Das Buch
Es ist noch nicht lange her, dass Vampirkrieger Syn Unterschlupf bei den BLACK DAGGER gefunden hat. Dass er nebenbei als Auftragskiller arbeitet, behält er lieber für sich, denn andere heimtückisch zu töten verstößt gegen den strengen Ehrenkodex der Bruderschaft. Als er eines Nachts heimlich zu seinem nächsten Job unterwegs ist, begegnet er der Halbvampirin Jo Early und verliebt sich vom ersten Augenblick an in sie. Die schöne junge Frau ahnt jedoch nichts von ihrem vampirischen Erbe, und bringt so nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Bruderschaft in tödliche Gefahr …
Die Autorin
J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.
Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.
Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:
www.jrward.com
J. R. Ward
DER SÜNDER
Ein Black dagger-Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
THE SINNER
Aus dem Amerikanischen
von Bettina Spangler
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Deutsche Erstausgabe 10/2021
Redaktion: Charlotte Gerk
Copyright © 2020 by Love Conquers All, Inc
Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Autorenfoto © by John Rott
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-27348-4
V001
www.heyne.de
Gewidmet: dir.
Du verdienst von allem nur das Beste …
Sorge gut für deine Frau.
Ich glaube fest an dich.
Danksagung
Vielen, vielen Dank an die Leser der BLACK DAGGER! Es ist eine lange, wunderbare, aufregende Reise mit euch und der Bruderschaft, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was in dieser Welt, die wir alle so lieben, als Nächstes passiert. Ich möchte Meg Ruley, Rebecca Scherer und dem Team bei JRA danken, außerdem Lauren McKenna, Jennifer Bergstrom und allen bei Gallery Books und Simon&Schuster.
Ans Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles, was ich tue, aus Liebe und Bewunderung für meine Familie, sowohl die blutsverwandte als auch die frei gewählte.
Ach ja, und danke an Naamah, meinen WriterAssistant Nummer zwei. Sie arbeitet genauso hart an meinen Büchern wie ich! Und an Arch, der neuerdings ebenfalls eine wichtige Stellung einnimmt!
Glossar der Begriffe und Eigennamen
Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.
Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.
Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.
Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Spezies besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.
Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.
Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.
Dhunhd – Hölle.
Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.
Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.
Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.
Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.
Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.
Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.
Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.
Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.
Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.
Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder zum Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderer motorisierter Transportmittel führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und besagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.
Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.
Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.
Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.
Lewlhen – Geschenk.
Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.
Lhenihan – Ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.
Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.
Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.
Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.
Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.
Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.
Novizin – Eine Jungfrau.
Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.
Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.
Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.
Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.
Rahlman – Retter.
Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.
Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.
Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.
Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.
Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.
Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.
Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.
Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.
Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen der weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Ihre Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.
Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.
Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.
Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.
Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die um die Gunst einer Vampirin rivalisieren.
1
Route 149
Caldwell, New York
Jo Early saß hinter dem Steuer ihrer Schrottkarre, die schon zehn Jahre auf dem Buckel hatte, und biss gierig in ihre BiFi. Dann kaute sie darauf herum, als wäre es ihre Henkersmahlzeit. Eigentlich hasste sie den künstlichen Rauchgeschmack und die Textur, die sie an ein Stück Seil erinnerte. Doch kaum hatte sie den letzten Bissen hinuntergewürgt, kramte sie eine zweite BiFi aus ihrer Tasche. Mit den Zähnen riss sie die Verpackung auf, befreite die Wurst aus ihrem Plastikschlauch und warf den Müll auf die Beifahrerseite, wo die Fußmatte schon vollständig von einem ganzen Berg ähnlicher Verpackungen bedeckt war.
Unmittelbar vor ihr beschrieb die Straße eine Kurve. Im schwachen Scheinwerferlicht tauchten Kiefern auf, die lediglich im oberen Drittel Äste trugen. Die bauschigen Kronen ließen die Stämme dürr wie Zahnstocher wirken. Als Jo mit einem Reifen in ein Schlagloch geriet und das Fahrzeug rumpelte, verschluckte sie sich. Sie hustete immer noch heftig, als sie ihr Ziel erreichte.
Das völlig verlassen daliegende Adirondack Outlet Center war ein weiterer Beweis für die wachsende Vorherrschaft von Amazon Prime. Der einstöckige Gebäudekomplex bildete eine Hufeisenform, nur ohne Huf, die Ladenfronten entlang der beiden Längsseiten trugen noch die Überreste von Leuchtreklamen, ausgeblichenen Anzeigentafeln und schief hängenden Schildern mit Namen wie Van Heusen/Izod, Nike und Dansk, skelettartige Geister des Kommerzes, der früher hier floriert hatte. Hinter den staubbedeckten Scheiben wurde längst keine Ware mehr angepriesen, und seit mindestens einem Jahr hatte niemand mehr mit Kaufabsichten und einer Kreditkarte das Gelände betreten. Das Unkraut, das in den Pflasterritzen wuchs, und die Rauchschwalben, die unter den Dachvorsprüngen ihre Nester gebaut hatten, waren weit und breit die einzigen Lebewesen. Auch die ehemalige Fressmeile, die den östlichen und den westlichen Seitenarm des Gebäudes miteinander verband, bot schon lange kein Softeis und keine Speisen mehr an. Nicht einmal Starbucks hatte hier überlebt.
Ein heißer Blitz durchzuckte Jo und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ es dann komplett herunter. Die Winter in Caldwell, New York, waren bis in den März hinein vergleichsweise kalt, typisch für die nördlicheren Breitengrade. Zum Glück. Hier war sie also, ganz allein um Mitternacht, auf der Jagd nach einer Knallerstory – aber nicht für das Caldwell Courier Journal, für das sie arbeitete. Jo atmete die kalte, feuchte Luft ein und versuchte, sich zum wiederholten Mal mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sie mit dem, was sie hier vorhatte, keinen Fehler beging.
Garantiert nicht.
Auf gar keinen Fall.
Zu Hause in ihrer Wohnung wartete ohnehin niemand auf sie. Keine Menschenseele auf dem gesamten Planeten würde ihren übel zugerichteten Leichnam identifizieren und für sich beanspruchen, wenn man ihn in einer Woche in einem Straßengraben fand, entdeckt einzig und allein wegen des fürchterlichen Gestanks.
Jo ließ den Wagen langsam ausrollen, bis er zum Stehen kam, machte die Scheinwerfer aus und blieb ruhig sitzen. Am Himmel war weit und breit kein Mond zu sehen, sie hatte also die richtige Kleidung für diesen Abend ausgewählt. Schwarz. Doch ohne den geringsten Streifen natürlichen Lichts tat sie sich in der Dunkelheit schwer, etwas zu sehen. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, und das nicht, weil sie Details an dem alten verfallenen Gebäude hätte ausmachen wollen.
Nein, das war nicht der Grund, warum sie so verbissen Ausschau hielt. Im Moment sorgte sie sich einzig und allein darum, sie könnte zum Thema der nächsten Folge von True Crime Garage werden, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Plötzlich spürte sie ein unangenehmes Kribbeln im Nacken, als würde sie jemand auf sich aufmerksam machen wollen, indem er die scharfe Spitze eines Tranchiermessers sachte über ihre Haut wandern ließ.
Ihr knurrender Magen schreckte sie auf. Sofort verschwand ihre Hand wieder in ihrer Handtasche. Diesmal ignorierte sie die drei Packungen BiFi, die noch übrig waren, und schnappte sich gezielt den Hershey’s-Riegel. Die geübten Handgriffe, mit denen sie die billige Schokolade von ihrer Plastikhülle befreite, waren der traurige Beweis für ihre ungesunde Ernährungsweise. Als sie den letzten Happen vertilgt hatte, musste sie feststellen, dass sie noch immer hungrig war. Das lag natürlich nicht daran, dass sie nichts im Magen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Es war immer dasselbe: Die einzigen Lebensmittel, die sie überhaupt zu sich nehmen konnte, ohne dass ihr übel davon wurde, schafften es nicht, ihren nagenden Hunger zu stillen. Von ihrem Energiebedarf einmal ganz zu schweigen.
Sie fuhr das Fenster wieder hoch, nahm ihren Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. Das Knirschen unter den Sohlen ihrer Turnschuhe, als sie auf das Bankett der Straße trat, war laut wie ein Paukenschlag. Instinktiv hoffte sie, sie würde keine Erkältung ausbrüten. Bitte nicht. Ihr Geruchssinn konnte sich in dieser Sache nämlich noch als nützlich erweisen. Sonst brauchte sie ihn ja nur, um zu prüfen, ob die Milch sauer geworden war.
Oh Mann, sie musste wirklich mit dieser aussichtslosen Jagd aufhören.
Entschlossen schulterte sie den Rucksack, verriegelte das Auto und zog sich die Kapuze ihrer Windjacke über die roten Locken. Sie musste leise sein. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, möglichst flach und ohne abzurollen, um ihre Schritte zu dämpfen. Während ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, stellte sie fest, dass sie nach wie vor nicht viel mehr als die Schatten um sich herum wahrnahm. Die Ecken und Winkel der Eingänge zur Mall sowie die Sitznischen, in denen mögliche Angreifer sich bei einem Versteckspiel für Erwachsene bis zur geplanten Attacke auf die Lauer legen konnten, lagen im undurchdringlichen Dunkel.
Als sie den Zugang zur Promenade erreichte, der mit einer schweren Kette gesichert war, blickte sie sich um. Auf den außen liegenden Parkplätzen entlang der Gebäudeflanken war niemand zu sehen, genauso wenig innerhalb des zu einer Seite hin offenen rechteckigen Platzes im Zentralbereich. Keine Menschenseele auf der Straße, die sie zu dieser Anhöhe oberhalb der Route 149 geführt hatte.
Jo war mit ihrer Lagesondierung zufrieden. Sie konnte davon ausgehen, dass niemand sie bei ihrem Vorhaben überraschen würde.
Der Adrenalinschub, der mit einem Mal durch ihren Körper raste, informierte sie hingegen darüber, dass sie auch niemand hören würde, wenn sie um Hilfe schrie.
Sie riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Absperrung. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass sie bei ihrer Rückkehr nicht mehr dieselbe sein würde, wenn sie jetzt über diese Kette stieg und weiterging.
»Halt die Klappe«, zischte sie und schwang trotzig erst ein Bein darüber, dann das andere. Ohne zu zögern, huschte sie im Schutz der Dunkelheit auf das Gebäude zu.
Sie hielt sich dicht an den Fronten der rechten Ladenzeile und war froh, dass der Architekt so umsichtig gewesen war, die Korridore zu überdachen, denn im selben Moment fing es an zu tröpfeln. Weniger Grips hingegen hatte derjenige bewiesen, der geglaubt hatte, ein Shoppingcenter ohne geschützte Gänge im Gebäudeinneren könnte in einem Postleitzahlenbereich so nahe an der kanadischen Grenze überleben. Keinem Menschen war es die zehn Dollar wert, die er sich beim Kauf von ein paar lausigen Kerzenständern oder einem reduzierten Badeanzug sparte, wenn er sich von Oktober bis April dabei die Finger abfror. Noch dazu in Zeiten, in denen man sich so gut wie alles mit einem einzigen Mausklick bis zum Folgetag frei Haus liefern lassen konnte.
Am Ende des überdachten Säulengangs blieb sie vor einer Ladenfront stehen. Sie nahm an, dass es sich dabei um eine ehemalige Eisdiele handelte, weil im Fenster noch die verblassten Umrisse einer Kuh zu erkennen waren, die eine Eiswaffel mit drei Kugeln zwischen den Hufen hielt. Jo zog ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
Schon beim ersten Klingeln wurde abgehoben.
»Alles okay bei dir?«, fragte Bill ohne Umschweife.
»Wohin muss ich?«, wisperte sie. »Ich sehe nichts.«
»Es ist auf der Rückseite. Du musst hintenrum gehen. Hab ich dir doch gesagt, schon vergessen?«
»Mist.« Vielleicht war das viele Nitrit, das in ihren Salamisnacks enthalten war, nicht gut für ihr Gehirn. »Warte, ich glaube, ich habe die Treppe gefunden.«
»Soll ich zu dir rauskommen?«
Jo setzte sich wieder in Bewegung und schüttelte den Kopf, was Bill durchs Telefon natürlich nicht sehen konnte. »Schon in Ordnung – ja, tatsächlich, da ist ein Durchgang zur Rückseite des Gebäudes. Ich ruf dich wieder an, wenn ich noch was brauche.«
»Du solltest das besser nicht alleine durchziehen!«
Ohne ein weiteres Wort trennte Jo die Verbindung und joggte die Betonstufen hinunter. Ihr Rucksack hopste mit jeder Bewegung auf ihrem Rücken auf und ab, als würde er Liegestütze machen. Als sie auf der anderen Seite auf der Ebene darunter wieder herauskam, ließ sie den Blick rasch über den leeren Parkplatz schweifen …
Der beißende Gestank, der ihr unversehens in die Nase drang, löste einen Würgereflex bei ihr aus. Es roch wie eine Mischung aus totem Tier und … Babypuder?
Sie sah sich nach der Quelle dieser üblen Ausdünstung um. Ihr Blick blieb an einem Gebäude mit Wellblechdach gleich bei der gegenüberliegenden Baumreihe hängen. Vermutlich eine Art Lager, das, mitten in der amerikanischen Tornado-Gasse gelegen, garantiert nicht mehr lange stehen würde. Es war etwa halb so lang wie ein Footballfeld, mit Garagentoren, die mit einem Vorhängeschloss am Boden gesichert waren. Jo stellte sich vor, dass darin von übrig gebliebenen Pflastersteinen bis hin zu Rasenmähern, Laubbläsern und einem Schneepflug alles Mögliche aufbewahrt worden war.
Die einzige Tür von normaler Größe hing lose in den Angeln, und als eine heftige Windbö sie erfasste, erklang ein unheimliches Knarzen wie aus einem George- A.-Romero-Film. Sekunden später fiel die Tür krachend ins Schloss, als hätte Mutter Natur genau wie Jo etwas gegen den widerlichen Gestank.
Wieder holte sie ihr Handy hervor und schrieb eine Nachricht an Bill: Hier mieft es ganz fürchterlich.
Sie überquerte den Parkplatz und wurde sich bewusst, dass sich ihre Herzfrequenz soeben verdreifacht hatte. In einem unregelmäßigen Stakkatorhythmus prasselte der Regen auf die Kapuze ihrer Windjacke. Sie ließ ihre Hand unter dem weiten Nylonstoff verschwinden, tastete nach der Waffe im Holster und schloss die Finger um den Griff.
Schnarrend ging die Tür wieder auf und schlug erneut zu, und wieder traf sie eine Wolke von dem Pestilenzhauch, der aus der tiefen Dunkelheit im Inneren des Gebäudes zu kommen schien. Jo schluckte gegen das trockene Würgen an und musste sich zwingen, weiterzugehen. Und es war nicht der starke Gegenwind, der ihr das Vorwärtskommen erschwerte.
Als sie die Tür erreichte, hatte das Auf- und Zuschwingen plötzlich ein Ende, als gäbe es jetzt, da sie jeden Moment eintreten würde, keinen Grund mehr, sie auf sich aufmerksam zu machen.
Gott stehe ihr bei, wenn Pennywise auf der anderen Seite auf sie wartete …
Mit einem letzten Blick über beide Schultern vergewisserte Jo sich, dass auf dem Gelände keine roten Luftballons zu sehen waren, dann streckte sie langsam die Hand nach der Türklinke aus.
Ich muss es wissen, dachte sie, als sie sie aufzog. Ich muss es … einfach wissen.
Vorsichtig spähte sie um den Türstock herum, konnte aber absolut nichts erkennen. Trotzdem war sie wie erstarrt angesichts dessen, was ihr aus dem Raum entgegenschlug. Es war etwas durch und durch Böses, dessen Gegenwart sie spürte, etwas, das Kinder entführte und ermordete, Unschuldige abschlachtete, sich am Leiden der Gerechten und Gütigen ergötzte. Es warf sich ihr entgegen und ergriff von ihrem Körper Besitz, eine todbringende Strahlung, die bis tief in ihre Knochen vordrang.
Hustend und würgend wich Jo zurück und verbarg Nase und Mund schützend in der Armbeuge. Panisch tastete sie nach ihrem Handy.
Ehe Bill etwas sagen konnte, stieß sie keuchend hervor: »Du musst sofort herkommen …«
»Bin schon unterwegs.«
»Gut.«
»Was ist los bei …«
Jo legte auf, ohne seine Frage abzuwarten, und knipste hastig die mitgebrachte Taschenlampe an. Todesmutig wagte sie sich wieder einen Schritt vor, stieß mit der Schulter die Tür auf und leuchtete ins Dunkel.
Das Licht wurde im selben Moment verschluckt.
Als würde man den Strahl der Taschenlampe ins Innere eines Stoffballens aus dichtem Gewebe richten, kam das schwache Leuchten nicht gegen das an, worauf sie sich zubewegte.
Die Schwelle, über die sie trat, war nichts weiter als ein Dichtungsband, und trotzdem kam ihr die anderthalb Zentimeter hohe Erhebung vor wie ein unüberwindbares Hindernis. Überrascht bemerkte sie, dass der Boden unter ihren Füßen klebrig war. Sie hob das rechte Bein und richtete die Taschenlampe auf ihren Turnschuh. Etwas, das an Motoröl erinnerte, tropfte von der Sohle. Als sie ihren Fuß wieder auf den Boden setzte, schien das schmatzende Geräusch überlaut durch den leeren Raum zu hallen.
Jo zwang sich weiterzugehen. Zu ihrer Linken stieß sie auf den ersten Eimer. Home Depot. Mit orange-weißem Logo, verschmiert mit einer rostfarbenen Substanz, bei deren Geruch sich ihr der Magen umdrehte.
Mit zitternder Hand richtete sie den Lichtstrahl in das Gefäß. Es war etwa zur Hälfte mit einer glänzenden, schimmernden … roten? … ja, roten Flüssigkeit gefüllt. Jo glaubte einen kupfrigen Geschmack am Gaumen zu spüren …
Von plötzlicher Panik erfasst, riss sie die Taschenlampe hoch und wirbelte herum.
Hinter ihr hatten zwei Männer das Lager betreten, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Drohend ragten sie vor Jo auf, als wären sie unvermittelt aus dem Boden gewachsen, zwei Spukgestalten aus ihren Albträumen, genährt vom kalten Frühlingsregen und gehüllt in den Schutz der Nacht. Einer der beiden hatte ein kleines Ziegenbärtchen, Tattoos an der rechten Schläfe, eine Zigarette zwischen den Lippen und einen durch und durch fiesen Ausdruck auf den harten Gesichtszügen. Der andere trug eine Baseball-Kappe der Boston Red Sox und einen langen kamelhaarfarbenen Wollmantel, dessen Schöße nur sachte hinter ihm emporwehten, obwohl der Wind noch einmal sehr stark aufgefrischt hatte. Jeder von ihnen hatte ein Holster um die Brust geschnallt, in dem mit den Griffen nach unten ein Paar schwarzer Dolche steckte, und Jo zweifelte keine Sekunde daran, dass sie noch weitere, gut verborgene Waffen am Leib trugen.
Sie waren gekommen, um sie zu töten. Was sonst. Sie waren ihr vom Wagen aus gefolgt und hatten sie beobachtet, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hatte.
Jo wich taumelnd zurück und versuchte, nach ihrer eigenen Waffe zu greifen, ließ aber wegen ihrer schweißnassen Hände das Handy fallen und hatte Mühe, die Taschenlampe zu halten …
Plötzlich war sie wie gelähmt. Sie war unfähig, sich zu rühren.
Obwohl ihr Gehirn ihren Füßen, ihren Beinen, jeder Faser ihres Körpers befahl, sich auf der Stelle in Bewegung zu setzen, wollte dieser ihren panischen Anweisungen nicht gehorchen. Ihre Muskeln zuckten hilflos im festen Griff einer unsichtbaren Gewalt, ihre Knochen schmerzten, ihr Atem ging stoßweise. Der Schmerz löste ein wahres Feuerwerk in ihrem Gehirn aus, brachte ihre Synapsen zum Knistern.
Langsam öffnete sie den Mund, und dann schrie sie ihre Todesangst hinaus …
2
Syn materialisierte sich mitten im eisigen Nieselregen. Mit geschmeidiger Leichtigkeit federten seine Muskeln das Gewicht seines von oben bis unten in Leder gehüllten Körpers ab, und eben noch eine hauchzarte Wolke aus Molekülen, nahm sein schwarzes Herz seine Arbeit wieder auf. Seine schweren Kampfstiefel versanken im Matsch. Die Reihe aus sündteuren Limousinen und SUVs auf dem Parkplatz des Zementwerks wirkten neben den aufgetürmten Betonbausteinen, den tonnenschweren Baufahrzeugen und den riesigen Betonmischern wie eine Gruppe dürrer Flittchen inmitten einer Horde Sumo-Ringer. Völlig fehl am Platz.
Während Syn sich auf sein Ziel zubewegte, strich er mit der Zunge über die Spitze seiner Fänge. Die so entstandene Wunde sorgte dafür, dass er Blut im Mund hatte. Genüsslich schluckte er den köstlichen Saft hinunter, ballte die Hände zu Fäusten und achtete nicht auf sein Gehirn, das einer Zündschnur gleich jeden Moment in Brand gesteckt werden würde.
Das Raubtier in ihm verlangte nach Beute.
Manchmal musste man sich nähren, auch wenn der Magen gut gefüllt war.
Als er sich dem flachen Vordach des Firmengebäudes näherte, blickte der stämmige Mensch, der auf einem Plastikstuhl neben dem Eingang saß und Wache hielt, von seiner Daily Racing Form auf. Die nackte Glühbirne über seinem Kopf warf dunkle Schatten auf seine Gesichtszüge, sodass Augenhöhlen und Nasenöffnungen wie schwarze Löcher wirkten. Syn stellte sich den kahlen Schädel vor, der zurückbleiben würde, sobald der Tod Haut, Muskeln und Sehnen vom Skelett entfernt hätte.
Der Mann runzelte die Stirn, hob zur Begrüßung die Hand mit der Pistole und legte sie gut sichtbar auf seine Zeitschrift.
»Ich habe eine Verabredung«, sagte Syn grußlos. Er war einige Schritte vor dem Mann stehen geblieben.
»Hier erwartet dich niemand.«
Als Syn keine Anstalten traf, sich vom Acker zu machen, beugte der Mann sich drohend vor. »Hörst du schlecht? Ich sagte, hier erwartet dich niemand …«
Syn dematerialisierte sich unmittelbar vor dem Menschen, packte ihn an der Kehle, hob ihn hoch in die Luft und rammte ihn gegen die Hauswand. Der Campingstuhl kippte zur Seite, als hätte er nicht die leiseste Absicht, sich in Probleme einzumischen, die ihn nichts angingen.
Während Syn sein Opfer flink entwaffnete, gruben sich dessen fleischige Finger in die Hand, die seine Kehle mit eisernem Griff umklammerte. Wild trat er mit beiden Beinen um sich und schlug mit den Absätzen seiner Schuhe gegen die Gebäudewand. Sein eben noch so loses Mundwerk war nun weit aufgerissen, in dem vergeblichen Versuch, Luft in seine offensichtlich bereits höllisch brennende Lunge zu saugen.
Andererseits rang die nackte Panik dem Erstickenden ein Tänzchen ab, unabhängig davon, dass der Sauerstoffmangel unter normalen Umständen ein echtes Mauerblümchen war. Für Syn eine erfreuliche Showeinlage.
»Ich bin mit jemandem verabredet«, wiederholte Syn mit sanfter Stimme. »Und wenn du Glück hast, bist es nicht du.«
Syn ließ den widerspenstigen Kerl so weit sinken, dass seine Füße wieder Bodenhaftung fanden, ehe er seinen Griff etwas lockerte. Der andere sollte schließlich wenigstens dazu in der Lage sein, sich stimmlich zu äußern. Wobei Syn nicht auf eine Wortmeldung aus war. Oh nein. Eine Reaktion dieser Art wäre für ihn ein allzu karges Mahl.
Wenn schon, dann wollte er einen ordentlichen Schrei hören, der ihm noch lange in den Ohren schrillen würde.
Bedächtig zog er einen seiner stählernen Dolche. Als er die Klinge hob, verlagerte der Mann seine hilflosen Hände von den eisigen Fingern, die seinen Hals umklammerten, hin zu dem Handgelenk und dem Unterarm, die die Waffe führten. Die Protestlaute, die er dabei ausstieß, klangen erbärmlich und schwach wie von einem Kind und hatten keinerlei Wirkung auf Syn.
Unerbittlich drang die Spitze der Klinge in das linke Ohr des Mannes ein, und als sie die erste Kerbe in die Haut des Gehörgangs ritzte, atmete Syn genüsslich ein.
Blut. Schweiß. Angst.
Er presste seinen Unterleib gegen den des Mannes. Seine Erektion hatte nichts mit Sex zu tun, auch wenn der Mann, nach den vor Entsetzen weit aufgerissenen, feucht glänzenden braunen Augen zu urteilen, die Situation völlig anders interpretierte.
Der Vampir senkte die Lider und spürte, wie ihn, ausgelöst durch die Pein des anderen, ein Gefühl grenzenloser Macht durchströmte, wie ihn lustvolle Dominanz, Aggression, Mordgier übermannten. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf ermahnte ihn, sofort damit aufzuhören. Das war nicht der Plan gewesen, aber was noch schwerer wog: Viel zu bald wäre es wieder vorüber, und dann ginge es an den unangenehmen Teil, nämlich das Großreinemachen – und damit meinte er nicht das viele Blut, das fließen und alles durchtränken würde.
»Wehr dich«, flüsterte er. »Los, trau dich. Setz dich gegen mich zur Wehr – gib mir einen Vorwand, damit ich dir ein Loch in den Schädel rammen und dein verdammtes Hirn rauslaufen lassen kann.«
»Ich … habe … Kinder«, stammelte der Mann gepresst. »Bitte … meine Kinder …«
Syn lockerte seinen Griff kaum merklich. »Ach, was du nicht sagst.«
Der Mann nickte eifrig, als würde sein Leben von der Anzahl seiner Nachkommen abhängen. »Ja. Einen Jungen und ein Mädchen, und ich …«
»Bist du mit dem Auto zur Arbeit gekommen?«
Der Mann blinzelte, als hätte er Schwierigkeiten, Syns stark von der Alten Sprache geprägten Akzent zu verstehen. »Äh, ja, wieso?«
»Du hast also deinen Führerschein bei dir, nehme ich an. Weil du doch bestimmt ein ganz gesetzestreuer kleiner Gauner bist.«
»I… ich, äh, ja, klar, hab meine Brieftasche einstecken. Nimm dir ruhig die Kohle …«
»Gut.« Syn beugte sich ein Stück runter, sodass er dem Kerl direkt ins Gesicht schauen konnte. Er schob sich so dicht vor dessen rechtes Auge, dass seine Wimpern mit jedem Blinzeln die von Syn berührten. »Sobald ich mit dir fertig bin, verschaffe ich mir Zutritt zu deinem Haus und töte deine Kinder in ihren Betten. Und deine Frau? Ihre verzweifelten Schreie werden dich bis ins Grab verfolgen, das schwöre ich dir.«
Blankes Entsetzen drang aus jeder einzelnen Pore des Menschen, begleitet von dem typischen beißenden, würzigen Aroma, das auf Syn dieselbe Wirkung hatte wie Kokain. Herzrasen, beschleunigte Atmung, das Blut in Wallung, pures Glück, das durch seine Adern rauschte …
Plötzlich schwang eine Tür auf, die ihm bislang verborgen geblieben war.
Der korpulente ältere Kerl, der sie aufgestoßen hatte, hatte eine runde Knubbelnase und hässliche Aknenarben im Gesicht, die an die zerfurchte Kraterlandschaft des Mondes erinnerten. Sein Blick aber war flink und hellwach.
»Jesus Christus, schätze, du bist der Typ, auf den ich warte. Komm rein – und bring ihn bitte nicht um, ja? Er ist mit der Cousine meiner Frau verheiratet. Nicht, dass Ostern dieses Jahr zum verdammten Albtraum wird.«
Für einen Sekundenbruchteil verweigerte Syns Körper sich der Anordnung, von dem Mann abzulassen. Einer Anordnung, die übrigens nicht von dem Menschen kam. Sein eigenes Gehirn war normalerweise der einzige Befehlshaber, dem Syn gehorchte, und trotzdem blieben seine Hände stur um den Hals des Mannes gelegt. Andererseits, wenn er sich die Befriedigung jetzt versagte, konnte er vielleicht später den anderen töten, der eine noch viel prächtigere Beute darstellte. Das hier war nicht das Ende. Es war erst der Anfang.
Wie ein Raubtier, das durch die überraschende Aussicht auf Frischfleisch von dem bereits erlegten Kadaver abgelenkt wurde, fuhr er die Krallen ein und zog sich von seinem Beinahe-Opfer zurück. Der Mann bekam einen heftigen Hustenanfall und krümmte sich, als wollte er den Boden der Veranda mit seinen Haaren fegen.
»Komm rein«, sagte der Alte. »Besser, dich sieht niemand.«
Syn musste den Kopf einziehen, um durch die gut getarnte Tür zu passen. In dem dahinterliegenden schmalen Flur streifte er mit seinen muskelbepackten Oberarmen die Mauern zu beiden Seiten, und auch der fette Kerl passte nur mit Mühe hindurch. Hinter der Wand zu seiner Linken hörte man eine Gruppe von Männern beim Kartenspiel lautstark durcheinanderrufen, und Syn roch den Rauch von Zigarren, von Gras und von Zigaretten. Alkohol. Rasierwasser.
Am Ende des Flurs war eine Schiebetür zu sehen, und hinter dieser dünnen Abtrennung befand sich ein winziges Büro. Unter einem Haufen Unterlagen war ein Schreibtisch zu erahnen. Ein Aschenbecher mit einem glühenden Zigarrenstummel. Ein durchgewetzter Drehstuhl, auf dessen Sitzfläche sich der Abdruck eines breiten Hinterns abzeichnete. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Monitor konnte man mitverfolgen, wie der Mann mit der Autozeitschrift seinen Plastikthron wieder aufstellte und erneut Position am Eingang bezog.
»Setz dich«, forderte der Alte ihn auf und deutete auf den harten Holzstuhl vor dem Schreibtisch. »Dauert nicht lang.«
Syn registrierte aus dem Augenwinkel, wie sich der Zugang zum Flur wieder schloss und mit der Wand zu verschmelzen schien. Ihm gegenüber entdeckte er eine weitere Tür, diesmal eine ganz normale, mit gewöhnlichen Angeln und einem klassischen Griff. Er setzte sich mit dem Rücken zur Ecke daneben, sodass er den alten Mann, den Zugang zur verborgenen Passage und die eigentliche Tür zum Büro im Blick behalten konnte.
»Nun, du kommst mit den besten Empfehlungen«, grunzte der Alte, während er sein beachtliches Gewicht in den Sessel senkte. Es war nicht zu übersehen, dass seine Knie ihm bereits vorzeitig den Dienst zu versagen drohten. »Normalerweise kümmere ich mich selbst um solche Angelegenheiten, aber das geht in diesem Fall nicht.«
Es entstand eine Pause. Dann brachte der Mensch einen Laptop zum Vorschein und stellte ihn auf dem Papierberg ab. Er setzte das Gerät in Gang und wartete. Dann zuckte sein trüber Blick hoch. »Wir müssen die Straßen von diesem Dreck säubern.«
Mit diesen Worten drehte er den Laptop mit dem Monitor zu Syn. Darauf war eine körnige Schwarz-Weiß-Aufnahme zu sehen. Wie ein Bild, das man mit dem Handy aus der Zeitung abfotografiert hatte.
»Johnny Pappalardo. Dieser Mistkerl hat gegen einige Regeln verstoßen, die in meinem Territorium absolut heilig sind.«
Als Syn nicht reagierte, runzelte der Alte die Stirn. »Gibt es ein Problem?«
Seine pummelige Hand verschwand unter dem Schreibtisch, doch Syn bewegte sich schneller, als ein menschliches Auge es hätte registrieren können. Ohne seinen Blick von dem Alten abzuwenden, hatte er zwei identische Glocks mit Schalldämpfern gezückt und hielt sie auf den Mann beziehungsweise auf die Eingangstür gerichtet.
Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn im selben Moment kam auch schon ein Bodyguard ins Büro gestürmt.
Die beiden Menschen waren wie zu Salzsäulen erstarrt, als Syn mit leiser Stimme zu sprechen begann: »Es gibt kein Problem. Und wenn das so bleiben soll, dann tu das nie wieder.«
Der Alte kämpfte sich mühsam hoch und beugte sich über den Schreibtisch. »Du stammst nicht von hier, mein Sohn, nicht wahr? Hat dein Freund dir nicht gesagt, wer ich bin …«
Syn betätigte gleichzeitig die Abzüge beider Waffen. Die Kugeln sausten jeweils knapp an den Köpfen der Männer vorbei und landeten in der Wand. Erschrocken fuhren sie zusammen und rissen schützend die Arme hoch.
»Mich interessiert nur der Job«, sagte er. »Zwingt mich nicht dazu, dass ich mich auch noch um euch beide kümmern muss.«
Es folgte ein längeres, angespanntes Schweigen. Dann plumpste der Alte stöhnend zurück auf seinen Schreibtischstuhl.
»Lass uns allein«, sagte er zu seinem Bodyguard. Als der andere keine Anstalten machte, sich zu verziehen, fuhr er ihn an: »Herrgott, Junior, bist du taub?«
»Junior« sah zu Syn, der ihm einen direkten Blick seinerseits ersparte. Dieselbe fahle Hautfarbe. Dieselbe Gesichtsform. Die gleiche Art, die Augen zusammenzukneifen. Das Einzige, was ihn von seinem Vater unterschied, waren schätzungsweise fünfundzwanzig Jahre und fünfundsiebzig Pfund, die zwischen ihnen lagen.
»Mach die Tür hinter dir zu, Junior«, knurrte Syn. »Dann bist du wenigstens in Sicherheit, falls ich doch noch mal rumballern muss.«
Junior warf einen letzten Blick zu seinem Vater, um sich sein Okay zu holen, ehe er den Rückzug antrat.
Der Alte stieß ein trockenes Lachen aus. »Du hast wohl keine Skrupel, wie?« Während er eine Hand in seiner Strickjacke verschwinden ließ, fügte er nüchtern hinzu: »Willst du deine Knarren nicht wieder runternehmen?«
Als Syn nicht reagierte, schüttelte der Alte nur grinsend den Kopf. »Ihr jungen Leute. Habt immer Überdruck im Tank. Wenn du die Kohle willst, musst du mich sie schon rausholen lassen …«
»Ich will dein Geld nicht. Nur den Job.«
Misstrauisch kniff der Mann die Augen zusammen. »Was soll das heißen?«
Syn bewegte sich blitzschnell auf die Schiebetür zu. Als er die Vertäfelung kraft seines Willens öffnete, wich der Alte unwillkürlich zurück, schien sich aber schnell wieder zu berappeln. Offenbar ging er davon aus, dass sie sich vorhin nicht richtig geschlossen hatte.
»Du willst kein Geld?«, fragte er ungläubig. »Wer zum Henker macht heutzutage noch einen Finger krumm, ohne sich dafür bezahlen zu lassen?«
Syn senkte das Kinn und sah den Alten unter den dichten Wimpern hervor an. Während sein Blick die ganze bedrohliche Kraft seines Talhman aussandte, schob der Mensch sich furchtsam auf seinem Drehsessel zurück. Der Gedanke, dass er sich genau mit der Waffe auf engstem Raum befand, die er eigentlich für seine Zwecke hatte einsetzen wollen, schien ihm nicht mehr zu behagen.
»Jemand, der Freude am Töten hat«, knurrte Syn.