag. Ihr werdet morgens um neun in Gernika erwartet. Und pass auf, eine Sache noch: Die Bevölkerung in der Gegend ist äußerst beunruhigt. Die Presse wird euch keine Ruhe lassen. Verärger sie nicht, wenn du keine Probleme kriegen willst.«

Ane steht auf. Zögert einen Moment. Soll sie sich für das ihr entgegengebrachte Vertrauen bedanken oder die Tür hinter sich zuknallen, weil innerhalb weniger Minuten ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde?

»Danke«, murmelt sie schließlich.

Madrazo winkt ab, ruft sie jedoch noch einmal zurück, als sie gerade sein Büro verlassen will. Mit der Klinke in der Hand wendet sie sich zu ihm um.

»Zeig ihnen, dass du die Beste bist. Es reicht allmählich, dass du ständig skeptisch beäugt wirst, weil du mit deinem Chef zusammen warst. Du wirst zu hören kriegen, dass du diese Einheit nur deshalb anführst. Aber … die können mich mal. Es gibt in der Ertzaintza niemanden, der für diesen Job besser geeignet wäre. Das ist die Gelegenheit, es zu beweisen. Nutze sie.«